Kim beobachtete eine Gruppe junger Punker, die auf der anderen Straßenseite entlangschlenderte und offensichtlich auf Streit aus war.

Die Burschen fielen ihm schon seit einer geraumen Weile auf, schon seit sie die Imbissbude an der Ecke verlassen hatten und immer heftiger herumstänkerten.

Angefangen hatte es ganz harmlos - soweit man es als harmlos bezeichnen konnte, wenn ein halbes Dutzend Halbwüchsiger, von denen einige schon fast so groß wie Erwachsene waren, mit grün oder orange gefärbtem Haar, nietenbesetzten Lederjacken, auf deren Rücken Totenköpfe aufgenäht waren, sich zusammenrottete und anfing, ihre Umwelt zu terrorisieren.

Zuerst hatte einer von ihnen seine leere Cola-Dose auf den Bürgersteig geworfen; ganz gezielt neben den Papierkorb, der nun wirklich unübersehbar neben dem Eingang der Imbissbude angebracht war. Natürlich waren alle anderen seinem Beispiel sofort begeistert gefolgt.

Dann hatten sie sich eine Weile damit amüsiert, die leeren Getränkedosen über den Gehsteig zu kicken, sodass die Passanten, die das Pech hatten, ausgerechnet in diesem Moment dort entlanggehen zu wollen, ihnen mit hastigen Schritten ausweichen mussten und ein paar Mal sogar an Knöchel oder Waden getroffen wurden.

Bald war auch dieses Spiel den Punkern langweilig geworden. Vielleicht zwei oder drei Minuten hatten sie einfach tatenlos herumgelungert, ohne dass irgendetwas geschehen wäre - abgesehen davon vielleicht, dass sich der Gehweg auf dieser Straßenseite zusehends leerte. Offensichtlich wagten es immer weniger sich den gefährlich aussehenden Burschen auch nur zu nähern. Einige ältere Männer und Frauen hatten sogar die Straßenseite gewechselt, als sie den bunten Haufen erblickten. Mittlerweile hatten die Burschen entdeckt, wie viel Spaß es machte, leere Cola- und Bierdosen in flachem Winkel auf die Straße hinauszutreten; nicht hoch genug um einen Wagen zu beschädigen, aber schnell genug um mehr als einem Fahrer einen gehörigen Schrecken einzujagen. Die meisten fuhren zwar einfach über die bunt bedruckten Blechdosen hinweg, aber es gab auch genug, die erschrocken auf die Bremse traten oder hastig auswichen, was jedes Mal ein wütendes Hupen zur Folge hatte.

»Wenn sie so weitermachen, dann wird es noch einen Unfall geben.« Sein Vater zog die Wagentür hinter sich zu, steckte den Zündschlüssel ins Schloss und drehte ihn halb herum, ohne den Motor jedoch zu starten. Stattdessen blickte er weiter stirnrunzelnd zu den Punkern hin.

Kim hatte nicht einmal bemerkt, dass er in den Wagen gestiegen war, und war ein wenig erschrocken, als er die Stimme seines Vaters so unversehens neben sich hörte.

»Ich frage mich nur, warum niemand etwas tut«, sagte er. Was die Burschen da drüben trieben, war in ihren Augen vielleicht nicht mehr als ein etwas großer Scherz, der aber sehr schnell ernste Folgen nach sich ziehen konnte.

»Weil die Leute Angst vor ihnen haben.« Sein Vater schüttelte den Kopf und startete den Motor nun doch. Er fuhr aber immer noch nicht los. Der Verkehr war zu dicht, und obwohl er den Blinker eingeschaltet hatte, machte keiner der vorbeifahrenden Wagen auch nur den Versuch, anzuhalten und ihn aus der Parklücke ausscheren zu lassen. Kim, der nun abwechselnd die Punker und das Gesicht seines Vaters betrachtete, hatte den sicheren Eindruck, dass dieser sich fast mehr darüber ärgerte als über das Benehmen der Jungen.

Trotzdem erkannte er, dass sein Vater durchaus Recht hatte. Der Besitzer der Imbissbude, in der die Punker gegessen hatten, war hinter der Scheibe seines Geschäfts erschienen und blickte zu ihnen hin. In einiger Entfernung waren zwei alte Frauen und ein junger Mann stehen geblieben und debattierten heftig. Die Gesten, die ihre Worte begleiteten, ließen keinen Zweifel daran aufkommen, worüber sie sprachen. Allerdings tat niemand auch nur das Geringste, dem Treiben der Punker-Clique Einhalt zu gebieten.

»Und warum unternehmen wir nichts?«, fragte Kim.

Sein Vater nahm den Gang wieder heraus und sah ihn auf eine Weise an, die Kim ganz nervös machte. »Warum fängst du nicht schon einmal damit an?«, fragte er.

Kim war nun vollends verwirrt. »Ich?«

»Es war dein Vorschlag, oder?«, erwiderte sein Vater. »Es ist immer leicht, anderen zu sagen, was sie tun sollen.«

Es verging ein Moment, bis er wirklich begriff, was sein Vater mit diesen Worten sagen wollte. Kim war verblüfft. Er war aus dem Alter heraus, in dem die Kinder noch glaubten, dass ihre Väter einfach alles können und vor nichts auf der Welt Angst hatten - aber er wusste auch, dass sein Vater alles andere als ein Feigling war. Wenn er sich entschied, sich mit dem Haufen dort drüben nicht anzulegen, dann wahrscheinlich nicht, weil er Angst vor den Burschen hatte.

»Warum rufst du dann nicht wenigstens die Polizei?«, fragte Kim mit einer Kopfbewegung auf das Telefon am Armaturenbrett des Wagens.

»Weil ich nicht glaube, dass es nötig ist«, sagte sein Vater. »Siehst du? Ich glaube, sie verlieren bereits das Interesse an ihrem Spiel.«

Tatsächlich hörten die Burschen auf, leere Getränkedosen und anderen Abfall auf die Straße hinauszuschießen, obwohl ihnen die Munition noch lange nicht ausgegangen war. Einige Augenblicke lang sahen sie sich nur noch unschlüssig um, ganz offensichtlich auf der Suche nach jemand anderem, den sie provozieren konnten. Als sie niemanden fanden, drehten sie sich einer nach dem anderen herum und trollten sich.

»Woher hast du das gewusst?«, fragte Kim verblüfft.

Sein Vater blickte kurz in den Rückspiegel und fuhr dann los. Diesmal hatte er offensichtlich keine Schwierigkeiten, eine Lücke im Verkehr zu finden.

»Weil ich auch einmal so war wie sie«, antwortete sein Vater lächelnd.

»Wie bitte?« Kim riss ungläubig die Augen auf.

»Natürlich nicht genauso«, fuhr sein Vater fort. »Ich meine, ich hatte nicht so eine verrückte Frisur und wir haben keine zwei Zentner schweren Lederjacken und Ketten getragen.«

»Und auch keine Bomberjacken und Springerstiefel«, vermutete Kim. Allmählich erwachte in ihm der Verdacht, dass sein Vater ihn auf den Arm nahm - auch wenn er sich beim besten Willen nicht erklären konnte, warum.

»Und auch keine Bomberjacken und Springerstiefel«, bestätigte sein Vater. »Und trotzdem war der Unterschied gar nicht so groß, wie du vielleicht glaubst. Ich meine: Wir haben damals natürlich keine Leute angepöbelt, oder uns einen Spaß daraus gemacht, uns an Schwächeren auszulassen. Ich glaube nur, dass es heutzutage härter geworden ist. Manchmal entschieden zu hart. Aber das Prinzip ist dasselbe. Auch wir haben uns unseren Spaß daraus gemacht, unsere Eltern zu provozieren.«

»Du?«, fragte Kim ungläubig. Seine Großeltern kamen nicht oft zu Besuch, weil sie in einer sehr weit entfernten Stadt lebten, aber er wusste, dass sein Vater ein ausgezeichnetes Verhältnis zu ihnen hatte. »Das kann ich mir nicht vorstellen!«

Sein Vater lachte. »Du hättest mal meinen Vater hören sollen, als ich mich das erste Mal geweigert habe zum Frisör zu gehen und als ich mit Schlaghosen und einer dieser unmöglichen Fellwesten nach Hause kam. Mein Gott, war das ein Krach!«

»Wegen langer Haare?« Kim konnte sich das kaum vorstellen. Er selbst trug die Haare relativ kurz, aber nicht aus irgendeiner Überzeugung oder aus modischen Beweggründen heraus, sondern aus purer Bequemlichkeit. Da er viel Sport trieb, fand er es einfach praktischer, sich nicht ständig die Haare aus dem Gesicht wischen zu müssen oder damit irgendwo hängen zu bleiben. In seiner Klasse gab es alle mögliche Frisuren. Übrigens auch ein paar unmögliche, seiner Meinung nach.

»Das Prinzip war dasselbe«, bekannte sein Vater. »Wir waren erst einmal gegen alles, was unsere Eltern gut fanden, und haben danach darüber nachgedacht. Im Grunde tun diese Rocker -«

»Punker«, verbesserte ihn Kim.

»- tun diese Punker nichts anderes«, fuhr sein Vater fort. »Nur auf ihre Weise. Damit wollte ich nicht gesagt haben, dass ich es gut finde. Das ganz bestimmt nicht. Aber weißt du, was? Ich wette, wenn diese sechs Kanarienvögel da hinten in zwanzig Jahren Fotos von sich sehen, dann ist ihnen das genauso peinlich wie mir heute, wenn ich mir alte Aufnahmen ansehe.«

»An unserer Schule sind vor drei Monaten zwei Jungs verhaftet worden, weil sie einen Lehrer verprügelt und anschließend seinen Wagen in Brand gesetzt haben«, sagte Kim.

»Ich weiß«, antwortete sein Vater. Er lächelte jetzt nicht mehr. »Und ich wollte auch bestimmt nichts verharmlosen. Die Jugend wird immer gewalttätiger und das ist ein großes Problem. Ich frage mich nur, ob es eine Lösung ist, mit immer drakonischeren Strafen darauf zu reagieren.«

»Drakonische Strafen?« Kim zog eine Grimasse. »Die beiden Kerle waren nach einem Tag wieder auf freiem Fuß. Ihr Lehrer ist krankgeschrieben.«

»Das ist das nächste Problem«, bestätigte sein Vater. »Manche sind zu hart und manche zu weich.« Plötzlich lachte er. »He, meinst du nicht, dass wir die Diskussion eigentlich genau andersherum führen sollten? Ich meine: Ich bin hier der verknöcherte Alte und du das rebellische Kind.«

»Sag das noch mal und ich lasse mir die Haare grün färben und steche mir eine Büroklammer durch die Unterlippe!«, drohte Kim.

Sie lachten beide herzhaft über diesen Scherz, aber nicht sehr lange. Das Gespräch hatte einen schlechten Nachgeschmack zurückgelassen, den sich Kim nicht richtig erklären konnte. Vielleicht weil er seinen Vater selten so ernst erlebte. Er wollte es gar nicht, aber er musste noch einmal auf das Thema zurückkommen.

»Es ist anders«, bekannte er. »Ich habe gelesen, dass an manchen amerikanischen Schulen jetzt schon Metalldetektoren wie am Flughafen aufgestellt werden, damit man die Schüler nach Waffen durchsuchen kann.«

»Ich habe doch Recht«, sagte sein Vater. »Du bist erst einmal prinzipiell gegen alles, was ich sage.« Dann wurde er wieder ernst. »Weißt du, ein sehr weiser Mann hat einmal gesagt, dass die junge Generation zweifellos den Untergang der Kultur bedeutet.«

»Der Direktor meiner Schule?«, fragte Kim.

»Plato«, antwortete sein Vater. »Fünfhundert vor Christus ... glaube ich.«

»Sehr komisch.«

»Nein, überhaupt nicht«, widersprach sein Vater. »Was ich damit sagen will, ist, dass diese Diskussion schon so alt ist wie die Menschheit. Jetzt frag ich mich bloß, warum, aber offensichtlich ist es so, dass die Jugend immer gegen alles Alte rebelliert und sich das Alter immer gegen alle Neuerungen sperrt.« Er warf Kim einen raschen Seitenblick zu. »Stark vereinfacht ausgedrückt, versteht sich.«

»Sehr stark vereinfacht«, murmelte Kim. Aus einem Grund, den er sich nicht richtig erklären konnte, begann ihm das Gespräch immer unangenehmer zu werden.

»Vielleicht müssen wir einfach lernen mehr miteinander zu reden«, sagte sein Vater. Dann betätigte er den Blinker und lenkte den Wagen an den rechten Straßenrand. »Wo wir gerade schon einmal dabei sind: Tu mir doch einen Gefallen und ruf deine Mutter an. Ich muss noch einmal in die Buchhandlung und dort nachfragen, ob meine bestellten Bücher schon angekommen sind.«

»Moment mal!«, protestierte Kim. »Mutter wartet mit dem Essen auf uns! Sie reißt mir den Kopf ab, wenn ich ihr erkläre, dass wir zu spät kommen!«

»Deswegen sollst du ja auch anrufen«, erklärte sein Vater grinsend, während er schon seinen Sicherheitsgurt löste und mit der anderen Hand die Tür öffnete.

»Aber du hast doch gerade selbst gesagt, dass wir mehr miteinander reden müssen!«

»Die junge Generation mit der alten und umgekehrt«, grinste sein Vater. Er stieg aus. »Nicht die Alten mit ihresgleichen.«

»Du bist ein Feigling«, grollte Kim.

»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, erklärte sein Vater grinsend. »Nicht wenn es um deine Mutter geht. Bis gleich!« Kim blickte ihm kopfschüttelnd nach, aber dann griff er doch nach dem Telefon, wählte die eingespeicherte Nummer und erklärte seiner Mutter, dass es vielleicht ein bisschen später werden könnte. Er erzählte ihr vorsichtshalber nicht, dass sein Vater in eine Buchhandlung gegangen war. Das hätte dem Gespräch nur eine unnötige Schärfe verliehen.

Sein Vater war nämlich das, was geradehin ein Bücherwurm genannt wurde. Wenn er nur mal schnell in eine Buchhandlung ging - und sei es nur, um ein bestelltes Buch abzuholen wie jetzt -, dann war es so gut wie sicher, dass er nicht unter einer Viertelstunde wieder heraus kam; wahrscheinlich eher einer halben. Er fand immer etwas, in dem zu blättern oder auch ein paar Minuten zu lesen sich lohnte.

Es hatte eine Zeit gegeben - und sie war noch gar nicht so lange her -, da hatte Kim die Leidenschaft seines Vaters für Bücher hundertprozentig geteilt. Die riesige Bibliothek enthielt so ziemlich alles, was sich auf bedrucktes Papier bannen lies, von Reproduktionen ägyptischer Hieroglyphen über Lexika, prachtvolle Bildbände und Fachbücher bis hin zu Romanen und Abenteuergeschichten. Für die hatte sich Kim besonders interessiert. Er hatte damit angefangen, die Bücher von Karl May und Jules Verne zu lesen, später dann auch Bücher von Lovecraft, Poe und Dominik, bis hin zu den fantastischen Geschichten von Tolkien oder Marion Zimmer Bradley. Eine Weile war er sogar regelrecht davon besessen gewesen, in jene fantastische Welten voller Elfen und Kobolden einzutauchen, oder im Geiste auf der Brücke der Enterprise zu stehen und neue Galaxien und unbekannte Welten zu erforschen und zweimal war er sogar ...

Kim gestattete sich nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Es war vorbei. Was der Vergangenheit angehörte, das sollte man besser auch dort lassen - bevor es ihm am Ende noch so erging wie seinem Vater, dem die Erinnerung an seine eigene Jugend ja regelrecht peinlich zu sein schien.

Kim las heute noch gerne dann und wann einen fantastischen Roman oder sah sich zusammen mit seiner Schwester einen spannenden Fantasy- oder Sciencefiction-Film an, aber er war sich jetzt der Tatsache bewusst, dass all diese Geschichten sehr wenig mit dem wirklichen Leben zu tun hatten.

Wie zum Beispiel das halbe Dutzend Punker, das in diesem Moment im Rückspiegel sichtbar wurde.

Kim blinzelte und sah dann verblüfft auf die Uhr im Armaturenbrett. Mit noch größerer Verblüffung stellte er fest, dass er seit gut zehn Minuten hier saß und auf seinen Vater wartete. Er hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit vergangen war.

Er sah wieder in den Spiegel. Es waren tatsächlich dieselben Punker wie die, die sich vorhin auf dem Gehweg vor der Imbissbude wichtig gemacht hatten. Vor allem einen besonders großen Burschen mit neongrünem Haar, weiten Pluderhosen und einer feuerroten Piratenbluse erkannte er sofort wieder; schon, weil der Bursche in seinem Aufzug durch und durch lächerlich aussah. Allerdings war er so groß und muskulös, dass es so schnell niemand wagte ihm das ins Gesicht zu sagen. Vor allem nicht jetzt, wo er sich in Begleitung von fünf weiteren, kaum weniger gefährlich erscheinenden Gestalten befand.

Die sechs Jungen - keiner von ihnen war auch nur einen Tag älter als Kim, die meisten wahrscheinlich ein oder zwei Jahre jünger - schlenderten gemächlich hinterher. Sie taten eigentlich nichts, außer sich dann und wann ein paar Worte zuzuwerfen oder laut zu lachen, aber der Bürgersteig gehörte ihnen trotzdem fast allein. Die Passanten wichen ihnen in weitem Bogen aus oder wechselten gar die Straßenseite und aus keinem einzigen der Geschäfte, an denen sie vorbeikamen, trat in diesem Moment ein Kunde heraus, was ganz bestimmt kein Zufall war. Ihr Aufzug und ihr Benehmen taten ihren Dienst. Aber während Kim die langsam näher kommende Gruppe weiter im Rückspiegel betrachtete, wurde ihm auch klar, dass sich sein Vater mindestens in einer Hinsicht geirrt hatte. Was die Jungen taten, war nicht bloß eine Provokation.

Sie verbreiteten Angst.

Als sie die halbe Strecke zurückgelegt hatten, fuhr ein Polizeiwagen vorbei. Während er die Gruppe passierte, wurde er deutlich langsamer. Der Beamte auf dem Beifahrersitz unterzog den wilden Haufen einer kritischen Musterung, gab seinem Kollegen aber dann einen Wink und der Wagen beschleunigte wieder. Einer der Burschen streckte ihm die Zunge heraus, der andere hob die Hand und zeigte dem Streifenwagen den ausgestreckten Mittelfinger. Alle brachen in grölendes Gelächter aus. Kim schüttelte seufzend den Kopf. Vielleicht wären ein bisschen mehr drakonische Strafen in dem einen oder anderen Fall doch nicht die schlechteste Lösung ...

Er verriegelte vorsichtshalber die Tür und sah nervös zu der Buchhandlung hin, in der sein Vater verschwunden war. Vielleicht wäre es gar keine schlechte Idee, ebenfalls dort hineinzugehen und in dem einen oder anderen Buch zu stöbern.

Dann schüttelte er leicht den Kopf. Diese Blöße würde er sich doch nicht geben.

Die Burschen erreichten den Wagen und schlenderten gemächlich daran vorbei ohne auch nur Notiz von ihm zu nehmen.

Kim ließ sich ein kleines Stückchen tiefer im Sitz nach unten rutschen, aber er beging den Fehler, den Punkern wie gebannt hinterherzustarren, als sie am Wagen vorbeigegangen waren.

Menschen spüren es manchmal, wenn sie angestarrt werden.

Jedenfalls spürte es der Junge mit dem grünen Haar und der Piratenbluse.

Er blieb urplötzlich stehen, drehte sich herum und sah zu Kim herein. Für eine halbe Sekunde, vielleicht weniger, begegneten sich ihre Blicke und in den Augen des Punkers war etwas, was Kim nicht nur abgrundtief erschreckte, sondern ihm auch klarmachte, dass er jetzt nur den Blick zu senken brauchte und die Sache wäre vorbei. Der Pirat hatte die Kraftprobe gewonnen und nichts würde geschehen.

Kims weiterer Fehler war, dass er es nicht tat, sondern dem Blick des Jungen trotzig standhielt.

Auch die fünf anderen Jungen blieben stehen und drehten sich einer nach dem anderem zu ihm herum. Zwei von ihnen blieben zurück, aber die anderen kamen langsam wieder näher, zusammen mit dem Anführer.

»Jetzt seht euch bloß mal diese Angeber an«, sagte ein schmächtiger Bursche mit schwarzen Lederstiefeln und einem gewaltigen Irokesenschnitt, der seinen Kopf lächerlich klein erscheinen ließ.

»Ja, richtig geil«, stimmte ein anderer in zerrissenen Jeans, zwei verschiedenfarbenen und gepiercten Nasenflügeln zu und ein dritter - er trug fast normale Kleidung, hatte aber eine Art umgedrehten Irokesenschnitt, nämlich einen gut fünf Zentimeter breiten, kahl geschorenen Scheitel - grinste: »Und erst das Bürschchen, das darin sitzt.«

Der vierte Junge, er war groß, kräftig und über und über mit Ketten, Metallbändern, Handschellen und klimpernden Metallringen behangen, dass er wahrscheinlich auf der Stelle festrosten würde, wenn er in den Regen kam, trat an den Kotflügel heran und ließ die flache Hand auf die Kühlerhaube klatschen. »Er darf in Papis Auto sitzen«, grinste er. »Bestimmt ist er ganz stolz darauf.«

»Ist ja auch eine geile Karre«, stimmte ihm Nummer fünf zu. Sein Aussehen war so bizarr, dass Kim es gar nicht versuchte es mit irgendetwas zu vergleichen. »Aber ich finde, der Kiste fehlen noch ein paar Ralleystreifen.«

Er hob eine schmale Hand mit einem dafür umso wuchtigeren Siegelring in Form eines Totenkopfes. Mit einem Geräusch, das Kim beinahe Zahnschmerzen bereitete, zog er ihn durch den Lack der Beifahrertür.

»He!«, brüllte Kim - und beging seinen dritten und schwersten Fehler, indem er mit einem Ruck die Tür aufriss und aus dem Wagen sprang. »Bist du wahnsinnig geworden?«

Der Junge wich mit einem Ausdruck von Angst, der nicht echt war, einen Schritt vor Kim zurück. Die Wagentür fiel mit einem dumpfen Laut ins Schloss und Kim sah aus den Augenwinkeln, wie der Junge mit der gepiercten Nase an ihm vorbei und dann hinter ihn trat.

Die Punker hatten ihn umkreist. Mit Ausnahme des Anführers - Kim wusste einfach, dass der Pirat der Rädelsführer der Bande war - grinsten alle schadenfroh und Kims Herz begann schneller zu schlagen. Der Vergleich erschien ihm fast selbst lächerlich, aber er fühlte sich plötzlich, als wäre er einer Gruppe höhnisch grinsender Trolle aus einer der fantastischen Geschichten eingekreist.

»Was willst du, Arsch?«, fragte der Bursche, der die Wagentür zerkratzt hatte.

Kims Gedanken überschlugen sich. Wenn er überhaupt noch eine Chance haben wollte, mit einem blauen Auge aus der Geschichte herauszukommen, dann durfte er jetzt auf keinen Fall Angst zeigen. Auch wenn er innerlich vor Furcht zitterte. »Seid ihr übergeschnappt?«, fragte er, zwar nicht in ganz so selbstsicherem Ton, wie er es gerne gehabt hätte, aber auch ohne dass seine Stimme vor Angst zitterte. »Der Wagen ist fast neu!«

»Deshalb habe ich ihn ja auch verziert«, antwortete der Bursche.

»Aber ich finde, der Kleine hat Recht«, sagte der Irokese. »Es sieht Scheiße aus, wenn eine Tür verkratzt ist.«

»Du meinst, ich sollte die andere Tür auch verzieren?«

»Mindestens! Am besten alle vier«, sagte der mit den Ketten. Kim unterdrückte nur noch mit letzter Kraft den Impuls, den Jungen neben sich einfach niederzustoßen und sich in den Buchladen zu retten. Er war nicht einmal sicher, ob ihm die Bande nicht gefolgt wäre.

Der Bursche mit dem Ring ging um den Wagen herum und zerkratzte gemütlich auch die Tür auf der Fahrerseite. Kim schluckte alles hinunter, was ihm auf der Zunge lag, und wandte sich mit erzwungener Ruhe an den Anführer. »Was soll denn der Quatsch?«, fragte er. »Ihr habt euren Spaß gehabt und jetzt hört auf. - Bitte«, fügte er nach hörbarem Zögern hinzu.

Der Pirat hatte bisher als Einziger kein Wort gesagt und er schwieg auch jetzt. Der Gepiercte lachte: »Jetzt fängt das Bübchen auch noch an zu betteln. Ist das nicht süß?«

»Wahrscheinlich hat er Angst, dass Papi ihm den Hintern versohlt, weil er nicht auf seine Proletenkarre aufgepasst hat«, fügte der Irokese hinzu. Dann versetzte er Kim einen Stoß in den Rücken, der ihn in die Arme des Metallbehangenen stolpern ließ. Der Bursche schnappte ihn, wirbelte ihn herum und stieß ihn gegen den mit dem breiten Scheitel. Kim blieb die Luft weg und er hatte Mühe, sich auf den Beinen zu halten, als er in die Richtung des Irokesen geschubst wurde.

Der nächste Fehler war, dass er sich diese Behandlung nicht gefallen ließ, sondern eine instinktive Bewegung machte, die man zumindest als Angriff auslegen konnte.

Darauf hatte der Irokese nur gewartet. Kim bekam einen harten Schlag in den Magen, taumelte heftig nach Luft japsend gegen den Wagen und sah eine Faust mit einem Siegelring in Form eines Totenkopfes auf sich zu fliegen. Sein Versuch, dem Hieb auszuweichen, kam zu spät.

Es tat so weh, dass er im ersten Augenblick Sterne sah und jeden Gedanken an weiteren Widerstand aufgab. Er duckte sich, hob die Hände vor das Gesicht und wartete auf weitere Schläge.

Stattdessen sagte eine scharfe Stimme: »Was geht hier vor?«

Kim nahm die Hände herunter und sah, wie sein Vater aus der Buchhandlung trat. Er war nicht allein. Der Besitzer des Geschäftes folgte ihm, aber in etwas zu großem Abstand und seine Bewegungen wirkten sehr nervös.

Kims Vater hingegen trat dem Piraten ohne die leiseste Spur von Unsicherheit entgegen und fragte noch einmal: »Was ist hier los?« Wie Kim schien er den Burschen instinktiv als Anführer der Gruppe ausgemacht zu haben.

»Misch dich lieber nicht ein«, sagte der Punker. »Das hier geht dich nichts an.«

»Ich denke schon«, antwortete Kims Vater ruhig. »Zufällig ist das nämlich mein Auto. Und ebenso zufällig auch mein Sohn.«

»Dein Pech«, erwiderte der Pirat. Er blieb ganz ruhig, aber Kim sah voller Schreck, dass er nicht nur zwei Fingerbreit größer war als sein Vater, sondern auch um einiges muskulöser. Während er sprach, verloren die anderen Punker schlagartig das Interesse an Kim und begannen sich um seinen Vater zusammenzurotten. Der Buchhändler wich rasch wieder in sein Geschäft zurück, vielleicht um die Polizei zu rufen, aber dieser Entschluss kam natürlich zu spät.

Noch während Kim verzweifelt überlegte, was er tun könnte, erklang am Ende der Straße das Heulen einer Sirene. Kim fuhr überrascht herum und sah den Streifenwagen mit zuckendem Blinklicht heranrasen. Offenbar hatten die Beamten dem Frieden doch nicht getraut und waren nur einmal um den Block gefahren.

Die Punker reagierten blitzschnell und rasten in verschiedene Richtungen davon; auf diese Weise konnte der Streifenwagen allerhöchstens einen von ihnen erwischen. Die Bande hatte offensichtlich Erfahrung in dieser Art des strategischen Rückzugs.

Der Streifenwagen raste mit heulender Sirene heran und bremste im letzten Moment ab. »Ist jemand verletzt?«, rief der Beamte auf der Beifahrerseite. »Was ist passiert?«

Kim wollte antworten, aber sein Vater kam ihm zuvor. »Es ist nichts«, sagte er. »Nur ein Missverständnis. Es gibt keinen Grund zur Aufregung.«

Der Polizeibeamte tauschte einen überraschten Blick mit seinem Kollegen, dann sah er den davonrennenden Punkern hinterher.

»Sind Sie sicher?«, fragte er schließlich.

»Ganz sicher«, antwortete sein Vater. Er lachte. »Sie wissen ja, wie diese Kinder sind.«

Die Sirene des Polizeiwagens verstummte. Aber er fuhr keineswegs ab, sondern rollte nur ein paar Meter weiter an die Bordsteinkante und hielt dann an. Kim sah, wie der Beamte hinter dem Steuer nach dem Funkgerät griff und hineinzusprechen begann. Der andere stieg aus und setzte seine Mütze auf, während er sich seinem Vater näherte.

»Vielleicht sollten Sie mir das doch genauer erklären«, sagte er. Sein Blick streifte den frischen Kratzer auf der Wagentür und er runzelte die Stirn. »Und wo wir schon einmal gerade dabei sind, zeigen Sie mir doch bitte auch gleich mal ihre Papiere.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis sich der Polizeibeamte endlich zufrieden gab und sie abfahren konnten. Sein Vater hatte es so eilig, dass er sogar vergaß in den Laden zurückzugehen und seine Bücher zu holen. Kim hatte sich die ganze Zeit über nicht aus dem Wagen gerührt und er hütete sich auch in den ersten Minuten nur ein einziges Wort zu sagen oder auch nur mit seinem Vater in Blickkontakt zu treten, sondern wandte den Kopf in die entgegengesetzte Richtung, sah aus dem Fenster und massierte in Gedanken verloren sein Auge.

»Tut's weh?«, fragte sein Vater.

»Ein bisschen«, gestand Kim. Jetzt, wo sein Vater von sich aus das Schweigen gebrochen hatte, fiel es auch Kim leichter zu reden. »Vielen Dank«, sagte er. »Das war sehr mutig von dir.«

»Das war nicht mutig, das war äußerst dumm«, antwortete sein Vater. Er ließ offen, ob er damit sein eigenes Verhalten meinte oder das Kims. »Ich wage gar nicht mir vorzustellen, was hätte passieren können, wenn der Polizeiwagen nicht aufgetaucht wäre. Ich bin innerlich fast gestorben vor Angst.«

»Davon hat man nichts gemerkt.«

»Bin ich aber!«, sagte sein Vater heftig. »Du glaubst wohl nicht, dass ich auch nur die geringste Chance gegen diese Burschen gehabt hätte! Du hast sie doch gesehen, oder?«

»Warum hast du es dann trotzdem getan?«

»Na, du bist vielleicht gut!« Sein Vater blickte ihn giftig an. »Hätte ich vielleicht zusehen sollen, wie sie dich durch die Mangel drehen? Warum bist du überhaupt ausgestiegen?«

»Na, weil... weil sie den Wagen verkratzt haben«, antwortete Kim verunsichert. Das war nicht ganz die richtige Reihenfolge, spielte aber jetzt auch keine Rolle.

»Wir haben also einen Kratzer in der Autotür«, sagte sein Vater. »Das ist ärgerlich. Und was haben wir jetzt? Jetzt haben wir zwei zerkratzte Türen, du hast ein blaues Auge, ich wäre um ein Haar verprügelt worden und hatte Stress mit der Polizei.« Er warf Kim einen raschen Seitenblick zu und in seinen Augen erschien ein Ausdruck unverhohlener Schadenfreude. »Das ist übrigens ein hübsches Veilchen, wenn ich das richtig sehe.«

»Ich werde es überleben«, sagte Kim. Er war ziemlich ärgerlich. Das klang ja fast so, als ob sein Vater ihn für den Zwischenfall verantwortlich machen würde!

»Aber es war nicht besonders klug«, sagte sein Vater noch einmal. »Ich kann dich ja gut verstehen. Mir kommt auch die Galle hoch, wenn ich sehe, wie sich die Kerle benehmen. Aber manchmal ist es einfach klüger, sich nicht provozieren zu lassen.«

»Wieso hast du den Polizisten nichts gesagt?«, fragte Kim. »Sie hätten sich schon um die Burschen gekümmert.«

»Ach ja?«, erwiderte sein Vater. Sein Ton wurde schärfer. »Sie hätten sie ein bisschen gejagt, vielleicht ein oder zwei von ihnen gefangen und möglicherweise für ein paar Stunden eingesperrt. Ich hätte zum Anwalt gehen müssen, endlose Formulare ausfüllen und Stunden um Stunden auf dem Gericht verbringen müssen. Die Burschen wären vielleicht wegen Sachbeschädigung verurteilt worden und je nachdem, was sie schon alles ausgefressen haben, möglicherweise sogar zu einer Jugendstrafe. Was ihre Chancen nicht unbedingt verbessert hätte, falls sie irgendwann doch noch einmal zur Vernunft kommen sollten. Und so ganz nebenbei: Den Lackschaden hätte ich mir sowieso selber bezahlen müssen, weil bei den Kerlen garantiert nichts zu holen ist.« Er schüttelte den Kopf. »Fragst du mich wirklich, warum ich die Polizisten weggeschickt habe?«

Natürlich hatte sein Vater mit allem, was er sagte, Recht. Aber das war nicht die ganze Wahrheit. Kim konnte das Gefühl nicht richtig in Worte fassen, aber da war noch mehr. Auch wenn es bestimmt nicht sehr klug gewesen war, sich mit den Burschen anzulegen - wenn er ehrlich zu sich selber war, dann musste er zugeben, dass er vermutlich nicht einmal mit einem von ihnen fertig geworden wäre, geschweige denn mit sechs -, hätte er es einfach nicht ertragen können tatenlos dazusitzen und sich feige vorzukommen.

Der Rest der Fahrt verlief in unangenehmem Schweigen. Vater rief von unterwegs aus noch einmal zu Hause an um ihre Verspätung zu erklären, sodass der erwartete Krach ausblieb. Aber natürlich war der Zwischenfall vor der Buchhandlung auch beim Mittagessen das einzige Gesprächsthema. Kims jüngere Schwester Rebekka konnte die Geschichte gar nicht oft genug hören - vor allem den Teil, in dem Kim eins aufs Auge bekommen hatte - und entwickelte sich zu einer regelrechten Nervensäge, bis es schließlich auch seinem Vater zu viel wurde und er mit scharfen Worten für Ruhe sorgte. Kaum hatten sie zu Ende gegessen, da bat Kim aufstehen zu dürfen und trollte sich in sein Zimmer.

Er musste sich beherrschen um nicht die Tür hinter sich zuzuknallen. Während sich sein Vater im Laufe des Essens wieder beruhigt und am Ende sogar seine Scherze über den Zwischenfall gemacht hatte, war Kim immer wütender geworden, wenn auch ohne es sich anmerken zu lassen. Er wusste gar nicht genau, warum.

Es war nicht das erste Mal, dass er mit einem blauen Auge oder einer anderen Blessur nach Hause kam. In seinem Alter gehörte eine kleine Prügelei dann und wann einfach dazu. Und obwohl er kein Schwächling war, gewann er längst nicht immer.

Aber er war noch nie so ... erniedrigt worden.

Er setzte sich an den Schreibtisch, schaltete den Computer ein und probierte zwei, drei Spiele aus, ohne die richtige Begeisterung zu entwickeln. Sein Gesicht spiegelte sich matt auf dem Bildschirm und er konnte sehen, dass sein Auge bereits jetzt blau anzulaufen begann. Der Augenblick ließ seine Laune noch weiter sinken. Er hämmerte mit solcher Kraft auf die Tastatur ein, dass der Computer ein protestierendes Piepsen von sich gab.

Die Tür ging auf und seine Schwester kam herein, wie üblich natürlich ohne anzuklopfen. Kim drehte sich mit seinem Bürosessel zur Tür herum und blickte ihr finster entgegen. »Was willst du?«

Seine Schwester grinste. »Gut siehst du aus. Soll ich dir vielleicht eine Augenklappe nähen?«

»Du würdest dich höchstens ins den Finger stechen und wie Dornröschen im Schlaf versinken«, knurrte Kim.

»Aber dann würdest du doch bestimmt kommen und mich retten.«

»Ganz bestimmt sogar nicht«, antwortete Kim. »Ich würde die Rosenhecke gießen, damit sie schön dicht wird, verlass dich drauf!«

Rebekka kicherte. »Du bist sauer. Unglaublich. Kim, der Held aus der Schlacht um Gorywynn, ist stinksauer, weil er eins aufs Auge bekommen hat!«

»Hör auf damit«, sagte Kim. »Du weißt, dass ich nichts mehr von diesem Unsinn hören will.«

»Unsinn?« Rebekka zog eine Grimasse. »Themistokles wäre da anderer Meinung. Und Gorg würdest du das nicht ins Gesicht sagen, da wette ich.«

»Du spinnst, Schwesterchen«, antwortete Kim kopfschüttelnd. »Du weißt, dass das alles nur in deiner Fantasie stattgefunden hat.«

»Und in deiner. Ist schon komisch, nicht, dass zwei Leute den gleichen Traum haben?«

»Stimmt«, bestätigte Kim. Er zuckte mit den Schultern. »Aber wahrscheinlich gibt es eine ganz logische Erklärung dafür.«

»Ja, ganz bestimmt«, bestätigte Rebekka spöttisch. Sie schüttelte den Kopf. »Was ist los mit dir? Hat es deine Ehre verletzt, dass du nicht ganz allein mit den Burschen fertig geworden bist? Ich, finde, eins zu sechs ist kein faires Verhältnis. Es hätte schlimmer kommen können.«

»Das ist kein Argument. Schlimmer kann es immer kommen.«

»Was ist es dann?«, wollte Rebekka wissen.

Kim schwieg einen kurzen Moment. Der Computer neben ihm lief immer noch. Plötzlich störte ihn das Flimmern, das er aus den Augenwinkeln wahrnahm. Er schaltete ihn aus, bevor er antwortete.

»Weil ich mich ziemlich dumm benommen habe«, sagte er dann. »Irgendwie war das Ganze meine Schuld. Wenn ich die Burschen nicht provoziert hätte, wäre wahrscheinlich gar nichts passiert. Wenn du so willst, habe ich Vater in eine ganz schön gefährliche Situation gebracht.«

»Es ist ja nichts passiert, oder?«

»Aber es hätte -«, begann Kim, brach aber dann mitten im Satz ab, als es an der Tür klopfte und sein Vater hereinkam.

»Störe ich?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Kim hastig. »Kein bisschen. Wir waren gerade dabei mit dem Computer zu spielen.«

»Aha«, sagte sein Vater. Er streifte den ausgeschalteten Monitor mit einem kurzen Blick und griff in die Jeansjacke, während er näher kam.

»Ich habe etwas für dich«, sagte er, an Rebekka gewandt. »In der Aufregung heute Mittag habe ich es ganz vergessen. Hier.« Er reichte Rebekka einen in Seidenpapier eingepackten, kinderhandgroßen Gegenstand.

Rebekka griff hastig danach und hüpfte vor Aufregung von einem Fuß auf den anderen. Sie liebte es, Geschenke zu bekommen.

»Was ist es?«, fragte sie aufgeregt, während sie mit fliegenden Fingern das Papier herunterfetzte - und die Stücke natürlich auf den Teppich fallen ließ. Kim sparte sich die Frage, wer sie später wieder aufheben durfte.

»Nur eine Kleinigkeit«, antwortete Vater.

Rebekka riss das Papier vollends ab und stieß einen kleinen, überraschten Laut aus, als sie sah, was darunter zum Vorschein kam.

Es war eine vielleicht sechs oder sieben Zentimeter große schimmernde Kugel aus Kunstglas, die von einer goldenen Schlange gehalten wurde, die sich auf den zweiten Blick als kunstvoll ausgeführter Drache herausstellte. Im Inneren der Kugel befand sich ein Gebilde aus pastellfarbigem Glas oder Kunststoff, das vielleicht einen Kristall darstellen mochte, ebenso gut aber auch eine Fantasiestadt mit unzähligen Türmchen und Ecken, Mauerzinnen und Dächern.

»Aber das ist ja fantastisch!«, murmelte Rebekka. Sie klang ein bisschen verwirrt. Ungefähr so, wie Kim sich fühlte.

»Es ist hübsch, nicht wahr?«, sagte Vater. »Ich weiß zwar nicht genau, was es sein soll, aber als ich es in der Buchhandlung sah, konnte ich einfach nicht widerstehen. Gefällt es dir?«

»Ob es mir gefällt?« Rebekka sah erst ihren Vater an, dann mit noch größerer Verwirrung wieder Kim. »Das ... das ist... Rangarig!«

»Was?«, fragte Vater.

»Großartig«, verbesserte sich Rebekka. »Ich wollte sagen: Großartig.«

»Ich wusste, dass es dir gefällt«, sagte Vater. Er strahlte über das ganze Gesicht, dann wandte er sich an Kim. »Für dich habe ich leider nichts. Außer vielleicht ein rohes Steak.«

»Ein rohes Steak?«

»Das soll angeblich ganz hervorragend wirken, wenn man ein blaues Auge hat«, antwortete sein Vater. Er wandte sich wieder an Rebekka. »Es gefällt dir also?«

»Na und wie!«, versicherte Rebekka.

»Dann kommt jetzt die schlechte Nachricht«, fuhr Vater fort. »Du hast deine Hausaufgaben noch nicht gemacht.«

Rebekka zog einen Schmollmund, aber die Freude über das Geschenk überwog. Sie presste ihren Schatz an sich und verschwand damit. Kim war erleichtert. Es gab keinen logischen Grund dafür, aber der Anblick der Glaskugel hatte ihn ziemlich nervös gemacht.

»Und du?«, fragte sein Vater.

»Alles schon erledigt, Boss«, antwortete Kim. Sie hatten an diesem Tag gar keine Arbeiten aufbekommen, aber das lief ja wohl auf dasselbe hinaus.

»Dann ist ja alles in Ordnung«, sagte sein Vater. Er drehte sich zur Tür, blieb aber dann mit der Hand auf der Klinke stehen und sah zu ihm zurück. »Wegen vorhin ...« Er druckste einen Augenblick herum, dann lächelte er nervös. »Ich war wohl ein bisschen heftig«, fuhr er fort. »Es tut mir Leid. Ich war nervös, weißt du? Auch Väter haben Nerven. Alles okay?«

»Natürlich«, antwortete Kim. »Es war genauso mein Fehler. Wenn wir diese Kerle noch einmal treffen sollten, halte ich bestimmt mein vorlautes Mundwerk.«

»Das werden wir kaum«, erwiderte sein Vater. »Sie kommen so gut wie nie in diese Gegend. Und nach dem Schrecken, den ihnen der Polizeiwagen eingejagt hat, erst recht nicht mehr.«

»Du hast wahrscheinlich Recht«, sagte Kim.

Er konnte es nicht wissen, aber diese Bemerkung passte zu einigen anderen, die er im Laufe des Tages bereits gemacht hatte.

Sie war ein Fehler.

Ihre Eltern hatten Theaterkarten für diesen Abend und wie üblich, wenn sie beide nicht zu Hause waren, brachten sie Rebekka zu Tante Birgit. Im Grunde genommen hätte sie auch mit Kim dableiben können, Kim hielt sich für durchaus alt genug, um für einen Abend den Babysitter zu spielen, und Rebekka glaubte mit ihren neun Jahren auch alt genug zu sein, um ein paar Stunden allein mit ihrem großen Bruder im Haus zu verbringen.

Ihre Eltern sahen das allerdings etwas anders - und Kim war eigentlich ganz froh, nicht den ganzen Abend mit dieser Nervensäge verbringen und sich wenig originelle Bemerkungen über sein blaues Auge und die verlorene Schlacht vor der Buchhandlung (Rebekka nannte es tatsächlich so!) anzuhören.

Er begleitete seine Eltern bis zur Garageneinfahrt und winkte ihnen nach, als sie abfuhren. Als der Wagen verschwunden war, drehte er sich herum um zum Haus zurückzugehen. Dabei sah er gerade noch, wie jemand hinter einem Gebüsch nur ein paar Häuser weit entfernt verschwand. Jemand mit grünen Haaren und einem feuerroten Hemd.

Kim blieb wie angewurzelt stehen. Sein Herz begann zu hämmern und für die Dauer von ein paar Sekunden starrte er das Gebüsch so konzentriert an, dass seine Augen vor Anstrengung zu brennen begannen.

Dann nannte er sich in Gedanken einen Dummkopf, drehte sich mit einer schnellen Bewegung herum und ging zum Haus zurück. Er hatte sich getäuscht. Jemand trug eine rote Jacke und eine neongrüne Mütze. Die Punker hatten überhaupt keinen Grund, nach ihm zu suchen. Er war ganz sicher.

Immerhin so sicher, dass er nicht nur die Tür hinter sich abschloss, sondern auch die Sicherheitskette vorlegte und gute zwei Minuten durch den Spion auf die Straße hinausspähte.

Nichts rührte sich. Die Straße blieb leer. Er hatte sich also doch nur eingebildet, den Piraten zu sehen.

Einigermaßen beruhigt ging er ins Wohnzimmer zurück, schaltete den Fernseher ein und nahm eine Videokassette aus dem Geheimfach hinter dem Flaschenregal, von dem sein Vater glaubte, er wisse nichts davon, und in dem er die richtig guten Filme aufbewahrte.

Es war jedoch seltsam. Bei Kim kam keine richtige Begeisterung auf, während er Arnold Schwarzenegger als Terminator dabei zusah, wie er Autos in die Luft jagte und feindliche Roboter zu Schrott schoss. Nach weniger als einer halben Stunde schaltete er ab, ging in die Küche und knabberte eine Weile lustlos an dem halben Hühnchen herum, das ihm seine Mutter in den Kühlschrank gestellt hatte.

Er war hungrig, hatte aber keinen Appetit und stellte den Teller nach ein paar Augenblicken wieder zurück. Was war nur mit ihm los?

Natürlich wusste er die Antwort im Grunde sehr genau.

Es hatte mit dem albernen Kinderspielzeug zu tun, das Vater Rebekka aus der Buchhandlung mitgebracht hatte.

Also tat er das einzig Vernünftige: Er ging in Rebekkas Zimmer hinüber um sich das verdammte Ding noch einmal in aller Ruhe anzuschauen.

Es hatte zu dämmern begonnen, sodass er das Licht einschalten musste. Rebekkas Zimmer war ein riesiges Chaos. Seine Schwester war nämlich darin, Unordnung zu machen, sehr viel talentierter als irgendein Mensch, den Kim kannte. Kim musste mit vorsichtigen Schritten durch das Zimmer staksen um nicht irgendwo draufzutreten oder zu stolpern und der Versuch, in dem Durcheinander in den Regalen ein Objekt von der Größe der Glaskugel zu finden, erschien ihm geradezu lächerlich.

Doch er musste nicht lange suchen. Die Glaskugel stand auf Rebekkas Nachttischchen.

Kim nahm sie vorsichtig in die Hand. Sie war überraschend schwer. Statt aus billigem Plastik wie erwartet, schien sie tatsächlich aus Metall und Glas zu bestehen.

Und das war noch längst nicht alles.

Die Glaskugel fühlte sich sonderbar warm in seiner Hand an. Sie war so kühl und glatt wie Glas, zugleich aber hatte er beinahe das Gefühl, etwas Lebendiges zu berühren. Und das pastellfarbene Etwas in ihrem Inneren sah wirklich wie eine auf fünf Zentimeter verkleinerte Burg aus.

Kim betrachtete den Drachen genauer, der den Schwanz um die Glaskugel geschlungen hatte. Was er vorhin schon einmal bemerkt zu haben glaubte, das bestätigte sich. Die Miniaturen waren perfekt. Jedes noch so winzige Detail stimmte und der Drache wirkte so lebensecht, dass Kim sich kaum noch gewundert hätte, hätte er im nächsten Moment die Flügel ausgebreitet und wäre davongeflogen.

Aber was ihn eigentlich erschreckte, war etwas anderes.

Er kannte diesen Drachen.

Es war genau so, wie Rebekka es gesagt hatte, als sie die kleine Metallskulptur das erste Mal erblickte: Es war Rangarig, der goldene Drache aus dem Lande Märchenmond. Er war diesem Wesen begegnet, hatte zwischen seinen gewaltigen Flügeln gesessen und war auf seinem Rücken weit in das Land geflogen.

Kim stellte die Kugel mit einer fast erschrockenen Bewegung wieder an ihren Platz zurück und lächelte nervös. Heute war nicht sein Tag.

Offenbar hatte er nicht einmal seine Fantasie im Zaum. Natürlich war nichts von alledem wirklich passiert. Er hatte einen Traum gehabt, aber mehr auch nicht.

Unten im Haus polterte etwas und Kim schrak aus seinen Überlegungen hoch. Er verließ das Zimmer, ging zum Treppengeländer und lauschte einen Moment angestrengt. Er hörte nichts mehr, aber sein Herz klopfte ein wenig schneller. Auf Zehenspitzen schlich er die Treppe hinab, warf einen Blick ins Wohnzimmer und dann in die gegenüberliegende Küche. Irgendetwas war umgefallen und der Lautstärke nach musste es etwas Großes oder doch zumindest sehr Schweres gewesen sein. Aber er sah nichts.

Kim wollte sich gerade an die Erklärung gewöhnen, dass es wohl doch nur Einbildung gewesen war, als sich das Geräusch wiederholte. Diesmal konnte er die Richtung identifizieren, aus der es kam.

Aus dem Keller.

Kim trat auf die Tür unter der Treppe zu und streckte die Hand nach der Klinke aus, aber dann zögerte er, sie hinunterzudrücken. Vielleicht war es nicht besonders vernünftig in den Keller zu gehen und nachzusehen, was das Geräusch verursacht hatte. Nicht nach allem, was heute geschehen war. Vielleicht wäre es vernünftiger, die Polizei anzurufen oder wenigstens einen Nachbarn um Hilfe zu bitten.

Und was, wenn sie zusammen in den Keller gingen und feststellten, dass nur eine streunende Katze durch ein Fenster hereingekommen war? Dann würde er ganz schön dumm dastehen.

Außerdem wollte er sich nicht noch einmal wie ein Feigling vorkommen müssen.

Er drückte die Klinke herunter, öffnete die Tür und schaltete das Licht ein. Der Keller bestand aus einem einzigen, großen Raum, dessen Decke von einer Anzahl starker Betonpfeiler getragen wurde. Die linke Hälfte war mit Kisten und Kästen, ausrangierten Möbeln und jeder Menge Gerümpel voll gestopft, die rechte Hälfte war penibel aufgeräumt und enthielt zwei Werkzeugschränke und eine ziemlich große Werkbank.

Das Kellerfenster unmittelbar über der Werkbank stand offen.

Und auf der Werkbank selbst prangte ein großer, schmutziger Fußabdruck.

Kim stieg mit klopfendem Herzen die steile Kellertreppe hinunter und trat an die Werkbank heran. Es gab nur diesen einen Fußabdruck, und Kim konnte nicht sagen, ob er frisch oder vielleicht schon Wochen alt war. Jedenfalls wies die Spitze des Abdruckes nach innen. Als wäre jemand durch das Fenster hereingeklettert und auf den Tisch gestiegen um den Kellerboden zu erreichen.

Kim ließ sich in die Hocke sinken und suchte den Betonboden nach weiteren Schmutzspuren ab. Es gab keine. Dafür sah er plötzlich einen weißen und roten Turnschuh, die unmittelbar vor ihm standen. Darüber erhoben sich zerschlissene Hosenbeine, ein abgewetztes T-Shirt und ein Gesicht mit einem hämischen Grinsen, gekrönt von einem Irokesenhaarschnitt.

»Hallo, Kleiner«, grinste der Punker. »Suchst du etwa mich?« Diesmal reagierte Kim sofort - und ausnahmsweise sogar richtig. Er riss die Hände vor das Gesicht und ließ sich auf die Knie fallen. Seine überkreuzten Handgelenke blockierten den gemeinen Fußtritt, den der Irokese nach seinem Gesicht abschoss. Statt Kims Nase einzubeulen, hüpfte der Punker plötzlich auf komische Art auf einem Bein herum und ruderte mit beiden Armen um sein Gleichgewicht zu behalten. Das musste er auch, denn Kim hatte blitzschnell seinen Fuß gepackt und verdrehte ihn so heftig, dass er den grotesken Tanz nur eine oder zwei Sekunden durchhielt, ehe er nach hinten kippte und ziemlich unsanft auf dem Betonfußboden knallte.

Kim ließ seinen Fuß endlich los, sprang in die Höhe und fuhr herum. Der Irokese begann sich bereits wieder aufzurichten, wirkte aber ziemlich benommen. Kim hatte keine Zeit, sich um ihn zu kümmern. Wo dieser eine war, da waren die anderen fünf garantiert auch nicht weit!

Er raste zur Treppe und sprang mit Riesensätzen die knarrenden Holzstufen hinauf. Unter ihm begann der Irokese Zeter und Mordio zu schreien, aber er hatte es fast geschafft. Noch zwei, drei Stufen - und zwei derbe Hände, von denen eine von einem gewaltigen Siegelring geschmückt wurde, packten ihn an der Brust und zerrten ihn mit einem so festen Ruck nach oben, dass die Nähte seines Hemdes krachten.

Kim ächzte vor Überraschung, versuchte aber trotzdem sofort sich freizumachen. Er riss die Arme nach oben, um den Griff des Punkers auf diese Weise zu sprengen, erreichte damit aber nur, dass der Bursche zurücktaumelte und ihn dabei mit sich riss. Dann versetzte er Kim überraschend einen Stoß, der ihn hilflos nach hinten und in die Arme eines dritten Jungen stolpern ließ, der urplötzlich hinter ihm aufgetaucht war. Das gewaltige Klirren und Scheppern, das dabei erklang, sagte Kim, um wen es sich dabei handelte.

Zwei kräftige Arme voller Eisenringe und Ketten schlossen sich um seinen Oberkörper, hielten seine Arme fest und drückten so fest zu, dass ihm die Luft wegblieb. Kim wand sich wie eine Schlange und versuchte gleichzeitig, nach den Beinen des Burschen hinter sich zu treten, erreichte aber dadurch nichts weiter, als dass dieser seinen Griff noch mehr verstärkte, sodass er nunmehr gar keine Luft mehr bekam und seine Rippen hörbar knackten.

Harte Schritte polterten die Kellertreppe herauf. Der Irokese stürmte aus der Tür, sah sich wild um und hob dann die Faust um Kim zu schlagen - und eine andere, sehr viel kräftigere Hand, die in einem knallroten Ärmel steckte, griff nach seinem Handgelenk und hielt ihn fest.

»Lass das«, sagte der Pirat.

Der Punker hinter Kim lockerte seinen Griff. Zwar nur ein ganz kleines bisschen, aber immerhin weit genug, dass er wenigstens wieder Luft bekam. Kim atmete keuchend und mühsam ein paar Mal ein und aus, blinzelte und sah sich um. Mit Ausnahme des Gepiercten war die ganze Bande anwesend, aber das Klirren und Scheppern aus der Küche machte ihm rasch klar, wo sich der sechste Punker aufhielt.

»He!«, protestierte der Irokese. Er riss sich los, trat einen Schritt zurück und musterte Kim und den Piraten mit ärgerlichen Blicken. »Der Kerl hat mich niedergeschlagen!«

»Selbst schuld!«, antwortete der Pirat. »Wenn du dich von so einer Pfeife niederschlagen lässt, geschieht es dir nur recht.«

»Und was machen wir jetzt mit dem Kleinen?«, fragte der Punker, der Kim festhielt.

»Fesselt ihn«, sagte der Pirat nach kurzem Überlegen. »Und dann schließt ihn irgendwo ein, wo er keinen Ärger machen kann.«

»Aber!«, protestierte der Irokese.

»Halt die Klappe«, unterbrach ihn der Pirat. »Keiner hat gesagt, dass du dich nicht mit ihm amüsieren darfst. Aber im Moment haben wir Wichtigeres zu tun.«

»Hört doch mit dem Unsinn auf!«, keuchte Kim. »Ihr seid ja verrückt!«

»Stimmt«, grinste der Bursche mit dem breiten Scheitel.

»Aber es gefällt uns«, fügte der Irokese hinzu.

»Seid doch vernünftig!«, sagte Kim. »Ich mache euch einen Vorschlag. Wenn ihr mich jetzt loslasst und auf der Stelle verschwindet, dann gebe ich euch mein Wort, dass ich niemandem erzähle, was hier passiert ist.«

»Ach wie süß«, sagte der Irokese.

»Das ist doch vollkommen sinnlos! Hier gibt es nichts, was sich zu stehlen lohnt, wenn ihr deshalb gekommen seid.«

»Verpasst ihm zusätzlich einen Knebel«, sagte der Pirat. »Und dann stellt die Bude auf den Kopf! Wir haben nicht viel Zeit.« Er gab seinen Kumpanen ein Zeichen und sie verteilten sich mit polternden Schritten, mit Ausnahme des Punkers, der Kim festhielt, in die verschiedenen Zimmer. Der Punker schleifte Kim davon und stieß ihn mit roher Gewalt gegen die Wand. Er ließ ihn los, packte die Arme aber sofort wieder und versuchte sie ihm auf den Rücken zu drehen. Doch Kim gelang es, sich halb herumzudrehen und dem Punker beide Hände vor die Brust zu stoßen. Der Bursche verlor das Gleichgewicht und stürzte.

Kim nutzte seine Chance und jagte blitzschnell die Treppe hinauf, wobei er immer zwei oder drei Stufen auf einmal nahm. Unter ihm erschollen wütende Stimmen und hastige Schritte, aber Kim errreichte unbehelligt das Ende der Treppe, raste in sein Zimmer und knallte die Tür zu. Sie erbebte unter einem kraftvollen Schlag, kaum dass er den Schlüssel herumgedreht hatte.

Aber jetzt hatte er eine gute Chance. Seine Tür ging nach außen auf, was es den Punkern wesentlich schwerer machen würde, sie aufzubrechen, und er brauchte nur ein paar Sekunden.

Kim raste zum Fenster, riss es mit zitternden Händen auf und flankte mit einem Satz heraus. Unmittelbar darunter befand sich das Flachdach der Garage und von dort aus war es nicht mehr besonders schwer auf die Straße hinunterzuspringen. Er war in Sicherheit.

Als er auf dem Garagendach landete, erklang in seinem Zimmer das Geräusch von splitterndem Holz und dann ein zugleich wütender wie enttäuschter Schrei. Kim rappelte sich hoch, rannte los - und brach durch das morsche Holz!

Kopfüber stürzte er in die Tiefe, stieß einen gellenden Schrei aus und landete unsanft auf dem Rücken. Das Einzige, was ihn vermutlich vor einer wirklich schweren Verletzung bewahrte, war die fast meterhohe Strohschicht, die den Boden des Pferdestalls bedeckte. Wäre er nur einen Meter weiter nach links gestürzt, wäre er genau in eine der Boxen gekracht und hätte sich entweder an der Umgrenzung sämtliche Knochen gebrochen oder eine gute Chance gehabt, sich einen Tritt ihres erschrockenen Bewohners einzuhandeln.

In dem zerborstenen Loch in der morschen Holzdecke über seinem Kopf erschien ein rundes, fellbedecktes Gesicht mit riesigen Glubschaugen, spitzen Ohren und unangenehm langen, scharfen Zähnen und Kim begriff schlagartig, dass er keineswegs außer Gefahr war. Hastig sprang er hoch, fuhr zur Tür herum und sah, wie die drei Pferde in den Boxen aufmerksam die Köpfe hoben und die Ohren in seine Richtung drehten -

und erstarrte.

Pferde?

Boxen?

Stroh auf dem Boden?

Wo um alles auf der Welt war er?

Das war nicht die Garage seines Vaters! Das ... das war ...

Hinter ihm erscholl ein schweres Plumpsen; ein Geräusch, als ob man einen Mehlsack aus fünf Meter Höhe auf weichen Sand fallen ließ. Kim drehte sich langsam herum und sah das haarige Gesicht, das ihn gerade durch das Loch im Dach angestarrt hatte, jetzt inmitten des Heuhaufens auftauchen. Der dazugehörige Körper, der sich eine Sekunde später aufrichtete, war auch nicht wesentlich hübscher. Die Kreatur erinnerte Kim an eine Mischung aus einem Schimpansen und einem Neandertaler, war aber viel hässlicher und nicht annähernd so groß.

Ein zweites, ebenso groteskes Geschöpf stürzte sich durch das Dach, dann ein drittes, viertes, fünftes und schließlich ein sechstes. Sofort sprangen sie wieder in die Höhe, flitzten auf Kim zu und kreisten ihn ein, wobei sie ununterbrochen in schrillen Tönen schnatterten und pfiffen und plapperten und mit ihren Fäusten auf den Boden schlugen.

Kim machte einen Schritt auf die Brettertür zu, die den Ausgang bildete, und blieb sofort wieder stehen, denn die Stimmen der grotesken Wesen wurden schriller. Sie begannen wie kleine, lebendige Gummibälle auf und ab zu hüpfen und hämmerten mit den Fäusten auf den Boden. Ihre Arme waren so lang, dass sie sich dazu nicht einmal weit vorbeugen mussten. Allmählich wurde Kim doch ein wenig mulmig. Durch ihre weit nach vorne gebeugte Haltung und die hängenden Schultern war es schwer die wirkliche Größe der Geschöpfe zu schätzen, aber Kim glaubte nicht, dass sie ihm auch nur bis zur Schulter gereicht hätten, selbst wenn sie sich ganz aufrichten würden. Außerdem waren die meisten so dürr, dass schon eine flüchtige Bewegung ausreichen musste um sie in der Mitte durchzubrechen. Kim konnte sich nicht vorstellen, dass von den grotesken Kreaturen eine Bedrohung ausging.

Anderseits waren sie zu sechst und sie hatten wirklich gefährlich aussehende Zähne...

Er versuchte wieder einen Schritt auf die Tür zuzumachen und erneut verwehrten ihm die Neanderaffen den Weg. Diesmal hatten ihre Bewegungen eindeutig etwas Aggressives. Ihr Schnattern wurde schriller. Eines der Geschöpfe schlug mit der Faust nach ihm und ein zweites packte seine Hand und biss kräftig hinein.

Kim stieß einen leisen Schrei aus, riss seinen Arm zurück und schüttelte ihn hin und her. Das Geschöpf ließ jedoch nicht los, sondern wurde einfach mitgezerrt, flog zwei- oder dreimal hoch in die Luft und knallte ebenso oft ziemlich unsanft auf den Boden. Erst dann kam es auf die Idee, seine Hand loszulassen. Es flog in hohem Bogen durch die Luft, prallte mit einem Geräusch wie ein großer, weicher Gummiball gegen die Wand und verschwand quietschend in einer der Pferdeboxen. Das Pferd begann sofort zornig zu wiehern.

Die verbliebenen fünf Kreaturen umkreisten ihn weiter. Ihre Bewegungen waren so hektisch, als wäre es ihnen gar nicht möglich, auch nur eine einzige Sekunde still zu stehen. Sie schnatterten und quietschten immer aufgeregter durcheinander. Ihre Fäuste hämmerten auf den Boden und ihre Zähne schlugen mit klappernden Geräuschen aufeinander.

Das Pferd in der Box hinter Kim wieherte erneut, trat mit den Hinterläufen aus und ein pelziger Ball flog in hohem Bogen aus der Box heraus und landete unmittelbar vor seinen Füßen. Ein paar Sekunden lang lag er reglos da, sodass Kim schon befürchtete, das der Neanderaffe tot wäre, aber dann richtete es sich benommen auf, schüttelte den Kopf und reihte sich in den randalierenden Kreis ein. Die Knirpse waren zäh, das musste man ihnen lassen.

Er versuchte wieder, den albernen Belagerungsring zu durchbrechen und eines der Geschöpfe senkte die Schultern, nahm Anlauf und rammte Kim den Schädel in den Bauch.

Kim verlor die Balance, fiel nach hinten ins Stroh und japste vor Überraschung und Zorn, als einer der kleinen Teufel auf seinen Bauch sprang und darauf herumzuhüpfen begann, als verwechsele er ihn mit einem Trampolin. Ein zweiter versuchte das Gleiche mit seinem Gesicht und das ging wirklich zu weit.

Kim fegte die beiden kleinen Quälgeister mit einer einzigen, zornigen Bewegung zur Seite, setzte sich mit einem Ruck auf, und diese Bewegung rettete ihm wahrscheinlich das Leben.

Er sah nur einen Schatten aus den Augenwinkeln. Etwas sauste mit einem hässlichen Geräusch um Haaresbreite an seinem linken Ohr vorbei und bohrte sich mit einem dumpfen Laut in den Boden; ziemlich genau da, wo eine halbe Sekunde zuvor noch sein Hals gewesen war.

Kim drehte sich hastig herum - und erschrak bis ins Innerste. Während drei der kleinen Biester ihn abgelenkt hatten, hatten die anderen mit vereinten Kräften eine Mistgabel herbeigeschafft und versuchten ihn damit zu erstechen!

Und sie gaben ihr Vorhaben keineswegs auf. Die Zinken der Mistgabel hatten sich tief in den Boden gebohrt, und die drei Knirpse zappelten und zerrten mit aller Kraft daran. Es sah schon wieder fast hämisch aus.

»Jetzt reicht's«, sagte Kim. »Das ist kein Spaß mehr!«

Er stand auf, pflückte die drei Neandertalerschimpansen von der Mistgabel und warf sie in hohem Bogen davon.

Die restlichen drei der kleinen Scheusale sprangen ihn gleichzeitig von hinten an und rissen ihn zu Boden. Kim stürzte mit dem Gesicht voran zu Boden, versuchte zu schreien, bekam aber den Mund voller Stroh und hustete qualvoll um überhaupt noch Luft zu bekommen. Eines der Biester verbiss sich in seinem linken Ohr. Kim schleuderte es davon und diesmal begann sein Ohr zu bluten und es tat weh.

Er versuchte wieder sich in die Höhe zu stemmen und jetzt gelang es ihm wenigstens, sich auf den Rücken zu wälzen. Sofort trat ihm ein übel riechender haariger Fuß ins Gesicht. Kim verdrehte ihn, brachte seinen Besitzer damit zu Fall und keuchte vor Schmerz, als eines der kleinen Mistviecher ungefähr zwei Meter weit in die Höhe sprang und dann mit angezogenen Knien auf seinem Magen landete. Er bekam nun endgültig keine Luft mehr und der Schlag in seinen Magen war so hart gewesen, dass ihm übel wurde.

Die Tür flog auf und Kim blinzelte geblendet in die Flut grellen Sonnenlichts, die hereinströmte. Seine Augen begannen zu tränen. Für einen Moment sah er nur noch Schatten und rasche Bewegungen rings um sich herum. Schwere schnelle Schritte näherten sich und dann brüllte eine dunkle Stimme: »Was ist denn hier los?! Aufhören! Auf der Stelle!«

Zwei, drei schwere, klatschende Laute erschollen und ein Teil der Füße und Fäuste, die ihn gepeinigt hatten, war plötzlich nicht mehr da.

»Macht, dass ihr rauskommt, ihr Gesindel!«, fuhr die brüllende Stimme fort. »Raus hier! Haut ab! Raus!«

Kim blinzelte die Tränen aus seinen Augen, setzte sich mühsam auf und versuchte etwas zu erkennen.

Ein grauhaariger Mann war durch die Tür hereingekommen. Dem Klang seiner Stimme nach hatte Kim einen wahren Riesen erwartet, aber das Gegenteil war der Fall. Vor ihm stand ein grauhaariger, sicherlich siebzig Jahre alter Mann in zerrissener Kleidung, der trotzdem von beeindruckender Größe war und sehr schlank. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, wie ein Berserker unter den Pelzgeschöpfen zu wüten. Er hatte einen breiten Ledergürtel in der Hand, den er mit großer Kraft schwang und ihn gezielt auf die Rücken und Hinterteile der Kreaturen heruntersausen ließ.

Was Kim nicht gelungen war, schaffte der Alte binnen Sekunden: Die kleinen Monster ließen von ihm ab und ergriffen kreischend und schnatternd die Flucht. Der Alte lief ihnen bis zur Tür nach, drosch weiter mit seinem Lederriemen auf sie ein und versetzte dem Letzten, der nicht schnell genug war, einen Tritt in das verlängerte Rückgrat, der ihn in hohem Bogen nach draußen beförderte.

Der alte Mann blieb unter der Tür stehen, schüttelte drohend die Faust und schrie: »Lasst euch hier bloß nie wieder sehen, verdammtes Gesindel! Das nächste Mal kommt ihr mir nicht so glimpflich davon!«

Kim richtete sich schwankend in eine halb sitzende Position auf und schüttelte benommen den Kopf. Sein Ohr und auch seine Nase bluteten und er begann allmählich zu spüren, dass ihm die haarigen Geschöpfe wohl doch mehr zugesetzt hatten, als er wahrhaben wollte. Es gab nicht viele Stellen an seinem Körper, die nicht wehtaten. Spätestens morgen früh würde er ein einziger großer blauer Fleck sein.

Der Alte blieb unter der Tür stehen, bis das Meckern und Kreischen der Bande in der Ferne verklungen war. Dann drehte er sich langsam herum und trat auf Kim zu. Während er es tat, fädelte er den Gürtel wieder in die Schlaufen seiner abgewetzten Kniehosen ein. Der Blick seiner dunklen Augen musterte Kim aufmerksam. Lag es an seiner Nervosität oder wurde der Ausdruck auf seinem Gesicht kein bisschen freundlicher?

»Haben sie dich verletzt, Junge?«, fragte er.

Kim war nicht ganz sicher, schüttelte aber trotzdem den Kopf. »Es geht schon«, sagte er. »Aber wenn Sie nicht gekommen wären... Vielen Dank.«

Der alte Mann schlurfte weiter auf ihn zu und streckte die Hand aus. Als Kim danach griff und sich von dem Alten auf die Füße helfen ließ, spürte er die Kraft, die in seinen schmalen Fingern lag.

»Wer bist du?«, fragte der Alte. »Ich habe dich noch nie hier gesehen. Du bist nicht aus dem Tal, habe ich Recht?«

»Mein Name ist Kim«, antwortete Kim. »Vielen Dank, dass Sie mir geholfen haben. Ich glaube, Sie haben mir das Leben gerettet. Die kleinen Biester hätten mich glatt umgebracht.«

»Wer sich von Pack umbringen lässt, hat es nicht besser verdient«, knurrte der Alte. Freundlichkeit schien nicht unbedingt zu seinen Stärken zu gehören. Trotzdem fragte er noch mal: »Ist dir auch wirklich nichts passiert? Du siehst nicht gut aus, Junge.«

Wenn Kim auch nur annähernd so aussah, wie er sich fühlte, dann musste er schrecklich aussehen. Trotzdem schüttelte er den Kopf und sagte: »Mir fehlt nichts, danke.«

»Gut«, knurrte der alte Mann. »Dann kannst du mir jetzt ja vielleicht sagen, wo du herkommst. Und was du in meiner Scheune zu suchen hast.«

Kim trat einen Schritt zurück, legte den Kopf in den Nacken und blinzelte zu dem Loch im Dach dessen hoch, was eigentlich die Garage seines Vaters sein sollte. Darüber spannte sich ein Himmel von einem so strahlenden Blau, wie Kim es noch nie zuvor gesehen hatte.

Aber es stimmte nicht. Es wurde ihm im selben Moment klar, in dem ihm dieser Gedanke kam.

Er hatte diesen Himmel schon einmal gesehen.

Es hatte zwar keine Ahnung, wie er hierher kam oder warum, aber er wusste jetzt wenigstens, wo er war.

Kim erlebte die nächste Überraschung, nachdem Turock - wie sich sein Lebensretter vorgestellt hatte - ihn aus der Scheune heraus und zum Haus geführt hatte. Das Haus war nämlich kein Haus, sondern ein aus klotzigen Steinbrocken erbauter Turm, dessen oberes Drittel fehlte. Wo das Dach, die Zinnenkrone oder was immer es auch gewesen sein mochte, sein sollte, ragten nur zerborstene und von Kletterpflanzen und Moos überwucherte Steintrümmer empor. Der Turm erhob sich auf einer großen, allseits von Wald umschlossenen Lichtung, von der zwei schmale Wege ausgingen.

In seinem Inneren war es dunkel und erstaunlich kühl, wenn man die sengende Hitze berücksichtigte, die Kim schon auf den wenigen Schritten draußen gespürt hatte. In dem wuchtigen Kamin, der das Zimmer beherrschte, glommen sogar noch die Reste eines Feuers, das Turock offensichtlich erst vor kurzem angezündet hatte.

Turock bedeutete ihm an dem Tisch Platz zu nehmen und verschwand ohne ein weiteres Wort in einem Nebenzimmer. Kim nutzte die Zeit, bis er zurückkam, um sich in aller Ruhe umzusehen.

Sehr viel gab es allerdings nicht zu entdecken. Wände, Boden und Decke des halbrunden Zimmers waren aus nacktem, unverputztem Stein. Es gab ein Bett, das wenig mehr als ein Brett auf vier Pfosten war, auf dem ein dünner Strohsack lag, einen Tisch, zwei unbequeme Hocker und eine aus groben Brettern gezimmerte Truhe, die vermutlich die wenigen Habseligkeiten des Alten enthielt. Turock war ein armer Kerl und das war noch geschmeichelt. Das einzige, schmale Fenster hoch unter der Decke enthielt kein Glas und ließ nur wenig Licht und so gut wie keine Wärme herein. Im Winter musste es hinter den meterdicken Mauern des Turmes bitterkalt werden.

Turock kam zurück und kredenzte ihm immer noch ohne ein einziges Wort zu sagen einen Becher mit Wasser, einer Schale mit kalter Suppe und ein Stück hartes Brot. Kim verspürte zwar beim Anblick der primitiven Mahlzeit kaum mehr Hunger, aber weil die Mahlzeit, die Turock ihm anbot, so einfach war, vermutete er, dass sie auch alles war, was der alte Mann erübrigen konnte. Es wäre unhöflich gewesen, sie abzulehnen. Es würgte tapfer die halbe Mahlzeit herunter, schob die Schüssel und den Teller mit dem abgeknabberten Brotkanten dann von sich und dachte über eine plausible Ausrede nach, falls Turock darauf bestehen sollte, dass er aufaß. Der Alte sagte jedoch nichts dergleichen, sondern räumte die Reste ebenso wortlos ab, wie er sie aufgetragen hatte, und ließ sich dann auf dem zweiten Stuhl Kim gegenüber am Tisch nieder. »Dir ist auch wirklich nichts passiert?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Kim. Er bewegte die Beine unter dem Tisch. Er fühlte etwas wie einen leichten Muskelkater, aber mehr auch nicht. Er hatte wirklich noch einmal Glück gehabt. »Aber ich verstehe immer noch nicht -«

»Das ist gut«, unterbrach ihn Turock. »Dann kannst du ja arbeiten.«

»Arbeiten?«

Turock nickte. »Du hast meine Gastfreundschaft in Anspruch genommen. Du hast mein Essen gegessen und du hast an meinem Herd gesessen.« Er deutete auf das erloschene Kaminfeuer. »Da ist es nur recht und billig, dass du etwas für mich tust.«

Kim widersprach nicht. Die Argumentation seines Gastgebers war ein wenig abenteuerlich, aber er wollte nicht undankbar sein. Außerdem bestand auf diese Weise vielleicht die Möglichkeit, mit Turock ins Gespräch zu kommen, was ziemlich schwierig erschien.

»Was soll ich tun?«, fragte er.

»Ich brauche Feuerholz«, antwortete Turock. »Ich würde es selber machen, aber ich bin alt. Mein Rücken macht mir zu schaffen.«

Kim atmete innerlich auf. Ein paar Holzscheite hereinzuholen war wirklich nicht zu viel verlangt. »Zeig mir, wo es ist«, sagte er.

Turock stand auf und schlurfte zur Tür. Kim folgte ihm nach draußen. Es war kein Feuerholz zu sehen. Vermutlich lag es auf der Rückseite des Turmes, wohin der Alte auch sofort mit hängenden Schultern schlurfte.

Während er Turock folgte, nutzte Kim die Gelegenheit, den Waldrand noch einmal genau in Augenschein zu nehmen. Er wirkte tatsächlich wie eine Mauer. Die Bäume standen so dicht, dass es an manchen Stellen fast unmöglich erschien, sich zwischen ihnen hindurchzuquetschen, und in den schmalen Lücken dazwischen wucherte dichtes, teilweise mit spitzen Dornen besetztes Buschwerk. Kim brauchte nur einen einzigen Blick um zu wissen, dass es vollkommen unmöglich war, diesen Wald zu durchqueren. Er würde einen der beiden Wege nehmen müssen um die Lichtung zu verlassen.

Dann hatten sie die Rückseite des Turmes erreicht. Kim sah immer noch kein Feuerholz. Nur einen Stapel mannslanger Baumstämme. In einem Holzklotz steckte eine Axt, deren Stiel fast länger war als Kim.

»Wo ... ist denn das Brennholz?«, fragte er vorsichtig.

Er war nicht einmal mehr besonders überrascht, als Turock mit dem Kopf auf die Baumstämme deutete. »Es muss noch gehackt werden«, sagte er. »Ich würde es selber tun, wenn mein Rücken noch zehn Jahre jünger wäre, aber ...«

»Schon gut«, seufzte Kim. »Ich verstehe.«

»Und beeil dich besser«, fuhr Turock fort. »Es wird bald dunkel. Bei Nacht kommen die Pack wieder.«

»Was waren das überhaupt für komische Geschöpfe?«, fragte Kim.

Turock drehte sich herum. »Du solltest lieber anfangen«, knurrte er. »Wenn du noch lange trödelst, dann lernst du sie vielleicht besser kennen, als dir lieb ist.« Er schlurfte davon, rief Kim dann aber noch über die Schulter zu: »Wir reden beim Abendessen darüber.«

Kim sah ihm kopfschüttelnd nach, wandte sich dann aber dem Holzklotz zu, spuckte in die Hände und zog mit einiger Mühe das Beil heraus.

Es war viel schwerer, als er erwartet hatte, aber dafür erwiesen sich die Baumstämme auch als sehr viel härter, als sie aussahen. Kim brauchte eine gute halbe Stunde um genug Scheite davon abzuspalten, mit denen er seine Arme füllte. Als er schwer beladen und unter seiner Last stöhnend ins Haus zurückwankte, war er in Schweiß gebadet.

Turock saß am Tisch und verzehrte eine Mahlzeit, deren bloßer Anblick ihm schon das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Bevor Kim auch nur den Mund aufmachen konnte, deutete er mit einer dreizinkigen Gabel, auf der ein saftiges Stück Braten steckte, auf einen geschmiedeten Ständer neben dem Kamin, der offensichtlich dazu bestimmt war Feuerholz aufzunehmen. Er war nicht nur erstaunlich groß, Kim war auch fast sicher, dass er vorhin noch nicht da gewesen war. Schweigend schlurfte er hin, lud seine Last ab und drehte sich mit einem hörbar erleichterten Seufzer herum.

»Das war's«, sagte er. »Welchen der beiden Wege muss ich nehmen?«

»Wege?«

»Um aus diesem Wald herauszukommen«, erläuterte Kim.

Turock ließ das Fleisch zwischen seinen gelben Zähnen verschwinden und antwortete kauend: »Du kannst nicht gehen. Es ist zu spät.«

Kim sah zum Fenster hoch. Selbst durch die schmale Öffnung konnte er erkennen, dass die Sonne noch ziemlich hoch am Himmel stand. »So spät kommt es mir gar nicht vor«, sagte er. »Der Wald ist groß. Du würdest es nicht vor Einbruch der Dunkelheit schaffen. Und du willst nicht in diesem Wald übernachten, glaub mir.« Er säbelte ein Stück von dem Braten ab und schob es sich in den Mund. »Außerdem ist der Ständer noch nicht voll. Und du willst doch nicht etwa ...«

»... undankbar sein, ich weiß«, seufzte Kim. »Natürlich nicht. Ich hole noch eine Ladung.« Er hatte im Moment ziemlich große Lust undankbar zu sein. Aber vielleicht hatte der alte Mann ja Recht und es wäre wirklich besser, wenn er hier übernachtete statt in diesem unheimlichen Wald.

Er ging wieder hinaus, hieb eine weitere halbe Stunde mit der Axt auf die Baumstämme ein und kehrte mit einer zweiten Ladung zurück. Turock hatte den Braten mittlerweile verdrückt und war dabei, ein gewaltiges Stück Obstkuchen in sich hineinzustopfen. Kim lud seine Last ab, schlurfte zum Tisch und ließ sich schwer auf den freien Schemel fallen.

Turock ließ seine Gabel sinken und sah ihn stirnrunzelnd an. »Worauf wartest du?«

Kim schluckte das Wasser hinunter, das ihm beim Anblick des Obstkuchens im Munde zusammenlief. »Ich verstehe nicht ganz...«

»Der Stand ist noch nicht voll und wir haben noch etwas Tageslicht, das du ausnutzen kannst.«

Statt des Obstkuchens, dessen letzten Rest Turock gerade herunterschlang, schluckte Kim die wenig freundliche Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, und fragte: »Kann ich wenigstens einen Schluck Wasser haben?«

Turock deutete mit einer widerwilligen Kopfbewegung auf einen Tonkrug, der neben ihm auf dem Boden stand. Kim sah weder einen Becher noch ein anderes Trinkgefäß, also hob er den ganzen Krug an, löschte seinen Durst und schüttete sich anschließend das kalte Wasser über den Kopf. Es tat sehr gut, denn er war vollkommen verschwitzt und außer Atem von der schweren Arbeit.

Als er das nächste Mal zurückkam, hatte Turock seinen Schemel vor den Kamin geschoben, sodass er sich mit dem Rücken dagegen lehnen konnte, beide Füße auf den Tisch gelegt, und schmauchte ein Pfeifchen. Kim lud das Feuerholz polternd in den geschmiedeten Ständer ab, bedachte Turock mit einem Funken sprühenden Blick und genehmigte sich einen weiteren Schluck Wasser und eine kleine Abkühlung, bevor er wieder hinausging um eine weitere Ladung Feuerholz zu holen. Vier Schlucke Wasser, ebenso viele Ladungen Holz und zwei aufgeplatzte Blasen an seinen Händen später war der Krug leer. Turock hatte seine Pfeife aufgeraucht und war mit den Füßen auf dem Tisch eingeschlafen. Kim setzte den Krug mit einem solchen Knall auf dem Boden ab, dass Turock erschrocken die Augen aufriss und um ein Haar vom Stuhl gefallen wäre. »Wieso machst du so einen Krach?«

»Das Wasser ist alle«, antwortete Kim. »Und ich habe Durst.«

»Dann musst du wohl zur Quelle gehen und neues holen«, antwortete Turock.

»Ich?!«

»Schließlich hast du den Krug ja auch fast allein ausgetrunken, oder?« Turock gähnte. »Du musst den linken Weg nehmen. Es ist nicht sehr weit. Ich würde es ja selbst tun, aber der Krug ist ziemlich schwer und mein Rücken macht mir zu schaffen.« Das musste wohl daran liegen, dass er ihm so angestrengt beim Holzhacken zugesehen hatte, dachte Kim ärgerlich. Aber er sprach es nicht aus, sondern hob den leeren Krug auf die Schulter und verließ den Turm. So wie er Turock mittlerweile zu kennen glaubte, bedeutete nicht weit wahrscheinlich, dass er eine Stunde bis zur Quelle brauchen würde. Er brauchte zwei.

Von dem langen Weg und dem Krug auf seiner Schulter, der mit Wasser gefüllt sicherlich einen Zentner wog, vollkommen erschöpft, kehrte Kim mit dem letzten Licht des Tages zurück in den Turm und schaffte es gerade noch, den Krug auf den Boden zu setzten, ehe er auf die Knie herabfiel. Turock war nicht da gewesen, als er hereingekommen war, aber er konnte hören, wie hinter ihm eine Tür aufging und die schlurfenden Schritte des Alten näher kamen.

»Du hast lange gebraucht«, nörgelte der Alte. »Ich dachte schon, du hättest dich verirrt oder wärst weggelaufen. Das hätte mich nicht gewundert. Alle sind so undankbar heute. Alle wollen nur noch nehmen und haben, aber niemand will etwas dafür tun.«

Mühsam stemmte sich Kim wieder in die Höhe, drehte sich herum und riss ungläubig die Augen auf, als er das hölzerne Tablett sah, das Turock auf dem Tisch vor ihm abgestellt hatte. Es enthielt einen Becher mit Wasser, eine halb volle Schale mit kalter Suppe und ein Stück angebissenes Brot.

»Das ... ist der Rest von vorhin«, stammelte er.

»Du hast nicht aufgegessen«, antwortete Turock. »Es wäre zu schade, es wegzuwerfen. Es ist gutes Essen. Aber wenn du nicht hungrig bist, räume ich es wieder weg.«

Aber wahrscheinlich nur, um es mir am nächsten Morgen als Frühstück vorzusetzen, dachte Kim. Er starrte den Alten eine Sekunde lang an, aber dann ließ er sich wortlos am Tisch nieder und griff nach dem Tablett. Irgendetwas sagte ihm, dass es vollkommen sinnlos gewesen wäre, mit Turock zu streiten. Außerdem war er mittlerweile so hungrig, dass er einen Bären hätte verspeisen können.

Während er versuchte das Brot zu kauen ohne dabei ein paar Zähne zu verlieren, fragte er: »Diese Wesen von vorhin, diese ... Pack. Was sind das für Geschöpfe? Ich meine: Sind sie gefährlich?«

»Das sind lästige kleine Teufel«, antwortete Turock. »Sie sind schlimmer wie die Ratten. Wenn du nicht aufpasst, zerstören sie deine Ernte und verjagen dein Vieh und drehen dir hinterher noch eine lange Nase. Aber wirklich gefährlich sind sie nicht.«

»Und wo kommen sie her?«

»Aus den Wäldern«, antwortete Turock. »Früher gab es sie nicht. Aber seit ein paar Jahren tauchen sie immer öfter auf. Sie sind eine Plage.«

»Lebst du gern allein hier?«, fragte Kim.

Turock zischte. »Ich habe hier alles, was ich brauche. Es ist ein guter Platz.«

Kim dachte einige Sekunden angestrengt über die nächste Frage nach, die er dem Alten stellen wollte, sprach sie aber dann ohne Umschweife einfach aus: »Das hier ist Märchenmond, nicht wahr?«

»Märchenmond?«

»Dieser Ort.« Kim machte eine umfassende Geste. »Diese Welt. Wie ist ihr Name?«

»Märchenmond«, wiederholte der Alte nachdenklich und runzelte die Stirn. Dann zuckte er mit den Schultern. »Das mag sein oder auch nicht. Die Leute haben viele Namen für viele Dinge.«

»Weißt du, wo Gorywynn liegt?«, erkundigte sich Kim. »Oder Caivallon?«

»Was soll das sein?«, fragte Turock.

»Die Stadt, in der Themistokles lebt«, seufzte Kim. »Ich nehme nicht an, dass du ihren Namen schon einmal gehört hast.«

»Natürlich weiß ich, wer Themistokles, der Zauberer, ist«, sagte Turock scharf. »Jedermann weiß das.«

»Dann kannst du mir sagen, wie ich zu ihm komme?«, fragte Kim hoffnungsvoll.

»Nein«, antwortete Turock. »Er lebt irgendwo, sehr weit weg. Ich weiß nicht, wo. Wir brauchen hier keine Zauberer.«

Kim war zwar enttäuscht, aber er setzte das Gespräch nicht weiter fort. Dazu war er einfach zu erschöpft. Morgen früh war auch noch Zeit mit diesem sonderbaren Einsiedler zu reden.

»Wo kann ich schlafen?«, fragte er.

»Du wirst schnell müde«, sagte Turock spöttisch. »Das ist der Jammer an den Jungen heute. Aber mir soll's recht sein.« Er stand auf und machte eine Kopfbewegung auf den nackten Fußboden vor dem Kamin. »Schlaf dich gut aus. Die Nächte sind kurz hier.«

Kim starrte auf den harten Steinboden und fragte sich, warum um alles in der Welt er sich diese Behandlung gefallen ließ. Respekt vor dem Alter und Dankbarkeit waren ja noch in Ordnung, aber Turock nahm ihn entweder auf den Arm oder er war der unverschämteste Bursche, der ihm jemals untergekommen war.

Aber sogar um das auszusprechen war er viel zu müde.

Ohne weiteres Wort ließ er sich auf dem nackten Steinboden nieder und schlief auf der Stelle ein.

Wie Turock gesagt hatte, waren die Nächte in diesem Teil des Landes kurz. Als Kim am nächsten Morgen erwachte, weil der Alte ihn unsanft an der Schulter rüttelte, hatte er jedenfalls das Gefühl allenfalls eine oder zwei Stunden geschlafen zu haben. Außerdem fror er so erbärmlich, dass er mit den Zähnen klapperte.

»Bist du endlich wach?«, fragte Turock unwillig. Er hörte auf an Kims Schulter herumzuzerren und schüttelte den Kopf. »Es ist eine Schande! Wäre ich nur zehn Jahre jünger -«

»Ja, ja, und würde dein Rücken ein bisschen weniger wehtun, ich weiß«, unterbrach ihn Kim. Er setzte sich schlaftrunken auf, gähnte hinter vorgehaltener Hand und versuchte sich zu recken, gab aber diese Idee sofort wieder auf. Jeder Knochen in seinem Leib tat von dem unbequemen Liegen auf dem nackten Steinboden weh. Außerdem schien es mit jeder Sekunde kälter zu werden.

»Wieso habe ich eigentlich den halben Wald klein gehackt, wenn du kein Feuer machst?«, fragte er zähneklappernd.

»Die Winter sind lang hier«, antwortete Turock. »Und wer weiß, wann wo jemand kommt, der bereit ist für Gastfreundschaft und Hilfe auch ehrliche Arbeit zu leisten? Die Menschen helfen sich heute nicht mehr so gerne wie zu meiner Jugendzeit.«

Nach allem, was Kim gestern mit dem alten Schlitzohr erlebt hatte, wunderte ihn das kein bisschen. Aber er sparte es sich, Turock darauf hinzuweisen. Es hätte nicht viel Sinn gehabt.

»Willst du frühstücken?«, fragte Turock.

Kim war regelrecht überrascht von so viel Großzügigkeit. Allerdings nur so lange, bis er aufstand und sich auf einem der beiden Hocker am Tisch niederließ. Das Frühstück bestand aus einem Becher Wasser und einem Stück harten Brot.

Er verzehrte es klaglos, stemmte beide Ellbogen auf die Tischplatte und bettete das Kinn auf die zusammengefalteten Hände. Seine Augenlider waren so schwer, dass sie von selbst wieder zufielen. Er hatte ganz eindeutig nicht genug geschlafen. »Worauf wartest du noch?«, fragte Turock. »In zwei Stunden wird es hell und wir haben viel zu tun.«

Kim öffnete das linke Auge, starrte den Alten geschlagene fünf Sekunden ungläubig an und sagte dann, so ruhig er konnte: »Es tut mir Leid, Turock, aber ich fürchte, ich kann deine Gastfreundschaft nicht länger in Anspruch nehmen.«

»Was soll das heißen?«

»Ich habe dir von Themistokles erzählt«, antwortete Kim geduldig. »Ich muss ihn finden! Ich weiß zwar ehrlich gesagt selbst noch nicht genau, warum, aber es ist sehr wichtig. Ich kann nicht bleiben.«

»Du willst also gehen«, vergewisserte sich Turock. »Einfach so. Das hätte ich mir ja gleich denken können!«

»Was meinst du damit?«, fragte Kim.

»Du schuldest mir noch ein paar Stunden Arbeit«, behauptete Turock.

»Ich schulde dir was?«, krächzte Kim.

Turocks Miene verfinsterte sich noch weiter. »Du hast in meinem Haus geschlafen -«

»Auf dem Steinboden!«

»- hast Wasser getrunken -«

»Das ich selbst hierher geschleppt habe!«

»- und mein Essen gegessen«, führte Turock seinen Satz ungerührt zu Ende.

»He, he!«, protestierte Kim. »Dafür habe ich stundenlang geschuftet!«

»Das war für das Mittagsmahl«, sagte Turock. »Du hast noch einmal gegessen. Und gerade Frühstück gehabt. Du bist ein unverschämter fauler Bursche. Wäre ich zehn Jahre jünger, würde ich dir Manieren beibringen.«

»Wärst du dreißig Jahre jünger«, antwortete Kim betont, »würde ich dir so antworten, wie du es eigentlich verdienst. Aber da, wo ich herkomme, zollt man alten Leuten Respekt.«

»Ach?«, machte Turock.

Kim stand auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt besser.«

Er nahm denselben Weg, den er gestern Abend benutzt hatte und von dem er wusste, dass er direkt zur Quelle führte. Draußen auf der Lichtung war es hell geworden, aber im Inneren des Waldes herrschte beinahe noch Dunkelheit. Außerdem war es hier drinnen so bitterkalt, dass er seinen Atem als grauen Dampf vor dem Gesicht erkennen konnte.

Trotzdem marschierte Kim mit schnellen Schritten los. Bald würde das Licht auch hier hereindringen und dann würde er ausreichend sehen.

Eine halbe Stunde später war er sich dessen nicht mehr sicher. Oben in den Baumwipfeln musste es längst hell geworden sein, aber alles, was den Weg erreichte, war ein blasser grauer Schimmer. Die Bäume schlossen sich über dem Pfad zu einem nahezu undurchdringlichen Dach. Er konnte kaum weiter als zwanzig Schritte sehen.

Das Schlimmste aber war die Stille. Der Wald ragte beiderseits des Weges so massiv wie eine Mauer auf und Kim hörte nicht den geringsten Laut. Selbst das Geräusch seiner eigenen Schritte schien von der ihn umgebenden Dunkelheit aufgefressen und verschluckt zu werden. Es war unheimlich. Hatte er sich am Anfang noch ein Sorgen darüber gemacht in der Dunkelheit des Waldes auf die Pack zu treffen oder gar auf wilde Tiere, so war er bald so weit, sich beinahe zu wünschen, einen der kleinen Quälgeister zu sehen oder wenigstens das Knacken eines Zweiges oder irgendetwas zu hören. Alles wäre besser gewesen als dieses unheimliche, drohende Schweigen. Es war so vollkommen still, als wäre der Wald rechts und links des Weges gar nicht da, sondern nur ein blasser Schatten.

Auch die Quelle ließ auf sich warten. Gestern Abend war ihm der Weg weit vorgekommen, aber heute schien er einfach kein Ende zu nehmen. Er musste schon weit mehr als eine Stunde unterwegs sein und von der Quelle war immer noch nichts zu sehen.

Der Weg nahm kein Ende. Kim schätzte, dass er gute vier Stunden durch diesen unheimlichen Schattenwald marschiert war, ehe es endlich weit vor ihm hell wurde. Der Waldrand! Endlich! Er beschleunigte seine Schritte noch einmal. Auf den letzten zwanzig Metern rannte er beinahe.

Und blieb so abrupt wieder stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Mauer gelaufen.

Vor ihm lag eine kreisrunde, nicht sehr große Lichtung, in deren Mitte sich ein aus grobem Stein erbauter Turm mit einem Pferdestall daran erhob.

Er war wieder da, wo er losmarschiert war!

Kim blieb länger als eine Minute einfach mit offenem Mund stehen und starrte Turocks Turm an. Das war doch völlig unmöglich! Er konnte nicht im Kreis gelaufen sein!

Ganz offensichtlich war er es aber, denn als er seine Erstarrung endlich überwand und weiterging, sah er nicht nur den Turm, sondern auch seinen Besitzer. Turock stand in der Mitte der Lichtung, hatte beide Hände in den Hosentaschen vergraben und grinste schadenfroh.

Kim würdigte ihn keines Blickes, sondern marschierte in scharfem Tempo und mit hoch erhobenem Haupt an ihm vorbei, quer über die Lichtung und auf den Pfad auf der anderen Seite zu. Er war sehr durstig, aber er hätte sich in diesem Moment lieber die Zunge abgebissen statt den Alten nach einem Schluck Wasser zu fragen. Er hatte den falschen Weg genommen - und? In einer Stunde würde er die Quelle erreichen, seinen Durst löschen und dann getrost weitermarschieren.

Das geschah nicht. Stattdessen trat er nach drei oder vier Stunden auf der anderen Seite auf die Lichtung hinaus und wankte mit zitternden Knien auf Turock zu. Der sonderbare Mann hatte einen alten Schaukelstuhl aus dem Turm geschafft, döste Pfeife rauchend in der Sonne und öffnete träge ein Auge, als Kim näher kam.

»Der Weg«, keuchte Kim atemlos.

»Was soll damit sein?«, fragte Turock.

»Er führt nicht aus dem Wald hinaus.«

»Nein«, antwortete Turock. »Tut er nicht.«

»Er führt im Kreis und wieder auf die Lichtung zurück«, vermutete Kim.

»Das stimmt«, sagte Turock.

»Das hättest du mir sagen können«, sagte Kim vorwurfsvoll.

»Du hast nicht gefragt«, antwortete der Alte. »Oder?«

»Und was ist mit der Quelle?«, fragte Kim. »Sie ist verschwunden.«

»Nein«, antwortete Turock. »Du hast nur den falschen Weg genommen.«

»Aber da ist nur ein Weg«, protestierte Kim. Er deutete auf den Pfad, der auf der anderen Seite in den Wald hineinführte. »Ich bin dort hineingegangen -« Er wies mit dem Daumen über die Schulter zurück auf den Pfad, der auf der anderen Seite im Wald verschwand. »- und dort wieder herausgekommen.«

»Das habe ich gesehen«, bestätigte Turock. »Du gehst gerne spazieren, wie?«

Es fiel Kim schwer ruhig zu bleiben, aber irgendwie schaffte er es. »Wie komme ich aus diesem Wald hinaus?«, fragte er.

»Du musst nur den richtigen Weg nehmen«, antwortete Turock und sog an seiner Pfeife.

»Ich habe beide Wege ausprobiert«, antwortete Kim betont. Seine Stimme zitterte vor unterdrücktem Zorn. »Und jedes Mal bin ich wieder hier gelandet. Dieser verdammte Weg führt im Kreis!«

»Nur der eine«, behauptete Turock. »Der andere führt zur Quelle und dann aus dem Wald hinaus.«

Kim schloss die Augen und zählte in Gedanken bis fünf. »Und welcher ist der richtige Weg?«, fragte er, so ruhig er gerade noch konnte.

Turock grinste.

»Kann ich wenigstens einen Schluck Wasser haben?«, fragte Kim.

Turocks Grinsen wurde noch breiter.

»Also gut«, seufzte Kim. »Was muss ich dafür tun?«

Turock sagte es ihm.

Nach drei oder vier Tagen gab er es schließlich auf, jeden Morgen mit dem ersten Sonnenstrahl in den Wald zu gehen und nach zwei, drei oder vier Stunden erschöpft und durstig zurückzukehren. Turock nahm diese Veränderung in seinem Verhalten stillschweigend zur Kenntnis, erwies sich aber in den nächsten Tagen als umso erfindungsreicher, wenn es darum ging, neue Arbeiten für ihn zu finden. Nachdem eine Woche vergangen war, befand sich der Turm in vermutlich besserem Zustand als am Tag seiner Erbauung. Es gab auf der gesamten Lichtung keinen einzigen Halm Unkraut mehr und das kleine Feld war ordentlich gepflügt. Die Scheune und die Pferde blitzten vor Sauberkeit, die Gemüsesaat war ausgebracht und zwei Vogelscheuchen waren aufgestellt worden. Kim hatte den Keller unter dem Turm aufgeräumt und gesäubert und Turocks Geschirr auf Hochglanz poliert. Seine Möbel waren gereinigt und eingewachst und Kim hatte sogar die Kleider des Alten gewaschen und wieder in Ordnung gebracht. Der geschmiedete Ständer neben dem Kamin war bis unter die Decke mit Holz gefüllt. Es gab einfach nichts mehr zu tun!

»Verrätst du mir jetzt, welchen Weg ich nehmen muss, um aus dem Wald herauszukommen?«, bat er.

»Aber du bist noch nicht fertig«, antwortete Turock.

Kim quollen vor Unglauben schier die Augen aus den Höhlen. »Aber ... aber es ist doch gar nichts mehr zu tun«, ächzte er.

»Die Scheune«, antwortete Turock. »Das Dach hat ein Loch.«

»Aber das ist doch nicht meine Schuld!«, protestierte Kim.

»Du hast es hineingemacht«, antwortete Turock. »Also ist es nur recht und billig, dass du es auch wieder reparierst.«

»Aber ich weiß doch noch nicht einmal, wie -«, begann Kim, schüttelte dann den Kopf und fragte in resignierendem Ton: »Wo ist das Werkzeug?«

Turock erklärte es ihm - und auch, dass er keine Bretter hätte, wodurch Kim nichts übrig blieb, als eine Säge zu nehmen und sich an die mühselige Aufgabe zu machen, passende Stücke aus den Baumstämmen hinter Turocks Turm herauszuschneiden.

Er brauchte zwei Tage.

Als sie am späten Nachmittag zusammen in der Scheune Kims Werk begutachteten, sagte Turock: »Das ist gute Arbeit. Ich hätte gar nicht damit gerechnet, dass du das kannst.«

»Ich auch nicht«, gestand Kim. »Verrätst du mir jetzt, wie ich nach Gorywynn komme?«

»Natürlich«, antwortete Turock. »Sobald du deine Schulden abgearbeitet hast.«

»Aber das habe ich doch!«, protestierte Kim. »Ich habe schließlich das Dach repariert!«

»Und zwei Tage dazu gebraucht«, sagte Turock. »Du hast in dieser Zeit gegessen und geschlafen.«

»Und geatmet, nicht zu vergessen«, knurrte Kim.

Turock zuckte mit den Schultern, wandte sich wortlos um und ging. Kim starrte ihm fast hasserfüllt nach. Er war ja ein geduldiger Mensch, aber was zu weit ging, ging zu weit. Er war nun schon seit über einer Woche hier, und wenn es nach diesem gierigen alten Kerl ging, dann würde er wahrscheinlich noch in einem Jahr hier sein und irgendwelche Arbeiten verrichte, die Turock sich ausdachte.

Es wurde Zeit, dass er einmal ein paar ernsthafte Worte mit Turock wechselte.

Der alte Mann war nicht da, als er die Scheune verließ. Kim nahm an, dass er im Turm sei, aber als er das Gebäude betrat und Turocks Namen rief, bekam er keine Antwort.

Kim rief noch zwei- oder dreimal nach seinem Gastgeber und trat dann an die einzige Tür, die es neben dem Eingang noch gab. Er wusste, dass dahinter einen steile Treppe ins obere Stockwerk das Turmes hinaufführte, war aber in der ganzen Zeit, in der er Turocks Gast war, noch niemals dort oben gewesen. Und er zögerte auch jetzt. Er hatte Turock noch nie gefragt, was dort oben lag - schon weil er keine Lust hatte, für die Antwort auf diese Frage eine Stunde arbeiten zu müssen -, aber Turock mochte seine Gründe haben, nicht von sich aus über das zu reden, was sich dort oben befand. Vielleicht war es besser, wenn er nicht dort hinaufging.

Aber er musste mit Turock reden.

Entschlossen stieg er die knarrenden Stufen empor und öffnete die Tür an ihrem oberen Ende. Er war gespannt, welche Überraschung nun wieder auf ihn wartete.

Helles Sonnenlicht kitzelte seine Nase und ließ ihn blinzeln, als er durch die Tür trat. Er befand sich nicht in einer weiteren Kammer, sondern im zerstörten Teil des Turmes. Die Wände waren teilweise ausgebrochen und eine Menge Schutt bedeckte den Boden. Kim musste sehr vorsichtig gehen um an eine der niedergebrochenen Mauern zu gelangen.

Der Anblick ließ ihn ungläubig die Augen aufreißen. Der Turm ragte ein Stück über die Baumwipfel hinaus. Kim konnte die gesamte Lichtung überblicken und natürlich auch den Wald. Er hatte erwartet eine unendliche wogende, grüne Fläche zu sehen - aber der Wald, der die Lichtung umgab, war nicht einmal einen Steinwurf tief! Es war nicht einmal ein richtiger Wald, sondern eigentlich nur ein Ring aus Bäumen, der den Turm umgab.

Das ist unmöglich! dachte Kim. Das war vollkommen ausgeschlossen! Er war doch Stunde um Stunde durch diesen Wald gelaufen!

»Du hättest nicht heraufkommen sollen«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Kim drehte sich herum und erkannte Turock, der ihm lautlos gefolgt war. Vielleicht zum ersten Mal, solange er den Alten kannte, betrachtete ihn Turock nicht mit einem Ausdruck von Herablassung und Misstrauen, sondern mit einem Blick, in dem sich beinahe etwas wie Mitleid spiegelte.

»Was bedeutet das?«, fragte Kim. »Warum hast du mir das nicht gesagt?«

»Was? Dass es keinen Weg aus diesem Wald heraus gibt?«

»Dass es kein Wald ist!«, antwortete Kim zornig. »Das ... das ist doch nur eine bessere Baumreihe!«

»Und doch führt kein Weg hinaus«, antwortete Turock. »Du hast es selbst erlebt. Du kannst gehen, so lange und so weit du willst, du wirst niemals irgendwo anders hingelangen als zu dieser Lichtung. Der Schattenwald ist verwunschen. Wer ihn einmal betritt, der kann ihn nie wieder verlassen.«

»Und die Quelle?«

»Der Weg führt zu ihr, wenn du Wasser brauchst«, antwortete Turock. »Sonst nicht.«

»Aber ... aber warum hast du es mir ... nicht gesagt?«, fragte Kim stockend. »Hattest du Angst, dass du meine Arbeitskraft verlierst?« Der letzte Satz tat ihm auf der Stelle wieder Leid, aber Turock schien ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen.

»Ich wollte dir die Enttäuschung ersparen, Junge«, sagte er. »Ich weiß noch, wie es mir erging, als ich einsehen musste, dass ich an diesem Ort den Rest meines Lebens verbringen würde. Ich wäre vor Schmerz fast gestorben. Das wollte ich dir ersparen.«

»Früher oder später hätte ich es doch sowieso gemerkt«, sagte Kim bitter.

»Ich weiß«, antwortete Turock. »Vielleicht war es ein Fehler. Aber ich bin ein alter Mann. Bitte verzeih mir.«

Das war gar nicht nötig, Kim konnte Turock gar nicht böse sein - nicht, nachdem er sich wieder herumgedreht und einen weiteren Blick auf dieses unmöglich schmale, grüne Band geworfen hatte, das zu einem endlosen Wald auswuchs, sobald man es betrat.

»Wie lange bist du schon hier?«, fragte er, ohne zu Turock zurückzusehen.

»Ich weiß es nicht«, antwortete Turock. »Sehr lange. Viele, viele Jahre. Ich habe vor langer Zeit aufgehört sie zu zählen.«

»Und du hast nie versucht herauszukommen?«, fragte Kim.

»Unzählige Male«, antwortete Turock. »Es ist unmöglich. Du hast es doch selbst erlebt.«

»Das ist mir egal«, antwortete Kim. »Ich werde mich bestimmt nicht damit abfinden.«

»Ich höre mich selber reden«, sagte Turock mit einem traurigen Lächeln. »Aber auch du wirst einsehen, dass es keinen Zweck hat, sich gegen das Schicksal aufzulehnen.«

Darauf antwortete Kim nicht. Aber er wusste, dass Turock Unrecht hatte. Er würde sich niemals damit abfinden, für den Rest seines Lebens in diesem verwunschenen Wald gefangen zu sein. Niemals.

Er verbrachte die nächste Woche damit, einen verrückten Fluchtplan nach dem anderen zu ersinnen und wieder zu verwerfen - von der Idee, eine Art Seilbahn in den Wald zu bauen, bis hin zu der, ihn kurzerhand in Brand zu setzen. Turock, der nicht so wortkarg und verschlossen war wie am Anfang, sich aber nun zumindest als geduldiger Zuhörer erwies, reagierte auf die meisten seiner Vorschläge gar nicht oder schüttelte allenfalls dann und wann den Kopf und meinte, dass es sich dabei um Ideen handelte, die er selbst schon einmal gehabt oder vielleicht sogar ohne Erfolg ausprobiert hatte.

Als sie eines Abends beim Essen zusammensaßen, blickte Kim aufmerksam auf seinen Teller, ließ dann die Gabel sinken und fragte in nachdenklichem Tonfall: »Dein Essen, Turock ... wo kommt es her?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Turock.

»Du weißt es nicht?« Es fiel Kim schwer, das zu glauben.

»Aus der Vorratskammer«, sagte Turock. »Du holst es doch selbst heraus.«

»Aber ich habe noch nie etwas hineingebracht«, antwortete Kim betont.

»Es ist immer genügend da«, sagte Turock.

»Du meinst, ohne dass du jemals irgendetwas geerntet hättest?«, vergewisserte sich Kim. »Oder Beeren gesammelt oder Obst gepflückt oder Wild gejagt?«

»Wie könnte ich das?«, fragte Turock. »Ich kann den Wald nicht betreten. Niemand kann das.«

Er klang ein bisschen nervös. Kim wusste aber auch, dass er Recht hatte. Turocks Axt zu nehmen und zu versuchen, sich damit einen Weg durch das dicke Unterholz zu hacken, war so ziemlich seine allererste Idee gewesen. Die ineinander verfilzten Ranken und Äste waren jedoch so zäh wie Draht. Und wenn es ihm schon einmal gelang, eines der dünneren Stücke durchzuhacken, dann wuchs es so schnell nach, dass er dabei zusehen konnte.

»Aber irgendwo muss das Essen doch herkommen«, sagte er. Turock hob die Schultern. Er schwieg. »Und du hast nie versucht herauszufinden, wer dir das Essen schickt?«, bohrte Kim weiter.

»Es ist nicht gut, zu viele Fragen zu stellen«, antwortete Turock ohne ihn anzusehen. »Manche Dinge sind gut, so wie sie sind.«

Kim glaubte das Zögern des alten Mannes sogar zu verstehen. Vielleicht hatte Turock Angst, dass der Zauber erlosch, wenn er zu hartnäckig versuchte hinter sein Geheimnis zu kommen. Sie aßen schweigend zu Ende, und als die Sonne unterging, streckte sich Turock wie gewöhnlich auf seinem harten Bett aus und schlief auf der Stelle ein. Auch Kim machte es sich auf seinem Platz vor dem Kamin gemütlich, so gut das eben auf dem harten Steinboden möglich war, aber er schlief nicht ein. Er war müde, denn der Tag war ebenso von schwerer Arbeit erfüllt gewesen wie die zuvor, aber er hielt sich mit aller Gewalt wach, bis er ganz sicher sein konnte, dass Turock eingeschlafen war. Dann stand er wieder auf, schlich auf Zehenspitzen aus dem Raum und umrundete den Turm um in die Vorratskammer zu gelangen, die sich in einem winzigen Anbau auf der Rückseite befand.

Wie immer war die Nacht so dunkel, dass er kaum ein paar Schritte weit sehen konnte. In der ersten Nacht hatte er noch geglaubt, dass sich der Himmel einfach mit Wolken bedeckt hatte. Mittlerweile aber kam es ihm eher so vor, als ob Schatten aus dem Wald herauskrochen, sobald die Sonne nicht mehr am Himmel stand, und die gesamte Lichtung und den Turm in eine Aura unheimlicher Finsternis hüllten.

Als er die Vorratskammer betrat, konnte er im ersten Moment überhaupt nichts sehen. Der Raum hatte überhaupt kein Fenster und das schwache Licht, das von draußen hereindrang, war kaum der Rede wert. Er öffnete die Tür, soweit es ging, ließ sich in der Ecke des Raumes sinken und wartete. Worauf, wusste er selbst nicht.

Es musste auf Mitternacht zugehen. Kim fiel es jetzt immer schwerer, die Augen offen zu halten, und er wäre um ein Haar eingeschlafen, als er plötzlich ein Geräusch zu hören glaubte. Erschrocken riss er die Augen auf und erstarrte gleichzeitig zur Reglosigkeit.

Er hörte etwas wie einen vorsichtigen, platschenden Schritt. Im nächsten Moment erschien ein Schemen in der Tür.

Kim hielt gebannt den Atem an. Es war draußen so dunkel, dass er von der Gestalt kaum mehr als den Umriss richtig erkennen konnte. Trotzdem wusste er sofort, wen er vor sich hatte.

Es war ein Pack.

Die hängenden Schultern, die langen Affenarme und die spitzen Ohren waren unverkennbar. Und jetzt konnte er auch sehen, dass die Augen des Wesens in einem sanften, dunkelroten Licht glühten.

Kim musste sich mit aller Macht beherrschen, um nicht sofort aufzuspringen und das kleine Scheusal zu packen. Er hatte noch eine Rechnung mit diesen Biestern offen. Nach ihrer ersten Begegnung hatten seine Rippen noch tagelang geschmerzt.

Der Pack schlurfte mit hängenden Schultern herein, lud etwas auf einem der Regalbretter ab und humpelte dann wieder hinaus. Kim wartete, bis er verschwunden war, ließ der Sicherheit halber noch einige Sekunden verstreichen und stand dann auf um nachzusehen, was der Pack gebracht hatte.

Es waren eine Speckseite, ein Brot und ein kleiner Beutel mit frischem Obst.

Kim runzelte überaus verwirrt die Stirn. Die dienstbaren Geister, die Turock und mittlerweile auch ihn selbst mit Lebensmitteln versorgten, waren Pack! Dieselben komischen Biester, die Turock am ersten Tag als Ungeziefer beschimpft und mit dem Gürtel aus der Scheune geprügelt hatte!

Aber das ergab doch überhaupt keinen Sinn!

Vorsichtig ging er zur Tür und spähte hinaus.

Es war ein unheimlicher Anblick.

Die Dunkelheit über der Lichtung schien noch intensiver geworden zu sein. Er konnte nicht mehr erkennen, wo die Lichtung aufhörte und der Wald begann, aber er sah fast ein Dutzend winziger, roter Lichter, die in geringer Höhe über der Lichtung schwebten und sich hastig hin und her bewegten. Sie traten immer in Paaren auf.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis Kim begriff, dass er nichts anderes als die leuchtenden Augen der Pack sah.

Aber was taten sie?

Ihr hektisches Hin und Her erschien ihm im ersten Augenblick vollkommen sinnlos. Mal glitten sie von rechts nach links oder auch in umgekehrter Richtung, mal senkten sie sich fast bis auf den Boden oder verharrten einige Momente vollkommen reglos und schließlich verschwanden zwei Pack in der Scheune. Kim konnte ihre leuchtenden Augen nicht mehr sehen, hörte aber das unruhige Schnauben eines Pferdes und das Rascheln von Stroh.

Endlich begriff er.

Die Pack suchten etwas. Nur - was?

Die Pack wuselten länger als eine halbe Stunde auf der Lichtung herum, aber schließlich gaben sie es auf und versammelten sich wieder am Waldrand. Kim hatte damit gerechnet, dass sie einen der Wege benutzen würden um im Wald zu verschwinden. Stattdessen sah er plötzlich einen sonderbaren grausilbernen Schimmer, der wie aus dem Nichts zwischen den Bäumen erschien und fast so etwas wie ein Tor bildete, in dem die Pack einer nach dem anderen verschwanden.

Das leuchtende Gebilde erlosch nicht gleich, nachdem der letzte Pack hindurchgegangen war, und Kim raffte all seinen Mut zusammen und lief quer über die Lichtung um einen Blick hineinzuwerfen. Er wagte es nicht, das sonderbare Gebilde zu betreten.

Dahinter lag nicht etwa der Wald, sondern eine gewaltige, bodenlose Schlucht, die von einem unheimlichen, düsterroten Licht erfüllt war. Ihr gegenüberliegender Rand war so weit entfernt, dass Kim ihn mehr erahnte, als er ihn wirklich sah. Über der Schlucht spannte sich ein gewaltiger wolkenloser Sternenhimmel und auf der anderen Seite schien tatsächlich Wald zu sein.

Quer über diese Schlucht zog sich eine kühn geschwungene Brücke aus denselben uralten Steinen, aus denen Turocks Turm erbaut war. Sie war so schmal, dass Kim schon vom bloßen Hinsehen schwindelte - was die Pack aber nicht daran hinderte, mit grotesken Sprüngen und Sätzen darüber zu hüpfen und dabei in schrillen Tönen zu lachen und zu meckern. Dann taten sie etwas, was so unglaublich war, dass Kim um ein Haar laut aufgeschrien hätte.

Sie sprangen einer nach dem anderen in die Schlucht hinab und verschwanden in der roten, wogenden Tiefe!

Als sich der letzte Pack in dem roten Höllenschlund aufgelöst hatte, begann auch das Tor zu verblassen. Nach kaum einer Minute stand Kim wieder vor den undurchdringlichen Schatten des Waldrandes.

Verwirrt und nachdenklich kehrte Kim in den Turm zurück. Er musste dabei wohl mehr Lärm gemacht haben, als ihm selbst klar war, denn kaum hatte er den Platz vor dem Kamin erreicht, da richtete sich Turock raschelnd auf seinem Lager aus Stroh auf und fragte: »Wo bist du gewesen?«

»Ich konnte nicht schlafen«, antwortete Kim ausweichend. Ohne dass er selbst einen Grund dafür hätte angeben können, erschien es ihm plötzlich besser Turock nichts von seiner unheimlichen Beobachtung zu erzählen. Wenigstens noch nicht.

»Bist du etwa draußen gewesen?«, fragte Turock. Seine Stimme klang scharf.

»Wieso?«

»Ich will nicht, dass du hinausgehst, sobald es dunkel geworden ist, hörst du?«, fuhr Turock fort ohne seine Frage auch nur zur Kenntnis zu nehmen. »Es ist gefährlich. Nachts kommen die Schatten aus dem Wald und wer weiß, was für Dinge sonst noch.«

»Nichts und niemand kommt aus dem Wald«, antwortete Kim, aber Turock ignorierte auch diese Antwort.

»Ich will nicht, dass du nach Dunkelwerden noch einmal aus dem Haus gehst, hörst du?«, sagte er. »Ich verbiete es!«

»Aber warum denn?«, wunderte sich Kim.

»Weil... weil...« Turock suchte einen Moment nach Worten. »Weil die Dinge gut sind, wie sie sind«, sagte er schließlich.

»Du meinst, dass du seit zwanzig oder dreißig Jahren hier festsitzt?«, fragte Kim. »Oder dass ich vielleicht auch für den Rest meines Lebens hier festsitzen könnte?«

»Unsinn«, widersprach Turock. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Ich sage nur, dass man die Dinge besser so lassen sollte, wie sie sind.«

»Heißt das, du willst hier nicht weg?«, fragte Kim.

»Weg?« Turock schien einige Augenblicke lang über die bloße Bedeutung dieses Wortes nachdenken zu müssen. Dann zuckte er mit den Schultern. »Aber wohin sollte ich denn gehen?«

»Nach Hause«, antwortete Kim verwirrt. Was für eine Frage!

»Nach Hause«, wiederholte Turock mit sonderbarer Betonung. »Ich erinnere mich kaum, was dieses Wort bedeutet. Es gab einmal einen Ort ... einen Ort mit Häusern und Menschen ... Aber ich habe ihre Gesichter vergessen ... Und auch ihre Namen. Ich bin hier zu Hause. Wohin sollte ich gehen? Alle, die ich gekannt habe, sind tot.«

»Aber das ist noch lange kein Grund aufzugeben!«, protestierte Kim. »Du wirst neue Freunde finden und neue Menschen, die du liebst und die dich lieben!«

»Wozu?«, fragte Turock leise. »Ich habe hier alles, was ich brauche. Und ich bin zu alt um noch einmal ein ganz neues Leben zu beginnen.«

»Aber ich nicht«, murmelte Kim. »Ich habe das erste noch nicht einmal richtig begonnen.«

Darauf antwortete Turock nicht mehr.

Sie sprachen in den nächsten Tagen nicht mehr über dieses Thema, aber Kim war nun weniger denn je bereit, sich einfach so mit seinem Schicksal abzufinden.

Er hatte einen Weg aus dem Schattenwald heraus entdeckt, und das war alles, was zählte. Er wusste zwar nicht, wohin er führte, und er wusste nicht einmal, ob er ihn gehen konnte, aber er würde es herausfinden.

Im Laufe der nächsten Nächte verlegte er sein Versteck immer näher an den Platz, an dem das Nebeltor auftauchte, und beobachtete die Pack ganz genau, während sie verschwanden. Die pelzigen Gnome stürzten sich nicht immer an derselben Stelle in das rote Licht, aber sie taten es jeden Abend. Das schimmernde Tor blieb jedoch immer für dieselbe Zeit bestehen. Kim schätzte, dass es weniger als fünf Minuten waren, bis die Schlucht und der schmale steinerne Bogen, der sich darüber hinweg spannte, endgültig verblasst waren.

Nachdem er die Pack eine Woche lang beobachtet hatte, sah er eine Möglichkeit, wie sie entkommen konnten. Es war ein haarsträubender Plan, von dem er nicht einmal wusste, ob er auch nur die geringste Aussicht auf Erfolg hatte.

Und als er sich endlich entschieden hatte, ihn in die Tat umzusetzen, hörten die Pack auf, ihnen Lebensmittel zu liefern.

»Was tust du da?«, fragte Turock.

Kim, der gerade damit beschäftigt war, eines der drei Pferde zu zäumen, die in den Boxen standen, hatte noch nie eine solche Schärfe in der Stimme des Alten gehört. Er wusste, dass irgendetwas passiert war, noch bevor er die Zügel losließ und sich zu Turock herumdrehte.

Der alte Mann stand unter der Tür und blickte ihn so finster an, als hätte er ihn mit der Hand im Zuckertopf erwischt.

»Ich ... wollte das Pferd ein wenig herumführen«, antwortete er.

»Wozu?«, wollte Turock wissen.

»Nur so«, log Kim. »Die armen Tiere kommen immer nur zum Pflügen aus dem Stall. Ich wollte es nur ein wenig reiten.«

»Reiten? Wohin?«

Kim schwieg. Seine Ausrede war so dünn, dass er sie nicht einmal selbst glaubte.

»Was hast du getan?«, fragte Turock. »Du hast mich belogen. Du warst nachts draußen und hast spioniert. Ich habe dir gesagt, du solltest es nicht tun, aber du hast es trotzdem getan, du dummer, unglückseliger Junge!«

Kim sah ein, dass Leugnen keinen weiteren Zweck mehr hatte. Turock war ihm auf die Schliche gekommen, aber er war beinahe froh darüber. Trotz allem empfand er eine gewisse Sympathie für den alten Mann und hatte sich nicht besonders wohl dabei gefühlt, ihn anzulügen.

»Und wenn?«, fragte er trotzig.

»Ich war gerade in der Vorratskammer um Essen zu holen«, sagte Turock. »Es ist nicht mehr viel da.«

»Wie bitte?«, murmelte Kim.

»Wir haben nur noch für einige Tage zu essen, du dummer Junge!«, antwortete Turock zornig. »Was hast du getan?!«

Kim schwieg einige Sekunden. Es tat ihm jetzt Leid, dass er Turock nicht gleich die Wahrheit gesagt hatte, aber er war auch noch immer ziemlich erschrocken und sehr verwirrt. Während der letzten Woche hatte er die Pack in jeder Nacht beobachtet und sich dabei sehr sicher gefühlt. Vielleicht ein bisschen zu sicher. Er hatte nicht einmal gemerkt, dass ihnen die kleinen Quälgeister keine Vorräte mehr gebracht hatten.

Er erzählte Turock, was er herausgefunden hatte. Der alte Mann hörte ihm schweigend zu, aber sein Gesicht verfinsterte sich mit jedem Wort, das er hörte, weiter. Als Kim mit seinem Bericht zu Ende gekommen war, schüttelte er den Kopf und seufzte tief. »Du weißt ja nicht, was du getan hast«, murmelte er.

»Turock, es tut mir Leid«, sagte Kim. »Ich wollte nicht, dass das passiert, das musst du mir glauben!«

»Es ist passiert«, antwortete Turock. »Warum hast du mir nichts erzählt? Warum hast du mir nichts vorher gesagt?«

»Wozu?«, antwortete Kim. »Du hättest es mir ja doch nur verboten.«

»Mit Recht!«, begehrte Turock auf. »Du siehst ja, was geschehen ist. Jetzt werden wir verhungern!«

»Ach was!«, widersprach Kim. »Du hast es selbst gesagt: Wir haben noch für vier oder fünf Tage zu essen. Das ist mehr Zeit, als wir brauchen.«

»Wozu?«

»Um von hier zu verschwinden!«, antwortete Kim heftig. »Ich habe einen Weg gefunden, der hier hinaus führt. Und ich werde von hier verschwinden.«

»Und dazu mein Pferd stehlen?«

»Ich brauche es«, antwortete Kim. »Und ich hatte nicht vor es zu stehlen.«

»Wie nennst du es dann, etwas zu nehmen, was dir nicht gehört?«, fragte Turock.

»Gehören sie denn dir?«, fragte Kim trotzig. Er wollte nicht mit Turock streiten, aber er spürte, dass er eigentlich gar keine andere Wahl hatte. Es war verrückt. Sie wollten im Grunde beide dasselbe, aber es war, als redeten sie in unterschiedlichen Sprachen, die zwar gleich klangen, aber immer das Gegenteil dessen ausdrückten, was der andere hörte. »Sie waren schon hier, als du gekommen bist, habe ich Recht? Sie haben all die Jahre hier im Stall gestanden und du hast sie nur zur Feldarbeit herausgeholt, stimmt es?«

Turock schwieg, aber er tat es auf eine ganz bestimmte Art, die Kim klarmachte, dass es ganz genau so gewesen war.

»Hast du dir jemals überlegt, dass sie den einzigen Weg hier heraus darstellen?«, fuhr er fort. »Nur mit ihnen können wir versuchen über die Brücke zu kommen!«

»Und wenn du dich irrst?«, fragte Turock. Er wirkte verunsichert, aber keineswegs überzeugt. »Was, wenn du dich täuschst? Wenn du es nicht schaffst und ich allein hier zurückbleibe? Ich werde verhungern.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass du allein hier zurückbleibst?«, fragte Kim. »Wir gehen zusammen.«

»Wann hast du dir das überlegt?«, fragte Turock. »Jetzt gerade oder schon in dem Moment, in dem ich dich überrascht habe?«

»Von Anfang an«, antwortete Kim. Das war die Wahrheit. Er hatte keine Sekunde lang vorgehabt, Turock einfach hier zurückzulassen. Der Vorwurf des Alten traf ihn hart und Turock schien dies auch zu spüren, denn der Ton in seiner Stimme wurde hörbar sanfter.

»Wann hast du mich gefragt, ob ich das wirklich will?«, fragte er. »Niemals. Du hast einfach für mich entschieden, ohne mich zu fragen. Was gibt dir das Recht dazu?«

»Dasselbe, was dir das Recht gibt, für mich zu entscheiden, dass ich hier bleiben muss«, antwortete Kim. »Vielleicht hast du Recht! Vielleicht kostet mich der Versuch das Leben. Aber dieses Risiko gehe ich ein. Lieber sterbe ich, ehe ich die nächsten fünfzig Jahre meines Lebens hier verbringe.«

Turock schüttelte traurig den Kopf. »Wir hätten darüber reden können«, sagte er.

»Ja, vielleicht«, gestand Kim. »Ich sagte bereits, dass es mir Leid tut. Aber siehst du denn nicht ein, dass wir jetzt eine Chance haben, hier herauszukommen? Ist das nicht das Risiko wert?«

»Diese Frage kommt zu spät«, sagte Turock. Jeder Vorwurf war jetzt aus seiner Stimme verschwunden. Es klang jetzt nur noch traurig und enttäuscht.

Kim drehte sich wieder herum und ging zur Pferdebox zurück. Der schwarze Hengst blickte ihm aufmerksam entgegen. Seine Ohren waren freundlich aufgestellt und er schnaubte leise. Seine Hinterläufe stampften unruhig auf dem Boden. Kim spürte regelrecht, wie sehr das Tier daraufbrannte, nach so langer Zeit endlich aus dem Stall herauszukommen. Wenn er jemals ein Pferd gesehen hatte, auf das das Wort edel zutraf, dann war es dieses.

»Kannst du reiten?«, fragte er.

»Ich konnte es einmal«, antwortete Turock. Dann verbesserte er sich. »Ja.«

»Dann brauchen wir nur noch zu warten, bis es dunkel wird«, antwortete Kim.

Turock sagte nichts mehr. Er blickte ihn nur weiter auf diese stumme vorwurfsvolle Art an, die viel schlimmer war, als hätte er ihn angeschrien.

Und nach einer Weile drehte er sich ebenso schweigend herum und ging.

Von all den Tagen, die er auf Turocks Lichtung verbracht hatte, war dieser der längste. Turock verlor kein Wort mehr über ihr Gespräch in der Scheune, er sprach den ganzen Tag nicht mehr mit Kim und antwortete nicht einmal auf direkte Fragen. Als es dunkel wurde, streckte er sich wortlos auf seinem Bett aus um wie jeden Abend auf der Stelle einzuschlafen.

Eine halbe Stunde vor Mitternacht jedoch öffnete er die Augen, stand ebenso wortlos auf und verließ den Turm. Kim war so überrascht, dass er nicht einmal eine entsprechende Frage stellte, sondern ihm einfach folgte.

Turock ging in die Scheune, wo Kim eine Überraschung erwartete: In der Mischung aus Scheune und Pferdestall brannte eine Fackel, in deren flackerndem roten Licht deutlich zu erkennen war, dass Turock nicht nur ein zweites Pferd aufgezäumt, sondern auch das Sattelzeug von Kims schwarzem Hengst neu gerichtet hatte - übrigens sehr viel fachkundiger, als Kim es selbst getan hatte. Von den Satteln der beiden Tiere hingen prachtvolle Packtaschen.

»Wann hast du das getan?«, fragte Kim verblüfft.

»Vorhin, während du Wasser geholt hast«, antwortete Turock. »Du willst mich also begleiten«, stellte Kim erleichtert fest. Turocks Schweigen und sein abwesendes Verhalten den ganzen Tag über hatten ihn schon ernsthaft befürchten lassen, dass der alte Mann doch nicht mit ihm kommen wollte. Er war nach wie vor fest entschlossen, die Flucht aus dem Schattenwald zu wagen, aber er hätte sich wahrscheinlich immer Vorwürfe gemacht Turock zurückgelassen zu haben ohne zu wissen, ob er nicht durch seine Neugier sein Leben zerstört hatte. Turock ging zu einer der beiden Boxen, trat hinein und bedeutete Kim mit einer Geste dasselbe zu tun. Als Kim die Packtaschen des Hengstes kontrollierte, stellte er fest, dass Turock offenbar ihre gesamten restlichen Vorräte eingepackt hatte. Eingewickelt in eine Deckenrolle, die hinter dem Sattel befestigt war, fand er noch etwas, dessen Anblick ihn noch mehr überraschte: Einen gut anderthalb Meter langen Bogen aus fein poliertem, nachtschwarzem Holz, dessen Sehne wie Metall glänzte. Dazu gehörte ein aus weichem Leder geflochtener Köcher, aus dem die gefiederten Enden eines halben Dutzend ebenfalls nachtschwarzer Pfeile ragten.

»Woher kommt dieser Bogen?«, fragte er.

»Ich habe ihn gemacht«, antwortete Turock. Er schlug mit der flachen Hand auf eine weitere, gleichartige Deckenrolle, die hinter seinem eigenem Sattel angebracht war. »Ebenso wie diesen hier.«

»Du?«, staunte Kim. »Warum? Wann?«

»Es ist schon lange her«, antwortete Turock. Dann lachte er leise. »Ich habe sehr lange dafür gebraucht. Vielleicht ein Jahr für einen Pfeil ... und ich glaube, ich weiß selbst nicht mehr, warum. Vielleicht habe ich einmal geglaubt ihn zu brauchen.« Während er sprach, hatte sich ein sonderbarer, fast melancholischer Ausdruck auf seinen Zügen ausgebreitet. Dann schüttelte er den Kopf und gab sich einen Ruck. »Vielleicht brauchen wir sie ja jetzt«, fuhr er in verändertem Ton fort. »Unsere Vorräte reichen nicht ewig. Es kann lange dauern, bis wir auf Menschen treffen. Und sie könnten feindselig sein.«

»Feindselig?«, wiederholte Kim zweifelnd. Es fiel ihm schwer, das zu glauben. Märchenmond war das friedlichste Land, das man sich nur vorstellen konnte.

»Wie bist du hierher gekommen?«, fragte er.

Turock hob die Schultern. »Ich erinnere mich nicht mehr«, antwortete er. »Früher wusste ich es einmal, aber es ist viel Zeit verstrichen.« Er hob die Hand. »Wir sollten die Fackel löschen. Sie werden bald kommen.«

Kim huschte aus der Box, löschte die Fackel und überzeugte sich, dass auch ja kein Funke ins Stroh hinuntergefallen war, der möglicherweise einen Brand auslösen konnte.

Kaum hatte er es getan, da drang ein mattgrauer Lichtschimmer durch die offene Scheunentür herein. Als Kim in die entsprechende Richtung sah, erblickte er ein Dutzend winziger, rot glühender Funken, die immer paarweise aus diesem nebelartigen Licht herauskamen und sich rasch auf der Lichtung zu verteilen begannen.

»Still jetzt«, fuhr der Alte fort. »Die kleinen Biester haben scharfe Ohren.«

Kim gehorchte und sagte nichts mehr und auch Turock schien wieder mit den Schatten im Inneren der Scheune zu verschmelzen. Endlose Minuten sahen sie gebannt zu, wie die rot glühenden Augen der Pack in scheinbar sinnlosem Hin und Her über die Lichtung glitten, ehe sie sich langsam entfernten um auch die andere Seite des Platzes zu untersuchen.

»Jetzt ist es bald so weit«, flüsterte Turock. »Sobald sich das Tor öffnet, müssen wir schnell sein. Steig in den Sattel.«

Kim gehorchte, sah aber mit wachsender Verwirrung in Turocks Richtung. »Woher weißt du das alles?«, fragte er.

»Weil es immer so ist«, antwortete Turock. »Sie tun in jeder Nacht dasselbe.«

»Und das wusstest du auch schon, bevor ich es dir erzählt habe«, vermutete Kim.

Turock gab ein leises Lachen von sich. »Wieso glaubt ihr Jungen eigentlich immer, jeder, der älter ist als ihr, wäre deshalb auch dumm? - Vielleicht hatte ich Angst«, fuhr Turock fort. »Ich bin jetzt schon so lange hier, dass es vielleicht einfacher schien, alles so zu lassen, wie es war. Still jetzt. Sie kommen. Wir reiten los, sobald sich das Tor öffnet.«

Trotz dieser Warnung vergingen noch mehrere Minuten, ehe der erste Pack wieder auf dieser Seite der Lichtung auftauchte. Kims Blick glitt nervös in die Richtung, in der das Tor auftauchen musste. Er schickte ein Stoßgebet zum Himmel, dass Turock Recht hatte und sich die Gewohnheiten der Pack tatsächlich niemals änderten. In jeder Nacht, in der er die kleinen Kobolde beobachtet hatte, war das Tor durch den verwunschenen Wald an derselben Stelle erschienen. Wenn es heute nicht so sein sollte, dann war ihre Flucht gescheitert, bevor sie überhaupt angefangen hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen und seine Nervosität musste sich wohl auch auf das Pferd übertragen, denn das Tier begann unruhig mit den Hufen zu scharren. Seine Flanken zitterten.

»Wonach suchen sie eigentlich?«, murmelte Kim.

»Das habe ich nie herausgefunden«, antwortete Turock. »Gib Acht!«

Er hatte die beiden letzten Worte kaum ausgesprochen, da erschien am Waldrand ein matter, silberfarbener Schimmer, als bräche sich Licht auf einem im Nebel verborgenen Stück Metall.

Kim packte die Zügel fester, aber Turock schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, flüsterte er. »Warte, bis der letzte Pack hindurchgegangen ist.«

Er wartete mit klopfendem Herzen, bis die Pack sich der zitternden Erscheinung aus Licht näherten und einer nach dem anderen darin verschwanden. Seine Finger schlossen sich fester um die Zügel und seine Füße suchten in den Steigbügeln nach sicherem Halt. Es war lange her, dass er das letzte Mal auf einem Pferd gesessen hatte, aber man sagte ja, dass es mit dem Reiten wie mit dem Radfahren und Schwimmen sei: Einmal gelernt vergaß man nie, wie es ging.

Kim hoffte nur, dass das auch stimmte ...

Das letzte Geschöpf verschwand in dem leuchtenden Nebel und Turock schrie: »Los!«

Sein Pferd fegte wie einer von der Sehne abgeschossener Pfeil aus der Box und Kims schwarzer Hengst folgte ihm ohne nur einen Sekundenbruchteil zu zögern - und auch ganz ohne Kims Zutun, sodass er um ein Haar nach hinten von seinem Rücken geschleudert worden wäre. Verzweifelt klammerte er sich an Zügel und Sattelknauf fest und wurde nur durch Glück und sonst nichts nicht abgeworfen.

Turock galoppierte mittlerweile wie der Blitz auf das Tor zu. Lange vor Kim erreichte er es, tat aber dann etwas völlig Unerwartetes: Im letzten Moment riss er sein Pferd zurück, sodass das Tier mit einem erschrockenen Wiehern auf die Hinterläufe stieg und mit den Hufen ausschlug. Turock blieb dabei so sicher im Sattel sitzen wie ein Dressurreiter, der zeit seines Lebens nichts anderes getan hatte, ließ sogar mit einer Hand den Zügel los und gestikulierte in Kims Richtung.

»Schnell!«, schrie er. »Jede Sekunde zählt!«

Kims Pferd reagierte, bevor er selbst dazu in der Lage gewesen wäre, und vielleicht galten die Worte ja in Wahrheit sogar mehr dem Tier als seinem Reiter. Das Pferd griff plötzlich doppelt so schnell aus, raste an Turock vorbei und sprang mit einem gewaltigen Satz in den Nebel hinein.

Kim hatte für den Bruchteil einer Sekunde das Gefühl, von einer unsichtbaren Hand berührt zu werden, und plötzlich waren der Wald und die Dunkelheit verschwunden und unter ihm lag die gewaltige, von brodelndem roten Licht erfüllte Schlucht.

Sein Herz rutschte mit einem Schlag in die Hose, als er sah, dass die steinerne Brücke noch viel schmaler war, als es von außen betrachtet den Anschein gehabt hatte. Zu allem Überfluss war der Stein nicht nur von unzähligen Jahren, in denen behaarte Pack-Füße darüber gelaufen waren, spiegelglatt poliert worden, sondern das schmale Band fiel an beiden Seiten schräg ab. Unter normalen Umständen hätten Kim keine zehn Pferde auf diese Brücke hinaufbekommen.

In dieser Nacht reichte allerdings ein einziges.

Anders als sein Reiter schien das Tier nicht die geringste Scheu vor dem gähnenden Abgrund zu empfinden, denn es jagte mit solcher Geschwindigkeit los, dass seine Hufe Funken aus dem Fels schlugen und die Pack entsetzt auseinander stoßen. Zwei, drei der haarigen kleinen Kreaturen verloren den Halt und stürzten kreischend in die Tiefe, den anderen gelang es, irgendwie den trommelnden Hufen auszuweichen.

Wenigstens so lange, bis Turock dicht hinter Kim durch das Tor geprescht kam. Einer der Pack wurde von den wirbelnden Hufen getroffen und in hohem Bogen ins Nichts hinausgeschleudert. Der andere klammerte sich an Turocks Sattelzeug und versuchte seine langen Fingernägel ins Bein des Alten zu rammen um ihn auf diese Weise aus dem Sattel zu reißen. Turock versetzte ihm einen Fußtritt und der Pack verlor kreischend den Halt und folgte seinen Kameraden in die brodelnde rote Tiefe.

Kim machte sich wenig Sorgen um die kleinen Quälgeister. Schließlich hatte er oft genug gesehen, wie sie freiwillig von der Brücke aus in die Tiefe gesprungen waren - und außerdem hatte er im Moment alle Hände voll damit zu tun, sich auf dem Rücken des Pferdes festzuklammern um nicht abgeworfen zu werden.

Der Hengst wurde immer schneller. Trotzdem schien der gegenüberliegende Rand nicht näher zu kommen und Kim begriff voller Entsetzen, dass er sich ziemlich verschätzt hatte, was die Breite der Schlucht anging. Die wenigen Minuten, die ihnen blieben, bis sich das Nebeltor schloss, würden niemals reichen um sie zu überqueren.

Mit klopfendem Herzen blickte er nach unten. Die Schlucht war unvorstellbar tief und von rotem, brodelndem Licht wie brodelndem Nebel erfüllt, aber statt der Hitze, die diesen Anblick erwarten ließ, drang ein Hauch so intensiver Kälte aus ihr herauf, dass Kims Finger und Zehen schon nach wenigen Augenblicken steif wurden.

»Schneller!«, schrie Turock hinter ihm. »Schüttle ihn ab!«

Kim verstand gar nicht, was er meinte. Verwirrt drehte er den Kopf - und schrie erschrocken auf.

Er hatte geglaubt, dass sie alle Pack von der Brücke geschleudert hatten, aber das stimmte nicht.

Eines der haarigen kleinen Ungeheuer hatte sich mit beiden Händen im Schwanz des Pferdes festgekrallt. Der Hengst sprengte in solchem Tempo über die Brücke, dass der Pack nicht damit Schritt halten konnte, immer wieder in die Höhe, nach der Seite, aber auch wuchtig zurück auf den Boden geschleudert wurde; wie eine Gummipuppe, das ein Kind an ein Fahrrad gebunden hatte.

Kim sah ein, dass der alte Mann Recht hatte. Durch das kreischende Anhängsel behindert kam das Pferd immer wieder aus dem Tritt; zwar nicht so, dass sie in Gefahr waren abzustürzen, aber es konnte trotzdem nicht seine volle Schnelligkeit entwickeln.

Plötzlich fiel Turocks Pferd zurück. Kim sah, wie der Alte hinter sich griff, den Bogen aus der zusammengerollten Decke zog und einen Pfeil auflegte. Er schoss, noch bevor Kim richtig begriff, was er tat. Der Pfeil traf den Pack genau zwischen die Schulterblätter. Das Wesen kreischte vor Schmerz und Wut und erschlaffte dann, ließ den Pferdeschwanz aber trotzdem nicht los.

Turock fluchte und legte einen zweiten Pfeil auf die Sehne, doch er kam nicht mehr dazu, zu schießen. Etwas Unheimliches geschah. Die Schlucht, die Brücke, ja selbst das rote Licht in der Tiefe begann plötzlich an Substanz zu verlieren. Alles verblasste, als wäre es nur ein Trugbild gewesen.

Das Tor begann sich zu schließen!

Kim versuchte verzweifelt sein Pferd zu mehr Tempo anzuspornen, ließ die Zügel knallen und beugte sich noch tiefer über seinen Hals. Der Hengst kreischte erschrocken, stieß sich mit aller Gewalt ab und überwand die restliche Distanz in einem einzigen, gewaltigen Satz.

Der Aufprall war so hart, dass Kim aus dem Sattel geschleudert wurde und sich zweimal in der Luft überschlug, bevor er in einem stacheligen Gebüsch landete.

Sofort war er wieder auf den Füßen und zurück am Rande der Schlucht.

Er kam zu spät.

Eben erlosch der letzte Schimmer silbrigen Lichts, die Schlucht und Turock waren verschwunden. Vor Kim lag wieder nichts anderes als undurchdringlicher Waldrand.

Im ersten Moment war er so entsetzt, dass er sich einfach weigerte zu glauben, was er sah.

So grausam konnte das Schicksal nicht sein!

Hatte Turock sein Leben geopfert um ihn zu retten?

Der Gedanke traf ihn wie ein Schlag. War die eine Sekunde, die Turock gebraucht hatte, um seinen Bogen hervorzuholen und auf den Pack zu schießen, die entscheidende Sekunde gewesen, in der er den Sprung in die Freiheit geschafft hätte?

Ein klägliches Wimmern drang in seine Gedanken. Kim drehte sich langsam herum. Im ersten Moment glaubte er, es wäre das Pferd, das sich verletzt hatte, aber der schwarze Hengst stand nur ein paar Schritte entfernt da, nervös und aufgeregt, aber offensichtlich unversehrt. Das Wimmern kam aus einer anderen Richtung.

Obwohl der Himmel hier wolkenlos und die Nacht nicht einmal besonders dunkel war, konnte Kim trotzdem nicht sehr weit sehen. Hinter ihm war der Waldrand, der auch auf dieser Seite so undurchdringlich und schwarz war wie auf der vor Turocks Turm. Vor ihm gab es nur ein paar vereinzelte Bäume und ein wenig niedriges Buschwerk. Was dahinter lag, konnte Kim nicht erkennen.

Er folgte dem wimmernden Geräusch, stolperte über etwas Weiches und wurde mit einem lauten Quieken belohnt. Ungeschickt fiel er auf Hände und Füße herab, wollte sich wieder hochstemmen und starrte erschrocken in ein verzerrtes, haariges Gesicht.

Es war der Pack. Das Geschöpf war in einem dornigen Busch gelandet, der seinem Aufprall die schlimmste Wucht genommen hatte. Es wimmerte vor Schmerz. Turocks Pfeil hatte seinen Körper glatt durchschlagen. Die Spitze ragte eine gute Handbreit aus seiner Brust.

Vorsichtig streckte er die Hand nach dem Pack aus. Das Geschöpf stieß ein klägliches Pfeifen aus, hob eine Hand und deutete auf die Pfeilspitze, die aus seiner Brust ragte.

»Du willst, dass ich den Pfeil herausziehe«, vermutete Kim. Er schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht. Es tut mir Leid, aber es ist unmöglich.«

Es war wirklich unmöglich. Die Pfeilspitze war gute fünf Zentimeter lang und mindestens ebenso breit und sie hatte grausame Widerhaken, die es vollkommen unmöglich machten, den Pfeil herauszuziehen. .

Der Pack deutete jedoch wieder auf den Pfeil und mit der anderen Hand auf seine Brust.

»Du weißt, was du da verlangst?«, fragte Kim.

Das Wesen deutete abermals auf die Pfeilspitze und auf seine Brust. Sein Quieken wurde immer kläglicher.

Kim schluckte ein paar Mal, raffte all seinen Mut zusammen und griff mit beiden Händen nach dem Pfeil, der aus dem Rücken des haarigen Geschöpfes ragte. Mit einem kurzen, entschlossenen Ruck brach er das gefiederte Ende des Pfeils ab. Dann - solange er noch den Mut dazu hatte - packte er die vordere Hälfte des Geschosses und zog es mit einer raschen Bewegung heraus.

Der Pack kreischte vor Schmerz, bäumte sich auf und fiel in Ohnmacht. Und als Kim die Hand hob und den Pfeil darin betrachtete, von dem noch das Blut des kleinen Geschöpfes tropfte, da erging es ihm genauso.

Sonnenstrahlen auf seinem Gesicht kitzelten ihn wach. Kim öffnete die Augen, blinzelte in einen wolkenlosen, klaren Himmel und gähnte erst einmal herzhaft, ehe er sich umständlich auf die Ellbogen hochstemmte und sich mit dem Handrücken den Schlaf aus den Augen rieb.

Es war sehr warm. Die Sonne schien hier größere Kraft zu haben als auf Turocks Lichtung, und noch bevor sich Kim umsah, spürte er, dass er an einem sehr friedlichen Ort war. Vögel zwitscherten und er hörte das helle Plätschern eines nahen Baches. Es war vollkommen windstill. Vielleicht empfand er die Wärme der Sonne deshalb so intensiv.

Kim setzte sich ganz auf. Sein erster Gedanke galt dem Pack, aber das kleine Wesen war nicht mehr da. Wo es gelegen hatte, war ein dunkler Fleck im Gras zurückgeblieben und auch die beiden Stücke des zerbrochenen Pfeiles waren noch da, der Pack selbst aber war spurlos verschwunden. Wahrscheinlich hatte sich der kleinen Kerl mit letzter Kraft in den Wald geschleppt um dort zu sterben. Der Pack tat ihm Leid. Er und seine Kumpanen waren alles andere als freundlich zu Kim gewesen, aber seinen Tod hatte er sich nun doch nicht gewünscht. Er verstand auch nicht ganz, warum Turock ihn niedergeschossen hatte. Der Pack war ziemlich lästig gewesen, aber eigentlich keine wirkliche Gefahr.

Er stand auf und drehte sich einmal im Kreis um sich einen ersten Überblick zu verschaffen. Seine Umgebung entsprach ungefähr dem ersten Eindruck, den er in der vergangenen Nacht davon gewonnen hatte: Hinter ihm erhob sich der Schattenwald, der auch von dieser Seite ebenso undurchdringlich und finster war wie von der anderen. In die drei anderen Richtungen erstreckte sich eine sanft gewellte, grasbewachsene Ebene, die irgendwo an ein Gebirge grenzte, das so hoch war, dass es mit dem Himmel zu verschmelzen schien. Das mussten die Schattenberge sein; das gewaltige Massiv, das Märchenmond von Morgon trennte, seinem finsteren Nachbarn. Kim war einmal dort gewesen, vor langer Zeit - aber das war eine andere Geschichte, an die er auch nicht so gerne zurückdachte. Jedenfalls nicht im Moment. Wichtiger war, dass er jetzt wenigstens wusste, wo er sich befand.

Das Schattengebirge begrenzte Märchenmond im Osten und das bedeutete, dass er sehr weit von Themistokles' gläserner Stadt Gorywynn entfernt war. Viele Tagesritte. Unangenehm viele Tagesritte.

Aus dem Gedanken resultierte ein anderer, vielleicht noch unangenehmerer. Kim drehte sich im Kreis und dann noch einmal, bevor er bereit war sich die Wahrheit einzugestehen. Das Pferd war nicht mehr da. Während er geschlafen hatte, hatte sich der schwarze Hengst auf und davon gemacht. Vor ihm lagen nicht viele unangenehm Tagesritte, sondern entsetzlich viele Tagesmärsche. Er hatte den Weg nach Gorywynn schon zweimal zurückgelegt; einmal auf einem Floß, das andere Mal auf dem Rücken eines Drachen, dessen gewaltige Schwingen die Luft mit der Schnelligkeit eines Pfeils teilten, aber noch niemals zu Fuß. Er wusste nicht einmal, ob es überhaupt möglich war.

Nun - so, wie es aussah, würde er es herausfinden ...

Kim folgte dem Geräusch des fließenden Wassers und gelangte schon nach wenigen Dutzend Schritten an einen schmalen, glasklaren Bach, dessen Wasser zwar eiskalt war, seinen Durst aber hervorragend stillte. Leider hatte er nichts zu essen bei sich. Zusammen mit dem Pferd waren auch die Vorräte verschwunden, die Turock eingepackt hatte, und es gab weit und breit nichts, was als Frühstück dienen konnte. Er konnte nur hoffen, dass er auf Menschen traf, ehe sein Hunger zu groß wurde.

Als er sich am Ufer des Baches aufrichtete, hörte er ein Rascheln hinter sich. Kim fuhr herum und starrte mit klopfendem Herzen in den Wald. Er sah nichts und auch das Geräusch wiederholte sich nicht - und trotzdem hatte er das Gefühl, aus der Schwärze jenseits des Waldrandes angestarrt zu werden.

»Ist... da jemand?«, fragte er zögernd. »Turock? Bist du das?« Er bekam keine Antwort und auch das Rascheln wiederholte sich nicht. Kim trat einen Schritt zurück und rief noch einmal Turocks Namen und dann noch mal, erhielt aber wieder keine Antwort.

Schließlich gab er es auf. Wahrscheinlich hatte er sich das Geräusch ohnehin nur eingebildet. In diesem unheimlichen Schattenwald konnte nichts Lebendiges existieren.

Und trotzdem wurde er den furchtbaren Gedanken nicht los: Was, wenn es doch Turock gewesen war? Wenn der Alte in diesem unheimlichen Zwischenreich gestrandet war, vielleicht für alle Zeiten gefangen in dieser undurchdringlichen Schwärze, die sich hinter den Bäumen verbarg?

Dann war es seine Schuld.

Er hatte Turock überredet, die Sicherheit seines Turmes aufzugeben, und Turock hatte die entscheidende Sekunde gezögert, um ihn zu retten!

Der Gedanke war zu furchtbar, um ihn zu Ende zu denken. Kim spielte noch eine Sekunde mit der Idee, die nächste Nacht abzuwarten. Vielleicht öffnete sich das Tor ja noch einmal und Turock kam heraus.

Aber das würde nicht geschehen.

Der Weg durch den Wald war für alle Zeiten verschlossen. Es gab für die Pack keinen Grund mehr, das magische Tor zu öffnen und Lebensmittel zu einem Turm zu bringen, weil niemand mehr da war, der sie brauchte.

Niedergeschlagen wandte sich Kim um und begann seine nähere Umgebung nach etwas Eßbarem abzusuchen. Er brauchte eine halbe Stunde dazu und die Ausbeute war ziemlich mager. Er fand eine Hand voll Beeren, die zwar äußerst schmackhaft waren, seinen Hunger aber erst richtig entfachten, und eine große Anzahl Pilze, die er nicht zu essen wagte. Möglicherweise waren sie giftig. Ziemlich enttäuscht kehrte er an den Platz am Ufer des Baches zurück, an dem er seine Suche begonnen hatte, und erlebte eine Überraschung.

Am Ufer lag ein Leinenbeutel, der einen halben Laib Brot, ein Stück Käse und frisches Obst enthielt.

Kim war nun vollends verblüfft, aber sein Hunger überwog. Er frühstückte ausgiebig und beschloss, sich hinterher Gedanken über die Frage zu machen, wer sein Wohltäter war. Kim verputzte Brot, Käse und Obst bis auf den allerletzten Krümel und trank danach noch einmal ausgiebig. Solcherart gestärkt, machte er sich auf den Weg. Er war mittlerweile schon wieder etwas optimistischer - und er machte sich auch nicht mehr allzu viele Gedanken über die Frage, wer ihm das Essen gebracht hatte. Er war schließlich nicht zum ersten Mal in diesem Land und er hatte hier schon erstaunliche Dinge erlebt.

Er wusste nicht, in welcher Richtung Gorywynn lag, aber immerhin wusste er, dass die Schattenberge die östliche Grenze des Landes bildeten. Wenn er also darauf achtete, das Gebirge immer hinter sich zu haben, dann würde er früher oder später in eine Gegend kommen, die er kannte, oder wenigstens auf Menschen treffen.

Wie es aussah, wohl eher später.

Er wanderte eine Stunde, dann noch eine und noch eine, bis er die erste Rast einlegte. Die Sonne war mittlerweile höher gestiegen und es wurde warm. Kim rastete eine halbe Stunde, dann brach er wieder auf und marschierte weiter.

Auf diese Weise verging der ganze Tag. Zweimal stieß er auf schmale Bäche, an denen er seinen Durst löschen konnte, aber er fand nichts zu essen. Als die Sonne zu sinken begann, knurrte sein Magen und seine Waden waren so verkrampft, dass er kaum noch gehen konnte. Morgen früh würde er den schrecklichsten Muskelkater seines Lebens haben. Und das Schlimmste war: Die Silhouetten der Berge schienen sich keinen Zentimeter entfernt zu haben und die sanft gewellte grüne Steppe vor ihm bot noch immer denselben Anblick wie am Morgen. Es war, als wäre er überhaupt nicht von der Stelle gekommen.

Ein Gutes hatte seine Erschöpfung: Kim streckte sich im weichen Gras aus und schlief auf der Stelle ein.

Als er am nächsten Morgen erwachte, lag ein Beutel mit Lebensmitteln neben ihm und nicht weit davon entfernt ein Schlauch, der gut zur Hälfte mit Wasser gefüllt war. Kim nahm beides dankbar an sich, sah sich diesmal aber aufmerksamer um, nachdem er seinen Hunger gestillt hatte. Er verstand nicht allzu viel vom Spurenlesen; trotzdem konnte er sehen, dass das Gras in seiner unmittelbaren Umgebung niedergetrampelt war. Das Essen war nicht vom Himmel gefallen. Jemand war in der Nacht hier gewesen und hatte es ihm gebracht.

Aber wer?

Er verschob die Lösung dieses Rätsels auf später und marschierte in dieselbe Richtung wie am Vortag los. Das Gehen fiel ihm jetzt schwerer. Der erwartete Muskelkater hatte sich eingestellt und er war noch schlimmer, als er befürchtet hatte. Jeder Schritt war eine Qual und dazu kam, dass die Sonne heute mit sehr viel mehr Kraft vom Himmel schien als noch gestern. Und die grüne Einöde vor ihm nahm einfach kein Ende.

Gegen Mittag tauchte ein Schatten vor Kim am Horizont auf. Eine Zeit lang klammerte er sich an den Gedanken, dass es ein Haus sein könnte, und zwang seine schmerzenden Beine, noch schneller auszugreifen. Nach einigen Minuten sah er aber bereits, dass es sich nur um eine kleine Felsgruppe handelte. Trotzdem ging er schneller weiter. Felsen bedeuteten Schatten, in denen er wenigstens die heißesten Stunden des Tages abwarten konnte.

In Schweiß gebadet und auf Beinen, die bei jedem Schritt wehtaten, erreichte er die Felsgruppe und ließ sich erschöpft in den Schatten sinken. Er war so müde, dass er am liebsten auf der Stelle eingeschlafen wäre.

Vielleicht wäre er es sogar, hätte er nicht plötzlich ein leises, verlockendes Plätschern gehört. Wasser. Offensichtlich meinte es das Schicksal ausnahmsweise mal gut mit ihm. Auf der anderen Seite des Felsens musste eine Quelle entspringen. Kim hob müde den Kopf, zwang sich, die Augen zu öffnen - und blickte in ein haariges Gesicht, das von der Höhe der Felsen auf ihn herabstarrte.

Der Pack hockte mit untergeschlagenen Beinen auf dem Fels, hielt einen grauen Leinenbeutel in der einen und einen appetitlich aussehenden Apfel in der anderen Hand und schmatzte so laut, dass Kim wahrscheinlich allein davon wach geworden wäre, hätte er geschlafen. Saft lief aus seinen Mundwinkeln an seinem fliehenden Kinn herab und tropfte in das Fell auf seiner Brust. Das Wesen rührte sich nicht, aber der Blick seiner kleinen, boshaften Augen verfolgte misstrauisch jede von Kims Bewegungen.

Kim stand ganz vorsichtig auf und sah ihn an. Von der restlichen Bande war jedoch nichts zu sehen. Der Pack bildete entweder nur die Vorhut oder er war tatsächlich allein gekommen. Oder...

Kim kniff die Augen zusammen, um den Pack gegen das grelle Sonnenlicht besser erkennen zu können. Auf der Brust des kleinen Wesens befand sich ein dunkler Fleck, der gut eingetrocknetes Blut sein konnte.

Kein Zweifel - es war der Pack, den Turock niedergeschossen hatte. Kim hatte geglaubt, dass das Wesen davongekrochen war um irgendwo in Ruhe zu sterben. Stattdessen hatte es sich davongeschleppt um gesund zu werden!

Die kleinen Biester waren wirklich hart im Nehmen.

Der Pack hatte den Apfel verputzt und spuckte den Kern in Kims Richtung. Er wich dem Wurfgeschoss hastig aus, spürte aber gleichzeitig wieder das Knurren seines Magens.

Der Pack langte in seinen Beutel, zog eine saftige Birne hervor und biss herzhaft hinein. Kim lief bei dem bloßen Anblick das Wasser im Munde zusammen.

»Hallo«, sagte er zögernd. »Du ... verstehst mich nicht zufällig?«

Der Pack legte kauend den Kopf auf die Seite und starrte ihn aus schmalen Augen an. Er schmatzte lautstark.

Kim kam sich mittlerweile ziemlich blöd dabei vor, dazustehen und mit einem haarigen Kobold zu reden, der über ihm saß und Obst mampfte. Aber er hatte Hunger. Ganz erbärmlichen Hunger.

»Sag mal... hast du in deinem Beutel vielleicht noch etwas?«, fragte er. »Nur eine Kleinigkeit. Falls du sie erübrigen kannst.«

Der Pack legte den Kopf auf die andere Seite, holte aus und warf ihm die angebissene Birne zielsicher ins Gesicht.

Es kam so überraschend, dass Kim einen Schritt zurückstolperte und auf dem Hosenboden landete. Überrascht hob er die Hände und wischte sich Birnenmus und Saft aus dem Gesicht - und fiel im nächsten Moment vollends nach hinten, als der Pack aufsprang und auch noch den Leinenbeutel hinterherwarf. Was immer er enthielt, es war schwer und so hart, dass er im ersten Moment buchstäblich Sterne sah.

Als er sich aufrichtete, war der Pack verschwunden, aber er hörte sein aufgeregtes Schnattern auf der anderen Seite der Felsen. Halb blind tastete er um sich, bekam den Leinenbeutel zu fassen und richtete sich auf. Sein Kopf dröhnte. Er stolperte mehr, als er ging, um die Felsen herum und riss zum zweiten Mal binnen weniger Minuten ungläubig die Augen auf.

Auf der anderen Seite der Felsen entsprang eine Quelle, ganz wie er vermutet hatte. Das Wasser sammelte sich in einem kleinen See, bevor es im Boden versickerte, aber am Ufer des Wasserloches stand nicht der Pack, sondern ein rabenschwarzes, fertig aufgezäumtes und gesatteltes Pferd!

Und es war nicht irgendein Pferd. Es war der schwarze Hengst. Mit dem er von Turocks Lichtung geflohen war. Seine Vorderläufe waren zusammengebunden, sodass er nicht weglaufen konnte. Sein Gepäck und die Satteltaschen lagen auf der anderen Seite des Sees. Selbst der schwarze Bogen und der Köcher mit den Pfeilen standen an den Felsen gelehnt da. Kim drehte überrascht den Kopf und sah sich um. Das Meckern des Pack war verstummt, aber er konnte regelrecht spüren, dass der Gnom noch irgendwo in der Nähe war und ihn beobachtete.

»Warum kommst du nicht raus?«, rief er. »Ich tue dir nichts!« Natürlich bekam er keine Antwort. Außerdem kam er sich ein bisschen lächerlich bei diesen Worten vor. Sein Kopf dröhnte noch immer, so hart hatte ihn der Leinenbeutel getroffen.

Er ging zum See, ließ sich auf die Knie herabsinken und löschte ausgiebig seinen Durst, bevor er den Leinenbeutel inspizierte. Was ihn so hart am Kopf getroffen hatte, war ein Stück steinaltes Brot gewesen; alles, was ihm der Pack übrig gelassen hatte. Mehr noch: Der Leinenbeutel kam ihm plötzlich sehr bekannt vor, genau wie die beiden anderen, die er zuvor gefunden hatte. Die »Geschenke« waren nichts anderes als die Vorräte, die Turock für ihn eingepackt hatte. Oder das, was noch davon übrig war ...

Aber er wollte sich nicht beschweren. Immerhin hatte er jetzt ein Pferd und Pfeil und Bogen um im Notfall ein Stück Wild jagen zu können.

Wie er es sich vorgenommen hatte, wartete er die heißesten Stunden des Tages im Schütze der Felsen ab. Danach badete er ausgiebig in der eiskalten Quelle, trank so viel, bis er glaubte platzen zu müssen - er hatte den Wasserschlauch dummerweise nicht behalten und somit auch keine Möglichkeit, etwas von dem kostbaren Nass mitzunehmen -, verzehrte den Rest seiner spärlichen Vorräte und stieg dann in den Sattel.

Er kam nun sehr viel schneller voran und vor allem leichter.

Trotzdem brauchte er noch zwei Tage, bis er das Dorf fand.

Seine Umgebung hatte sich ganz allmählich verändert. Er ritt noch immer über eine scheinbar unendliche Steppe, die vornehmlich mit kniehohem, saftigem Gras bewachsen war, aber es gab jetzt doch immer öfter kleine Ansammlungen von Bäumen und Buschwerk und zweimal traf er sogar auf etwas, was ein aufgegebenes Feld sein konnte: Unkraut und Gras hatten längst begonnen die gerodete Fläche zurückzuerobern, aber man konnte ihre ehemalige Form noch deutlich erkennen.

Am späten Nachmittag des zweiten Tages stieß er auf einen schmalen Trampelpfad, der ebenfalls den Eindruck machte schon seit Jahren nicht mehr benutzt worden zu sein. Obwohl er nicht genau in die Richtung führte, in die er ritt, folgte ihm Kim. Nach einer Stunde oder mehr - die Sonne hatte ihre Wanderung fast beendet und ein Teil des Himmels begann sich schon wieder mit dem Grau der Dämmerung zu überziehen - entdeckte er einen verwaschenen hellen Fleck am Horizont vor sich, der bald zu einer Ansammlung kleiner, strohbedeckter weißer Häuser wurde.

Das Dorf war nicht besonders groß - vielleicht ein Dutzend kleiner Gebäude, das sich um einen zentralen Platz gruppierte. In einiger Entfernung schien es noch einen größeren Bauernhof zu geben und als Kim näher kam, sah er eine schmale Straße, die sich in südöstlicher Richtung aus dem Dorf herauswand.

Was er nicht sah, waren die Einwohner des Dorfes.

Zwischen den Gebäuden rührte sich nichts und obwohl es jetzt immer rascher dämmerte, brannte nirgendwo ein Licht. Aus keinem einzigen Kamin stieg Rauch auf. So enttäuschend er den Gedanken auch fand: Der Ort schien genauso verlassen und aufgegeben zu sein wie die Felder, die er gefunden hatte. Aber wenigstens würde er in dieser Nacht wieder in einem richtigen Bett schlafen können und unter einem richtigen Dach.

Es wurde dunkel, bis er das Dorf erreichte. Kim ritt bis in die Mitte des Dorfplatzes, zügelte das Pferd und drehte sich langsam im Sattel nach rechts und links. Vollkommene Stille umgab ihn. Es war fast so dunkel wie in Turocks unheimlichem Wald, sodass er die Häuser auch aus der Nähe nur als helle Schemen erkennen konnte. Trotzdem sah er, dass die Häuser zwar offensichtlich leer standen, aber nicht verfallen waren. Das Dorf konnte noch nicht allzu lange von seinen Bewohnern verlassen worden sein.

Kim rief zwei- oder dreimal mit lauter Stimme, um sich bemerkbar zu machen, bekam aber nur sein eigenes Echo zur Antwort. Schließlich stieg er ab, nahm das Pferd am Zügel und näherte sich einem der Häuser.

Die Tür war verschlossen, aber so morsch, dass er nur einmal kurz mit der Schulter dagegen drücken musste um das altersschwache Schloss zu sprengen. Kim zögerte es zu tun. Bisher hatte er nichts getan, was ihm die Leute hier übel nehmen konnten. Wenn sie jedoch zurückkamen und feststellten, dass er gewaltsam in eines ihrer Häuser eingebrochen war ...

Was für ein Unsinn!

Der Ort war seit Wochen verlassen, wenn nicht seit Monaten. Warum sollten seine Einwohner ausgerechnet in dieser Nacht zurückkommen? Und selbst wenn, würden sie bestimmt Verständnis für seine Lage haben.

Kim sprengte die Tür mit einer entschlossenen Bewegung ganz auf und stolperte von seinem eigenen Schwung getragen einen Schritt ins Haus hinein.

Das Erste, was ihm auffiel, war der üble Geruch. Die Luft war trocken und roch nach Alter und Staub, aber auch nach etwas Altem und Faulendem. Kim blieb einen Moment mit klopfendem Herzen stehen und lauschte, rief dann noch einmal und tastete sich schließlich mit weit vorgestreckten Händen durch das Zimmer, als er keine Antwort bekam. Mit einiger Mühe fand er das Fenster, öffnete es und stieß die Läden auf.

Das Zimmer bot einen Anblick des Jammers. Nicht nur auf dem Boden, sondern auch auf den Möbeln lag der Staub zentimeterdick. Auf dem Tisch standen Teller, auf denen die Reste einer Mahlzeit vor sich hin faulten - die Quelle des üblen Geruchs -, und in allen Ecken und Winkeln hingen Spinnweben, die so dick mit Staub verkrustet waren, dass sie wie schmutzige Handtücher wirkten. Neben der Tür lag ein einzelner Schuh und je genauer er sich umsah, desto mehr achtlos liegen gelassene und unter einer fleckigen grauen Staubschicht begrabene Dinge sah er. Wer immer das Haus verlassen hatte, hatte es vor langer Zeit getan und in großer Hast. Das bewies allein die angefangene Mahlzeit, die auf dem Tisch stand.

Der Anblick - so unappetitlich er sein mochte - erinnerte ihn wieder daran, wie hungrig er war. Kim durchsuchte das ganze Haus - das ohnehin nur aus zwei Zimmern bestand -, ohne allerdings mehr zu finden als einen Laib Brot, der so hart war, dass er damit ein Loch in die Wand schlagen konnte. Schließlich gab er es auf, verließ das Haus und wandte sich dem nächsten zu.

Im Laufe der nächsten zwei Stunden durchsuchte er auf diese Weise das ganze Dorf. Er fand überall dasselbe: Der Ort war von seinen Bewohnern verlassen worden, und das vor langer Zeit und offensichtlich in großer Hast.

Was war hier passiert?

Während er noch überlegte, was er nun tun sollte, hörte er ein Klappern hinter sich. Erschrocken drehte er sich um. In dem Haus, das er als Erstes durchsucht hatte, brannte jetzt Licht. Menschen. Licht bedeutete Menschen und Menschen bedeuteten Essen und Wärme.

»Hallo?«, rief Kim. »Ist da jemand?«

Er wartete die Antwort erst gar nicht ab, sondern stürmte los. Während er sich dem Haus näherte, legte er sich in Gedanken schon eine Entschuldigung zurecht, falls der Hausbesitzer sich über die aufgebrochene Tür beschwerte.

Er brauchte sie nicht.

Er stürmte durch die Tür - und blieb wie angewurzelt stehen. Das Haus war immer noch leer. Aber es hatte sich vollkommen verändert!

Im Kamin prasselte jetzt ein behagliches Feuer. Die Spinnweben waren verschwunden. Es gab kein einziges Staubkorn mehr und anstelle der verfaulten Essensreste stand jetzt ein Teller mit einer einfachen, aber appetitlich aussehenden Mahlzeit auf dem Tisch.

Kim sah sich verblüfft um, dann war er mit zwei Schritten bei der Tür zum benachbarten Zimmer und riss sie auf.

Es hatte sich ebenso verändert wie der Wohnraum.

Und es war genauso leer.

Kim ging wieder zum Ausgang und ließ seinen Blick über den Dorfplatz schweifen. Er sah nichts als Dunkelheit und Schatten. Nicht der mindeste Laut war zu hören. Es blieb dabei: Das Dorf war verlassen.

Und trotzdem hatte jemand das Haus hinter ihm aufgeräumt und ihm etwas zu essen hingestellt...

Er hörte das Geräusch leiser Schritte, drehte sich herum und sah gerade noch eine schmale, haarige Hand, die unter der Tischkante verschwand und dabei einen Teil seines Abendessens mitgehen ließ.

Grinsend trat er ins Haus zurück, schloss die Tür hinter sich und sagte: »Du kannst ruhig rauskommen. Ich habe dich gesehen.«

Ein paar Sekunden lang geschah nichts, aber dann erschienen zuerst die spitzen Ohren und dann der wuschelige Haarkamm des Pack über der Tischkante.

Schmale, misstrauische Augen sahen Kim mit einer Mischung aus Vorsicht und Ärger an. Selbst wenn er den Pack nicht gesehen hätte - das lautstarke Schmatzen der Kreatur hätte sie verraten.

»Das alles hier warst du, nicht wahr?« Kim machte eine weit ausholende Geste, auf die der Pack mit einem lautstarken Rülpser reagierte. Kim grinste noch breiter und schüttelte den Kopf. »Kannst du mir erklären, was der Unsinn soll? Ich meine: Du musst mich nicht bestehlen. Immerhin hast du das Essen gebracht. Also ist es nur fair, wenn du die Hälfte davon kriegst.«

Er trat näher, nahm den Teller und hielt ihm den Pack hin. Der Kobold kreischte erschrocken und brachte sich mit einem komisch aussehenden Hüpfer in Sicherheit. Kim musterte ihn verwirrt, schüttelte dann den Kopf und ging wieder zum Tisch.

Während er aß, betrachtete er den Pack aufmerksam. Das Geschöpf war viel kleiner, als es ihm bisher vorgekommen war. Selbst auf die Zehenspitzen aufgerichtet hätte es ihm allerhöchstens bis zur Brust gereicht. Und es kam ihm auch nicht mehr annähernd so bedrohlich vor wie bisher. Mit seinen spitzen Ohren, dem affenähnlichen Gesicht und dem wuscheligen Haarkamm wirkte es vielmehr drollig.

»Wenn ich nur wüsste, was mit dir los ist«, sagte Kim. »Du hast mich die ganze Zeit verfolgt, wie? Warum?«

Der Pack legte den Kopf auf die Seite und schien seinen Worten aufmerksam zu lauschen. Offensichtlich konnte das Wesen nicht sprechen, aber Kim war ziemlich sicher, dass er ihn verstand. Und wenn schon nicht den Sinn seiner Worte, so doch wenigstens deren versöhnlichen Ton. Es war schon seltsam, überlegte Kim. Noch vor ein paar Tagen hatten sie versucht, sich gegenseitig umzubringen, und jetzt war er sehr froh, dass das kleine Wesen da war. Die Einsamkeit in den letzten Tagen hatte ihm doch sehr zu schaffen gemacht. Vielleicht hatte der Pack seine Scheu ja mittlerweile weit genug verloren um zu begreifen, dass ihm von Kim keine Gefahr mehr drohte, sodass er auf seinem weiteren Weg nach Gorywynn wenigstens ein wenig Gesellschaft hatte.

Der Pack hatte den Bissen hinuntergeschlungen, den er von Kims Teller stibitzt hatte, und betrachtete gierig den Rest. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen.

»Willst du noch etwas?«

Kim hielt ihm den Teller hin, aber der Pack wich nur noch ein kleines Stück weiter zurück. Kaum hatte er sich aber herumgedreht und sah in eine andere Richtung, da raste er heran, schnappte sich ein Stück Käse und rannte damit in seine Ecke zurück. Offensichtlich nahm der Pack nichts geschenkt, sondern bestand darauf, sich sein Essen zu stehlen. Kim sollte es recht sein. Sie teilten sich den Rest der Mahlzeit, indem Kim von seinem Teller aß und dem Pack immer wieder Gelegenheit gab, sich seinen Anteil zu stehlen.

Als sie fertig waren, reckte sich Kim ausgiebig. Der Pack rülpste.

»Also deine Manieren lassen zu wünschen übrig«, grinste Kim. »Daran müssen wir noch arbeiten.«

Das Wesen erhob sich und kam mit vorsichtigen Schritten und pendelnden Armen näher. Kim rührte sich nicht. Vielleicht musste er dem Pack einfach nur Zeit und Gelegenheit geben sein Misstrauen vollkommen zu überwinden.

Er streckte vorsichtig die Hand aus. Der Pack musterte seine Finger misstrauisch, schnüffelte daran und kam dann mit zögernden Schritten noch näher.

»Siehst du?«, sagte Kim. »So schlimm bin ich doch gar nicht.« Der Pack kam einen weiteren Schritt heran. Er schnüffelte, legte den Kopf auf die Seite, sah Kim fragend an und schlug ihm dann so wuchtig die Faust auf die Nase, dass er rücklings vom Stuhl fiel.

Als sich die wirbelnden Kreise und Lichtpunkte vor seinen Augen verzogen, hockte der Pack wieder in seiner Ecke und starrte ihn mit gebleckten Zähnen an.

Kim richtete sich vorsichtig auf und betastete seine Nase. Sie tat weh, schien aber wenigstens nicht gebrochen zu sein. Er stand auf, maß den Pack mit feindseligem Blick und drehte sich dann wortlos um. Trotz der überraschenden Attacke hatte er nicht das Gefühl, dass ihm vom Pack wirklich Gefahr drohte.

Aber das änderte nichts daran, dass er einen Stuhl unter die Klinke stellte, bevor er sich in dem Bett im Nebenzimmer zum Schlafen ausstreckte.

Obwohl Kim nicht damit gerechnet hatte, weckte ihn der Pack tatsächlich am nächsten Morgen, wenn auch auf seine ganz eigene Art: Er trat so wuchtig vor das Bett, dass Kim mit einem Schrei in die Höhe fuhr und um ein Haar aus dem Bett gefallen wäre.

Immerhin hatte der Pack bereits ein reichliches Frühstück vorbereitet, als Kim ins Zimmer kam. Natürlich stahl er wieder gut die Hälfte davon, aber die Portion war so reichlich bemessen, dass sie beide gut davon satt wurden. Kim fragte auch vorsichtshalber nicht, woher das Essen kam. Manchmal war es vielleicht besser, wenn man nicht alles wusste.

Nachdem sie fertig gegessen hatten, durchsuchte Kim noch einmal das Haus und fand auch ein paar recht nützliche Gegenstände, die sich aber allesamt als zu groß und sperrig erwiesen um sie mitzunehmen. Alles, was er schließlich einsteckte, waren ein paar kleine Münzen, die er in einer Schublade fand.

Aus einem unbestimmten Gefühl heraus löste er den Bogen aus seiner Verpackung in der Decke und hängte ihn sich mitsamt des dazugehörigen Köchers über die Schulter, bevor er sich in den Sattel schwang und den Ort verließ. Er folgte der nach Süden führenden Straße. Obwohl auch sie aussah, als wäre sie seit Jahren nicht mehr benutzt worden, kam er auf diesem ebenen Untergrund sehr viel schneller voran als in den vergangenen Tagen. Schon gegen Mittag waren die Berge am Horizont gar nicht mehr zu sehen. Er kam an etlichen Bauernhöfen und einem weiteren Ort vorbei; die von ihren Bewohnern ebenso verlassen waren wie das Dorf, in der er die letzte Nacht verbracht hatte, und am frühen Nachmittag stieß er auf ein Feld, auf dem die Ernte des vergangenen Jahres verfaulte.

Trotz allem stimmte ihn der Anblick optimistisch. Diese Ernte war erst vor wenigen Monaten ausgebracht worden. Die Menschen waren auch von hier vor irgendwas geflohen, aber wie es schien, holte er allmählich zu ihnen auf.

Der Zustand der Straße besserte sich im Verlauf der letzten Stunden immer mehr und bald lag vor ihm eine weitere kleine Ansiedlung. Sie bestand aus fünf oder sechs kleineren und einem etwas größeren Gebäude. Aus dem Kamin dieses größeren, zweistöckigen Gebäudes kräuselte sich Rauch und neben der Tür waren zwei Pferde und ein voll beladenes Maultier angebunden.

Er hatte endlich - endlich! - Menschen gefunden.

Der Anblick erfüllte ihn mit einer solchen Erleichterung, dass er das Pferd für ein paar Sekunden anhalten ließ um den Anblick entsprechend zu genießen. Auch die anderen Häuser waren ganz offensichtlich bewohnt. Jetzt würde er endlich erfahren, warum sich dieses Land auf so unheimliche Weise verändert hatte.

Als er weiterreiten wollte, sprang der Pack aus einem Gebüsch am Straßenrand und vertrat ihm den Weg. Er schnatterte aufgeregt und fuchtelte mit beiden Armen wild in der Luft herum.

»Nein«, sagte Kim. »Bitte nicht. Ich habe jetzt wirklich keine Lust auf deine Späße.«

Er ließ das Pferd wieder antraben, aber der Pack ging ihm nicht aus dem Weg, sondern schnatterte nur noch aufgeregter und versuchte sogar nach den Zügeln zu greifen. Das Pferd biss nach ihm und der haarige Gnom zog seine Hand hastig zurück und klammerte sich stattdessen an Kims Steigbügel. Kim konnte sich gerade noch beherrschen um ihn nicht mit einem derben Tritt davonzuschleudern. Aber seine Geduld mit dem aufdringlichen Geschöpf neigte sich nun wirklich dem Ende zu. Ohne das immer lauter werdende Keifen und Lamentieren des Pack zu beachten, ritt er weiter, stieg vor dem Geländer aus dem Sattel und band das Pferd neben den drei anderen Tieren fest. Der Pack gab immer noch keine Ruhe, zerrte an seinem Arm und versuchte schließlich sogar sich an seine Beine zu klammern. Kim ignorierte ihn, so gut es ging, schüttelte ihn schließlich mit schon deutlich mehr als nur sanfter Gewalt ab und betrat das Gebäude.

Wie er erwartet hatte, handelte es sich um ein Gasthaus. Die Wirtsstube war klein und sehr dunkel, denn sie hatte nur ein einziges, noch dazu hoffnungslos verschmutztes Fenster. Die Einrichtung bestand aus einem halben Dutzend schäbiger Tische und Stühle und einem großen Brett, das über einige Fässer gelegt war und wohl die Theke darstellen sollte. Vier oder fünf ziemlich abenteuerlich aussehende Gestalten lungerten an den Tischen herum und tranken und auch der Wirt, der hinter seiner verschrammten Theke stand, machte keinen sehr viel Vertrauen erweckenden Eindruck.

Als Kim den Raum betrat, geschah etwas Sonderbares: Alle Gespräche verstummten schlagartig. Die Blicke der wenigen Gäste richteten sich auf ihn und auch er erstarrte mitten in der Bewegung, die er gerade ausführte. Für die allererste Sekunde wäre ihm diese Reaktion vielleicht sogar noch halbwegs normal vorgekommen. Wenn jemand ein Gasthaus betrat, dann sah man ganz automatisch hin und in einer Gegend wie dieser war ein fremdes Gesicht wahrscheinlich nicht gerade etwas Alltägliches.

Aber es blieb nicht bei dieser einen Sekunde und auch nicht bei einem Blick.

Kim blieb für die Dauer eines Herzschlages unter der Tür stehen um seinen Augen Gelegenheit zu geben, sich an das schwache Licht hier drinnen zu gewöhnen. Die Männer starrten ihn weiter an. Und der Ausdruck auf ihren Gesichtern war keineswegs nur Neugier. Auf einem Gesicht las er blankes Entsetzen und auch die anderen Männer sahen ihn alarmiert, misstrauisch oder erschrocken an.

Er schloss die Tür hinter sich, ging langsam zur Theke und versuchte dabei die brennenden Blicke der Männer in seinem Rücken zu ignorieren, so gut es ging.

Kim war ziemlich verwirrt, mahnte sich in Gedanken aber zur Vorsicht. Vielleicht war es nur eine Kleinigkeit. Vielleicht lag es nur an dem Bogen, den er sich über die Schulter gehängt hatte, oder an seiner Kleidung, der man die Anstrengungen der Reise mittlerweile mehr als deutlich ansah.

Der Wirt starrte ihn finster an. Er war ein sehr großer, grobschlächtiger Mann, der wahrscheinlich gar nicht freundlich dreinblicken konnte. Aber er erkundigte sich weder nach Kims Wünschen noch fragte er, wer er war und wo er herkam. »Guten Tag«, sagte Kim schließlich; nicht besonders geistreich, zugleich aber das Einzige, was ihm einfiel.

Der Wirt starrte ihn weiter an und machte eine Bewegung, die man mit sehr viel gutem Willen als Nicken auslegen konnte. Kim hörte Geräusche hinter sich, Stühlescharren und Schritte. Er widerstand der Versuchung, sich herumzudrehen, aber er spürte, dass einige der Gäste aufgestanden waren und sich ihm näherten. Vielleicht alle. Gefahr lag plötzlich wie etwas Greifbares in der Luft.

»Ich hätte gerne etwas zu trinken«, sagte Kim. »Einen Saft. Oder auch Wasser.« Als der Wirt nicht reagierte, griff er in die Tasche und zog eine der Münzen hervor, die er in dem leer stehenden Haus gefunden hatte. Er konnte spüren, wie die Männer näher kamen. Noch immer sagte keiner von ihnen ein Wort.

Der Wirt starrte die Münze an, als hätte Kim ihm irgendein ekeliges Insekt auf die Theke gelegt. Er rührte sie nicht an, zuckte aber nach einem Moment mit den Schultern und knallte einen Krug mit Bier auf die Theke, dass der Schaum spritzte.

»Ein Krug Apfelsaft wäre mir lieber«, sagte Kim kopfschüttelnd. »Oder auch Wasser, wenn Sie nichts anderes haben.« Er kannte die Art Bier, die in den Gasthäusern dieses Landes ausgeschenkt wurde. Das Zeug war sehr viel stärker als normales Bier und er hatte keine Lust, nach dem zweiten Schluck aus den Stiefeln zu kippen.

Jetzt hätte er eigentlich eine spöttische Antwort oder wenigstens ein herablassendes Grinsen erwartet, aber der Wirt griff nur schweigend nach dem Krug, stellte ihn beiseite und verschwand dann immer noch wortlos in einem Nebenzimmer.

Kim drehte sich nun doch herum und stellte ohne sonderliche Überraschung fest, dass nicht nur einige, sondern sämtliche Gäste von ihren Stühlen aufgestanden und hinter ihn getreten waren.

Auch aus der Nähe boten sie keinen sehr viel angenehmeren Anblick. Die Männer waren groß und kräftig. Viele hatten Narben und einer trug einen zerschrammten Brustpanzer, der früher einmal kunstvoll ziseliert gewesen sein mochte, jetzt aber nur noch aus Dellen und rostigen Flecken zu bestehen schien. Drei von ihnen waren mit Schwertern bewaffnet, die an ihren Gürteln hingen, und der mit dem Brustpanzer trug eine gewaltige Klinge auf dem Rücken.

Kim begann sich unter den Blicken der Männer so unwohl zu fühlen, dass er einfach nicht mehr still stehen konnte. Er hätte besser auf die Warnung des Pack gehört, aber nun war es zu spät.

»Was ist hier eigentlich los?«, fragte er in dem schwachen Versuch, einen Scherz zu machen. »Habt ihr alle ein Schweigegelübde abgelegt oder darf man hier nur von acht bis fünf reden?«

Er war nicht einmal sicher, ob die Männer seine Worte verstanden, denn sie antworteten nicht. Der Ausdruck auf ihren Gesichtern zeigte weiterhin Erschrecken, Misstrauen und offene Feindseligkeit. Schließlich fragte der mit dem Zweihänder auf dem Rücken: »Was suchst du hier?«

»Ich habe Durst«, antwortete Kim wahrheitsgemäß. »Und ich suche ein Lager für die Nacht. Und jemanden, der mir den Weg erklären kann.«

»Welchen Weg?«, fragte der Krieger.

»Gorywynn«, antwortete Kim. »Ich bin auf der Suche nach Themistokles.«

Er spürte ganz deutlich, dass diese Antwort nicht klug gewesen war. Die Gesichter der Männer verfinsterten sich weiter. Nach einigen Augenblicken drehte sich einer von ihnen herum und verließ das Gasthaus und der Krieger fragte in scharfem Ton: »Was willst du in Gorywynn?«

»Wir suchen Themistokles«, wiederholte Kim, wurde aber sofort von dem Mann mit dem Zweihänder unterbrochen:

»Wir? Wer ist wir?«

»Ich«, verbesserte sich Kim. »Es war ein Versprecher, entschuldigen Sie bitte.« Vielleicht war es besser, wenn er nichts von dem Pack erzählte.

»Aber jetzt lasst mich ein paar Fragen stellen«, fuhr er fort. »Wieso seid ihr alle so ... misstrauisch? Was ist hier eigentlich los? Und warum tragt ihr alle Waffen?«

Der Krieger verzog abfällig die Lippen. »Was bist du, Bursche?«, fragte er. »Ganz besonders dumm oder ganz besonders dreist?«

Kim verstand nicht, was diese Antwort bedeutete, doch bevor er eine entsprechende Frage stellen konnte, ging die Tür auf und der Wirt kam zurück. Er hielt einen kleinen Tonkrug in der Hand, den er Kim reichte.

»Dein Traubensaft«, knurrte er unfreundlich.

»Trink«, fügte der Krieger hinzu. »Dann reden wir.«

Kim schnupperte vorsichtig an dem Krug. Was der Wirt als Traubensaft bezeichnet hatte, das roch wie unheimlich starker Wein. Aber er musste den Krug ja nicht völlig leeren.

Etwas anderes aber fiel ihm auf. Die Männer starrten ihn unentwegt weiter an, aber sie wirkten plötzlich auf seltsame Weise gespannt. Zwei von ihnen hatten die Hände auf ihre Schwerter gelegt. Zwei weitere starrten den Krug an, den er in den Händen hielt. Kim ließ ihn wieder sinken.

»Ich glaube, ich möchte doch lieber Wasser«, sagte er.

»Ist dir unser Wein nicht gut genug?«, fragte der Krieger. »Oder verschmähst du unsere Gastfreundschaft?«

Kim hütete sich zu widersprechen. Die Stimmung war schon angespannt genug, auch ohne dass er diese Leute beleidigte. Er konnte ja wenigstens einen kleinen Schluck trinken.

Er setzte den Krug an und eine Sekunde, ehe seine Lippen den Wein berührte, explodierte der Tonkrug regelrecht in seinen Händen. Klebriger Wein spritzte über seine Hände und seine Brust und die Männer sprangen erschrocken zur Seite. Kim starrte eine halbe Sekunde lang verdattert auf den abgebrochenen Henkel, den er noch in der Hand hielt, dann hob er den Blick und sah zur Tür.

Sie war aufgegangen, ohne dass er es bemerkt hatte, und der Pack war in der sonnendurchfluteten Öffnung erschienen.

In der linken Hand hielt er einen runden Kiesel. Ein zweiter, gleichartiger Stein lag zwischen Kims Füßen, wohin er gefallen war, nachdem er den Weinkrug zerschmettert hatte.

Im nächsten Moment brach das reine Chaos los.

Der Wirt duckte sich mit einem erschrockenen Keuchen hinter seine Theke. Zwei Männer begannen vor Angst zu kreischen und duckten sich hinter Tische und Stühle und zwei weitere griffen nach ihren Schwertern, zögerten aber aus irgendeinem Grund noch, sie ganz zu ziehen. Nur der Krieger löste sich mit einer blitzschnellen Bewegung von seinem Platz und griff mit beiden Händen nach Kim.

Er hätte ihn auch zu fassen bekommen, hätte der Pack die Chance nicht genutzt, seinen zweiten Stein zu werfen. Er traf den Krieger zielsicher in den Nacken. Der Mann grunzte vor Schmerz, stolperte an Kim vorbei und fiel über die Theke - und offensichtlich genau auf den Wirt, denn von der anderen Seite erscholl ein zorniges Brüllen.

Kim erwachte endlich aus seiner Erstarrung - und keine Sekunde zu früh!

Einer der anderen Männer hatte sein Schwert aus dem Gürtel gezogen und ging auf ihn los. Aber seine Bewegungen waren seltsam zögernd; fast als hätte er Angst vor seinem eigenen Mut. Als er losstürmte, machte Kim einen Schritt zur Seite, griff instinktiv zu - und war nicht wenig erstaunt, als er plötzlich das Schwert hatte und der Mann verblüfft auf seine leeren Hände starrte.

Unverzüglich griff auch der zweite an. Kim hob automatisch das Schwert um den ersten Hieb zu parieren und etwas fast Unheimliches geschah: Es war, als erwache die Waffe in seiner Hand zu eigenem Leben. Kim verstand überhaupt nichts vom Schwertkampf, aber es war, als sage die Klinge ihm, was zu tun sei. Kim wurde mehr mitgerissen, als er das Schwert wirklich führte. Ohne Mühe parierte er den Schwerthieb, drehte die Klinge blitzschnell in der Hand und entwaffnete den Angreifer mit einem zweiten Hieb. Das Schwert flog scheppernd davon und der Mann stolperte mit einem erschrockenen Keuchen zurück, fiel über einen Schemel und schlug der Länge nach hin.

Während Kim fassungslos auf das Schwert in seinen Händen starrte, hörte er es hinter sich poltern und klirren, und als er sich herumdrehte, sah er, wie der Krieger hinter der Theke aufsprang und nach einem Bierkrug griff um damit nach ihm zu werfen. Kim zerschlug das Wurfgeschoss mit dem Schwert in der Luft, sprang zur Seite und spürte plötzlich, wie sich eine harte Hand um sein Fußgelenk schloss.

Irgendwie gelang es ihm sich loszureißen ohne dabei vollkommen das Gleichgewicht zu verlieren, aber die Zeit, die er dazu brauchte, reichte dem Krieger, um mit einer kraftvollen Bewegung über die Theke zu springen und nach dem Schwert zu greifen, das er auf dem Rücken trug. Mit einem wütenden Schrei zog er die Waffe aus der Scheide.

Der Raum war nicht hoch genug. Der Schwertknauf prallte mit einem dumpfen Laut gegen die Decke, noch bevor er die Waffe halb aus ihrer Umhüllung gezogen hatte. Kalk und kleine Putzbrocken regneten auf ihn herab und für einen Moment erschien ein so verdatterter Ausdruck auf seinem Gesicht, dass Kim fast laut aufgelacht hätte.

Aber nur fast.

Der Krieger griff nämlich mit der zweiten Hand nach ihm und packte ihn so hart an der Schulter, dass er vor Schmerz laut aufschrie. Das Schwert in seiner rechten Hand zuckte und er musste es regelrecht zurückreißen, damit es nicht nach dem Arm des Mannes schlug. Gleichzeitig versuchte er sich loszureißen, hatte aber gegen den viel stärkeren Krieger nicht die mindeste Chance.

Wieder war es der Pack, der ihn rettete. Der Gnom hüpfte mit einem schrillen Kreischen in die Höhe, landete auf den Schultern des Kriegers und begann mit beiden Fäusten auf seinen Schädel einzudreschen. Gleichzeitig biss er den Mann so kräftig ins Ohr, dass dieser mit einem Schmerzensschrei losließ und mit beiden Händen nach oben griff um den kleinen Quälgeist abzustreifen.

Kim riss sich los, stolperte zurück und prallte gegen einen der anderen Männer. Dieser versuchte ihn zu packen, sprang aber hastig wieder zur Seite, als Kim drohend das Schwert hob. Aus den Augenwinkeln sah er, wie der Krieger den Gnom packte und mit solcher Wucht hinter die Theke warf, dass ein ganzes Regal mit Flaschen und Tonkrügen zu Bruch ging. Dann ließ er sich blitzschnell auf ein Knie herabfallen und griff wieder nach oben um sein Schwert zu ziehen.

Wenn es ihm gelang, dann war er verloren, das war Kim klar. Aus einem ihm vollkommen unerklärlichen Grund schienen die Leute hier fast panische Angst vor ihm zu haben - aber das galt nicht für den Mann mit dem Brustpanzer. Und er trug den riesigen Zweihänder gewiss nicht zur Dekoration mit sich herum. Er musste hier heraus!

Kim wandte sich zur Tür - und erlebte eine neue, böse Überraschung. Die Tür stand weit offen und er konnte sehen, dass draußen mindestens ein Dutzend weiterer Männer angerannt kam, manche mit Schwertern oder langen Messern bewaffnet, einige auch mit Mistgabeln, Dreschflegeln oder einfachen Holzscheiten, die sie kurzerhand zu Keulen umfunktioniert hatten. Und an ihrem Ziel gab es nicht den geringsten Zweifel. Kim wirbelte abermals herum, sah, dass der Krieger mittlerweile seinen Zweihänder gezogen hatte, und überlegte nicht mehr länger. Er raste los, mobilisierte alle seine Kräfte und sprang durch das geschlossene Fenster.

In einem Hagel von Glasscherben und Holzsplittern landete er vor dem Gebäude und kam mehr durch Glück als durch Können wieder auf die Füße. Hinter ihm erscholl ein Chor enttäuschter Schreie. Er war auf der der Tür abgewandten Seite aus dem Gasthaus gekommen, sodass sich sein Vorsprung vor den wütenden Männern ein wenig vergrößert hatte. Aber der Mob schwenkte sofort herum und stürmte johlend und waffenschwingend in seine Richtung und in dem zerborstenen Fenster hinter ihm erschien das wutverzerrte Gesicht des Kriegers.

»Packt ihn!«, brüllte er. »Er darf nicht entkommen!«

Kim rannte verzweifelt los, ohne sich Gedanken über die Richtung zu machen. Jede Richtung war in Ordnung, solange sie weg von dieser blutrünstigen Menge führte.

Er rannte, so schnell er konnte. Trotzdem war seine Lage schier aussichtslos. Der kleine Ort lag inmitten leerer Felder und baumloser Wiesen. Es gab weit und breit nichts, wo er sich hätte verstecken können. Und seine Kräfte begannen allmählich nachzulassen.

Kim rannte noch gute hundert Schritte geradeaus, dann schwenkte er nach links, um so einen großen Bogen zu schlagen und den Ort zu umgehen. Vielleicht konnte er auf diese Weise den Vorsprung zu seinen Verfolgern weit genug vergrößern um das Gasthaus wieder zu erreichen und sein Pferd zu holen.

Es war keine besonders kluge Idee. Als er im Laufen den Kopf drehte, sah er, dass ein Teil der Verfolger bereits aufgegeben hatte und zum Dorf zurücktrottete. Der Großteil der Männer rannte allerdings nach wie vor hinter ihm her und vor allem der Krieger mit dem Brustharnisch hatte schon wieder deutlich aufgeholt. Der Mann würde nicht aufgeben. Und er zeigte auch nicht die geringste Spur von Erschöpfung, während Kims Beine mit jedem Schritt schwerer zu werden schienen.

»Packt ihn!«, brüllte der Krieger immer wieder. »Wenn er entkommt, sind wir alle verloren!«

Plötzlich erscholl ein schrilles Pfeifen und in der nächsten Sekunde flogen die Reihen der Verfolger regelrecht auseinander. Ein schwarzer Hengst brach in gestrecktem Galopp durch die Menge. In seinem Sattel hockte ein haariger Kobold, der das Pferd mit schrillem Kreischen und derben Hackentritten antrieb.

Der Einzige, der sich dem schwarzen Hengst in den Weg stellte, war der Krieger. Er fuhr herum, hob sein gewaltiges Schwert und spreizte die Beine um festen Stand zu haben. Kim hätte beim besten Willen nicht sagen können, wer weiter flog - der Krieger in die eine oder sein Schwert in die andere Richtung.

Der Hengst raste heran. Kim streckte die Hand aus, hielt sich am Sattelknauf fest und schwang sich in vollem Lauf auf den Rücken des Tieres. Der Pack kreischte und fiel prompt auf der anderen Seite hinunter, klammerte sich aber blitzschnell am Schwanz des Pferdes fest und wurde auf diese Weise mitgeschleift; eine Fortbewegungsmethode, in der er ja bereits eine gewisse Übung hatte.

Kim galoppierte noch gute zwei- oder dreihundert Meter weiter, ehe er den Hengst etwas langsamer traben ließ und schließlich anhielt. Seine Verfolger hatten aufgegeben. Die Männer standen ratlos in kleinen Gruppen zusammen und starrten in seine Richtung, hatten aber wohl begriffen, dass sie mit dem Tempo des Pferdes nicht mithalten konnten. Der Krieger rappelte sich gerade benommen wieder auf, während sich zwei andere Männer mit seinem Schwert abschleppten.

Er stieg aus dem Sattel, lief rasch zwei Schritte zurück und bückte sich um den Pack aufzuheben, der am Ende einer frischen Furche dalag, die er mit seinem Gesicht in den Acker gegraben hatte.

»Bist du verletzt?«, fragte Kim erschrocken.

Das Wesen grunzte eine Antwort, die natürlich unverständlich blieb, spuckte einen Mund voll Erde aus und schlug mit spitzen Krallen nach Kim. Er reagierte einen Sekundenbruchteil zu spät. Auf seinem Handrücken blieben drei lange, blutige Kratzer zurück.

»Ja«, maulte Kim. »Du bist in Ordnung.«

Ein scharfes Zischen erklang und dann bohrte sich keine zwei Meter von ihnen entfernt ein Pfeil in den Boden. Der Pack sprang schimpfend auf die Füße und wollte davonlaufen, aber Kim hielt ihn blitzschnell am Arm zurück.

»Du brauchst nicht zu laufen«, sagte er. »Das Pferd kann uns beide tragen.«

Der Pack trat ihn wuchtig mit der Ferse auf die Zehen und Kim sprang zur Seite. Dann machte er einen weiteren, noch größeren Sprung, als ein zweiter Pfeil heranzischte und sich nur einen halben Schritt neben ihm in den Boden bohrte. Der Krieger hielt jetzt einen Bogen in den Händen und ganz offensichtlich wusste er auch mit dieser Waffe hervorragend umzugehen.

»Das reicht!«, sagte Kim. Ihm standen noch immer die Tränen in den Augen, so hart hatte ihm der Pack auf die Zehen getreten. Wütend raffte er den Pfeil auf, nahm den Bogen von der Schulter und schickte das Geschoss zu seinem Besitzer zurück. Er zielte nicht einmal richtig.

Trotzdem traf er.

Der Pfeil durchschlug den Brustharnisch des Kriegers mit einem hellen, metallischen Laut und warf den Mann hintenüber. Ein vielstimmiger, gellender Schrei erscholl und Kim ließ seinen Bogen sinken und starrte den gestürzten Krieger an. Der Mann bewegte sich. Wenigstens hatte er ihn nicht umgebracht, sondern nur verletzt.

Aber auch das hatte er nicht gewollt. Er hatte ja nicht einmal richtig gezielt! Es war, als hätte der Pfeil gewusst, wohin er fliegen sollte!

Zwei oder drei Männer hoben plötzlich wieder ihre Waffen und begannen in seine Richtung zu laufen. Sie waren zu weit entfernt um wirklich eine Gefahr darzustellen, aber er hatte trotzdem keine Zeit mehr zu verlieren.

Kim hängte sich den Bogen wieder über die Schulter, stieg in den Sattel und ritt davon.

Er verbrachte diese Nacht ebenso wie die vorherigen unter freiem Himmel. Aber das Rätsel der unheimlichen Veränderung, die mit Märchenmond vor sich gegangen war, ließ ihn nicht besonders gut schlafen. Aus einem Land voller freundlicher Menschen, die jedem Fremden mit offenen Armen entgegentraten, war eine Welt geworden, in der Misstrauen und offene Feindschaft regierten und in der man offensichtlich erst zuschlug und dann nachsah, was man eigentlich getroffen hatte. Wäre der Pack nicht gewesen, dann wäre er jetzt vermutlich tot.

Auch das erschien ihm im Nachhinein beinahe absurd. Ausgerechnet das einzige Wesen, das von Anfang an sein Feind gewesen war, hatte sich nun als sein einziger Verbündeter erwiesen. Es war, als wäre alles auf den Kopf gestellt.

Kim erwachte am nächsten Morgen unausgeschlafen und hungrig. Der Pack war nicht da, aber neben ihm lag ein wenig frisches Obst. Sein haariger Schutzengel war also noch in der Nähe.

Er verzehrte das Obst, machte sich auf die Suche nach seinem Pferd und fand den Hengst nur wenige Minuten entfernt und praktischerweise gleich am Ufer eines schmalen Baches, an dem er sich waschen und seinen Durst stillen konnte. Danach stieg er ohne weitere Verzögerung in den Sattel und setzte seinen Weg fort.

Während der ersten Stunden traf er auf niemanden, aber er sah mehrmals Rauch am Horizont und einmal erblickte er in der Ferne die Silhouette einer Ortschaft, hütete sich aber, ihr auch nur nahe zu kommen. Bevor er sich erneut in menschliche Gesellschaft begab, musste er herausfinden, was hier geschehen war.

Gegen Mittag sah er wieder Rauch vor sich aufsteigen. Er war noch weit entfernt, aber es war viel zu viel, als dass er nur von einem einzigen Gebäude stammen konnte oder auch einer kleinen Ortschaft. Hinter den Hügeln dort vorne musste eine größere Ansiedlung liegen.

Kim dachte einen Moment lang darüber nach, sie in weitem Bogen zu umgehen, entschied sich aber dann dagegen. Er musste mit einem Menschen sprechen, wenn er herausfinden wollte, was hier passiert war. Und diese Ortschaft war so gut wie jede andere. Er würde eben sehr vorsichtig sein müssen.

Der Weg war weiter, als es den Anschein gehabt hatte. Kim ritt gute zwei Stunden, bis er sich der Hügelkette näherte, hinter der die Ortschaft liegen musste. Langsam näherte er sich ihrer Kuppe, sah sich immer wieder suchend um und nahm schließlich sogar noch einen kleinen Umweg in Kauf um die Hügelkuppe im Schütze einiger kleiner Bäume zu erreichen.

Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich als überflüssig erwies.

Unter ihm lag ein mittelgroßes Dorf, das aus vielleicht zwei oder drei Dutzend Häusern bestand und von einer mannshohen Palisade umgeben war.

Genauer gesagt das, was davon noch übrig war ...

Der Rauch, den er aus so großer Entfernung gesehen hatte, stammte von fünf oder sechs Häusern am südlichen Rand der Ortschaft, die in hellen Flammen standen. Der Rest des Dorfes war bereits bis auf die Grundmauern niedergebrannt und zu qualmenden Ruinen geworden. Gut die Hälfte der hölzernen Palisade war niedergerissen oder zu schwarzen Stümpfen verkohlt.

Aber es war kein Unglücksfall gewesen, dem dieser Ort zum Opfer gefallen war.

Zwischen den Ruinen lagen zahllose reglose Gestalten. Zerbrochenes Metall schimmerte im Morast und zusammen mit dem Brandgeruch stieg auch der durchdringende Gestank des Todes zu ihm herauf.

Unter ihm lag ein Schlachtfeld.

Für eine geraume Zeit blieb er im Schutz des Unterholzes stehen und ließ seinen Blick über das Bild entsetzlicher Verwüstung schweifen, das sich vor ihm ausbreitete, aber er entdeckte nirgendwo auch nur das geringste Lebenszeichen. So wie es aussah, waren die Angreifer gekommen, hatten den Ort in Schutt und Asche gelegt und waren sofort wieder verschwunden, ohne sich auch nur die Mühe zu machen, ihre Toten zu bestatten.

Sosehr ihn der Anblick auch schockierte, er ließ ihn doch plötzlich vieles sehr viel besser verstehen. Die verlassenen Häuser und Ortschaften, die Furcht, die sein bloßer Anblick bei den Menschen auslöste - all das ergab Sinn, wenn auf Märchenmond Krieg herrschte. Aus einem Grund, den er nicht kannte, aber bald herauszufinden hoffte, hatten ihn die Menschen für ein Mitglied der feindlichen Armee gehalten, die sie bedrohte; wahrscheinlich für einen Späher. Kein Wunder, dass sie versucht hatten ihn gefangen zu nehmen.

Ein Grund für ihn noch vorsichtiger zu sein. Wenn es dort unten noch Überlebende gab, dann würden sie alles andere als froh sein, ihn zu sehen.

Er wartete lange. Erst nachdem er sicher war, dass sich unter ihm nichts mehr rührte, ließ er sein Pferd zwischen den Bäumen hervortreten und lenkte es langsam den Hügel hinab.

Es war ihm nicht möglich, Angreifer und Verteidiger voneinander zu unterscheiden. Auf dem Schlachtfeld lagen Bauern, Handwerker, Krieger und einfache Dorfbewohner nebeneinander, und als er sich dem Tor in der Palisadenwand näherte, stieß er sogar auf zwei Gefallene in den weißen Umhängen der Steppenreiter.

Ihr Anblick traf Kim besonders schmerzlich. Er hatte immer ein besonderes Verhältnis zu den stolzen Kriegern aus Caivallon gehabt und tief in sich hatte er sich wohl auch stets gewünscht, so wie sie sein zu können. Hinzu kam, dass die beiden keinen Tag älter sein konnten als er.

Überhaupt gab es unter den Gefallenen erschreckend viele Jugendliche und Kinder. Manche waren kaum älter als zehn oder elf Jahre, andere waren in seinem Alter oder gerade an der Schwelle zum Mann oder zur Frau. Die Verteidiger mussten in ihrer Verzweiflung jedem Mann, jeder Frau, jedem Jungen und jedem Mädchen, das auch nur in der Lage war ein Schwert zu heben, eine Waffe in die Hand gedrückt haben.

Es hatte ihnen nichts genutzt. Die Angreifer hatten keine Rücksicht auf Geschlecht oder Alter genommen.

Kim brachte es nicht über sich, den Ort zu betreten. Er wusste, dass er dort keine Überlebenden finden würde. Er wollte nur noch weg von diesem Ort des Grauens.

Aber wohin?

Während er das Schlachtfeld in umgekehrter Richtung überquerte, näherte sich seine Stimmung einem Zustand, die purer Verzweiflung ziemlich nahe kam. Wenn sich der Weg, den er eingeschlagen hatte, so fortsetzte, dann würde er als Nächstes vermutlich mitten in eine Schlacht geraten oder Gorywynn in Trümmern vorfinden. Was war nur geschehen? Waren die finsteren Mächte Morgons wieder erwacht oder hatte irgendein schrecklicher Zauber eine neue, furchtbare Gefahr heraufbeschworen?

Sosehr ihn der Gedanke erschreckte, er hatte nur eine Wahl: Er musste der Spur des feindlichen Heeres folgen um sich mit eigenen Augen davon zu überzeugen, wer der Feind war.

Der Spur zu folgen war nicht besonders schwer. Sie führte in westlicher Richtung von dem brennenden Dorf fort, schlängelte sich die sanften Hügel auf der anderen Seite des Tales hinauf und verschwand schließlich hinter einem kleinen Waldstück. Der Breite des zertrampelten Grases nach zu schließen, musste es sich auch nach der verlustreichen Schlacht noch immer um eine größere Armee handeln; Hunderte von Pferden, deren Hufe den Boden so tief aufgerissen hatten, dass hier und da schon das Grundwasser zutage trat.

Kim hatte kein gutes Gefühl, als er den Hengst dicht neben der Spur den Hügel hinauftraben ließ. Wäre er der Kommandant der unbekannten Armee, dann hätte er garantiert jemanden zurückgelassen, der das niedergebrannte Dorf und die nähere Umgebung noch ein wenig im Auge behielt.

Seine Blicke suchten misstrauisch den Waldrand über ihm ab. Dort oben rührte sich nichts. Der Lärm der Schlacht und das Feuer mussten jedes lebende Wesen in weitem Umkreis verscheucht haben. Trotzdem konnte er nicht sicher sein, dass dort oben nicht jemand im Schütze des Unterholzes saß und jede seiner Bewegungen verfolgte. Oder vielleicht auch schon einen Pfeil auf die Sehne legte ...

Kim zögerte einen Moment, aber dann ritt er noch einmal zum Schlachtfeld zurück und nahm Schwert und Schild eines der Toten an sich. Er war kein Krieger und konnte nicht besonders gut mit diesen Waffen umgehen. Trotzdem fühlte er sich schon wesentlich sicherer, als er zum zweiten Mal den Hang hinaufritt und sich dem Waldrand näherte. Er war sich des Risikos bewusst, das er damit einging, aber er brauchte den Waldrand auch als Deckung. Auf der anderen Seite des Hügels mochte nichts sein, vielleicht aber auch eine Armee von Hunderten von Monstern.

Mit äußerster Vorsicht näherte er sich dem Waldrand. Die Spur der Reiterarmee beschrieb hier einen scharfen Knick nach rechts und führte dann parallel zu den Bäumen weiter. An ihrem Ende, so weit entfernt, dass er nicht sicher sein konnte sie wirklich zu sehen, glaubte er eine gewaltige Staubwolke wahrzunehmen. Trotzdem hielt er sein Pferd noch einmal an, lenkte es dann einige Schritte weit in den Wald hinein und folgte der Spur im Schutz der dicht stehenden Bäume. Auf diese Weise kam er zwar weitaus langsamer voran, als ihm lieb war, aber er wurde wenigstens nicht gesehen.

Der Wald wurde immer dichter, aber die unheimliche Stille, die Kim aufgefallen war, blieb. Das war nicht in Ordnung. Es war, als lebte hier nichts mehr. Der Lärm und das Feuer mochten ja alle Vögel und die größeren Tiere verjagt haben, aber er hätte trotzdem das Rascheln von Insekten hören müssen, das von Blättern und Ästen, die sich bewegten, oder wenigstens das Flüstern des Windes. Aber es war vollkommen still. Die einzigen Laute, die zu hören waren, waren die, die er selbst verursachte.

Er sah etwas Helles, sehr Kleines vor sich auf dem Waldboden liegen, zügelte sein Pferd und stieg schließlich aus dem Sattel um das letzte Stück zu Fuß weiterzugehen. Sein Herz begann schneller zu pochen, als er allmählich erkannte, was da zwischen abgestorbenen Ästen und totem Laub auf dem Boden lag. Die letzten Meter legte er rennend zurück, löste den Schild von seinem linken Arm und lehnte ihn an einen Baumstamm, ehe er sich auf die Knie herabsinken ließ und die Hände nach dem reglosen Geschöpf ausstreckte. Unendlich behutsam hob er es auf.

Es war eine Elfe.

Sie war tot. Ihre schmalen, zerbrechlichen Glieder waren erschlafft. Die porzellanweiße Haut begann sich hier und da grau zu färben und das kleine Gesicht, das so erstaunlich an das eines Menschen erinnerte, ohne es wirklich zu sein, würde nie wieder jenes fröhliche Lachen zeigen, an dem Rebekka und er sich immer so erfreut hatten, wenn sie in den Wäldern mit den kleinen Naturgeistern gespielt hatten. Die an Libellenflügel erinnernden Schwingen der Elfe hatten ihre Regenbogenfarben verloren.

Kim empfand ein Gefühl unendlich tiefer Trauer. Es gab niemanden auf Märchenmond, der Elfen nicht mochte, und erst recht niemanden, der ihnen etwas zuleide tun würde. Selbst die finsteren Horden aus Morgon, die mit Feuer und Tod über die wehrlose Welt hergefallen waren, hatten diese verspielten, ewig fröhlichen kleinen Wesen verschont.

Vorsichtig drehte er das kleine Geschöpf in den Händen. Ein wenig goldener Elfenstaub blieb auf seinen Handflächen zurück. Die Elfe konnte noch nicht lange tot sein. Und seltsam war, dass er nicht die mindeste Verletzung sehen konnte.

Er legte die Elfe wieder auf den Boden und häufte einige trockene Blätter über den kleinen Körper. Er hätte sie beerdigt, wusste aber, dass sich das kleine Wesen ohnehin mit dem letzten Licht des Tages in Nichts auflösen würde. Elfen waren im Tode so zerbrechlich wie im Leben.

Als er aufstehen wollte, entdeckte er eine zweite tote Elfe, nur wenige Schritte entfernt, dann eine dritte, vierte und schließlich fünfte.

Kim kämpfte sein Erschrecken nieder, so gut es ging, und zwang sich, auch diese Elfen genau zu untersuchen. Mit Ausnahme eines der kleinen Geschöpfe, dessen Flügel gebrochen waren, als wäre es aus großer Höhe abgestürzt, waren sie alle unverletzt. Es war, als wäre das Leben einfach ohne Grund aus ihnen gewichen.

Oder der Zauber...

Und dann endlich begriff Kim, was er tief in sich schon die ganze Zeit über gespürt hatte.

Der Zauber war aus Märchenmond gewichen.

Er gab in dieser Welt immer noch tapfere Krieger und gewaltige Schlachten, magische Orte und unerklärliche Kräfte, aber der wirkliche Zauber, das, was diesen Ort so sehr von den fantastischen Welten aus seinen Büchern und Filmen unterschied, war nicht mehr da. Es gab keine sprechenden Tiere mehr, keine Elfen und Feen, keine immer zu einem Schabernack aufgelegten Irrlichter, keinen tollpatschigen Riesen und keinen goldenen Drachen, auf dessen Rücken er weit ins Land fliegen konnte.

Lag es an ihm?

Obwohl diese Welt durchaus real und alle Gefahren hier auch sehr greifbar waren, war sie in gewissem Sinne seine Schöpfung. Märchenmond war die Welt seiner Träume. War es seine Schuld, dass aus einer Welt der Märchen und der Fröhlichkeit ein Land geworden war, in dem die Angst und die Gewalt regierten?

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