FÜNFTER TEIL

Sie, die den wahren Gott mit der Lüge tauschten und den Geschöpfen Ehre und Anbetung erwiesen anstatt dem Schöpfer …

Paulus, Römer, 1:25

1. VERGELTUNG

Als Grant aus tiefem, traumlosem Schlaf erwachte, hörte er das Summen medizinischer Monitore.

Sein erster Gedanke war: Ich kann hören!

Er öffnete die Augen und sah sich in der Krankenstation. Sein Bett war durch dünne Plastikvorhänge von den anderen abgetrennt. Vom Kopf bis zu den Füßen tat ihm alles weh, aber der Schmerz, der so lange hinter seinen Augen gepocht hatte, war jetzt verschwunden. Er hatte einen klaren Kopf, fühlte sich nicht einmal schwindlig.

In einem Schwall kehrten die Erinnerungen zurück und schlugen über ihm zusammen. Wie sie in der zerschlagenen, gerade noch funktionsfähigen Zheng He aus dem Ozean und durch die Wolkenhülle gestiegen waren, wie sie die Umlaufbahn erreicht hatten. Die hektischen Botschaften von der Station alle abgelesen vom einzigen noch funktionierenden Konsolenbildschirm, weil er noch immer nichts hatte hören können. Zu erschöpft und mitgenommen, um mehr zu tun als halb betäubt an seiner Konsole auszuharren, hatte Grant den Autopiloten des Rendezvoussystems aktiviert, um sie zurück zur Station zu befördern. Das System hatte gut genug funktioniert, dass die Flugleiter an Bord der Station gemeinsam mit dem Autopiloten die Tauchsonde erfolgreich hatten andocken können.

Man hatte die ganze Besatzung in aller Eile zur Krankenstation geschafft. Grant erinnerte sich undeutlich, dass Dr. Wo in seinem Rollstuhl neben ihm hergefahren war, während zwei Krankenpfleger ihn im Laufschritt durch den Stationskorridor gerollt hatten. Der Direktor hatte unaufhörlich die Lippen bewegt, wahrscheinlich mit tausend Fragen, aber Grant hatte kein Wort hören können.

Er hatte keine Ahnung, wie lange er schon in der Krankenstation lag. Wie mochte es Lane, Zeb und Krebs ergehen? Hatten sie überlebt?

Vorsichtig richtete er sich zu sitzender Haltung auf. Das Krankenbett passte sich automatisch an und hob den oberen Teil, um ihm den Rücken zu stützen. Das Summen der medizinischen Monitore schien sich ein wenig zu verändern.

»Ich kann hören«, sagte er laut. Seine Worte waren von einem seltsamen leichten Nachhall begleitet, als hätte er im Innern einer Metallröhre gesprochen. »Ich bin am Leben«, sagte er, »und ich kann hören.«

»Ich auch.«

Es war Karlstads Stimme von der anderen Seite des Vorhangs zu seiner Linken.

»Egon!«, rief Grant. »Wir haben es geschafft!«

»Ja. Sie haben uns gerettet, Grant.«

»Ich?«

»Kein anderer, Junge. Sie haben uns ganz allein dort aus der Scheiße gezogen.«

»Aber ich habe nur …«

Das Klappern harter Absätze auf den Bodenfliesen hörte sich wie Gewehrfeuer an. Mehrere Personen näherten sich mit schnellen Schritten, ungeduldig.

Der Plastikvorhang am Fußende von Grants Bett wurde an quietschenden Metallringen ruckartig beiseite gezogen. Ellis Beech stand dort, Verärgerung unübersehbar in seinem dunklen Gesicht. Ein jüngerer Mann stand dicht hinter ihm, blass im Gesicht, mit dünnem blondem Haar. Wie Beech trug auch er einen grauen Straßenanzug. Aber Grant starrte auf die andere Person in Beechs Begleitung: Tamiko Hideshi, gekleidet in ein schwarzes, bodenlanges Seidenkleid mit einem hohen Mandarinkragen. Ihr rundes Gesicht war ausdruckslos bis auf den schwelenden Groll in ihren dunklen Mandelaugen.

»Ich nehme an, Sie halten sich für einen Helden«, sagte Beech.

Grant blickte verständnislos die Stirn runzelnd von Tamiko zu ihm. Dann fiel es ihm ein. Die letzten zwei Datenkapseln, die sie von der Zheng He abgefeuert hatten, während die Tauchsonde mit letzter Anstrengung versucht hatte, der Anziehungskraft Jupiters zu entkommen und in eine Umlaufbahn einzutreten.

»Nein«, erwiderte Grant kopfschüttelnd. »Ich tat bloß, was getan werden musste.«

»Sie haben uns verraten!«, fauchte Hideshi.

»Ich teilte dem Rest der Menschheit neues Wissen mit. Wie kann das Verrat sein?«

In jenen verzweifelten Augenblicken, als er nicht gewusst hatte, ob die Sonde es schaffen oder in einem feurigen Absturz auf den Planeten zurückfallen würde, hatte Grant die Kapseln programmiert, dass sie ihre Daten auf der weitest möglichen Bandbreite senden sollten. Er hatte Dr. Wos Worte im Gedächtnis behalten: Dann senden wir die Information zur Erde. Zum Sitz der Internationalen Astronautischen Behörde, zu den wissenschaftlichen Organisationen der Vereinten Nationen, zu allen Nachrichtendiensten und Universitäten. Gleichzeitig. Wir machen unsere Bekanntgabe so laut und so umfassend, dass sie nicht übersehen oder unterdrückt werden kann.

Genau das hatte Grant getan. Er hatte alle Daten, die sie gesammelt hatten, auf allen verfügbaren Frequenzen zur Erde ausgestrahlt.

»Drei Schiffsladungen mit Leuten der Nachrichtenmedien sind unterwegs zu dieser Station«, sagte Beech mit zornbebender Stimme. »Jeder Wissenschaftler im Sonnensystem möchte hierher kommen, um Ihre gottlosen Wale zu studieren, um aus dem wahren Glauben ein Gespött zu machen …«

»Wie kommen Sie darauf, dass die Jovianer gottlos sind?«, unterbrach ihn Grant.

Er sagte es ruhig, aber seine Worte ließen Beech mitten im Satz abbrechen.

»Glauben Sie nicht, dass Gott sie schuf, genauso wie Er uns schuf?«, fragte Grant.

Beech starrte ihn finster an, sprachlos.

»Als wir unten in diesem Ozean waren, kieloben in die Tiefe sanken, betete ich zu Gott um Hilfe. Eines dieser Lebewesen nahm uns auf den Rücken und trug uns empor. Es erhörte mein Gebet.«

»Das ist Blasphemie!«, zischte der junge Mann hinter Beech. Er starrte Grant feindselig ins Gesicht.

»Nein«, erwiderte Grant. »Gott wirkte durch dieses riesenhafte jovianische Geschöpf. Das ist alles, was ich zu sagen versuche.«

Beech richtete einen langen, anklagenden Finger auf Grant. »Sie werden nichts darüber zu irgendjemandem sagen. Sie werden zu keinem der Journalisten und Reporter sprechen. Sie werden ohne Verbindung zur Außenwelt gehalten, bis wir entscheiden, was mit Ihnen zu tun ist.«

Er machte auf dem Absatz kehrt und marschierte davon, gefolgt von Hideshi und dem schlanken jungen Mann. Alle stapften sie in militärischem Gleichschritt.

Grant schwang die Beine vom Bett und zog den Plastikvorhang zurück, der ihn von Karlstad trennte. Der saß aufrecht in seinem Bett, hatte seinen Taschencomputer und die Kopfhörer auf der Decke. Er sah normal aus, ohne erkennbare Spuren von Verletzungen.

»Ohne Verbindung zur Außenwelt«, sagte Grant. »Sie müssen verdammt aufgeregt darüber sein, was ich getan habe.«

Karlstad grinste ihm zu. »Wenn er meint, er könne die Nachrichtenleute von Ihnen fern halten, lebt er im Traumland.«

»Meinen Sie?«

Karlstad nickte schmunzelnd. »Sie werden der Liebling der Nachrichtenmedien sein, Grant. Der brillante angehende Wissenschaftler, der seine Besatzungskollegen tief in Jupiters kochender See vor dem Untergang rettete. Es wird einen Riesenrummel um Sie geben!«

»Die anderen«, sagte Grant. »Was ist mit ihnen? Zeb? Lane?«

»Laynie ist in Ordnung.«

»Aber sie brach zusammen.«

»Man hat kein permanentes physikalisches Trauma gefunden. Sie ist zur Beobachtung in der Frauenabteilung.« Er tippte mit dem Finger an die Wand hinter dem Kopfende seines Bettes.

»Und Zeb?«

Karlstads Gesicht wurde ernster. »Er hat Lungenblutungen. Durch den Druck muss Lungengewebe gerissen sein.«

»Ist er in Lebensgefahr? Bei Besinnung?«

»Sie haben seinen Zustand stabilisiert und ihn zur Erde geschickt. Sie meinen, dass er durchkommen wird.«

»Und wie geht es Krebs?«

Egon lachte wieder. »Dieser alte Vogel lässt sich nicht so leicht in die Pfanne hauen. Sie hatte eine Gehirnerschütterung, als sie gegen das Schott knallte. Ist jetzt auch in der Frauenabteilung, hilft aber schon unserem verehrten Direktor beim Abfassen von Berichten an die IAB.«

»Wie lange sind wir schon hier?«, fragte Grant.

»Drei Tage. Wie Christus aus dem Grab auferstand, so sind Sie nach drei Tagen im Tiefschlaf wieder erwacht.«

Grant runzelte die Stirn über Karlstads höhnische Pietätlosigkeit.

»Was immer davon zu halten ist«, fuhr Karlstad fort, »keiner von uns hat Verletzungen erlitten, abgesehen vom zeitweiligen Verlust unseres Gehörs.«

Grant vernahm noch immer den unangenehmen metallischen Nachhall jedes Wortes, das Karlstad aussprach. Vielleicht liegt doch ein dauernder Gehörschaden vor, dachte er. Aber das ist nicht so schlimm, bedenkt man, was hätte geschehen können.

»Warum behalten sie uns dann in der Krankenstation, wenn uns nichts weiter fehlt?«

»Aus zwei Gründen. Die Ärzte wollen sichergehen, dass wir gründlich ausruhen. Und Ihr Freund Beech möchte uns vom Rest des Stationspersonals fern halten.«

»Aber das ist doch lächerlich«, sagte Grant.

»Erzählen Sie das Ihrem Mr. Beech. Keiner von uns hat Erlaubnis, mit den Nachrichtenmedien zu sprechen. Bis die Journalisten hier eintreffen, wird Beech uns wahrscheinlich von der Station fortgeschafft haben. Er will uns unter Verschluss halten. Dauerhaft.«

»Aber Sie sagten …«

»Die Journalisten werden Sie finden, Grant. Ganz gleich, wo dieser widerliche Frömmler Sie versteckt, die Nachrichtenleute werden es herausbringen. Glauben Sie mir, ich weiß, wie die arbeiten.«

Grant sank zurück gegen den angehobenen Kopfteil seines Bettes und überlegte angestrengt. Sie konnten die Neuigkeiten nicht geheim halten. Er hatte sie in die ganze Welt hinausposaunt. Aber Beech und seine Truppe hatten die Macht, Grant und alle anderen Mitwisser zu bestrafen. Er war erbost, und würde alles tun, um eine Begegnung mit den Medien zu verhindern. Grant hoffte, dass Karlstad Recht hatte, aber es würde für keinen von ihnen einfach sein.

Den Rest des Tages verbrachte er mit den Botschaften, die sich angesammelt hatten. Es gab ein halbes Dutzend von Marjorie und beinahe so viele von seinen Eltern. Er starrte auf Marjories Gesicht in dem winzigen Bildschirm des Taschencomputers, den eine der Schwestern ihm geliehen hatte. Sie lächelte ihn strahlend an.

»Ich bin so stolz auf dich, Grant«, sagte Marjories Stimme aus dem Kopfhörer. »Du hast eine enorme Entdeckung gemacht und das Leben deiner Kameraden gerettet …«

Sie tat so, als hätte er alles allein gemacht, dachte Grant. Es war ihm beinahe peinlich, aber im Grunde machte es ihm nichts aus. Im Falle Marjories sonnte er sich sogar in der Wärme ihrer lächelnden Bewunderung.

»Ich liebe dich, Grant«, sagte seine Frau. »Und ich vermisse dich schrecklich. Ich hoffe, du kannst bald heimkommen.«

Grant rückte das Mikrofon, das zu den Kopfhörern gehörte, so zurecht, dass seine Lippen es beinahe berührten, dann flüsterte er Marjorie eine lange, weitschweifige aber tief empfundene Botschaft zu, sagte ihr, wie sehr er sich nach ihr sehnte, dass er das erste Schiff zur Erde nehmen würde, sobald die Behörden ihm die Erlaubnis zum Verlassen der Station erteilen würden.

Doch als er versuchte, die Botschaft zu senden, erschien auf dem Bildschirm die Schrift: KEINE VERBINDUNG MÖGLICH. KEINE AUSGEHENDEN BOTSCHAFTEN GESTATTET.

Von der Außenwelt abgeschnitten. Vielleicht würden die Nachrichtenmedien imstande sein, zu ihm vorzudringen, sobald sie in der Station eintrafen, aber Karlstad mochte Recht behalten, wenn er meinte, dass Beech und seine Leute sie bis dahin fortgeschafft haben würden. Und es würde nicht so einfach sein wie Karlstad es sich vorstellte.

Grant entdeckte, dass es noch mehr Botschaften gab, Hunderte von Botschaften wildfremder Menschen, die Hass und Wut über seine »gottlose Blasphemie« ausstrahlten. Keine dieser Botschaften stammte von Leuten, die er kannte; alle waren von Fremden, und die meisten waren anonym, wollten nicht einmal ihren Namen daruntersetzen. Mehr als eine enthielt Morddrohungen. »Es ist die Pflicht der Jünger Gottes, dich totzuschlagen!«, sagte ein besonders frostiger, asketisch aussehender junger Mann.

Widerliche Frömmler. Karlsbad hatte Recht.

Es gab auch eine lange Liste eingehender Botschaften von den Nachrichtenmedien — aber der Inhalt der Botschaften war gelöscht, zensiert bis auf den Namen und die Zugehörigkeit des Absenders.

Erschrocken über die Hassbotschaften, zornig über die Zensur, verfasste Grant eine lange und optimistische Botschaft an seine Eltern und blieb dabei ganz im persönlichen Bereich, versicherte ihnen, dass es ihm gut gehe und vermied sorgfältig jede Andeutung wissenschaftlicher Information. Als er dem Taschencomputer Anweisung gab, den Text zu senden, antwortete der kleine Bildschirm trotzdem wie zuvor: KEINE VERBINDUNG MÖGLICH.

Wenn ich je zur Erde zurückkehre, wird es wahrscheinlich Sibirien sein, dachte er. Wenn mich nicht irgendein fanatischer Zelot vorher umbringt.

Karlstad schien jedoch unbesorgt und war zuversichtlich, dass die Nachrichtenmedien die Mauern der Neuen Ethik überwinden würden. Grant war da nicht so sicher. Er versuchte Dr. Wo anzurufen, aber selbst diese Verbindung wurde ihm verweigert.

Ich bin hier ein Gefangener, dachte er. Karlstad und ich werden gefangen gehalten. Aber was ist mit Zeb?

Sobald er wieder auf die Beine kommt, kann er allen erzählen, was wir erlebten und taten. Es sei denn, er kommt vorher ums Leben.

Die Stunden schleppten sich dahin. Grant fühlte sich ausgeruht und kräftig genug, um aufzustehen und zu seinem eigenen Quartier zu gehen, aber die diensttuende Krankenschwester erklärte ihm, er müsse in der Krankenstation bleiben. Wenigstens konnte er dort auf und ab gehen und dabei feststellen, dass er und Karlstad die einzigen Patienten in der Abteilung waren. Durch das Fenster in der Tür zum Korridor konnte er draußen zwei stämmige Sicherheitswächter sehen.

Sie waren tatsächlich Gefangene.

In dieser Nacht wollte sich der Schlaf nicht einstellen. Grant lag hellwach in seinem Bett und überlegte, was mit ihm geschehen würde. Die Neue Ethik entschied über sein Geschick. Ellis Beech bestimmte seinen Lebenslauf. Was maßten sich diese religiösen Eiferer an? ›Es ist die Pflicht der Jünger Gottes, dich totzuschlagen!‹ Er musste fort, ausbrechen aus dieser Falle. Aber wie?

Es ging auf sechs Uhr früh, als jemand in die noch dunkle Krankenstation kam. Mehr als eine Person, bemerkte Grant, als er ihren Schritten lauschte.

Meuchelmörder? Sein Herz krampfte sich in der Brust zusammen. Er war vollständig wehrlos. Es gab keine Möglichkeit, sich in der dunklen Krankenstation zu verstecken; er konnte nicht fortlaufen, es gab nur den einen Eingang.

Es waren zwei Männer, die leise an den leeren Betten vorbeigingen, geleitet vom bleistiftdünnen Strahl einer kleinen Taschenlampe.

»Welchen?«, hörte er einen Mann flüstern.

Kurzes Zögern. Grant schlüpfte aus dem Bett, die Fäuste geballt. Seine Knie zitterten. Trotz seiner Furcht fühlte er sich etwas lächerlich, wie er so dastand, bereit, in einem dünnen, knielangen Krankenhausnachthemd mit offenem Rücken um sein Leben zu kämpfen.

»Archer … hier ist sein Bett.«

Es waren zwei Sicherheitswächter in Uniform. Der dünne Lichtstrahl ging über Grants leeres Bett, dann schwang er herum und fiel auf ihn.

»Sie sind wach. Gut. Kommen Sie mit uns.«

»Wohin?«, fragte Grant.

»Dr. Wo will Sie sprechen.«

»Jetzt? Um diese Zeit?«

»Jetzt. Um diese Zeit. Kommen Sie, er hat es nicht gern, wenn man ihn warten lässt.«

2. ABSCHIED

Grant zog einen Bademantel über sein Krankenhausnachthemd und folgte den beiden Wächtern in den Korridor hinaus, wo noch die trübe Nachtbeleuchtung eingeschaltet war. In der Station war es still. Der »Morgen« begann um sieben, wenn die Lichter in den öffentlichen Räumen auf Tagesbeleuchtung umgeschaltet wurden. Der Korridor war leer, niemand sonst in Sicht.

»Hier entlang«, sagte einer der beiden. Beide waren größer als Grant, muskulös, ernst.

»Dr. Wos Büro ist in der anderen Richtung«, sagte Grant.

»Er ist nicht in seinem Büro. Kommen Sie.«

Mit zunehmender Beklommenheit ging Grant zwischen ihnen weiter. Er wusste nicht, was er sonst hätte tun können.

Seine Beine fühlten sich gummiartig an, nicht ganz unter seiner Kontrolle. Die Biochips, sagte er sich. Ich kann nicht einmal gut gehen; wenn ich zu laufen versuchte, würde ich wahrscheinlich auf die Nase fallen. Außerdem, wohin könnte ich laufen? Wenn diese zwei Zeloten oder Meuchelmörder wären, überlegte er, hätten sie mich in meinem Bett umgebracht. Und Karlstad dazu.

Trotzdem fühlte er sich von seinem Versuch, logisch zu denken, nicht ermutigt. Mörder handelten nicht immer rational, so viel war ihm klar.

In seiner Verzweiflung suchte er nach einem Ausweg aus dieser Lage, einer Taktik zur Lebensrettung. Nichts.

Widerstandslos ging er mit ihnen, ängstlich aber im Ungewissen darüber, was vor ihm lag, unsicher, was er tun konnte, was er tun sollte, um sein Leben zu retten.

So musste den Juden während des Holocaust zumute gewesen sein, dachte er. Wer kann mir helfen? Wohin kann ich laufen?

Endlich erreichten sie die schwere metallene Luke, die zum Aquarium führte. Als einer der Wächter sie öffnete, fragte Grant den anderen: »Wollen Sie mich ersäufen?«

Das granitharte Gesicht des Wächters verzog sich zu einem ironischen Grinsen. »Ich dachte, Sie können unter Wasser atmen.«

Sie winkten ihn durch die Luke, führten ihn dann die lange Reihe der dicken Fenster entlang, wo die Lichter aus den Fischtanks unruhig über den schmalen Gang spielten. Der Metallboden war kalt unter Grants bloßen Füßen. Die Fische schienen ihn mit großen Augen zu beobachten, ihre Mäuler gingen stumm auf und zu. Die Delphine glitten in ihrem großen Tank vorbei, lächelnd wie immer.

Sheena! Grant glaubte zu verstehen. Sie brachten ihn zu Sheena. Sie würde ihn in Stücke reißen, und es würde wie ein Unfall aussehen.

Seine Gedanken rasten. Vielleicht kann ich Sheena bewegen, dass sie mir hilft, dachte er. Wenn ich ihr nur zeigen könnte, dass ich ihr Freund bin … Wenn sie nur dieses eine Mal vergessen könnte, als ich sie versehentlich verletzte.

Jemand versperrte den Durchgang in der Nähe des Gorillaquartiers. Grant sah, dass es Dr. Wo in seinem elektrischen Rollstuhl war. Die Wächter machten zwanzig Meter vor dem Stationsdirektor respektvoll Halt, und Grant ging das letzte Stück allein, auf wankenden Beinen.

Dr. Wo blickte zu Grant auf, ein seltsames kleines Lächeln um die Lippen.

»Mr. Archer, die Ärzte sagen mir, dass Sie von Ihren Verletzungen völlig wiederhergestellt sind.«

Grant nickte, überflutet von Erleichterung, dass sie nicht im Begriff waren, ihn zu ermorden.

»Ich werde die Station morgen verlassen. Ich bin als Direktor hier abgelöst worden.«

»Sie verlassen die Station?«, platzte Grant heraus. »Man hat Sie hinausgeworfen?«

Zu seiner Überraschung grinste Wo ihn an. »Man hat mich die Treppe hinaufgeworfen. Es ist ein Kompromiss, der zwischen der Neuen Ethik und der IAB ausgehandelt worden ist. Ich werde zur IAB-Zentrale in Zürich gehen und die Leitung des gesamten astrobiologischen Programms übernehmen.«

»Aber die Arbeit hier … die Jovianer …«

»Diese Arbeit fortzusetzen, ist Ihre Aufgabe. Und Dr. Muzorawas, wenn er zurückkehrt.«

»Er wird zurückkehren?«

»Sobald er wiederhergestellt ist, ja. Ich habe ihn zu meinem Nachfolger ernannt. Sowohl die IAB als auch die verschiedenen religiösen Gruppen haben zugestimmt. Aber er wird nicht an weiteren Expeditionen in den Ozean teilnehmen.«

Grant dachte darüber nach. Zeb würde zurückkommen und Stationsdirektor sein. Und von ihm wurde erwartet, dass er das Studium der Jovianer fortsetze.

»Dann hat die Neue Ethik unsere Arbeit nicht vollständig abgewürgt«, sagte er nachdenklich.

»Wie könnte sie? Die ganze Welt beobachtet uns jetzt, dank Ihres Einsatzes. Manche sind furchtsam, viele sind neugierig. Sie haben ein neues Kapitel der Menschheitsgeschichte aufgeschlagen, Mr. Archer.«

»Nicht ich. Ich habe nicht …«

»Sie hatten die Geistesgegenwart, die Forschungsergebnisse weltweit auszustrahlen. Niemand konnte unsere Entdeckungen geheim halten, nachdem die Datenkapseln Ihre Informationen verbreitet hatten.«

Grants Beine fühlten sich zu schwach, ihn aufrecht zu halten. Er lehnte sich mit dem Rücken an die kalte Metallwand und glitt daran abwärts, bis er saß.

»Die religiösen Fanatiker sind sehr zornig auf Sie, Mr. Archer«, sagte Dr. Wo. »Die Zeloten möchten Ihnen das Lebenslicht ausblasen.«

»Was würde es ihnen nützen?«

»Nicht viel, aber sie sind wütend und frustriert. Eine schlimme Kombination.«

Grant erinnerte sich plötzlich. »Sie haben auch Irene Pascal umgebracht, nicht wahr?«

Wos Gesichtsausdruck verhärtete sich. »Dr. Pascals Tod war ein Unfall. Ein unbeabsichtigter Selbstmord.«

»Nein«, sagte Grant.

»Ja«, beharrte Wo. »Sie nahm eine Überdosis Amphetamine, die unter den Hochdruckverhältnissen an Bord der Tauchsonde zu ihrem Tode führten.«

»Irene nahm die Drogen nicht wissentlich«, sagte Grant.

»Eine Untersuchungskommission hat den Vorfall geprüft. Sie ist zu dem Schluss gekommen, dass es sich um einen Unfall handelte. Der Fall ist abgeschlossen.«

»Es war kein Unfall«, beharrte Grant. »Es war Mord!«

Stählerne Härte kam in Wos Stimme. »Nein, Mr. Archer. Lassen Sie die Sache auf sich beruhen.«

»Aber ich weiß …«

»Der Fall ist abgeschlossen!«

Einen langen Moment starrten die beiden einander an, Auge in Auge. Grant konnte nicht ergründen, was in Wos Gehirn vorging, aber er kannte seine eigenen Gedanken. Für Dr. Wo und seine Untersuchungskommission mochte der Fall abgeschlossen sein, aber er war es nicht für ihn. Er wusste, dass Irene ermordet worden war, und er wusste, wer der Täter war.

»Die IAB hat Dr. Indra Chandrasekhar als Interimsdirektorin hier eingesetzt.«

Grant überwand seinen inneren Aufruhr. »Chandrasekhar? Ich kenne sie nicht.«

»Ihre Bekanntschaft ist kein Erfordernis für die Position«, sagte Wo mit dünnem Lächeln.

Grant schwieg.

»Sie hat die Studien der Galileischen Monde geleitet. Eine sehr gute Führungskraft. Sie entstammt einer langen Reihe ausgezeichneter Wissenschaftler.«

»Sie wird die Leitung der Station übernehmen, bis Dr. Muzorawa zurückkehrt?«

»Ja, und Sie werden die Studien der jovianischen Lebewesen leiten, die Sie im Ozean fanden«, sagte Wo. »Ob sie intelligent sind oder nicht.«

»Sie sind intelligent. Davon bin ich überzeugt.«

»Gut! Nun brauchen Sie nichts weiter zu tun als es so vollständig zu beweisen, dass der Rest der Welt es glauben wird.«

»Einschließlich der Neuen Ethik?«

Wo lachte. »Die Neue Ethik, die Jünger Gottes, das Licht Allahs … sogar die religiösen Fanatiker.«

Grant nickte. Er nahm die Herausforderung an. Als Erstes galt es, die aufgezeichneten Daten zu untersuchen, um durch Analysen und Vergleiche vielleicht die Bedeutung der Lichtsignale zu erschließen, mit denen die Wale sich untereinander verständigten. Währenddessen musste die Zheng He repariert oder vielleicht eine neue Tauchsonde gebaut werden …

Dr. Wo unterbrach seinen Gedankengang. »Es wird notwendig sein, dass Sie hierbleiben.«

»Ja, das ist mir klar.«

»Natürlich haben Sie Anspruch auf Urlaub von Ihrer Dienstpflicht. Sie könnten ihn in der Heimat verbringen, wenn Sie es wünschen.«

»Aber die Arbeit wird hier getan.«

»Genau. Und offen gesagt, sind Sie hier viel sicherer als auf Erden, wo es keinen zuverlässigen Schutz vor Mordanschlägen fanatischer Zeloten gibt.«

Es gibt eine religiöse Fanatikerin hier in dieser Station, dachte Grant. Mindestens diese eine. Und ich kenne sie.

»Beech hält mich ohne Verbindung zur Außenwelt«, sagte Grant. »Karlstad und die Frauen auch. Ich kann nicht einmal meiner Frau eine Botschaft zukommen lassen.«

Dr. Wo nickte wissend. »Ich habe dafür gesorgt, dass Sie sich in der Station frei bewegen können. Sie brauchen nicht in der Krankenstation zu bleiben. Was Botschaften in die Heimat betrifft …« Er zuckte die Achseln. »Ich fürchte, dass Mr. Beech in Kommunikationsangelegenheiten die Oberhand hat.«

Grant starrte ihn an. Er begriff, dass ein Machtkampf zwischen Wo und Beech im Gang war. Keine der beiden Seiten hatte vollständig freie Hand. Und er war sowohl Gegenstand als auch Opfer ihres Machtkampfes.

»Nun gut, Mr. Archer«, unterbrach Dr. Wo seinen Gedankengang. »Sie haben noch einen letzten Abschied zu nehmen.«

»Abschied?«

Wo zeigte zu Sheenas dunkler Nische.

»Sheena verlässt die Station?«

»Wir brauchen sie hier nicht mehr. Vielleicht können die Delphine in Ihren Versuchen, sinnvolle Kontakte mit den Jovianern herzustellen, von Nutzen sein, aber Sheena ist uns zu ähnlich, um Ihnen bei Ihrer Arbeit zu helfen.«

»Was wird mit ihr geschehen?«

Wo seufzte. »Das Einfachste wäre, sie zu opfern. Dann könnten wir ihr Gehirn sezieren und …«

»Nein!«, rief Grant aus.

Dr. Wo hob beschwichtigend die Hände. »Ich stimme Ihnen zu, es wäre eine verbrecherische Handlung. Nein, ich werde Sheena mitnehmen und einem Zentrum für Primatenforschung in Kinshasa übergeben. Dort ist man sehr daran interessiert, sie zu haben.«

»Und dort wird sie es gut haben?«

»Sie wird sehr willkommen sein. Man hat dort mehrere andere Primaten mit erweiterten Fähigkeiten. Sheena wird dort keine Anomalie sein. Wenn alles gut geht, wird sie die Mutter einer neuen Zucht sein, die Begründerin einer Dynastie, sozusagen. Und eine weitere Herausforderung für die Fundamentalisten.«

»Sie wird dort geschützt sein?«

»Wenn nötig, mit Waffengewalt. Sie ist außerordentlich wertvoll.«

Grant nickte befriedigt. »Dann wird sie unter ihresgleichen sein.«

»Das glaube ich«, sagte Wo.

»Ich wünschte …« Grant konnte den Satz nicht vollenden. Er schluckte und unterdrückte aufkommende Tränen. Es war ihm peinlich, wegen eines Gorillas von Gefühlen überwältigt zu werden.

Wo bediente die Tastatur in der Armlehne seines Rollstuhls, und die Deckenbeleuchtung nahm ihre strahlende Tageshelligkeit an.

»Ich kann die Sonne aufgehen machen«, sagte er mit schiefem Lächeln. »Eines der Privilegien, die man als Stationsdirektor hat.«

Und Sheena erwacht mit der Sonne, dachte Grant. Er wandte sich erwartungsvoll dem Eingang zu ihrer Nische zu. Ob sie noch zornig auf mich ist?, dachte er.

In ungewöhnlich sanftem Ton sagte Wo: »Sie hat nach Ihnen gefragt.«

»Wirklich?«

»Als ich ihr erzählte, Sie seien verletzt, wurde sie ziemlich unruhig.«

Grant wusste nicht, was er sagen sollte.

Er hörte sie auf ihrem Lager rascheln, als sie aufstand, dann kam sie schnaufend und schnüffelnd wie jemand, der gerade von einem gesunden Nachtschlaf erwacht ist, zum Eingang getappt. Als er aufstand, wehte ihn der starke Tiergeruch an, und gleich darauf erschien Sheena im Eingang, haarig und kompakt.

»Grant«, sagte sie mit ihrer heiseren, kratzigen Stimme.

»Hallo, Sheena.«

Sie richtete den Blick ihrer großen braunen Augen kurz auf Dr. Wo, blickte aber sofort zurück zu Grant.

»Grant weh.«

»Es ist wieder gut, Sheena. Alles in Ordnung.«

»Nicht weh?«

»Nicht mehr«, sagte Grant. »Es ist schön, dich zu sehen, Sheena.«

»Sheena nicht weh.«

Sie erinnerte sich noch an das neurale Netz, merkte Grant. Aber vielleicht hatte sie es ihm vergeben.

Der Gorilla blickte wieder zu Dr. Wo, kam dann auf den Knöcheln einen Schritt näher. Grant streckte ihr die Hand hin, die Innenseite nach oben. Sheena streckte ihren Arm aus und berührte leicht seine Handfläche.

»Grant Freund«, sagte sie.

»Sheena ist mein Freund«, erwiderte er. »Ja. Freund.«

»Sheena und ich gehen zu einem neuen Ort«, warf Dr. Wo ein, »wo Sheena viele neue Freunde haben wird.«

Sheena schien darüber nachzudenken, dann sagte sie: »Neue Freund? Grant mit?«

»Ich fürchte nein, Sheena. Ich muss noch eine Weile hier bleiben. Vielleicht werde ich später kommen und dich besuchen.«

»Du kommen. Besuchen neue Freund. Besuchen Sheena.«

»Das werde ich tun«, versprach Grant und hoffte, dass er eines Tages in der Lage sein würde, Wort zu halten.

3. DIE SCHÖNHEIT DEINES HAUSES

Überrascht, wie schwer ihm der Abschied von Sheena geworden war, kehrte Grant zur Krankenstation zurück, wo er und Karlstad geduldig eine letzte Untersuchung über sich ergehen ließen. Nach ihrer offiziellen Entlassung zogen sie sich eilig an und gingen zu ihren Quartieren, beide mit unbeholfenen Schritten, weil ihnen die implantierten Elektroden als Fremdkörper, die kaum unter ihrer Kontrolle waren, noch immer Schwierigkeiten bereiteten.

Grant ging an seiner Tür vorbei.

Karlstad, der neben ihm hertappte, fragte: »Haben Sie vergessen, wo Sie wohnen?«

»Ich habe was zu tun«, sagte Grant. »Eine ganze Menge, wenn ich es recht bedenke.«

»Das Einzige, was ich möchte, ist eine anständige Mahlzeit und dass die Mediziner diese verdammten Biochips abschalten, damit ich mich wieder wie ein ganzer Mensch fühlen kann.«

Grant nickte abwesend und ging weiter, als Karlstad vor seiner Tür stehen blieb.

»Und dann werde ich Laynie besuchen«, rief Karlstad ihm nach. »Aber im Ernst.«

Grant schenkte ihm keine Beachtung. Tamiko. Die ganze Zeit hatte Tamiko für Beech gearbeitet. Wirklich für ihn gearbeitet, nicht bloß so getan, wie er. Sie war eine Zelotin. Sie war gefährlich.

Er ging zu Hideshis Quartier und klopfte an die Tür. Sie klapperte leicht. Komisch, dachte Grant, ich habe nie bemerkt, wie dünn und schwach diese Türen sind.

»Wer ist da?«, rief Hideshis Stimme.

»Grant Archer.«

Sie schob die Tür zurück und ließ Grant mit einer stummen Geste in ihr Zimmer ein. Beim Eintreten sah er eine offene Reisetasche auf dem Bett liegen. Kleider waren darum verstreut. Die Schubladen ihrer Kommode hingen offen und leer.

»Sie reisen ab?«, fragte er.

»Mit Beech, ja.«

»Sie sind eine seiner Agentinnen, nicht wahr?«

»Das ist offensichtlich«, sagte Hideshi. Sie ging zum Bett und setzte sich zwischen die Kleider darauf.

»Und Sie sind eine Zelotin.«

Hideshi antwortete nicht.

»Sie würden mich töten, wenn Beech es von Ihnen verlangte, nicht wahr?«

Sie machte eine säuerliche Miene. »Er wird es nicht tun. Es wäre jetzt sinnlos. Sie haben Ihren Schaden angerichtet. Es wäre kontraproduktiv, einen Märtyrer aus Ihnen zu machen.«

»Wie könnten Sie es fertig bringen, einen Menschen zu töten?«, fragte Grant, ungläubig wider besseres Wissen.

»Um den Weg für Sein Königreich zu bereiten«, sagte sie, als zitiere sie auswendig. »Um Sein Werk zu vollenden. Ich bin bereit, mein eigenes Leben zu geben, sollte es notwendig sein.«

»Aber das ist nicht, was Gott will.«

»Wie können Sie das wissen?«, höhnte sie. »Sie sind auf der Seite der anderen. Sie werden alle in der Hölle brennen.«

Grant trat zu ihrem Schreibtisch und ließ sich auf den Bürostuhl nieder. »Tami, hier geht es nicht um Religion.«

»Ach nein?«

»Nein«, sagte Grant. Er fühlte sich müde, ausgelaugt.

»Es geht um Politik. Sehen Sie nicht? Die Neue Ethik gebraucht Religion als Deckmantel für ihre politischen Ziele. Es ging niemals um Religion. Es war immer Politik.«

»Da liegen Sie völlig schief, Grant. Wir tun Gottes Werk. Ihr Säkularisten steht auf der Seite des Teufels.«

»An ihren Früchten …«

»Kommen Sie mir nicht mit Bibelzitaten!«, fauchte Hideshi. »Versuchen Sie nicht, mich zu Ihrem Atheismus zu bekehren!«

»Aber ich bin gläubig!«

»Sagen Sie.«

Geradeso gut könnte man zu einer Statue sprechen, dachte Grant. Dann fiel ihm der eigentliche Grund seines Besuches ein.

»Sie töteten Irene Pascal, nicht wahr?«

Hideshi sah überrascht aus, beinahe schockiert. »Ich? Warum sollte ich?«

»Um die Tiefenmission zunichte zu machen.«

Sie lachte ihn aus. »Sie Schlauberger, immer auf der falschen Fährte! Ich habe niemanden umgebracht.«

»Wer war es dann?«

»Kayla.«

»Kayla! Sie ist eine von Ihnen?«

Mit einem selbstzufriedenen Lächeln sagte Hideshi: »Gehen Sie hin und fragen Sie sie selbst.«


* * *

Grant machte sich auf die Suche und durchstreifte die Station. Kayla, sagte er sich. Sie ist eine der Zeloten. Die ganze Station muss von ihnen befallen sein. Ich muss sie finden, bevor sie weiteren Schaden anrichtet. Bevor sie noch jemand umbringt oder versucht, die ganze Station zu sprengen. Je mehr er darüber nachdachte, desto mehr festigte sich seine Überzeugung, dass Tamiko ihm die Wahrheit gesagt hatte. Kayla Ukara, mit ihrem immerwährenden zornigen Stirnrunzeln, war in jener letzten Nacht allein mit Irene gewesen. Kayla musste ihr die Amphetamine eingegeben haben, die sie später umgebracht hatten.

Zuerst hatte er Devlin verdächtigt. Devlin hatte Zugang zu allen Arten von Drogen, und Grant wusste, dass er Irene etwas verkauft hatte. Aber sie war zu intelligent, um eine gefährliche Überdosis zu nehmen. Sie hätte es niemals von sich aus getan. Nein, die Überdosis musste ihr von einer Person beigebracht worden sein, die sie kannte und der sie vertraute. Einer, die sie liebte.

Kayla Ukara. Eine Zelotin. Eine religiöse Fanatikerin. Eine Mörderin.

Er suchte die Station nach ihr ab, angefangen mit ihrem gewohnten Arbeitsplatz im Labor, dann nahm er sich die Werkstätten vor, bis er endlich die Tür der Befehlszentrale aufstieß.

In der Zentrale war es still, die Lampen waren bis auf die trübe Notbeleuchtung ausgeschaltet, desgleichen der große Wandbildschirm und die Konsolen. Außer der einen, an der Ukara saß und vornübergebeugt in einen kleinen Bildschirm starrte, die Ellbogen auf der Tastatur, das Kinn in die Hände gestützt, den Blick unverwandt auf den einzigen leuchtenden Bildschirm gerichtet.

Grant tappte leise die Rampe hinunter, die für Dr. Wos Rollstuhl gebaut worden war. Er blieb stehen, als er über Ukaras Schulter sehen konnte, dass der Bildschirm, den sie beobachtete, ein Video von Irene Pascal zeigte.

»Sie haben sie umgebracht«, sagte Grant.

Sie fuhr herum. Ihre Züge zeigten deutlich das Erschrecken.

»Sie haben Irene ermordet.«

Einen Augenblick lang dachte Grant, sie werde ihn anspringen. Ihre Muskeln spannten sich, die Finger krümmten sich zu Krallen. Dann entspannte sie sich, Zorn und Erschrecken wichen aus ihren Zügen und sie sackte zurück in den Bürostuhl.

»Ich tötete Irene«, gab sie zu. »Es war nicht Mord, aber ich tötete sie, ja.«

»Sie versuchten die Tiefenmission zu torpedieren.«

Ukara schüttelte den Kopf. »Ich wollte nur Irene retten. Ich wollte nicht, dass sie an der Mission teilnahm. Sie selbst fürchtete sich davor, hatte schreckliche Angst, war aber zu loyal, um den Dienst zu verweigern.«

»Sie wollten sie retten?«, erwiderte Grant. »Indem Sie ihr eine tödliche Dosis Amphetamine einflößten, um sie umzubringen?«

»Es war keine tödliche Dosis«, antwortete Ukara. Sie sah jetzt unglücklich aus. »Ich wusste nicht, dass es sie töten würde. Ich wollte bloß, dass sie krank genug sein würde, um von der Mission befreit zu werden.«

Grant zog einen der anderen Stühle heran und setzte sich ihr gegenüber. »Ich wünschte, ich könnte das glauben.«

»Ich wusste nicht, dass es in dieser Suppe, in der sie lebten, so stark auf Irene wirken würde. Ich wollte sie nicht umbringen. Ich liebte sie.«

Grant musterte ihr Gesicht. Ukara sah jetzt nicht wie ein Panther aus. Sie sah elend und unglücklich aus, den Tränen nahe.

»Aber Sie sind eine Zelotin, nicht wahr?«, bohrte er.

Ukaras Augen öffneten sich weit. »Eine Zelotin? Eine von diesen Fanatikern?« Sie stieß ein bitteres, zorniges Lachen aus. »Ach ja, gewiss. Eine schwarze Lesbierin. Sie haben ganze Bataillone von uns in ihren Reihen!«

Sie sprang auf. »Ich tötete die Person, die ich liebte! Ist das nicht Bestrafung genug, ohne dass ein Idiot wie Sie dumme Fragen stellt? Dr. Wo versteht, was geschehen ist. Wer hat Sie ernannt, hier den Staatsanwalt zu mimen?«

Wieder dachte Grant, sie würde ihn anspringen, doch stattdessen schritt sie zornig aus der Befehlszentrale und ließ ihn allein sitzen, und verblüfft in Irene Pascals Gesicht auf dem Bildschirm der einzigen eingeschalteten Konsole starren.

Lange saß er so da, dachte nach, erinnerte sich, ließ die Stunden und Tage und Wochen Revue passieren. So vieles war geschehen. Alles hatte sich so sehr verändert. Die ganze Welt hatte sich verändert.

Er wandte sich zur Konsole und aktivierte ihr Kommunikationssystem.

»Sicherheitsdienst«, sagte er mit fester Stimme.

Der Bildschirm zeigte den jungen Mann, der Beech in die Krankenstation begleitet hatte. Er trug einen dunklen Anzug, war glatt rasiert, das Haar sauber gekämmt.

»Ich möchte meine Frau anrufen«, sagte er.

Der junge Mann schüttelte den Kopf. »Sie sind von der Außenwelt abgeschnitten. Das bedeutet keine ausgehenden Botschaften oder Anrufe. Seien Sie dankbar, dass wir Sie aus der Krankenstation gelassen haben.«

Grant nickte knapp und unterbrach die Verbindung.

»Red Devlin«, sagte er dem Computer.

Der Bildschirm blieb für ein paar Augenblicke leer, aber endlich grinste ihn Devlins jugendliches, schnurrbärtiges Gesicht daraus an.

»Hallo, Grant. Was kann ich für Sie tun?«

Devlin schien im Küchenbereich zu sein. Hinter ihm sah Grant die hohen Edelstahltüren eines Gefrierschranks und die Ecke von etwas, das ein großer Elektroherd zu sein schien.

»Ich muss ein Ferngespräch machen«, sagte Grant, »aber die maßgeblichen Stellen wollen mich ohne Verbindung zur Außenwelt halten.«

Devlin zog die roten Brauen hoch. »Mit anderen Worten, Sie möchten, dass ich die Typen von der Neuen Ethik umgehe?«

»Ja. Können Sie das machen?«

»Und ob ich es machen werde, für Sie allemal, Kumpel. Sie sind ein Held, und diese frömmlerischen Scheißkerle gehen mir schon lange auf den Geist.«

Grant zögerte. »Ah, es wird eine persönliche Botschaft sein. An meine Frau.«

Devlin nickte. »Verstehe. Komprimieren Sie die Botschaft und schießen Sie sie mir durch das reguläre Telefonsystem herüber. Ich werde die Nachricht mit meiner üblichen Einkaufsliste einem Kumpel von mir auf der Erde senden. Er wird sie dann für Sie an die richtige Adresse weiterleiten.«

»Dank, Red«, sagte Grant. »Dafür schulde ich Ihnen was.«

Lachend erwiderte Devlin: »He, Sie werden hier demnächst ein großer Zampano sein. Da muss ich mich doch gut mit Ihnen stellen, nicht wahr?«


* * *

Grant machte seine Botschaft an Marjorie kurz. Er sagte ihr, dass er gesund und wohlauf sei, doch gebe es Probleme mit der amtlichen Bürokratie, die ihn daran hinderten, sie direkt anzurufen.

»Ich bin sicher, dass wir das alles ziemlich rasch in Ordnung bringen können«, sagte Grant bei dem Gedanken an die Schiffsladungen von Journalisten, die unterwegs zur Station waren.

»Aber …« Er zögerte, befeuchtete sich die Lippen und traf die Entscheidung. »Aber ich werde hier noch lange in der Station bleiben, Marjorie. Ich möchte dich bei mir haben. Ich brauche dich bei mir. Wirst du hierher kommen? Ich weiß, dass es die Aufgabe deiner Arbeit bedeutet, aber deine zwei Jahre Dienstpflicht sind ohnedies beinahe um. Bitte komm her. Ich liebe dich, Marjorie. Ich vermisse dich schrecklich. Komm und arbeite mit mir, lebe mit mir. Hier muss ich sein und hier muss ich dich bei mir haben.«

Er wagte es nicht, seine Botschaft noch einmal durchzulesen, komprimierte die Daten und schoss sie durch die Leitung zu Devlin.

Red wird sie zu Marjorie durchbringen, sagte er sich. Es mag einen oder zwei Tage dauern, aber sie wird meine Botschaft bekommen.

Er stand von der Konsole auf und ging langsam die Rampe hinauf und hinaus in den Korridor. Dann werden wir sehen, dachte er. Wird sie heraufkommen, um hier mit mir zu leben?

Er war zuversichtlich. Trotz der vergangenen Zeit und der Entfernung zwischen ihnen liebte er noch immer seine Frau. Aber liebte auch sie ihn noch? Genug, um alles zurückzulassen und die weite Reise zu machen?

Ja, dachte er. Ich glaube, sie wird es tun. Aber selbst wenn sie nicht kommt, muss ich hierbleiben. Ich muss.

Ziellos wanderte er den Hauptkorridor der Station entlang. Leute grüßten ihn mit Lächeln und Hallo, und einige klopften ihm sogar auf die Schulter. Grant lächelte und sagte Hallo und winkte ihnen zu.

Und sah sich endlich im Aussichtsraum der Station. Niemand war dort. Er trat ein und schloss leise die Tür hinter sich. Der Raum war dunkel, nur winzige Lampen am Boden zeigten, wo eine Couch und ein paar Polstersessel standen. Die langen Fenster waren mit Läden verschlossen. Beinahe wie ein Blinder tastete sich Grant zu dem sehr matt glimmenden Schalter, der die Läden aktivierte.

Sie öffneten sich leicht und ohne ein anderes Geräusch als das gedämpfte Summen eines Elektromotors.

Jupiters Licht flutete in den Raum. Grant stockte der Atem, als er die verschiedenfarbigen Wolkenstreifen über das Gesicht des gigantischen Planeten ziehen sah. Es gibt Lebewesen unter diesen Wolken, sagte er sich. Und im Ozean gibt es intelligente Lebewesen.

Dessen war er ganz sicher. Er verstand auch, dass er bereit war, den Rest seines Lebens mit dem Versuch zu verbringen, es zu beweisen.

Es gab viel Arbeit zu tun. Viel zu lernen, zu entdecken.

Jupiter glitt außer Sicht, während die Station sich langsam um ihre Achse drehte und die Krümmung des leuchtenden Planeten der Schwärze unendlichen Raumes Platz machte. Es dauerte ein paar Momente, bis seine Augen sich angepasst hatten, dann sah er die Sterne, Tausende von Sternen, die zu ihm zurückblickten.

»O Herr«, sagte Grant, der sich in diesem Augenblick des alten Psalmes erinnerte, »ich liebe die Schönheit Deines Hauses und den Ort, wo Deine Herrlichkeit wohnt.«

Dann lächelte er. Sie können versuchen, uns von der Außenwelt abzuschneiden. Sie können versuchen, uns zum Schweigen zu bringen. Aber Wissen ist mächtiger als Unwissenheit. Neugierde ist mächtiger als Furcht.

Grant lachte laut auf, dann machte er kehrt und verließ den Aussichtsraum, ging seinen neuen Aufgaben entgegen, seiner neuen Verantwortung, bereit, Gottes Werk zu tun.

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