DRITTER TEIL

Da sieht man Weise sterben, wie Tor und Narr vergehen …

Der Mensch bleibt nicht im Ansehen, er gleicht den Tieren, die untergehen.

Psalm 49

1. GENERALPROBE

Der Monat verging wie ein einziger kurzer Tag. Grant arbeitete Doppelschichten in der Befehlszentrale der Missionsleitung, eingezwängt neben Frankovic, während er die Bildschirme beobachtete, wo Lane, Karlstad, Irene Pascal und Muzorawa unter Dr. Krebs' strengem Blick im Aquarium an den Simulatoren arbeiteten.

Anfangs gebrauchten sie nur die manuellen Steuerungselemente im Simulationstank, aber nach einigen Tagen begannen sie, die Verbindung mit den Bordsystemen der Tauchsonde durch die Biochip-Elektroden zu nutzen.

Dr. Wo saß an seinem Datenanschluss in der Mitte der Befehlszentrale so lange die Simulationen liefen, doch gewann Grant den Eindruck, dass der Direktor oft geistesabwesend aussah, ohne Reaktion auf die Vorgänge im Aquarium. Vielleicht sorgte er sich wegen der Untersuchungskommission der IAB, die unterwegs zur Station war und sie voraussichtlich sieben Tage nach dem Beginn der Mission erreichen würde.

Abends aßen sie im Konferenzraum und besprachen die Tagesarbeit. Krebs aß selten mit ihnen, und wenn sie es tat, wurde sie von den anderen gemieden und aß mit finsterer Miene allein am Kopfende des Tisches. Die einzigen Worte, die sie für die Mannschaft fand, waren Warnungen vor Verstößen gegen Sicherheitsbestimmungen und Beschwerden, dass ihre Arbeit im Simulator nachlässig oder sogar schlecht gewesen sei.

Die meisten Abende stahl Grant sich frühzeitig fort, um einige Zeit mit Sheena zu verbringen. Die anderen waren so auf die Mission und die damit zusammenhängenden Fragen fixiert, dass sie Grants »Verabredungen« mit dem Gorilla kaum erwähnten. Sogar Karlstad hatte ein neues Thema für die Tischgespräche gefunden.

»Mein Gott«, sagte er eines Abends beim Essen, »auf diese Weise angeschlossen zu sein, ist wirklich besser als Sex — beinahe.«

»Wenn Sie sich daran gewöhnt haben und die Möglichkeiten ausschöpfen«, erklärte Muzorawa, »können Sie über die Biochips sogar Verbindung miteinander herstellen. Es ist fast wie Telepathie.«

»Tatsächlich?« Karlstad wandte sich mit einem begehrlichen Blick zu O'Hara.

»Lassen Sie Ihren Verstand über der Gürtellinie, Egon«, sagte sie. »Es ist alles psychisch, nicht physisch.«

»Das Gehirn ist das wichtigste Geschlechtsorgan des Körpers«, konterte er.

Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf.

Muzorawa erklärte Grant, dass die elektronischen Implantate auch miniaturisierte Halbleiter-Laser enthielten, die durch faseroptische Leitungen mit den Bordsystemen verbunden seien.

»Photooptik kann sehr viel mehr Information übertragen als Elektronik«, bemerkte O'Hara.

»Aber das menschliche Nervensystem ist elektrisch, nicht wahr?«, fragte Grant.

»Elektrochemisch«, berichtigte Karlstad.

»Aber was geschieht, wenn all diese photooptischen Daten ins Nervensystem gepumpt werden?«

»Es wird eine Überladung erzeugt«, sagte Muzorawa.

»Und die verrücktesten Empfindungen, die man sich vorstellen kann«, fügte O'Hara hinzu.

Karlstad seufzte schwer.

Nach dem Essen ging Grant wie gewöhnlich zu Sheena. Er bemühte sich noch immer, den Gorilla an das Kontaktnetz mit den Elektroden zu gewöhnen. Sie konnte es noch immer nicht richtig über den Kopf ziehen, aber nach und nach gelang es Grant, sie so weit zu beruhigen, dass sie seine Hilfe beim richtigen Anlegen des Netzes mit den Elektroden akzeptierte.

»Wenn wir ihr nur den Kopf rasieren könnten«, sagte Pascal sehnsüchtig, als sie eines späten Abends im Konferenzraum saßen und einen Imbiss einnahmen.

Auch Pascal hatte doppelte Pflichten übernommen: jeden Abend beobachtete sie Grant mit Sheena durch die Überwachungskameras und arbeitete im Tank an den Simulatoren. Sie sah so erschöpft aus wie Grant sich fühlte.

»Das würde sie sich nicht gefallen lassen«, sagte Grant.

»Wir könnten sie ruhigstellen.«

»Das würde nicht funktionieren«, sagte Grant. »Bis sie sich an die Tatsache gewöhnen würde, dass sie rasiert worden ist, wäre ihr das Haar nachgewachsen.«

Pascal seufzte. »Ja, da könnten Sie Recht haben.«

»Wenn Sheena zulassen würde, dass ich ihr das Netz unter dem Kinn befestige, könnten Sie bessere Kontaktstellen finden.«

»Wenn sie es zulassen würde.« Pascal legte die Gabel aus der Hand und zog die Stirn in Falten. »Ist Ihnen klar, dass das Versuchstier dieses Experiment leitet? Es kann einen zur Raserei bringen.«

Es überraschte Grant, dass Sheena als ein Versuchstier bezeichnet wurde. Und es überraschte ihn noch mehr, als er erkannte, dass er den Gorilla als eine Person betrachtete.

Um die Neurophysiologin zu besänftigen, sagte er: »Ich werde Sheena dazu bringen, dass sie das Netz trägt und mich vergewissern, dass die Elektroden guten Kontakt haben. Geben Sie mir noch ein paar Tage.«

»Wir werden in sechs Tagen starten.«

»Sheena kann nicht auf einen Zeitplan gesetzt werden, fürchte ich.«

»Ja, ja, ich verstehe«, sagte Pascal. »Trotzdem, es ist sehr frustrierend. Zum Verrücktwerden.«

»Ich kann die Konsole für Sie bedienen«, schlug Grant vor. »Ich werde die Daten sammeln und sie für Sie bereithalten, wenn Sie von der Mission zurückkehren.«

Pascal warf ihm einen zweifelnden Blick zu, sagte aber nichts.

Die Tür zum Korridor glitt zurück, und Red Devlin trat so beiläufig in den Konferenzraum, als wäre es seine Küche.

»Irene, sei gegrüßt. Wie geht's?«

»Was tun Sie hier?«, wollte Grant wissen. »Es ist nicht erlaubt …«

»Na, na«, sagte Devlin. »Machen Sie sich nicht nass, Grant. Wer, meinen Sie, bringt Ihr Essen und Trinken hier herein, wie? Jemand muss sehen, ob genug Kaffee da ist, nicht wahr?«

»Es ist schon in Ordnung«, sagte Pascal. »Er tut bloß seine Arbeit.«

»Richtig, Irene. Und Sie, Grant, wie ist das Leben mit Sheena? Sind Sie sich schon näher gekommen?«

»Klar.« Grant war der Witzeleien über ihn und Sheena überdrüssig.

Devlin zog ein Plastikfläschchen aus der Tasche und reichte es Pascal. »Sind Sie sicher, dass Sie die brauchen?«, fragte er in ehrlich besorgtem Ton. »Mir scheint, Sie brauchen etwas zum Schlafen, nicht zum Wachhalten.«

»Ich schlafe sehr gut«, erwiderte Pascal. »Tagsüber muss ich wachsam sein.«

»Im Simulator, meinen Sie?«, fragte Devlin.

Pascal nickte.

»Wie laufen die Vorbereitungen? Wann startet ihr?«

Bevor Pascal antworten konnte, sagte Grant: »Dr. Wo wünscht nicht, dass wir die Mission mit jemandem diskutieren, der nicht zur Mannschaft gehört.«

Devlin nahm soldatische Haltung an, schlug die Hacken zusammen und salutierte. »Zu Befehl, Sir!«

Grant musste lachen.

Pascal sagte: »Er hat Recht, Red. Wir sollten die Mission nicht mit Außenstehenden diskutieren.«

Devlin entspannte sich. »Ich verstehe. Keine Sorge.«

»Aber in drei Tagen werden Sie mich für eine Weile nicht sehen«, fügte sie hinzu.

Grant war bestürzt. Er wusste, dass es albern war, aber Bestimmungen werden erlassen, um befolgt und nicht missachtet zu werden. Krebs und Wo mochten paranoid sein, aber nach Grants Meinung war es besser, paranoid zu sein als das Opfer eines Anschlags religiöser Eiferer zu werden.

Als Devlin zur Kaffeemaschine ging, beugte Grant sich zu Pascal und flüsterte: »Irene, Sie sagten ihm drei Tage. Aber die Mission startet erst heute in sechs Tagen.«

Sie nickte. »Ja, aber in drei Tagen taucht die Besatzung unter. Danach kommen wir nicht mehr heraus.«

»Oh, das wusste ich nicht.«

»Sobald wir anfangen, diese abscheuliche Flüssigkeit zu atmen, kommen wir nicht mehr an die Luft, bis die Mission beendet ist«, sagte sie.

Ihre Miene war grimmig wie die einer Gefangenen, die im Begriff ist, eine unausweichliche Gefängnisstrafe anzutreten. Und sie sah auch ziemlich ängstlich aus.

Zusammen mit Irene ging er zurück zu ihren Quartieren. Pascals Zimmer war ein paar Dutzend Meter von Grants entfernt. Der Korridor lag im trüben, Schatten werfenden Licht der Nachtbeleuchtung. Sie sahen niemanden unterwegs, nur einen einsamen Sicherheitsbeamten, der schläfrig seine Runde machte. Für Spaziergänger war es schon zu spät.

Daher war Grant überrascht, als er Kayla Ukara am Boden neben Pascals Tür sitzen sah, den Rücken an der Wand, den Kopf auf den angezogenen Knien, als schliefe sie.

»Oh«, sagte Irene leise.

Ukara hob den Kopf, und ihr Blick verriet, dass sie hellwach war. Statt ihres gewohnten wilden Ausdrucks, der an eine Raubkatze gemahnte, lächelte sie zu Irene auf.

Als Ukara auf die Beine kam, wandte sich Pascal zu Grant, die Wangen hochrot in peinlicher Verlegenheit. »Danke, dass Sie mich nach Haus gebracht haben«, sagte sie schnell mit leiser Stimme.

Grant nickte erstaunt. »Das ist schon in Ordnung. Wir hatten den gleichen Weg. Mein Zimmer ist ein kleines Stück weiter den Gang hinunter.«

Aber Pascal schenkte ihm keine Beachtung mehr. Ihr Blick war auf Ukara und niemand sonst gerichtet.

Grant murmelte ein »Gute Nacht« und ging weiter. Einmal blickte er über die Schulter zu ihnen zurück. Pascal gab den Sicherheitscode an ihrem Türschloss ein, und Kayla hatte ihr den Arm um die Taille gelegt.

Die beiden waren lesbisch! Ein Liebespaar! Grant war schockiert. Er wusste, dass er es nicht sein sollte, dass es ihn nichts anging, dass die beiden Frauen erwachsene Menschen waren und das Recht hatten, ihr privates Leben nach ihren eigenen Vorstellungen einzurichten. Doch tief im Kern seines Wesens fühlte er, dass falsch war, was sie taten, zutiefst unrecht.

Es geht dich nichts an, sagte er sich. Vergiss es.

Dennoch störte es ihn.


* * *

Am nächsten Abend band er sich das neurale Netz, das er trug, unter das Kinn.

»Siehst du?«, sagte er zu Sheena. »Sieht besser aus.«

Sheena beäugte ihn misstrauisch.

Sie saßen auf dem PVC-Boden von Sheenas geräumiger Nische, Grant dem Gorilla gegenüber.

»Und es fällt nicht ab.« Grant schüttelte energisch den Kopf, aber das Netz blieb fest an Ort und Stelle.

Sheena wackelte schwerfällig mit dem Kopf, und ihr Netz glitt vom haarigen Schädel und fiel zu Boden.

Sie schnaufte und betrachtete das Netz zu ihren Füßen. Dann hob sie es auf und zog es wieder über den Kopf. Grant erwartete, dass sie versuchen würde, die losen Enden zusammenzubinden, aber sie schaute bloß auf ihre offenen Hände.

»Nein«, sagte sie, und Grant, der sie inzwischen gut kannte, hatte den Eindruck, dass es entmutigt klang.

Sie sah zu Grant auf. »Hand … nein … Sheena kann nicht.«

Mitgefühl und Traurigkeit überkamen Grant. Sie wusste, dass ihre Hände nicht geschickt genug waren, die Enden zusammenzubinden. Sie wusste, wie begrenzt sie war.

»Grant tun«, sagte Sheena.

»Sicher, Sheena«, sagte er und krabbelte zu ihr. »Ich helf dir gern.«

»Grant helf Sheena.«

»Ja, das werde ich.« Er kniete vor ihr, fühlte ihre Körperwärme und wusste, dass ihre kräftigen Arme ihm ohne weiteres den Brustkorb eindrücken konnten. Vorsichtig band er die Enden des Kontaktnetzes unter ihrem Kinn zusammen.

»So«, sagte er und setzte sich wieder auf den Boden. »Nun sind wir gleich.«

»Nein.« Sheena bewegte den runden Kopf langsam hin und her. »Nicht gleich. Sheena nicht Grant. Grant nicht Sheena.«

Er überlegte, was er sagen sollte. Als er seine Stimme fand, erwiderte er: »Ich bin dein Freund, Sheena. Du und ich, wir sind Freunde.«

»Freunde.« Sie schien eine Weile darüber nachzudenken. Dann sagte sie wieder: »Grant helf Sheena.«

Er nickte. »Ja, ich helf dir so gut ich kann.«

Als die Deckenbeleuchtung ausging und die Nachtbeleuchtung ihr trübes Dämmerlicht verbreitete, ging Sheena in den Winkel ihrer Nische, wo sie sich aus Decken und Polstern ein Schlafnest gemacht hatte. Grant stand müde auf und trat hinaus in den schmalen Korridor.

»Gute Nacht, Sheena«, rief er zurück.

Sie musste schon eingeschlafen sein, weil sie nicht antwortete. Auf Zehenspitzen bewegte sich Grant zu der elektronischen Konsole, die ein paar Meter entfernt im Korridor stand. Vorsichtig schaltete er den Strom ein und aktivierte die Scanner.

Vier kleine Bildschirme auf der Konsole leuchteten auf. Grüne Linien krochen wie Würmer darüber hin. Grant kniff im trüben Licht die Augen zusammen und vergewisserte sich, dass das Gerät Sheenas Gehirnwellen aufzeichnete. Dann nickte er befriedigt und hoffte, dass das Datenmaterial Pascal aufheitern würde, bevor sie die Tiefenmission antrat. Vielleicht gelang es ihnen, Sheena beim Träumen zu überraschen.


* * *

Am nächsten Morgen fand er Pascal im Umkleideraum, wo die Besatzung ihre Taucheranzüge anlegte. Die anderen waren schon zum Aquarium gegangen, um die tägliche Simulationsübung zu absolvieren. Pascal war erfreut, dass sie endlich Daten bekamen, aber Grant merkte bald, dass ihre Gedanken schon auf die Mission fixiert waren. »Wenn Sie zurückkommen«, sagte er in forciert munterem Ton, »werden Sie genug Daten haben, um ein Buch zu schreiben.«

»Wenn wir zurück kommen«, murmelte Pascal.

»Wenn?«

Sie zog den Reißverschluss des Taucheranzugs zu und griff nach der Gesichtsmaske aus Kunststoff, die auf dem Regal über dem nun leeren Garderobengestell lag. Grant bemerkte, dass ihre Beine von der Mitte der Oberschenkel abwärts unbekleidet waren. Glitzernde Elektroden saßen wie Nietenköpfe auf den Außenseiten beider Beine bis hinab zu den Waden. Es kostete Grant eine bewusste Anstrengung, nicht darauf zu starren.

»Je näher der Start rückt, desto mehr fürchte ich mich«, bekannte Pascal.

»Das ist ganz natürlich, nehme ich an«, sagte Grant. »Die Nerven.«

»Ja«, sagte sie bitter. »Ganz natürlich. Aber keine angenehme Erfahrung.«

Sie ging zur Tür. Ihre bloßen Füße tappten leicht über die Plastikfliesen. Grant sah, dass sie ihre Pressluftflasche vergessen hatte. Er zog sie aus ihrem Spind, hob sie auf und ging ihr nach. Das Ding war überraschend schwer.

Auf einmal erschien Christel Krebs in der Tür. Ihre stämmige Gestalt blockierte den Durchgang. Pascal blieb stehen und hielt die transparente Maske mit beiden Händen wie abwehrend vor sich.

Krebs trat einen Schritt auf sie zu. Auch ihre dicken Beine waren mit Elektroden besetzt, sah Grant.

Ihr prüfender Blick musterte Pascal.

»Tut mir Leid, dass ich mich verspätet habe, Dr. Krebs«, begann Pascal. »Sehen Sie …«

»Dr. Pascal«, sagte Krebs, als hätte sie die andere erst jetzt erkannt. »Die anderen warten alle auf sie. Wir haben keine Zeit zu verlieren.«

»Ja, ich verstehe«, sagte Pascal.

»Irene«, rief Grant. Er hielt ihr die Pressluftflasche hin. »Sie werden dies brauchen, nicht wahr?«

Pascal zögerte, dann legte sie die Maske am Boden ab und ließ sich von Grant helfen, die Gurte über die Schultern zu ziehen.

»Archer, nicht wahr?«, sagte Krebs.

»Ja, Dr. Krebs.«

»Sie sollten in der Befehlszentrale sein, nicht hier.«

»Das ist richtig«, erwiderte Grant. »Aber ich wollte Dr. Pascal über die gestrige Arbeit mit Sheena unterrichten.«

»Das ist für diese Mission ohne Relevanz«, erklärte Krebs. Ihre Stimme war scharf wie ein Peitschenschlag. »Gehen Sie sofort auf Ihren Posten!«

»Jawohl.«


* * *

In der Befehlszentrale herrschte gespannte Stille. Selbst Dr. Wo, der in der Mitte des engen, überheizten Raums saß, saß vornübergebeugt in seinem Rollstuhl und verfolgte die Simulation mit ungeteilter Aufmerksamkeit.

Grant wusste, dass dies die letzte Simulation war. Wenn es heute keine Ausrutscher gab, würden sie ab morgen in der Tauchsonde selbst üben.

Krebs schwebte über den vier Besatzungsmitgliedern, gab Befehle und sah ihnen über die Schultern, während sie auf ihren Posten standen, von Fußschlaufen am Deck festgehalten, und die notwendigen Schritte zur Trennung der Tauchsonde von der Station und ihren Übergang in eine freie Umlaufbahn ausführten.

O'Hara, Pascal, Karlstad und Muzorawa arbeiteten wie eine gut geölte Maschine zusammen. Sie brauchten die manuellen Steuerungselemente kaum zu berühren.

Sogar Krebs' scharfer Ton wurde beinahe zu einem befriedigten Schnurren.

Grant beobachtete fasziniert, wie die Simulatoranlage auf ihre Steuerungsbefehle reagierte, obwohl die manuellen Bedienungselemente unberührt blieben. Es war wie Zauberei, dachte er, obwohl er wusste, dass die Biochips Steuerungssignale an Empfängerelektroden in den Bordsystemen sendeten.

Aus den Augenwinkeln konnte Grant Dr. Wo sehen, der die Darstellung auf seiner Konsole studierte. Er achtete überhaupt nicht auf die großen Bildschirme, so konzentriert war er auf die Ablesungen, welche die simulierten Bordsysteme zeigten, und die medizinischen Monitore der fünf Leute im Aquariumstank.

Grant konzentrierte sich auf seine Bildschirme. Er war verantwortlich für den Antrieb und die elektrischen Systeme, die alle ein wenig unterhalb der optimalen Leistung arbeiteten. Wenn nötig, konnte er die Energieabgabe und damit die Leistung steigern, aber die Simulation machte es nicht erforderlich, solange kein Notfall eintrat.

Den Dr. Wo plötzlich lieferte.

In der Simulation hatte die Besatzung die Tauchsonde erfolgreich von der Station getrennt. Sie waren jetzt auf sich selbst angewiesen, soweit es die Simulation betraf, und mussten sich auf die bordeigene Energieversorgung der Tauchsonde verlassen.

Wo berührte einen einzigen Knopf auf der Tastatur seiner Konsole, und mit einem Schlag wurde die Hälfte der Kontrolleuchten auf Grants Konsole rot.

»Stromausfall!«, rief Grant, gerade als Muzorawa genau das gleiche Wort sagte — aber in viel ruhigerem Ton.

»Umschalten auf Hilfsaggregat«, rief Krebs.

Grant wusste, dass er die Hände von den Bedienungselementen vor sich lassen und abwarten wollte, wie die Besatzung das Problem löste. Doch die Versuchung, den Stromausfall aufzuheben und den Simulator wieder auf volle Leistung zu bringen, machte ihn zappelig.

»Hilfsgenerator an«, verkündete Muzorawa.

Der Wandbildschirm zeigte, dass der Simulator nun schwächer beleuchtet war, und auf den Konsolen im Tank blinkten rote Warnleuchten.

»Leistungsverlust der lebenserhaltenden Systeme«, sagte O'Hara mit gepresster Stimme. »Die Umlaufpumpen brauchen mehr Energie.«

»Rückkehr zur Station«, befahl Krebs. Das war die übliche Verfahrensweise. So frühzeitig nach der Trennung war es am sichersten, die Tauchsonde zur Station zurück zu steuern und an ihre Energieversorgung anzuschließen. Wenn sie zu einem späteren Zeitpunkt während der Mission Energieausfall hatten, würden sie das Problem selbst lösen müssen.

Grants Finger zuckten noch, um den Schaden zu korrigieren, den Dr. Wo absichtlich ausgelöst hatte, doch er wartete passiv, während die Besatzung ihre Rückkehr simulierte und die Tauchsonde andockte. Alles geschah reibungslos und effizient.

Sie brauchten kaum eine Tastatur oder eine Schaltung zu berühren. Es ist bloß eine Simulation, ermahnte sich Grant, aber trotzdem war er in Schweiß gebadet, als Krebs endlich die erfolgreiche Wiederandockung verkündete.

»Sehr gut«, sagte Wo in sein Mikrofon. »Legen Sie eine Pause ein, aber verlassen Sie nicht den Simulator. Als Nächstes werden wir sehen, was Sie tun, wenn Sie nach dem Eindringen in die Wolkenhülle einen Notfall haben.«

Alle Besatzungsmitglieder ächzten. Alle bis auf Krebs, wie Grant bemerkte. Sie lächelte sogar. Er wandte sich zu Frankovic, der neben ihm an der nächsten Konsole eingezwängt saß und kaum Platz genug für seine langen Beine hatte.

»Kapitän Krebs hat ihren Spaß daran«, sagte Frankovic. Dann beugte er sich zu Grant herüber und flüsterte: »Aber Dr. Wo nimmt dies alles sehr ernst.«

Grant blickte hinüber zu Wo. Der Direktor schaute grimmig drein. Ja, dachte Grant bei sich, der nimmt dies alles wirklich sehr ernst.

2. STÖRUNG

Hundemüde von den Simulatordurchläufen des langen Tages, holte Grant sein Abendessen im Konferenzraum ab, machte unterwegs Halt in der Cafeteria, wo er eine Schale Früchte für Sheena auf sein Tablett stellte, dann trottete er allein hinunter zum Aquarium, zwei Kontaktnetze mit neuralen Elektroden in den Hosentaschen.

Er passierte die Fischtanks, deren Unterwasserlampen sich in der Stahlwand zu seiner Linken als schimmernde Flecken spiegelten. Die Delphine schwammen träge in ihrem großen Tank, schnittig, elegant und stumm. Grant blieb einen Moment vor dem Tank stehen, der den Simulator enthielt.

Er war jetzt leer. Sobald die Tauchsonde von der Station ablegte, um ihre Mission anzutreten, würden Techniker mit dem Abbau der Anlage beginnen. Wahrscheinlich, dachte Grant, würden sie den auseinander genommenen Simulator in Erwartung künftiger Missionen einlagern.

Er verspürte ein leises Unbehagen, dass Sheena nicht im Korridor war, um ihn zu begrüßen. Gewöhnlich wanderte sie die Fischtanks entlang und erwartete ihn ungeduldig. Andererseits gab es ihm die Möglichkeit, die Überwachungskonsole im Korridor zu überprüfen und die Energieleistung zu verstärken. Grant sah, dass der Monitor einwandfrei arbeitete und ein gleichmäßiges, flaches Signal vom Netz in seiner linken Hosentasche empfing.

Das andere in seiner rechten Tasche war deaktiviert, eine Attrappe, deren einziger Zweck es war, Sheena glauben zu machen, dass er den gleichen »Hut« trug, den sie hatte.

Als er zu Sheenas Nische kam, sah er sie auf den Keulen sitzen und sich über ein großes hölzernes Puzzle beugen. Sie hatte acht der zehn großen Stücke zusammengesetzt.

Sie blickte auf, als Grant eintrat.

»Essen!«, sagte sie in ihrem kratzigen Flüsterton und erhob sich auf alle viere. Grant wusste, dass sie nicht lächeln konnte, dachte aber, dass sie sich freue, ihn zu sehen — und die Schüssel, die er mitgebracht hatte.

»Obst«, sagte er und stellte das Tablett auf den Boden.

»Obst«, wiederholte Sheena. »Und Grant Essen.«

Er nickte. »Ich habe eine Sojafrikadelle und Salat und Eis als Nachspeise.«

Sheena nahm die Obstschüssel an sich, wandte aber den Blick nicht vom Speiseeis. Dann blickte sie zu Grant auf. »Grant Eis?«

»Möchtest du auch ein Eis, Sheena?«

»Ja.«

»Gut.« Grant reichte ihr die kleine Schale. Sheena hielt die Obstschüssel in einer Hand und griff mit der anderen nach dem Eis.

Grant lachte über ihre ungenierte Gier. »Lass mir etwas übrig.«

»Ja«, erwiderte Sheena. Aber innerhalb einer Minute war das Eis bis auf ein paar Schmierer um ihre Lippen verschwunden. Dann machte sie sich über das Obst her.

Grant schlang seine Frikadelle hinunter, überrascht, wie hungrig er plötzlich war. Er bot Sheena ein paar Blätter von seinem Salat an, aber sie schnüffelte an der Salatsoße und nahm sie nicht an.

Als das Obst verzehrt war, fragte Sheena: »Grant bring Hut?«

Er zog die Kontaktnetze aus seinen Taschen. »Hier, Sheena. Einer für dich und einer für mich.«

Sie beugte sich näher und erlaubte ihm, das Netz über ihren Kopf zu ziehen und unter dem Kinn zu verknoten. Dann tat er das Gleiche bei sich selbst.

»Machen wir das Puzzle fertig«, sagte Grant, als er beide Kontaktnetze angebracht hatte.

»Grant tun.«

»Nein, nein, Sheena. Du hast die meisten Stücke zusammengesetzt. Nur zwei sind noch übrig. Die kannst du auch legen.«

»Grant tun erst.«

Er nickte. »Du willst, dass ich ein Stück einsetze?«

»Ja«, sagte Sheena und hob eine Hand an den Kopf.

»Nein, nein!«, sagte Grant hastig. »Nicht den Kopf reiben! Du bringst den Hut durcheinander.«

»Tut weh«, sagte Sheena.

Grant lächelte. »Nein, der Hut tut nicht weh, Sheena. Mein Hut tut nicht weh. Dein Hut tut nicht weh.«

Sie hatte das Netz verschoben. Grant erhob sich auf die Knie und rückte es wieder zurecht.

»Tut weh«, wiederholte Sheena.

»Der Hut kann dir nicht weh tun«, sagte Grant. »Hier, lass uns das Puzzle fertig machen.«

Er nahm eines der zwei verbliebenen Teile und setzte es ein. Sheena starrte einen Moment darauf, dann griff sie zum letzten Stück.

Plötzlich warf sie es fort. »Tut weh!«, sagte sie in einem flüsternden Keuchen und griff an den Kopf, um das Netz fortzureißen.

Grant sah einen dünnen Rauchfaden von einer der Elektroden aufsteigen. Verdammt, das Netz brannte sie!

Sheena riss es sich vom Kopf und schleuderte es zu Boden. Sie brüllte vor Schmerz und erhob sich schwerfällig auf die Hinterbeine, ballte die Faust und schlug gegen die Stahlblech wand. Das Metall verbog sich.

Grant kam hastig auf die Beine. Sheena stand mit gebleckten Zähnen vor ihm.

»Grant tut weh Sheena«, keuchte sie heiser.

»Nein, ich wollte nicht …«

»Grant nicht Freund!«

Er wich vor ihr zurück zum Eingang ihrer Nische. Draußen war ein Notschalter, bei dessen Betätigung sich ein Eisengitter vor die Öffnung schob.

Aber Sheena war nicht aggressiv, nur verletzt und zornig. Sie ließ sich auf alle viere zurückfallen, und Grant sah eine Stelle auf ihrem Kopf, wo das Fell angesengt war. Sie starrte ihn finster an. Grant erinnerte sich, dass es falsch wäre, ihr den Rücken zu kehren. Gorillas griffen selten einen Menschen an, der ihnen zugekehrt war. Was heißt selten, fuhr es ihm durch den Kopf.

Alles schien in Zeitlupe zu geschehen, wie in einem Albtraum. Grant schob sich zum Eingang der Kammer, Sheena grollte tief in der Kehle und funkelte ihn zornig an, dann kam sie, auf die Knöchel gestützt, einen Schritt auf ihn zu.

Grant wich durch den Eingang zurück und betätigte den Notschalter. Die Gittertür glitt vor den Eingang und rastete metallisch ein. Sheena umfasste eine der Eisenstangen mit ihrer dunklen, behaarten Hand. In seiner Angst dachte er, sie könnte die Eisenstangen auseinander biegen, wenn sie es wollte.

»Tut mir Leid, Sheena«, plapperte er, »ich wollte dir nicht wehtun. Eine der Elektroden muss schadhaft gewesen sein. Ich wollte dir nicht wehtun.«

»Grant nicht Freund«, wiederholte Sheena in ihrem heiseren Flüstern, dann kehrte sie ihm den Rücken und bewegte sich in ihrem schwerfällig wirkenden Gang zur rückwärtigen Ecke der Kammer, wo sie ihr Schlafnest hatte.

Grant stand bekümmert da. Du hast Recht, Sheena, gab er im Stillen zu. Ich bin nicht dein Freund. Ich war es nie, obwohl ich es sein wollte.

3. EINTAUCHEN

Am folgenden Abend veranstaltete die Besatzung der Tauchsonde eine bedrückte kleine Abschiedsfeier in O'Haras Quartier. Lane hatte Grant zur Teilnahme eingeladen. Noch unglücklich über sein Missgeschick mit Sheena und in Angst vor einer neuen Begegnung mit dem Gorilla, willigte er ein.

Er kam als Letzer. O'Haras Raum vermittelte wieder die Illusion eines Planetariums. Sie ließ ihn ein und schloss die Tür hinter ihm. Sogar der Boden war von Sternen gesprenkelt. Einen Schwindel erregenden Augenblick lang war es Grant, als säßen die anderen im leeren Raum mitten im Universum. Die leisen, ätherischen Töne eines Klaviers drangen durch das Halbdunkel.

»Keine Anregungsmittel, fürchte ich«, sagte Lane mit gedämpfter Stimme. »Die Mission, wissen Sie.«

Grant nickte verständnisvoll, dann ging er vorsichtig über das Sternengesprenkel des Bodens und setzte sich zwischen Muzorawa und Pascal. Zebs Bart war verschwunden, Karlstad war völlig kahl. Pascals Perücke saß etwas schief. Grant stellte fest, dass alle Besatzungsmitglieder enthaart waren. Es musste mit dem Eintauchen zusammenhängen, war zweifellos hygienischer.

»Ich dachte, Sie würden bei Sheena sein«, sagte Pascal.

Grant biss die Zähne zusammen. Mit Überwindung gestand er: »Ich hatte gestern Abend ein Problem mit ihr.«

»So? Was?«

Er schilderte das Fiasko mit der defekten Elektrode.

Statt Enttäuschung zu zeigen, fragte Pascal sofort: »Haben Sie Daten bekommen?«

Er starrte sie an. »Ich weiß nicht. Ich habe nicht nachgesehen. Alles war so …«

»Die anderen Elektroden hätten funktionieren sollen«, sagte Pascal. »Wenigstens einige Daten sollten Sie haben. Zorn, Schmerz … solche Daten sind unbezahlbar!«

Vertrauensbruch und Verrat, dachte Grant. Welche Art von Gehirnwellen zeigen solche Empfindungen?

»Machen Sie sich deswegen Selbstvorwürfe?«, fragte Muzorawa freundlich.

Grant zuckte die Achseln. »Wer sonst käme infrage?«

»Manchmal gehen Experimente schief«, sagte er. »Geräte können versagen.«

»Am Vorabend unseres Eintauchens hört sich das großartig an«, murrte Karlstad. Er saß auf Muzorawas anderer Seite.

»Glauben Sie, dass Sheenas Abneigung von Dauer sein wird?«, fragte O'Hara.

»Ich weiß nicht«, antwortete Grant. »Im Moment habe ich Angst, zu ihr zu gehen.«

»Streit zwischen Liebenden«, sagte Karlstad.

Grant war nicht in der Stimmung für seine Scherze. »Da wir schon von Liebenden sprechen, kommt Dr. Krebs nicht zu dieser Feier?«

Karlstad warf die Hände hoch. »Gott bewahre!«

Muzorawa schmunzelte. »Richtig«, sagte er. »Krebs hat speziell Sie für die Mission ausgewählt, Egon. Sie muss in ihrem Herzen einen besonderen Platz für Sie haben.«

»Dann hat sie es wenigstens nicht auf mich abgesehen«, warf Frankovic ein. »Gott sei Dank!«

O'Hara sagte: »Ich dachte, es wäre keine so gute Idee, Krebs hierher einzuladen.«

»Warum nicht?«, sagte Karlstad. »Vielleicht würde sie Schwung in diese Feier bringen. Wir könnten jedenfalls etwas brauchen, was Leben in die Bude bringt.«

»Ist euch schon aufgefallen, wie sie ihr Gegenüber anstarrt, wenn sie mit jemandem spricht?«, fragte O'Hara. »Ich finde es ausgesprochen gespenstisch.«

»Ja, es ist entnervend«, gestand Pascal. »Vor dem Unfall hat sie es nie getan.«

»Es ist der böse Blick«, sagte Karlstad. »Sie hat die Hexerei gelernt.«

»Was es auch ist, mir erstarrt jedes Mal das Blut in den Adern«, sagte O'Hara.

»Sie denken, das Blut erstarrt Ihnen in den Adern, wenn sie Ihnen mit dem bösen Blick kommt«, sagte Karlstad. »Warten Sie, bis Sie in diese PFCL-Brühe eingetaucht sind. Dann wird Ihnen das Blut bis ins Mark gefrieren.«

Darauf blieb es eine Weile still. Grant wusste, was ihnen bevorstand, und erschauerte innerlich.

»Eine Untersuchungskommission der IAB ist unterwegs hierher«, murmelte Frankovic.

»Das habe ich auch gehört«, sagte O'Hara. »Ist es also wirklich wahr?«

»Darum will unser verehrter Direktor diese Mission so schnell auf den Weg bringen«, murrte Karlstad. »Er befürchtet, dass die Beamten der IAB das Unternehmen verhindern werden, sobald sie davon erfahren.«

»Warum sollten sie es verhindern?«

»Weil dabei Menschenleben riskiert werden.«

»Weil dabei Entdeckungen gemacht werden könnten, von denen sie nichts wissen wollen«, hörte Grant sich sagen.

Die anderen wandten sich alle ihm zu.

»Sie werden in zehn Tagen hier sein«, fuhr Grant fort. »Bis dahin sollten Sie sicher unterwegs sein.«

»Sicher?«, höhnte Karlstad. »Schön wär's.«

»Eins müssen wir uns vergegenwärtigen«, sagte Muzorawa. »Wir werden eine Region erforschen, wo kein Mensch vor uns gewesen ist. Wir werden auf einer Welt, die uns völlig fremd ist, nach Leben suchen. Wir werden intelligentes Leben suchen, wenn es unten in diesem Ozean existiert. Das sind gute und großartige Aufgaben, ganz gleich, wie viele Unannehmlichkeiten wir ertragen müssen.«

Einen Augenblick lang dachte Grant, Zeb würde sagen, sie würden ein gottgefälliges Werk tun. Aber so weit ging der Moslemwissenschaftler nicht.


* * *

Grant saß in angespannter Erwartung an seiner Konsole in der Befehlszentrale. An diesem Morgen waren die Datenanschlüsse nicht mehr mit dem Simulator im Aquarium verbunden. Wenn er zum großen Wandbildschirm aufblickte, sah Grant jetzt das Innere der Tauchsonde.

Es war noch leer. Nein, nicht wirklich leer, denn es war statt mit Luft mit der PFCL-Flüssigkeit gefüllt. Die Mannschaft würde in diese Suppe eintauchen und sie atmen, würde Tage und Wochen darin leben.

»Alles fertig zum Eintauchen«, sagte Dr. Wo von seinem Platz an der Mittelkonsole.

Das Bild wechselte und zeigte die Luftschleuse im Andockmodul. Krebs und die anderen Besatzungsmitglieder standen in einer kleinen Gruppe bei der äußeren Luke. Alle trugen eng anliegende einteilige Schwimmanzüge, mehr aus Gründen der Schicklichkeit als aus Notwendigkeit. Dabei blieben die Beine frei, und Grant konnte die Knöpfe der Elektroden erkennen, die ihrer Haut entragten. Er musste an abscheuliche metallene Blutegel denken, die sich an ihren Beinen festgesaugt hatten.

»Wir sind bereit«, sagte Dr. Krebs und blickte in die Überwachungskamera. Sie hatte tatsächlich eine eigentümliche Art zu starren, als ob sie nur ein Auge auf etwas konzentrierte.

»Fangen Sie an«, sagte Dr. Wo.

Die Besatzung betrat die Luftschleuse, Muzorawa zuerst, gefolgt von den anderen. Überwachungskameras zeichneten auf, wie die Luke versiegelt wurde und die Schleusenkammer sich langsam mit dem dickflüssigen Perfluorcarbon füllte. Es sah aus, als würden sie vorsätzlich ertränkt. Alle schwammen aufwärts, als die Schleusenkammer sich füllte, und hoben instinktiv den Kopf, um die letzten Atemzüge in freier Luft zu tun. Als die Flüssigkeit schließlich die Luftschleuse füllte, verkrampften sich alle in angeborenem Reflex, sperrten Augen und Mund weit auf, keuchten, schlugen mit Armen und Beinen um sich.

Grant musste sich zum Stillsitzen zwingen, als er die verzweifelten Zuckungen seiner Freunde beobachtete. So musste es sein, wenn man einer Hinrichtung beiwohnt, dachte er. Er ballte unwillkürlich die Fäuste.

Dann, nach scheinbar endlosem Todeskampf begannen alle Besatzungsmitglieder beinahe normal zu atmen und öffneten die innere Luke der Luftschleuse, um in das Innere der Tauchsonde zu schwimmen. Grant traute seinen Augen nicht, als er einen Blick auf die Uhr warf und sah, dass Muzorawas qualvolles Ringen nach Atem weniger als dreißig Sekunden gedauert hatte. Die anderen hatten die Umstellung ebenso gut überstanden.

Krebs war als Letzte in die Schleusenkammer gegangen. Für sie war es kaum ein Ringen gewesen. Grant glaubte sogar ein Lächeln in ihren strengen grauen Zügen zu sehen, als sie die Flüssigkeit einatmete.

4. TRENNUNG

Die meiste Zeit des Tages verbrachte die Besatzung damit, dass sie sich an die Tauchsonde und ihre Installationen gewöhnte. Grant, der alles am Wandbildschirm verfolgte, war überrascht, wie eng es im Innern der Sonde war. Trotz der ansehnlichen äußeren Abmessungen der Tauchsonde war die Brücke nicht größer als der Simulator im Aquarium. Die Kombüse war nichts weiter als ein schulterhoher Kasten oder Einbauschrank in einem Schott.

Natürlich, erinnerte sich Grant. Die Besatzung würde sich nicht durch normales Essen ernähren; sie bekam ihre Nahrung intravenös durch die Anschlüsse am Hals.

Krebs hatte jedem Besatzungsmitglied eine Art Koje zugewiesen, wo sie schlafen und sich für eine Weile von den anderen zurückziehen konnten. Diese Kojen erinnerten Grant an die sargähnlichen Quartiere, in denen er und Tavalera an Bord des Frachters Roberts geschlafen hatten.

Ihre Stimmen waren verändert, tiefer und langsamer, als ob jemand eine Tonaufzeichnung langsamer als normal abspielte.

Niemand verließ die Befehlszentrale länger als für ein paar Minuten. Als es Mittag wurde, schickte der Direktor Grant zur Cafeteria, um Getränke und belegte Brote für alle fünf zu holen.

»Das nenne ich guten Appetit«, bemerkte Red Devlin, als Grant sein Tablett belud.

Grant nickte bloß.

»Was geht vor, hm? Große Dinge?«

»Das kann man sagen«, erwiderte Grant, als er das Tablett aufhob.

»Brauchen Sie Hilfe damit?«, rief Devlin ihm nach, als Grant das volle Tablett gegen den Strom der Mittagsgäste zum Hauptkorridor trug.

»Nein danke«, rief er über die Schulter und wäre beinahe mit einem Techniker zusammengeprallt, der ihm entgegenkam.

Grant kam sich mehr wie ein Hausdiener als ein angehender Wissenschaftler vor, als er das schwer beladene Tablett den weiten Weg zurück zur Befehlszentrale trug. Als er endlich sein Ziel erreicht, Speisen und Getränke ausgeteilt und auf seinem Stuhl vor der Konsole Platz genommen hatte, sah er auf dem Wandbildschirm, dass Dr. Krebs damit begonnen hatte, die Besatzung für die elektronische Verbindung mit den Bordsystemen einzuteilen. Muzorawa hatte seinen Platz an der Schalttafel eingenommen, flankiert von O'Hara und Karlstad. Pascal war nicht zu sehen. Grant fand, dass Lane angespannt aussah, vielleicht besorgt. Schwieriger war es, Zebs Ausdruck zu deuten; er schien völlig auf die Instrumente konzentriert.

Vier haarlose Menschen in hautengen Badeanzügen, die Außenseiten der Beine mit Elektroden besetzt. Haarfeine faseroptische Verbindungen führten von den Implantaten zu Steckeranschlüssen in den Konsolen. Die Drähte schienen in der mit Flüssigkeit gefüllten Kammer zu schwimmen.

Dr. Krebs schwebte wie ein levitierender Sack Zement hinter und etwas über der Besatzung und beobachtete alles was sie taten. Drähte führten von ihren stämmigen Beinen zu einer Schalttafel in der Decke über ihr.

»Denken Sie daran«, sagte sie mit seltsam dröhnender Stimme, »dass nach Herstellung der Verbindung die manuellen Steuerungselemente nur zu Unterstützungszwecken verwendet werden.«

Die vier Besatzungsmitglieder nickten. Grant faltete die Hände im Schoß, um sie von der Tastatur seiner Konsole fern zu halten. Jetzt wurde es ernst, sagte er sich. Dies war keine Simulation mehr.

Dr. Wo sagte: »Verbindung mit Bordsystemen herstellen.«

Es war unheimlich. Grant beobachtete, wie die Besatzungsmitglieder nacheinander ihre implantierten Biochips aktivierten. Nichts schien zu geschehen. Es gab keine Funken, keine Lichter, keine Veränderungen des Ausdrucks in den Gesichtern. Vielleicht versteifte sich ihre Haltung ein wenig, als die Verbindung aktiviert wurde und durch ihre Nervensysteme ging. Er glaubte sogar einen leichten Tick in Karlstads Wange auszumachen. Aber nicht mehr.

Er blickte auf seine Konsole. Alle Anzeigen waren grün: alle Systeme funktionierten innerhalb der vorgesehenen Parameter.

»Überprüfung der Bordsysteme beginnen«, sagte Wo. Seine Stimme schien schwach und atemlos, als wäre er von innerer Erregung ergriffen.

Krebs wiederholte den Befehl, und alles verlief glatt und fehlerlos. Nur Quintero, der die Sensoren überwachte, meldete, dass das Kühlmittel in einem der Infrarotteleskope unter den Minimalstand abgesunken sei. Karlstad wurde beauftragt, das Gerät nach der Trennung zu überprüfen.

»Es könnte ein Leck sein«, warnte Krebs.

»Eher wurde von Anfang an zu wenig Kühlmittel eingefüllt«, sagte Wo.

Karlstad sagte: »Ich werde mich darum kümmern. Es ist jedenfalls nicht von entscheidender Bedeutung. Die Anzeige ist noch im grünen Bereich.«

Grant fand, dass Egon sich seiner Aufgabe recht professionell annahm. Er hasste es, an der Mission teilzunehmen, aber wenn es sich schon nicht vermeiden ließ, wollte er hinter keinem anderen zurückstehen.


* * *

Die Besatzung beendete ihre Überprüfungen und zog sich für die Nacht in ihre Schlafabteile zurück. Dr. Wo blieb an seiner Konsole in der Befehlszentrale, gab aber den anderen vier Kontrolleuren für die Nacht frei. Müde und verschwitzt stand Grant auf und verließ die enge, überheizte Kammer. Über die Frage, ob er hinuntergehen und Sheena aufsuchen solle, kämpfte er längere Zeit mit seinem Gewissen, entschied sich aber schließlich dagegen. Wahrscheinlich war sie über die ausgebrannte Elektrode noch aufgeregt und brachte ihn mit Schmerz und Verrat in Verbindung. Es war besser, sie eine Weile abkühlen zu lassen, sagte er sich. Morgen Abend werde ich zu ihr gehen, gelobte er — oder vielleicht nach der Abreise der Tauchsonde.

Der gesamte nächste Tag verging mit der langsamen Erhöhung des Innendrucks der Tauchsonde. Grant, der jetzt Gelegenheit hatte, an seiner Konsole in der Befehlszentrale die Konstruktionsmerkmale der Tauchsonde abzurufen, stellte fest, dass sie aus vier verschiedenen Hüllen gebaut war, die konzentrisch wie Zwiebelschalen angeordnet waren. Zwischen jeder dieser Hüllen war eine Schicht Hochdruckflüssigkeit.

Nun wurde ihm klar, warum das Innere so eng und klein aussah. Der Bereich, wo die Besatzung arbeitete und lebte, machte nur einen kleinen Teil des Gesamtvolumens aus.

Der Grund für das Eintauchen der Besatzung lag in der Notwendigkeit, dem ungeheuren Druck des Jupiterozeans zu widerstehen. Je höher der Druck war, den die Tauchsonde und ihre Besatzung aushalten konnte, desto tiefer konnte sie in den Ozean vordringen. Also wurde unter Wos wachsamen Augen der Druck der Perfluorcarbonmischung im Arbeitsbereich der Besatzung nach und nach erhöht.

Da alle Kontrollleuchten seiner Konsole grün anzeigten, verbrachte Grant die Zeit mit der Beobachtung des Wandbildschirms, wo die Besatzung am Werk war. Lane sah ein wenig abgespannt aus, dachte er, obwohl das vielleicht nur eine Projektion seines eigenen Zustandes sein mochte. Zeb ging die Computerprogramme durch, welche die Eingaben der Sensoren verarbeiteten. Er sah so ruhig und gleichmütig wie immer aus, methodisch und beherrscht. Der einzige Unterschied, den Grant sehen konnte, war Muzorawas fehlender Bart.

An der medizinischen Konsole starrte Patti Buono konzentriert auf ihre Ablesungen. Immer wieder rief sie: »Spüren Sie irgendwelche Beschwerden?« Karlstad klagte über Kopfschmerzen. Pascal sagte, sie fühle eine Beengung im Brustkorb.

»Psychosomatisch«, erklärte Buono. »Die Monitore zeigen, dass Blutdruck, Puls und alle übrigen Ablesungen im normalen Bereich sind.«

Pascal, die ohne eine Perücke seltsam gnomenhaft aussah, wandte den Kopf und blickte in die Kamera. »Und was ist im eingetauchten Zustand der Normalbereich?«, fragte sie. Ihre Stimme kam als ein tiefer Bariton durch.

»Schluss mit diesem Gezänk«, befahl Krebs.

Pascal schüttelte den Kopf, sagte nichts mehr.

Als der Druck neunzig Prozent des vorgesehenen Wertes erreichte, sagte Krebs: »Halten Sie ihn für eine Stunde unverändert. Geben Sie den Leuten Gelegenheit, sich anzupassen.«

Wo willigte ein. »Wir bleiben eine Stunde auf neunzig Prozent.«


* * *

Am nächsten Morgen fragte Buono jedes Besatzungsmitglied wie er oder sie geschlafen hatte. Die schlimmste Auswirkung der Druckerhöhung war offenbar ein leichtes Nasenbluten, unter dem O'Hara zu leiden hatte. Und ausgerechnet Muzorawa meldete, dass er einen Albtraum durchgemacht habe.

Buono hatte kein Interesse an Zebs Traum; sie beschäftigte sich nur mit dem körperlichen Zustand der Besatzung. Nach einer sorgfältigen Überprüfung ihrer medizinischen Sensoren, die sie ständig mit Daten versorgten, erklärte sie die Besatzung für voll diensttauglich.

»In diesem Fall«, verkündete Krebs, »sind wir bereit, mit der Trennungssequenz zu beginnen.«

»Warten Sie«, sagte Dr. Wo mit abwehrend erhobener Hand. »Dies ist der geeignete Augenblick, der Tauchsonde einen Namen zu geben.«

»Einen Namen?« Krebs starrte in die Kamera. Grant konnte ihrem Gesichtsausdruck nicht entnehmen, ob sie verblüfft oder irritiert war.

»Ja«, erwiderte der Direktor vollkommen ernst. »Bei der ersten Mission hatte die Tauchsonde keinen richtigen Namen. Das war unglücklich. Sie sollte einen eigenen Namen haben, einen Namen, der glückverheißend ist.«

Krebs runzelte verdrießlich die Stirn. Grant sah ihr an, dass sie sich über Dr. Wos plötzlichen Ausbruch chinesischen Aberglaubens ärgerte.

Davon unbeeindruckt, verkündete der Direktor: »Der Name dieser Tauchsonde wird Zheng He sein.«

Niemand sagte ein Wort. Alle waren verdutzt. Was in aller Welt bedeutete Zheng He?

Endlich sagte Krebs: »Also gut. Zheng He ist bereit für die Trennungssequenz.«

»Beginnen Sie«, sagte Wo.

Grant fühlte eine Beengung in der Brust. Die Sonde löste sich von der Station, trat auf sich selbst gestellt ihre Reise an. Bald würde sie in Jupiters wolkenreiche Atmosphäre eindringen und dann tiefer bis in den Ozean absteigen. Sollte sie zu irgendeinem Zeitpunkt in Schwierigkeiten kommen, würde Seitens der Station keine Hilfe möglich sein. Die Besatzung war auf sich selbst gestellt.

Die Trennungssequenz lief automatisch ab. Grant konnte nicht hören, wie die Verriegelungen sich öffneten, die luftdicht versiegelte Andockverbindung der äußeren Luftschleuse unterbrochen wurde. Er beobachtete den großen Bildschirm, unterbrochen von schnellen Blicken auf seine Konsole, um sicherzugehen, dass alle Antriebs- und Energiesysteme planmäßig funktionierten. Zheng He löste sich von der Verbindungsröhre und machte Gebrauch von der magnetischen Abschirmung der Station, um von ihrer gewaltigen Masse freizukommen.

Die magnetische Abschirmung diente der Abwehr aufgeladener subatomarer Partikel, die von der Magnetosphäre des Riesenplaneten während magnetischer Stürme ausgestoßen wurden. Jetzt diente sie zur Abstoßung eines größeren »Partikels«, nämlich der Zheng He, vom Rumpf der Station.

Die Tauchsonde und die Station blieben etwas länger als sechs Stunden Seite an Seite, getrennt durch einen Kilometer leeren Raums. Grant beobachtete am Wandbildschirm die kleine metallische linsenförmige Gestalt der Tauchsonde vor dem gigantischen, überwältigenden Hintergrund der turbulenten Wolkenatmosphäre Jupiters. Die Besatzung überprüfte ein weiteres Mal alle Bordsysteme. Dann meldete Krebs, dass sie bereit sei, in die Jupiteratmosphäre einzutreten.

Grant sah ein winziges Aufflackern von Licht an einer Seite der linsenförmigen Gestalt. Einen Augenblick lang dachte er, die Raketentriebwerke hätten versagt.

Zheng He schien querab von ihnen zu bleiben und hilflos im Raum zu schweben. Aber innerhalb weniger Augenblicke sah er, dass sie sich in Wirklichkeit von ihnen entfernte, schneller und schneller, sich von Jupiters gewaltiger Schwerkraft anziehen ließ, hinab in die wirbelnden Wolken.

Dr. Wo sagte etwas auf chinesisch.

»Viel Glück«, sagte Frankovic mit heiserer Stimme. »Sichere Reise«, rief Kayla Ukara der Besatzung nach.

Grant befeuchtete sich die Lippen und seine Kehle war plötzlich trocken. Dann fand er seine Stimme wieder und sagte: »Glückliche Reise.«

5. OFFENBARUNG

Alle fünf Kontrolleure in der Befehlszentrale beobachteten Zheng He, bis die Tauchsonde in der Wolkendecke verschwand. Mehrere Minuten lang starrte Grant auf den großen Bildschirm, der die verschiedenfarbigen Streifen der Wolkenhülle zeigte. Die Tauchsonde war verschwunden, als hätte sie nie existiert.

Aber meine Freunde sind in diesem winzigen Gehäuse, sagte sich Grant. Sie sinken jetzt durch diese mächtige Wolkenatmosphäre abwärts, während ich hier sitze und nichts zu tun habe als diese blöde Konsole zu überwachen. Sollte ihnen etwas zustoßen, werde ich ihnen nicht helfen können.

»Zustandsmeldung«, rief Dr. Wo. Seine Stimme klang schärfer als gewöhnlich. »Lebenserhaltende Systeme?«

»Funktionieren innerhalb der vorgesehenen Grenzen«, meldete Frankovic.

»Strukturelle Unversehrtheit?«

»Keine Probleme«, antwortete Nacho Quintero.

Die medizinischen Monitore und sensorischen Systeme zeigten alle völlig normale Leistung. Selbst das Kühlmittel im Infrarotteleskop hatte wieder Normalstand erreicht. Als Wo nach den Antriebs- und Energiesystemen fragte, überflog Grant seinen Monitor.

»Energie alles im grünen Bereich«, meldete er.

Wos Blick ging durch den engen, muffigen Raum von einem Kontrolleur zum anderen, dann hinauf zum Wandbildschirm. Dort gab es nichts als Jupiters endlose Wolken zu sehen.

»Sollten wir sie rufen?«, fragte Patti Buono. »Funkverbindung aufnehmen?«

»In drei Minuten ist ihre Meldung fällig«, sagte Dr. Wo mit einer Handbewegung zum Zeitplan, der auf dem Bildschirm seiner Konsole aufgelistet war.

Die Zeit vertickte langsam, und in der Befehlszentrale wurde kein Wort gesprochen. Außer dem elektrischen Summen der Monitore und dem leisen Flüstern der Luftzirkulation war kein Geräusch zu hören. Wo saß wie eine hölzerne Statue an seinem Platz, unbewegt und starr. Grant fragte sich, ob der Mann überhaupt noch atmete. Ihm selbst traten Schweißperlen auf Stirn und Oberlippe; er fühlte, wie ihm der Kragen am Hals klebte.

»Zentrale, hier ist Zheng He«, durchbrach Krebs' Stimme die Stille.

»Ich höre Sie«, sagte Wo so ruhig, als säße sie neben ihm.

»Alle Systeme funktionieren normal. Keine Probleme.«

»Gut«, sagte Wo mit einem befriedigten Kopfnicken.

»Wir bereiten uns auf den Tauchgang vor. Radioblackout wird weitere …« sie schien nach einem Wort zu suchen, »… weitere Kommunikationen verhindern.«

»Ich verstehe«, erwiderte Wo. »Wir werden Ihr Signal verfolgen, so lange es möglich ist.«

Die Tauchsonde war mit zwei Funkfeuern ausgestattet, einem Langwellensender und einem Infrarot-Kommunikationslaser. Beide würden von der tiefen turbulenten Atmosphäre und den dort tobenden Stürmen absorbiert, aber durch die Berechnung der Signalstärke und der Streuung konnten Grant und die anderen Kontrolleure an Bord der Station mehr über die Dynamik der Jupiteratmosphäre erfahren. Mit dem Eintauchen in den Ozean würden auch diese Signale nicht mehr durchdringen.

Die Tauchsonde führte aber auch ein halbes Dutzend »Torpedos« mit: kleine, mit eigenem Antrieb ausgestattete automatisierte Kapseln, die von der Tauchsonde abgefeuert werden konnten, um die Wolkenhülle zu durchstoßen und eine aufgezeichnete Botschaft zu senden.

Keiner der Kontrolleure verließ seine Konsole, so lange die Kommunikation mit der Tauchsonde aufrecht erhalten werden konnte. Aber nach sechs weiteren Stunden ging das Radiosignal in den unaufhörlichen atmosphärischen Störungen und Blitzentladungen der Jupiteratmosphäre unter. Sie würden nichts mehr von Zheng He hören, bis die Besatzung eine Kapsel mit aufgezeichneter Botschaft abfeuerte.

Schließlich stieß Dr. Wo seinen Rollstuhl von der Konsole zurück. »Es gibt hier nichts mehr zu tun«, sagte er mit matter Stimme. »Sie sind jetzt auf sich selbst gestellt.«

Er lenkte den Rollstuhl aus der Befehlszentrale. Der Plan sah vor, dass während der gesamten Dauer der Mission eine Person die zentrale Konsole besetzt hielt. Die Reihenfolge war ausgelost worden. Quintero hatte die erste Vierstundenschicht gezogen, Grant die letzte.

»Lassen Sie mich schnell noch zur Toilette gehen«, sagte Quintero, als er seine Athletengestalt an Grants Konsole vorbeizwängte.

»Ich halte Wache, bis Sie zurückkommen«, rief Grant dem davoneilenden Nacho nach.

»Sogar Macho Nacho muss manchmal pinkeln«, sagte Patti Buono in einem Versuch, die Spannung aufzulösen, die erstickend auf ihnen lag.

»Sie nicht?«, fragte Ukara, als sie Quintero in den Korridor folgte.

»Nun, wenn Sie mich schon fragen …« Buono stand auf und folgte ihr.

Grant ersparte sich die Mühe, einen Stuhl zur mittleren Konsole zu tragen, sondern nahm einfach davor Aufstellung und blickte zum großen Bildschirm auf, der keine Veränderung zeigte. Man könnte das Ding genauso gut abschalten, sagte er sich. Aus dem in Wos Konsole eingebauten Radiolautsprecher drang ein gleichmäßiges Zischen atmosphärischer Störungen, alle paar Sekunden überlagert vom Knistern ferner Blitzentladungen.

Quintero kam zurück und zog seinen Stuhl hinüber zur Mittelkonsole. »Danke, Amigo. Alles in Ordnung jetzt.«

»Gut«, sagte Grant, der plötzlich merkte, dass auch seine Blase eine Erleichterung nötig hatte.

Die nächste Toilette befand sich ein Dutzend Schritte den Korridor hinunter. Als Grant darauf zusteuerte, sah er Dr. Wo in seinem Rollstuhl nahe der Tür sitzen.

»Ah … brauchen Sie Hilfe, Dr. Wo?«

Wo blickte geringschätzig zu ihm auf. »Was ich brauche …« fing er in knurrigem Ton an, dann brach er ab. Grant wusste nicht, was er zu erwarten hatte. Dann sagte Wo mit ruhiger Stimme: »Kommen Sie mit mir, Mr. Archer.«

Er folgte Dr. Wo zum Büro des Direktors. Wie immer war es überheizt und unangenehm warm. Aber Grant sah, dass die Vase auf Wos Schreibtisch leer war.

Der Direktor fuhr seinen Rollstuhl hinter den Schreibtisch, bedeutete Grant, sich zu setzen, und sagte: »Ich höre, Sie haben mit dem Gorilla einen Rückschlag erlitten.«

Grant nickte. »Ich fürchte, die Arbeit mehrerer Wochen ist vergebens gewesen.«

»Geduld, Mr. Archer. Geduld.«

»Hätte ich das Kontaktnetz überprüft, bevor ich es ihr anlegte, wäre mir dieser Rückschlag erspart geblieben«, murmelte Grant.

Wo nickte. »Also müssen Sie von vorn anfangen.«

»Das nehme ich an.«

»Genauso wie die Besatzung in der Zheng He. Unser erster Versuch zur Erforschung des Ozeans scheiterte, und nun versuchen sie es wieder.«

»Bevor die Inspektoren der IAB sie aufhalten können«, bemerkte Grant.

Wo seufzte und nickte knapp.

»Darf ich eine Frage stellen, Sir?«

»Sie dürfen fragen«, sagte Wo.

»Was bedeutet Zheng He? Ist es der Name einer Person oder was?«

Der Direktor ließ sich zu einem Lächeln hinreißen. »Eine gute Frage. Eine ausgezeichnete Frage!«

Grant wartete auf mehr.

»Zheng He war ein großer Forscher. Flottenbefehlshaber der Ming-Kaiser im fünfzehnten Jahrhundert. Fünfzig Jahre bevor Kolumbus mit seinen armseligen kleinen Schiffen den Atlantik überquerte, segelten Zheng Hes Flotten über den ganzen Indischen Ozean nach Afrika, Arabien und die ostindischen Inseln, sogar nach Australien.«

»Davon habe ich nie gehört«, sagte Grant.

»Große Schiffe, zehnmal so groß wie die spanischen Karavellen«, fuhr Wo fort. »Hunderte von Schiffen! Tausende von Seeleuten! Die halbe Welt war unter Chinas Herrschaft, während die Europäer noch glaubten, die Welt sei eine flache Scheibe!«

»Wenn es so war, warum …?«

»Der Kaiser Zhu Di starb, und sein Nachfolger ließ die großen Schiffe verbrennen. Sie zerstörten die Flotte, verboten Entdeckungen und Außenhandel! China wandte sich nach innen und verfiel. Als die Europäer Chinas Küsten erreichten, war das Reich des Himmels schwach, arm, geteilt und leicht zu erobern.«

Grant dachte darüber nach, dann meinte er: »Es hätte also auch anders ausgehen können, nicht wahr? Wenn sie Zheng He erlaubt hätten, seine Unternehmungen fortzusetzen, hätte China womöglich Europa erobern können.«

»Mit Leichtigkeit.«

»Warum gaben die chinesischen Kaiser dies alles auf und schlossen das Land gegen die Außenwelt ab?«

Wo holte tief Atem und strich sich mit müder Hand über die Augen. »Zheng He war Eunuch.«

»Sie meinen, er war kastriert worden?«

»Das wurde häufig gemacht, in jenen Zeiten. Auch in Europa. Jungen mit guten Singstimmen wurden noch im neunzehnten Jahrhundert kastriert, um Kastratentenöre aus ihnen zu machen, glaube ich. Nun, die meisten hohen Palastbeamten, die seine Flotte förderten und den Bau neuer Schiffe anordneten, waren ebenfalls Eunuchen. Die konfuzianischen Bürokraten, die den Rest der Regierungsgeschäfte besorgten, wendeten sich gegen die Machtpositionen der Eunuchen beim Kaiser.«

»Palastintrigen.«

»Ja«, sagte Wo, »Palastintrigen. Und die Unterlegenen wurden oft hingerichtet.«

»Die Konfuzianer siegten?«

»Schließlich. Als der Kaiser Zhu Di starb, festigten die Konfuzianer ihren Einfluss auf seinen Nachfolger. Die große Flotte Zheng Hes wurde zerstört.«

»Und für China begann der Niedergang.«

»Ganz recht. Das Land brauchte mehr als fünfhundert Jahre, um sich zu erholen. Noch heute ist China nicht so reich oder so mächtig wie es sein könnte.«

»Dann war es ein Glück für die Europäer.«

»Ja, ein großes Glück für sie«, knurrte Wo.

Grant versuchte die Stimmung aufzuhellen. »Aber heute sind wir über alles das hinaus. Asiaten und Europäer und Afrikaner — wir alle arbeiten zusammen.«

»Tun wir das?«

»Tun wir das nicht?«

»Wenn es nach Ihren Glaubenseiferern ginge, würde diese Station geschlossen und genauso zerstört wie Zheng Hes Flotte zerstört wurde.«

»Es sind nicht meine Glaubenseiferer«, erwiderte Grant so entschieden wie es ihm möglich war.

»Ich fühle mich dem Geist des Zheng He sehr eng verwandt«, sagte Wo und schloss die Augen. »Sein Geist berührt den meinen.«

Grant sagte nichts.

»In gewisser Weise bin auch ich ein Eunuch. Meine Männlichkeit wurde bei dem Unfall zerstört.«

»Das … das wusste ich nicht«, murmelte Grant.

»Also sitze ich hier, schwach und hilflos, während andere in den unbekannten Ozean segeln.«

»Sie sind nicht hilflos.«

»Viele machen Krebs für den Unfall verantwortlich, aber in Wahrheit war es mein Fehler. Ich geriet in Panik.«

»Das habe ich nie gehört«, sagte Grant.

»Krebs ist zu loyal, um es zu enthüllen. Sie nahm die Schuld auf sich, damit ich als Direktor bleiben konnte.«

»Was geschah?«

Wo winkte müde ab. »Was macht das schon? Nun sitze ich hier und warte auf Nachricht von ihnen.«

»Inzwischen sollten sie im Ozean sein«, meinte Grant.

»Ja. Und während wir uns abmühen und forschen, sind die Konfuzianer, die Bürokraten, die daheim an der Macht sind, unterwegs hierher, uns zu zerstören. Sie fürchten, was wir hier tun. Sie verabscheuen uns.«

»Sie können uns nicht aufhalten. Wir tun, was wir uns vorgenommen haben.«

»Ich sollte mit den anderen dort unten sein.«

Grant sah in das müde, niedergeschlagene Gesicht des Direktors. Falten von Müdigkeit und Sorge und Selbstzweifeln waren in seine Züge eingegraben.

»Wenn Sie nicht wären, Dr. Wo«, sagte er, »würden die anderen nicht dort draußen sein, und es würde keine Erforschung des Ozeans geben. Keiner von uns würde hier sein.«

Und als er es sagte, wurde ihm klar, dass er selbst wahrscheinlich zu Hause sein würde, wenn nicht Dr. Wos monomanische Entschlossenheit wäre, intelligentes Leben im weiten Jupiterozean zu finden.

Zum ersten Mal aber wurde Grant bewusst, dass er lieber hier war — selbst als niedriger Student —, als irgendwo sonst. Wos Leidenschaft hatte ihn angesteckt.

6. LEVIATHAN

Geschwächt von seinem Kampf gegen die Reißer und in dieser öden Meeresregion vom langsamen Hungertod bedroht, ließ Leviathan sich von den mächtigen Strömungen, die dem immerwährenden Sturm entsprangen, weiter von dem tobenden Wirbel aufgewühlten Wassers und seinen bedrohlichen Blitzschlägen davontragen.

Seine verwundeten Gliederteile sandten brennende Schmerzsignale. Leviathan brauchte Nahrung, viel Nahrung, um das aufgerissene Fleisch zu heilen, das von den Zähnen der Reißer zerfetzt worden war. Doch hier gab es keine Nahrung zu finden.

Wenigstens gab es in diesem leeren Teil des Ozeans keine Reißer. Leviathan bezweifelte, dass seine Flagellenmitglieder die Kraft aufbringen würden, gegen sie zu kämpfen.

Nahrung. Leviathan musste Nahrung finden. Was bedeutete, dass er den immensen Sturm umkreisen und zu der Seite zurückkehren musste, wo die nährstoffhaltigen Strömungen hineinflossen.

Statt mit eigener Kraft durch den Ozean zu schwimmen, ließ Leviathan sich von den kreisenden Strömungen mittragen und überlegte, ob es weiter oben Nahrung geben mochte. Es war gefährlich, zu hoch in den kalten oberen Abgrund zu steigen, aber Leviathan wusste, dass es den Tod bedeutete, in dieser Tiefe zu bleiben, wo überhaupt keine Nahrung vorhanden war.

Langsam und vorsichtig dehnte Leviathan seine Auftriebsglieder aus. Der Erschöpfung nahe, stieg der gigantische Meeresbewohner höher. Er spürte, dass der Augenblick nahe war, wenn seine Gliederteile sich in der letzten verzweifelten Hoffnung, durch Fortpflanzung zu überleben, instinktiv voneinander lösen und mit ihrer individuellen Knospung beginnen würden.

Die alten Instinkte, das wusste Leviathan, würden jetzt nicht helfen. Die Mitglieder würden sich trennen und mit der Hoffnung auf eine Wiederzusammenfügung zu erneuerter Einheit reproduzieren, aber was konnte das nützen, wenn es nicht einmal für einen genug Nahrung gab? Selbst wenn ein paar individuelle Mitglieder zeitweilig überlebten, wie könnten sie ohne die Einheit mit all den anderen weiterleben? Einzeln waren sie hilflos. Was konnten Flagellenmitglieder ohne ein Gehirn tun, das sie leitete? Wie könnte ein Gehirnmitglied existieren, ohne sensorische und Verdauungsmitglieder und …

Leviathan stellte seine zwecklosen Überlegungen ein. In den höheren Strömungen gab es Nahrung. Die sensorischen Mitglieder fühlten es. Die starke Strömung, vom Sturm angetrieben, schwemmte die Partikel in den gewaltigen Strudel, bevor sie in die angenehme Region absinken konnten, wo Leviathan schwamm. Weiter oben würde es kalt sein, lähmend kalt. Leviathans Art kannte Geschichten von törichten Jugendlichen, die in ihrem hochmütigen Bestreben, die Alten zu übertreffen, zu hoch gestiegen und niemals zurückgekehrt waren, zerfallen in der Kälte, ihre Gliederteile verschlungen von Reißern oder den unheimlichen Kreaturen, die den oberen Abgrund unsicher machten.

Leviathan stieg und spürte die zunehmende Kälte, hielt auf die spärlich rieselnde Nahrung zu, die seine sensorischen Mitglieder aufgespürt hatten.

Aber es war keine Nahrung. Trotz der betäubenden Kälte und der andauernden Schmerzsignale seiner verwundeten Mitglieder zeigten Leviathans Augenteile, dass die von den Sensoren aufgefangenen Echos nicht von einem dünnen Strom absinkender Nahrungspartikel herrührten, sondern von einem einzigen Partikel, das viel größer war als jede Nahrung, die Leviathan je gekannt hatte, zugleich aber winzig, verglichen mit Leviathan selbst oder sogar mit den Reißern.

Es war dieses fremdartige Ding, das früher schon beobachtet worden war. Weit, weit entfernt und so hoch oben, dass Leviathan nicht einmal den Versuch einer Annäherung wagte, sank ein seltsames kreisförmiges Objekt durch den oberen Abgrund und sendete unheimliche Signale aus, die keinerlei Sinn ergaben.

Leviathan fragte sich, ob es Wirklichkeit sei. Oder waren er und seine Mitglieder dem Zerfall so nahe, dass ihr gemeinsames Gehirn zu versagen begann?

Das fremde Objekt fuhr fort, sinnlose Signale in den leeren Ozean zu senden, ohne Leviathan wahrzunehmen, der in der kalten leeren See trieb, weit außerhalb der Reichweite seiner Ortungssysteme.

7. UNERWARTETES EREIGNIS

Grant verließ Dr. Wos Büro in einem Zustand seltsam widersprüchlicher Erregung, ungewiss, wo seine wahren Loyalitäten lagen und wem er Treue schuldete.

Er warf sich auf sein Bett und sank fast augenblicklich in erschöpften, traumlosen Schlaf. Am nächsten Morgen trat er seinen Schichtdienst in der Befehlszentrale an und verbrachte vier Stunden mit der Betrachtung der schweigenden Konsolen und des leeren Wandbildschirms. Nacho Quintero löste ihn ab und lachte über seinen neuesten Streich: am vergangenen Abend hatte er in der Cafeteria den Stuhl neben seinem eigenen mit Epoxidharz besprüht.

»Kayla setzte sich darauf und kam nicht mehr hoch«, schnaufte Quintero, vor Lachen den Tränen nahe. »Sie musste den Reißverschluss ihres Overalls öffnen und sich herauswinden. Sie hätten die Unterwäsche sehen sollen, die sie anhat!« Er wedelte mit einer großen, fleischigen Hand, als müsste er sich Luft zufächern.

Als Nacho aufstand, sagte Grant: »Ich wette, Kayla wird Sie dafür innig lieben.«

Quinteros Gelächter verdoppelte sich, und Tränen rollten ihm aus den geschlossenen Augen über die runden Wangen.

»Das hätten Sie sehen sollen! Sie riss eine von Reds Bratpfannen an sich und jagte mich bis zum Aquarium!«

Grant machte ein erheitertes Gesicht, murmelte die richtigen Worte, und verließ den noch immer von Lachen geschüttelten Quintero. Draußen im Korridor nahm er Kurs auf das Labor für Flüssigkeitsdynamik. Es war Zeit, dass er sich wieder seiner eigentlichen Arbeit zuwandte.

Er ließ sich auf einen der kleinen Bürostühle auf Rollen fallen, schaltete den Datenanschluss ein und rief die dreidimensionale Karte ab, die er von den jovianischen Meeresströmungen entworfen hatte. Aber er konnte sich nicht auf die Arbeit konzentrieren. Wos Schuldbekenntnis, seine beinahe paranoide Furcht vor den Zeloten, die anderen in der Tauchsonde, unterwegs in die Tiefen des Jupiterozeans — alles das ging ihm nicht aus dem Sinn.

Und hier sitze ich und sorge mich um meine unterbrochenen Studien, sagte er sich.

Aber eine andere innere Stimme sagte: Das ist nicht der Grund deiner Sorge.

Ich weiß, gab er zu.

Es war Sheena. Dass er Irene Pascals Experiment ruiniert hatte und, schlimmer noch, dass er dem Gorilla Schmerzen zugefügt hatte, war ihm schrecklich. Es war wie Verrat an einem Kind, dachte er. Sheena hatte ihm vertraut. Und nun hatte er ihr Vertrauen verspielt. Wie sollte sie ihm noch vertrauen?

Grant war bewusst, dass er sich angewöhnt hatte, Sheena als eine Freundin zu betrachten, eine zwei- oder dreijährige Freundin vielleicht, aber das Verhältnis zwischen ihnen war ihm wichtig geworden. Wie konnte er dieses Vertrauen wiedergewinnen? Wie konnte er wieder Freund werden?

Seufzend erhob er sich von seinem Platz. Hier konnte er es nicht. Er musste schon hinuntergehen und ihre Gesellschaft suchen.

Mit einem flauen Gefühl im Magen wanderte Grant den Hauptkorridor entlang zum Aquarium. Er passierte Dutzende von Leuten, Wissenschaftler und Techniker in Overalls und Verwaltungspersonal in sauber gebügelten Hosen und Hemden. Alle arbeiteten am Studium der Jupitermonde, alle hatten ihre Zeitverträge, ihre Karrieren, ihr Leben. Nur zehn von uns stecken in der eigentlichen Arbeit, sagte er sich. Elf, wenn er Wo mitzählte. Von diesen anderen weiß niemand, was wir tun.

Oder vielleicht doch? Es war unmöglich, die Tiefenmission völlig geheim zu halten. Zweifellos wusste Red Devlin mehr darüber als er sollte. Und jeder konnte sehen, dass die Tauchsonde verschwunden war.

Er blickte in die Gesichter der Leute, die ihm begegneten, und fragte sich, wer von ihnen ein Glaubenseiferer sein könnte. Wer von ihnen imstande wäre, alle Teilnehmer der Mission zu töten, nur um Dr. Wos fixe Idee, dass es auf dem Jupiter intelligentes Leben gäbe, den Garaus zu machen. Bei objektiver Betrachtung musste man zugeben, dass der Direktor genauso fanatisch wie die Zeloten der Neuen Ethik oder der Jünger Gottes war.

Vor der geschlossenen Sicherheitsluke, die ins Aquarium führte, fand Grant eine neue Inschrift, die mit blutroter Farbe auf das Stahlblech gemalt war:


Wenn Fisch Gehirnnahrung ist, warum sind wir dann nicht klug genug, nach Hause zu gehen?


Mit einem verständnisvollen Seufzer drückte Grant den Eingangscode. Das Schloss klickte, und er stieß die Luke auf. Im Aquarium war es kühl und still. Niemand war da. Langsam, zögernd ging Grant weiter an den großen Tanks entlang und sah die Fische nur aus den Augenwinkeln.

Sie musste irgendwo hier in der Nähe sein. Am hellen Tag würde sie nicht in ihrer Kammer bleiben.

Aber Sheena war nirgends zu finden. Sein Magen krampfte sich zusammen, und er rannte aus dem Aquarium zur Chirurgie neben der Krankenstation.

»Sheena?« Die einsame Schwester, die dort Dienst tat, sah ihn stirnrunzelnd an. »Ich würde diesen Affen keinen Schritt über die Schwelle lassen. Haben Sie eine Ahnung, was sie das letzte Mal anrichtete, als wir versuchten, an ihr zu arbeiten?«

Grant ließ die empörte Krankenschwester stehen und lief zum erstbesten Wandtelefon, das er im Korridor finden konnte. Dort fragte er den Computer, wo Sheena war.

»Unter Sheena gibt es keine Eintragung«, sagte die synthetische Stimme.

Natürlich, dachte Grant. Sie hat kein Telefon. Das war eine dumme Idee.

Da er nicht wusste, was er sonst tun sollte, verlangte er eine Verbindung mit Dr. Wo.

»Der Direktor darf nicht gestört werden, außer in Notfällen.«

»Dies ist ein Notfall!«

Sofort erschien Wos Gesicht auf dem winzigen Bildschirm des Telefons. »Ich bin außerstande, Ihren Anruf entgegenzunehmen. Hinterlassen Sie eine Botschaft.«

Am liebsten hätte Grant vor Frustration mit der Faust an die Wand geschlagen. »Dr. Wo, ich kann Sheena nicht finden! Niemand scheint zu wissen, wo sie ist.«

Der kleine Bildschirm erlosch.

Der Sicherheitsdienst, dachte Grant. Ich sollte den Sicherheitsdienst verständigen. Wenn Sheena irgendwo in der Station herumirrt … Er zögerte. Die Sicherheitsleute könnten in Panik geraten und sie verletzen.

Er fasste einen Entschluss und schritt durch den Korridor zum Verwaltungsbereich. Er wusste nicht, wer diese Woche den Sicherheitsdienst versah, aber vielleicht war es jemand, den er kannte.

Hinter dem kleinen Schreibtisch des Sicherheitsbüros saß ein Fremder. Ein hoch gewachsener, sehniger Mann mit einem Stoppelbart und dunklem, lockigem Haar. Er trug einen Overall. Wahrscheinlich ein Techniker, dachte Grant.

»Es hört sich vielleicht albern an«, sagte er, ohne sich vorzustellen, »aber Sheena scheint unauffindbar zu sein und …«

»Dieser Gorilla?«

»Ja. Sie ist nicht in ihrer …«

»Um diese Zeit macht sie gewöhnlich ihre Nachmittagsübungen in der Turnhalle. Haben Sie dort nachgesehen?«

Grant gaffte ihn an. »In der Turnhalle? Nein … ich wusste nicht …«

Der Mann vom Sicherheitsdienst drückte eine Nummer an seinem Telefon. »He, Ernie, ist der Affe bei dir?«

Grant konnte den Bildschirm des Telefons nicht sehen, hörte aber die Antwort: »Klar, sie spielt mit dem …«

»NOTFALL!«, dröhnte es aus dem Deckenlautsprecher. »ALLES PERSONAL DER MISSIONSLEITUNG SOFORT AUF DIE POSTEN!«

Die Stimme gehörte Dr. Wo. Er schien außer sich.

8. UNFALL

Grant raste zur Befehlszentrale und prallte mit Nacho Quintero zusammen, als beide gleichzeitig durch den schmalen Gang zu den Konsolen wollten. Normalerweise hätten sie beide über ihre Ungeschicklichkeit gelacht.

»Pass auf, estupido«, fuhr Quintero ihn an.

»Arsch mit Ohren«, knurrte Grant in sich hinein.

Ukara und Frankovic waren bereits an ihren Konsolen. Der große Wandbildschirm war dunkel, und Grant sah, dass auch die Datenanschlüsse alle leblos waren. Alle bis auf Wos: seiner leuchtete wie ein Weihnachtsbaum — beinahe nur grüne Lichter, obwohl mehrere bernsteingelb und eins leuchtend rot waren.

»Wo ist Dr. Buono?«, wollte Wo wissen. Seine kratzige Stimme bebte.

»Hier«, rief sie von der Tür und eilte zu ihrer Konsole.

»Wir erhielten die folgende Botschaft von Kapitän Krebs«, sagte Wo. Seine Finger bearbeiteten energisch die Tastatur.

Alle Bildschirme leuchteten auf. Grant war froh, dass die Antriebs- und Energiesysteme in Ordnung zu sein schienen. Zwei bernsteingelbe Kontrollleuchten, die übrigen grün.

Auf einmal ging der große Wandbildschirm an, und Krebs' Gesicht erschien in fünffacher Lebensgröße, angespannt und besorgt. Oder vielleicht ängstlich, dachte Grant.

»Dr. Pascal ist zusammengebrochen«, meldete Krebs ohne Vorrede. »Sie klagte über Schmerzen in der Brust und verlor dann die Koordination ihrer Gliedmaßen. Innerhalb von zehn Minuten krümmte sie sich, erbrach Galle und verlor das Bewusstsein.«

Grant blickte zu Patti Buonos Arbeitsplatz. Die Ärztin saß mit besorgtem Stirnrunzeln über die Konsole gebeugt, wo mehr und mehr Kontrolleuchten rot glommen.

»Geben Sie die vollständigen medizinischen Ablesungen durch«, rief Buono. »Die Patientin könnte einen Herzinfarkt …«

»Sie kann Sie nicht hören«, sagte Wo. »Es ist eine Aufzeichnung von einer Datenkapsel.«

»Wann wurde die Botschaft aufgezeichnet?«

Wo blickte auf seinen Datenanschluss. »Vor einer Stunde und siebzehn Minuten.«

»Sind sie auf der Rückreise?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Wo. »Ich nehme es an.«

»Dann können wir nichts tun, bis wir wieder von ihnen hören.«

»Sie können Dr. Pascals Zustand diagnostizieren!«

Buono biss sich auf die Unterlippe. »Die hier angegebenen Daten reichen für eine Diagnose nicht aus. Was nützt es außerdem, wenn wir nicht mit ihnen sprechen können?«

»Was ist Pascal geschehen?«, verlangte Wo zu wissen.

Buonos Augen blitzten zornig, aber sie wandte sich wieder ihrer Konsole zu und sagte: »Es sieht wie Herzstillstand aus, aber es könnte auch ein nicht tödlicher Infarkt oder etwas ganz anderes sein. Ich kann auf der Basis dieser spärlichen Daten einfach keine definitive Diagnose stellen!«

»Was hat ihren Zusammenbruch verursacht?«, beharrte Wo.

»Ich weiß es nicht!«

»Könnte es eine Folge des hohen Drucks sein, dem sie ausgesetzt sind?«

»Ja«, sagte Buono. Es klang beinahe verzweifelt. »Aber es könnte genausogut mit dem Druck nichts zu tun haben.«

»Pah! So viel kann sich jeder Laie denken!« Frustriert schlug Wo mit der Faust auf seine Konsole.

»Die lebenserhaltenden Systeme sind alle im grünen Bereich«, meldete Frankovic in einem Versuch, die Spannung zu verringern. »Zumindest waren sie es, als Krebs die Datenkapsel abfeuerte.«

»Was nützt es?«, versetzte Wo. »Wenn Pascal ausgefallen ist, müssen wir wissen, warum.«

Ausgefallen? dachte Grant. Was für eine nüchterne Ausdrucksweise. Irene könnte tot sein, um Himmels willen.

Eine gelbe Leuchte begann auf Wos Konsole zu blinken: der Kommunikationsindikator. Er schlug sofort auf den Schalter.

Eine neue Darstellung erschien auf dem Wandbildschirm. Wieder war es Krebs, aber das Bild war körnig und gestreift von Interferenzen. Aber es war eine Wiedergabe in Echtzeit; die Tauchsonde war wieder in Verbindung mit der Station.

»Wir sind gezwungen, zur Station zurückzukehren«, sagte sie. »Bitte bestätigen Sie.«

»Bestätigt«, stieß Wo hervor.

»Wie ist Dr. Pascals Zustand?«, fragte Buono.

Krebs blickte in die Kamera. »Sie ist bewusstlos. Wir haben sie in ihre Koje gelegt und mit einer Atemmaske versehen, um zusätzliches Perfluorcarbon in ihre Lungen zu drücken.«

Buono bearbeitete ihre Tastatur so schnell, dass Grant den Bewegungen ihrer Finger kaum folgen konnte. Jedes Besatzungsmitglied hatte medizinische Sensoren an der Haut. Grant sah auf dem Bildschirm, was er für eine EKG-Aufzeichnung hielt, aber die grüne Linie, die Irenes Herzschlag nachzeichnete, schien ihm schwach und unregelmäßig zu sein.

»Legen Sie ihr Druckmanschetten an Beine und Arme«, befahl Buono. »Wichtig ist jetzt, dass die Durchblutung von Kopf und Rumpf gesichert ist.«

Krebs' Antwort kam mit einer geringen, aber merklichen Verzögerung. Grant schloss daraus, dass Zheng He noch immer tief in der Wolkenhülle war.

»Es gibt keine Druckmanschetten in der Bordapotheke«, sagte Krebs.

Buono murmelte etwas vor sich hin. Grant beugte sich zu Frankovic und fragte mit halblauter Stimme: »Wird Irene sterben?«

Frankovic zuckte vage die Achseln und blieb die Antwort schuldig.

Grant versuchte an Krebs' grimmigem Gesicht vorbeizuspähen, um den Rest der Mannschaft zu sehen, aber die Kamera war in einem Winkel eingestellt, der sie nicht zeigte.

»Dr. Buono«, rief er der Ärztin zu, »sollten Sie nicht die Monitore für den Rest der Besatzung überprüfen?«

Buono warf ihm einen giftigen Blick zu. »Und was sollte das nützen?«

Grant musste zugeben, dass sie Recht hatte. Sie konnten nichts tun, um der Besatzung zu helfen, bevor sie zur Station zurückkehrte.

»Es wird alles aufgezeichnet«, fügte Buono hinzu.

»Ja, verstehe«, sagte Grant.

Nach mehr als sechs Stunden Funkverbindung mit Krebs, die keine neuen Gesichtspunkte ergaben, sagte Dr. Wo zu Grant, Quintero und Ukara, sie könnten die Befehlszentrale verlassen.

»Aber Sie haben sich in Bereitschaft zu halten«, fügte der Direktor hinzu. »Sie müssen jederzeit bereit sein, auf Ihre Posten zurückzukehren, sollte es notwendig werden.«

Grant stemmte sich erschöpft aus seinem Sitz. Quintero sprang trotz seiner Größe schnell und leichtfüßig auf.

»Soll ich Ihnen ein Tablett mit Essen bringen?«, fragte Grant den zurückbleibenden Frankovic.

»Ich bin nicht hungrig«, sagte der.

»Sie werden noch lange hier aushalten müssen«, erwiderte Grant. »Ich werde Ihnen belegte Brote und etwas zu trinken bringen.«

Frankovic willigte mit einem Kopfnicken ein. »Vielleicht auch etwas Obst.«

»Wird gemacht.« Grant ging zur Tür.

»Und denken Sie daran«, sagte Wo in scharfem Ton, »dass Sie diesen Zwischenfall mit niemandem erörtern. Niemandem! Haben Sie verstanden?«

Die drei nickten.

Grant ging zur Cafeteria. Er sah, dass es noch zu früh zum Abendessen war, aber schon strebten ziemlich viele Leute dem gleichen Ziel zu wie er. Doch die Schlange vor der Essenausgabe war noch nicht lang und Grant konnte sein Tablett in kurzer Zeit füllen.

»Warum so verdrossen, junger Freund?«

Es war Tamiko Hideshi. Sie grinste ihn an. Grant brauchte eine kleine Weile, um zu verstehen, dass dies für alle anderen Leute in der Station ein ganz normaler Arbeitstag war. In ihrem Leben geschah nichts Ungewöhnliches. Alles nahm seinen gewohnten Gang. Sie sorgten sich nicht um eine Kollegin, die irgendwo in der Wolkenhülle des Jupiter vielleicht mit dem Tode rang.

»Hallo, Tami«, sagte er.

Sie nickte zu seinem schwer beladenen Tablett. »Für einen Typ, der so auflädt, sehen Sie furchtbar unglücklich aus. Was ist los mit Ihnen?«

Grant schüttelte den Kopf. »Ich muss zurück zur Befehlszentrale.«

»Das Picknick findet dort statt?«

Er drängte sich an ihr vorbei und sagte über die Schulter: »Es ist kein Picknick, glauben Sie mir.«

9. RÜCKKEHR

Obwohl er vom Dienst abgelöst war, blieb Grant in der Befehlszentrale und verfolgte die Ereignisse. Unter Krebs' Kommando stieg Zheng He durch die turbulente Jupiteratmosphäre auf, jetzt kein Tauchboot mehr, sondern eine diskusförmige Flugmaschine. Sobald sie den Ozean verlassen hatten, zündete Krebs die Plasmaraketen, und eine halbe Stunde später ging die Zheng He in die Umlaufbahn.

Buono verließ keinen Augenblick ihren Datenanschluss. Alle Hinweise von Pascals medizinischen Sensoren zeigten, dass ihr Zustand sich langsam verschlechterte. Es war ein Wettlauf mit der Zeit, um sie zur Station zu bringen und medizinisch zu versorgen.

Mehrere Umkreisungen des Riesenplaneten waren erforderlich, viele Stunden vergingen in angespannter Sorge und Erwartung, bevor Zheng He in einer Position war, die das Andockmanöver gestattete. Krebs entledigte sich der schwierigen Aufgabe fehlerlos, und Grant glaubte den leichten Stoß zu fühlen, mit der die Luftschleuse der Tauchsonde andockte. Es war natürlich Unsinn, aber trotzdem bildete er sich ein, eine winzige Vibration zu fühlen, eine Bestätigung der Eingeweide, dass die Besatzung sicher zurückgekehrt war.

Im Laufschritt eilten sie durch den Korridor und vergaßen in ihrer Eile alle Geheimhaltung. Wo fuhr in seinem elektrischen Rollstuhl mit Höchstgeschwindigkeit voraus, und die erschrockenen Passanten spritzten auseinander, als wären sie versehentlich auf eine Kegelbahn geraten und müssten sich vor der heranrollenden Kugel in Sicherheit bringen.

Trotz seiner bangen Sorge musste Grant grinsen, als er und die anderen in vollem Lauf hinter Dr. Wos rasendem Rollstuhl durch den Korridor rannten.

Wo rief in das eingebaute Telefon des Rollstuhls, während er in halsbrecherischer Fahrt dahinsauste. Er rief jemandem etwas zu. Grant konnte die Worte »Sicherheitsdienst« und »Bereich absperren«, ausmachen. Anscheinend wollte der Direktor sichergehen, dass keine Gaffer den Zugangstunnel umstanden, wenn die Besatzung der Tauchsonde herausgeholt wurde.

Vor der Schleuse des Tunnels kamen sie schnaufend zum Stehen. Tatsächlich standen dort bereits zwei stämmige Wächter des Sicherheitsdienstes. Und zwei weitere hielten sich bei der Luftschleuse in Bereitschaft.

»Gehen Sie beide hinauf zum Eingangsbereich«, befahl Wo. »Räumen Sie den gesamten Korridorabschnitt zwischen hier und der Krankenstation.«

Sie eilten zum Tunnel hinaus und ließen Dr. Wo und seine Begleiter vor der geschlossenen Luftschleuse zurück.

»Ich muss da hinein«, sagte Buono, die neben Wos Rollstuhl Aufstellung genommen hatte. »Je eher …«

»Sie können nicht hinein«, sagte der Direktor. »Die Besatzung ist in Hochdruckflüssigkeit. Sie sind nicht ausgestattet, das Zeug zu atmen.«

Buono ließ die Schultern hängen. »Ich hatte vergessen …«

»Zuerst muss der Druckausgleich hergestellt werden«, fuhr Wo fort. »Der Vorgang wird mehrere Stunden in Anspruch nehmen.«

»Wie wird das Irenes Zustand beeinflussen?«, fragte Ukara.

Wo zuckte die Achseln. »Wer weiß?«

»Eins wissen wir«, sagte Buono niedergeschlagen.

»Je länger es dauert, sie in die Krankenstation zu bringen, desto ungünstiger werden ihre Überlebenschancen sein.«


* * *

Pascal kam als Erste durch die Luftschleuse. Nach Dr. Wos Anweisung, die in die Luftschleuse telefoniert worden war, legten Karlstad und Muzorawa die bewusstlose Frau in die Schleusenkammer und pumpten langsam das flüssige Perfluorcarbon ab. Sie hielten sich genau an das erprobte Verfahren, und trotz der Dringlichkeit dauerte es fast eine Stunde, bis ihre Lungen geleert waren.

Patti Buono konnte sich während der gesamten Wartezeit vor nervöser Unrast nicht ruhig halten. Grant sah, dass sogar Wo angespannt und beinahe ängstlich war; sein Blick ging wie der eines gefangenen Tieres unruhig hin und her.

Sobald Krebs meldete, dass die Luftschleuse ausgepumpt und der Luftdruck angepasst sei, öffnete Quintero die Versiegelung und schwang die schwere Luke auf. Irene Pascal lag schlaff und reglos auf der Seite, die mit Elektroden besetzten Beine angezogen, um in der Enge der Luftschleuse Platz zu finden. Sie sah kalt aus und troff noch von öliger Flüssigkeit. Grant konnte nicht erkennen, ob sie atmete.

Ukara sprang am verdutzten Quintero vorbei in die Luftschleuse und warf sich neben dem liegenden Körper auf die Knie.

»Sie atmet nicht!«, rief sie.

Schon war Patti Buono zur Stelle und bedeckte das Gesicht der Bewusstlosen mit einer Sauerstoffmaske. »Schnell, helfen Sie mir, Irene auf die Rolltrage zu heben. Schnell!«

Quintero wollte zugreifen, aber Ukara stieß ihn fort. »Nein, lassen Sie mich!«

Sie griff Pascal unter die Schultern, während Grant sie bei den Füßen nahm. Zusammen hoben sie die scheinbar Leblose auf die Trage und rollten sie im Laufschritt an den Sicherheitswachen vorbei und den Korridor entlang zur Krankenstation. Außer ihnen und Buono war der Korridor vollständig menschenleer. Grant sah die zwei anderen uniformierten Wächter jenseits des Eingangs zur Krankenstation im Korridor auf und ab gehen.

Und Sheena war bei ihnen. Grant fragte sich, was sie mit ihr taten, als er gemeinsam mit Ukara die Trage mit Pascals schlaffem Körper in die Krankenstation rollten. Vier Mediziner standen bereit. Buono war neben der Trage hergelaufen und begann sofort Anweisungen zu geben. Grant und Ukara wurden in den Korridor zurückgescheucht, und die Tür zur Krankenstation geschlossen.

Wo kam mit dem Rollstuhl durch den Korridor gesaust, begleitet vom schnaufenden Frankovic. Ungeduldig riss der Direktor die Tür auf und rollte in die Krankenstation. Durch die Türöffnung sah Grant, wie die grün gekleideten Mediziner sich über Pascals Trage beugten.

Frankovic machte vor der Tür Halt. Das ungewohnte Laufen hatte ihn außer Atem gebracht.

»Was ist mit dem Rest der Besatzung?«, fragte Grant.

»Denen fehlt nichts«, sagte Frankovic. »Sie müssen einzeln durch die Schleuse. Abpumpen der Flüssigkeit und Dekompression brauchen ihre Zeit.«

Der Dienst habende Hauptmann der Wache erschien, schlüpfte ein paar Augenblicke in die Krankenstation, kam dann wieder heraus und schloss die Tür hinter sich. Er verschränkte die Arme auf der Brust und blieb mit steinerner Miene vor der Tür stehen, das Bild unbeugsamer Autorität, offensichtlich entschlossen, jeden anderen am Betreten der Krankenstation zu hindern, bis Dr. Wo seine Einwilligung gab.

Grant zögerte. Er wusste nicht, was er tun und wohin er gehen sollte. Sheena war ein Stück weiter den Korridor entlang in Begleitung der Wachen. Wenn sie Grant erkannt hatte, gab sie es nicht zu erkennen. Sie wanderte in ihrem Watschelgang auf Füßen und Handknöcheln herum, ein Dutzend Schritte in eine Richtung, dann wieder zurück, wie ein Soldat im Wachdienst.

Grant wandte sich an den schweigsamen Hauptmann der Wache. »Warum ist Sheena hier?«

Fast ohne die Lippen zu bewegen, sagte der Mann: »Wir verwenden sie hin und wieder, um die Menge unter Kontrolle zu halten.«

»Die Menge? Ich sehe keine.«

»Ah, sehen Sie? Es funktioniert.«

»Sheena sollte nicht Menschenmengen ausgesetzt werden«, sagte Grant.

Die Andeutung eines Lächelns huschte über das ernste, hakennasige Gesicht des Sicherheitsbeamten. »Es ist eher anders herum. Die Leute fürchten sich vor dem Affen.«

»Sheena würde niemanden verletzen!«

»Das wissen die Leute nicht.«

Sheena würde niemanden verletzen, wiederholte Grant bei sich. Es sei denn, jemand würde sie zuerst verletzen.

»Der Direktor will diesen Abschnitt freihalten«, sagte der Hauptmann der Wache. »Der Gorilla hält die Leute davon ab, näher zu kommen.«

»Ich verstehe.«

»Sie sollten jetzt gehen«, sagte der Sicherheitsbeamte.

»Ich möchte hier warten«, sagte Ukara.

»Nun gehen Sie schon, alle miteinander«, beharrte der Sicherheitsbeamte. »Es gibt hier nichts mehr für Sie zu tun.«

Ukara krümmte die Finger mit den rot lackierten Nägeln zu Krallen und fauchte eine Verwünschung. Einen Augenblick lang dachte Grant, sie würde den Hauptmann der Wache anspringen, ein schwarzer Panther, der sich auf einen sturen, muskelbepackten Büffel stürzt.

Frankovic fasste die leicht erregbare Ukara am Arm und sagte: »Er hat Recht, Kayla. Gehen wir. Vielleicht können wir den anderen helfen.«

Ein Zittern überlief sie, aber sie ließ sich von Frankovic wegführen, zurück zur Luftschleuse.

Gänzlich unbewegt stieß der Sicherheitsbeamte Grant mit dem Zeigefinger vor die Brust. »Sie auch. Ab durch die Mitte.«

Grant holte tief Luft, wandte sich ab und ging zu den uniformierten Sicherheitsbeamten, die mit Sheena den Korridor sperrten. Als sie Grant herankommen sah, machte Sheena Halt.

»Hallo, Sheena«, sagte er mit leiser Stimme. Die kleine versengte Stelle auf ihrem haarigen Schädel wirkte auf ihn als ein stummer Vorwurf.

Sheena starrte ihn aus den tiefbraunen, rotgeränderten Augen an. »Grant«, flüsterte sie.

Er streckte die Hand mit der Innenseite nach oben aus. Es war wie die Geste eines Bettlers. Die Wachmänner beobachteten ihn belustigt.

»Sind wir noch Freunde, Sheena?«

»Grant tun Sheena weh.«

»Ich wollte es nicht. Es war ein Unfall.«

»Weh.«

»Es tut mir Leid.« Sheena blickte auf Grants Hand, die noch zu ihr ausgestreckt war. Endlich sagte sie: »Du gehen jetzt.«

»Sheena, ich will wieder dein Freund sein«, bat Grant.

»Du gehen!«

»Aber Sheena …«

Sie schüttelte den Kopf mit einer Gebärde, die ihre massiven Schultern mit einbezogen. »Du gehen!«

Geschlagen ließ Grant die Hand sinken und kehrte ihr den Rücken. Als er ging, hörte er einen der Wachmänner halblaut sagen: »Würdest du es für möglich halten? Liebeshändel mit einem Zweizentneraffen!«


* * *

Einer nach dem anderen kam die Besatzung der Zheng He durch die Luftschleuse. Karlstad und O'Hara waren bereits draußen im Zugangstunnel, eingewickelt in Decken.

Lane sah bekümmert aus, den Tränen nahe. Egon sah hohläugig aus; die alte zynische Selbstsicherheit war aus seinem Gesicht gewichen.

Die Luke öffnete sich seufzend, und Muzorawa trat heraus. Er sog tief die Luft ein, während ölige Flüssigkeit noch von seiner Nase tropfte und ihm in dünnen Rinnsalen von Hals und Armen rann.

Kayla Ukara warf ihm eine Decke um die Schultern.

»Danke«, sagte er. Er zitterte stark. »Dies ist das erste Mal, dass ich mich aufwärmen kann, seit wir in die Suppe gingen.«

»Fühlen Sie sich sonst gut?«, fragte Grant.

»Ja, ich denke schon. Keine Verletzungen. Wie geht es Irene?«

»Wir wissen nichts«, antwortete Frankovic. »Als sie durchkam, legten wir sie auf eine Rolltrage und rannten mit ihr zur Krankenstation. Dort wird sie jetzt behandelt. Der Zugang ist gesperrt.«

»Was ist eigentlich passiert?«, fragte Ukara.

Zeb schüttelte den Kopf. »Schwer zu sagen. Wir waren in den Ozean eingetreten … wenigstens zeigten die Sensoren an, dass die äußere Umgebung in flüssigem Zustand war.«

»Wer hatte Dienst?«

»Wir alle. Krebs wollte unsere Verbindung mit den Bordsystemen nicht unterbrechen, bis wir die vorgesehene Tiefer erreichten.«

»Dann war Irene also verbunden?«

»Ja«, sagte Muzorawa. »Alles schien vollkommen normal, aber plötzlich stieß sie einen Schrei aus und brach zusammen.«

»Krebs sagte, sie hätte über Schmerzen in der Brust geklagt«, bemerkte Frankovic.

»Ja, das stimmt. Sie schien ihre körperliche Koordination zu verlieren, aber das ist nicht ungewöhnlich, wenn der Druck ansteigt. Es passiert uns allen, ist aber vorübergehender Natur.«

»Was vermuten Sie?«, fragte Grant.

»Ich glaube, sie hatte einen Herzanfall.«

Frankovic kratzte sich den halb kahlen Kopf. »Sie war allerdings völlig gesund. Keine Anzeichen von kardiovaskulären Problemen.«

Muzorawa hob hilflos die Schultern. »Dort unten ist es anders, mein Freund. Sehr anders.«

Sie blieben bei der Luftschleuse, redeten, mutmaßten, sorgten sich, bis die Luke wieder geöffnet wurde und Christel Krebs herauskam. Sie blinzelte ungewiss wie ein erdbewohnendes Tier, das plötzlich ungewohntem Licht ausgesetzt wird.

»Wo ist Pascal?«, fragte sie in scharfem Ton.

»In der Krankenstation«, sagte Grant.

»Bringen Sie mich hin. Sofort.« Und sie streckte Grant wie eine Blinde, die geführt werden muss, die Hand hin.

10. „MIT DEM SCHILD …“

Grant kam nur bis zu den Sicherheitsbeamten, die am Eingang des Zugangstunnels stationiert waren. Einer von ihnen nahm Krebs mit sich zur Krankenstation, während ein anderer die übrigen Mitglieder der Besatzung aufforderte, ihm zu folgen. Er führte sie zu dem kleinen Konferenzraum, den sie als Messe genutzt hatten.

Der Hauptmann der Sicherheitswache war bereits dort und stand am Kopf des ovalen Konferenztisches.

»Dr. Wo wünscht, dass Sie hier bleiben, bis Sie weitere Anweisungen bekommen«, erklärte er.

»Was ist mit dem Abendessen?«, jammerte Frankovic. »Wir haben fast den ganzen Tag nichts zu essen gehabt.«

Der Sicherheitsbeamte beäugte ihn geringschätzig. »Etwas später werden wir Ihnen Tabletts mit dem Abendessen bringen. Einstweilen bleiben Sie hier. Befehl vom Direktor. Keine Ausnahmen.«

Er ging und schloss energisch die Tür.

Karlstad stieß seufzend den Atem aus. »Das ist die längste Ansprache, die ich von der alten Adlernase je gehört habe.«

»Wir sind Gefangene«, sagte Ukara mit finsterer Miene.

Grant hätte gern versucht, die Tür zu öffnen, doch selbst wenn sie nicht zugesperrt war, würden Wachen draußen am Korridor postiert sein. Vielleicht war sogar Sheena draußen.

Plötzlich wurde die Tür aufgestoßen. Grant sprang erschrocken zurück.

Krebs betrat den Raum, blieb stehen, spähte angestrengt zu Grant, als könne sie ihn kaum erkennen. Sie trug einen Rollkragenpullover und Jeans.

»Wie geht es Irene?«, fragte O'Hara. Sie und die anderen waren noch nicht dazu gekommen, frische Kleider anzulegen. Sie waren noch immer in Decken gehüllt.

Krebs wandte sich dem Klang ihrer Stimme zu. »Sie sind noch mit Wiederbelebungsversuchen beschäftigt.« Sie hinkte zum Tisch und stützte beide Hände darauf. »Wir müssen hier bleiben, bis Dr. Wo mit uns sprechen kann.«

»Nun«, sagte Muzorawa, »dann werden wir uns einstweilen behelfen müssen.« Und während er mit einer Hand die Decke zusammenhielt, zog er mit der anderen einen der Plastikstühle vom Tisch fort und setzte sich.

Als die anderen seinem Beispiel folgten, bewegte sich Krebs mit unsicheren Schritten zum Kopfende des Tisches. Statt sich zu setzen, blieb sie jedoch stehen.

»Wir sollten die Gelegenheit nutzen und eine nochmalige Prüfung des Geschehens vornehmen«, sagte sie mit emotionsloser, kalter Stimme. Sie ließ keinen Raum für abweichende Meinungen oder gar eine Diskussion.

»Könnten wir uns inzwischen ordentliche Kleider beschaffen?«, fragte O'Hara.

»Später«, sagte Krebs.

Sie gebrauchte den großen Bildschirm im Konferenzraum, um die Datenaufzeichnung der Mission darzustellen. Grant studierte die Leistungen der Antriebsund Energiesysteme. Nichts Ungewöhnliches war zu finden. Alles funktionierte normal. Auch die anderen schienen auf ihren Gebieten keine Störungen zu finden.

Sogar Pascals medizinische Daten zeigten, dass sie bei guter Gesundheit gewesen sein musste, bis Herzschlag, Blutdruck und Puls plötzlich versagten.

»Es gibt nichts, was auf die Schmerzen in der Brust hindeutet, über die sie klagte«, bemerkte Frankovic.

»Dann war dieser Schmerz nicht ernst genug, um von den Überwachungssystemen registriert zu werden«, erwiderte Krebs.

»Sehen wir uns ihr EEG an«, schlug Muzorawa vor. »Der Verlust der Bewegungskoordination sollte in der Aufzeichnung zu erkennen sein.«

Er war es nicht.

O'Hara murmelte: »Könnte es psychosomatisch gewesen sein?«

Stundenlang beschäftigten sie sich mit den Daten. Zwei Wächter kamen mit Tabletts und brachten ihnen das Abendessen. Krebs befahl ihnen, Kleider für die drei in Decken gehüllten Besatzungsmitglieder zu bringen. Während sie aßen, diskutierten sie weiter über die Daten.

»Soweit es die Aufzeichnungen betrifft«, sagte Kayla Ukara mit zornigem Stirnrunzeln, »ist überhaupt nichts schief gegangen.«

»Nicht bis zu Irenes Zusammenbruch«, sagte Muzorawa. Grant stellte fest, dass er beunruhigt aussah.

Karlstad hatte sich soweit erholt, dass etwas von seiner alten Frivolität wiedererwacht war. »Vielleicht hat sie sich zu Tode geängstigt.«

»Sie ist nicht tot!«, widersprach Ukara heftig.

»Wollen wir wetten?«, höhnte Karlstad. »Wenn sie in Ordnung wäre, hätten Patti oder vielleicht sogar unser verehrter Direktor uns benachrichtigt.«

»Höchstwahrscheinlich arbeiten sie noch an ihr«, meinte Muzorawa.

»Wenn sie nach so vielen Stunden noch immer an ihr arbeiten, hat sie die längste Zeit gelebt.«

»Es ist schrecklich, so etwas zu sagen«, stieß O'Hara hervor.

Karlstad zuckte die Achseln. »Es ist so wie die Mutter der alten Spartaner ihren Söhnen sagten: ›Komm mit deinem Schild zurück oder auf ihm.‹ Irene kam auf ihrem Schild zurück.«

»Trotzdem finde ich es schrecklich, wie Sie darüber reden«, sagte O'Hara.

Ukara starrte ihn böse an.

»Warum? Fürchten Sie, dass es sich bewahrheitet, wenn ich darüber spreche?«

»Ich …«

Die Korridortür wurde zurückgestoßen, und Dr. Wo rollte mit seinem elektrischen Rollstuhl in den Raum. Er sah erschöpft aus, ausgelaugt. Zum ersten Mal sah Grant im Direktor einen alten Mann.

»Dr. Pascal starb, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen«, sagte er mit tonloser Stimme. »Alle Wiederbelebungsversuche waren vergeblich.«

Grant las die Empfindungen von ihren Gesichtern ab: Schock, Trauer, Angst. Ukara sah wie so oft erregt und zornig aus, aber hinter der zur Schau gestellten Empörung glaubte Grant Tränen in ihren Augen zu sehen.

»Mr. Archer«, sagte Dr. Wo, »Sie werden Dr. Pascals Platz in der Besatzung einnehmen. Halten Sie sich morgen für den notwendigen chirurgischen Eingriff bereit.«

Es traf Grant wie ein Keulenschlag. Ich? Chirurgischer Eingriff? Er saß wie betäubt und fühlte, wie ihm das Herz in der Brust zu flattern begann, als er über den Tisch zu Karlstad blickte.

»Mit deinem Schild oder darauf«, sagte Karlstad mit lautlosen Lippenbewegungen.

11. EINGRIFF

Nervös beschmierte Grant alle Teile seines Körpers mit der Enthaarungscreme. Sie werden mich in diese Suppe tauchen, sagte er sich immer wieder. Sie werden mich ertränken.

Es war schon schwierig gewesen, sich das Haar vom Kopf zu schneiden und den Rest dann bis auf die bloße Haut zu rasieren. Die Enthaarungscreme wirkte nur auf dünne Körperbehaarung oder rasierte Stoppeln. Bei den Bemühungen, in der Enge seiner Toilette Waden und Rücken zu erreichen und gleichmäßig einzucremen, kam er sich lächerlich und ungeschickt vor. Die notwendigen Verrenkungen führten dazu, dass er ständig Zehen und Ellbogen anstieß. Zudem war die Creme schlüpfrig und schleimig wie Schmierseife, und als er sie abwusch, war sie pelzig von seinem Haar. Er überlegte, ob sie ihm nicht den Ablauf der Dusche verstopfen würde, bis er sich sagte, dass es ihm völlig egal sein könne.

Ganz gleich wie oft er sich einredete, dass er imstande sein würde, das flüssige PFCL zu atmen, wie Lane und Zeb und die anderen es taten, wuchs die Angst in ihm. Und eine Abneigung, die zu Erbitterung wurde. Ich will es nicht tun, dachte er, aber Wo lässt mir keine Wahl. Er zeigt mit dem Finger auf mich, und ich werde in den Tank gesteckt und bis zum Ertrinken untergetaucht. Es ist wie Egon sagte: Wo zieht an den Fäden, und wir Marionetten tanzen. Keine Fragen, keine Bitten, keine Hilfe.

Als er unter der Dusche die antiseptisch riechende Enthaarungscreme von Armen, Rumpf und Beinen wusch, betete er um Verständnis, um Akzeptanz und vor allem um Mut. Lass nicht zu, dass ich mich lächerlich mache, wenn es Zeit ist, in den Tank zu tauchen, betete er stumm. Lass nicht zu, dass sie sehen, wie sehr ich mich fürchte.

Nun, tröstete er sich, wenn Egon es geschafft hat, kann ich es auch. Trotzdem zitterten ihm die Hände. Der schrille Klang des Telefons erschreckte ihn so sehr, dass er den Waschlappen fallen ließ.

»Anruf beantworten«, rief er.

Aus der Toilette konnte Grant nicht ausmachen, wessen Gesicht auf dem kleinen Bildschirm des Telefons erschien, aber er hörte die kalte, überhebliche Stimme des Hauptmanns der Wache. »Die Chirurgen warten auf Sie. Soll ich einen meiner Leute schicken, Sie zu holen?«

»Ich bin beinahe fertig«, antwortete Grant. Heißer Zorn trieb ihm die Röte ins Gesicht. »Ich werde von selbst hinkommen.«

»Zehn Minuten«, sagte der Hauptmann. »Dann werde ich jemanden schicken müssen.«

Grant beendete seine Wäsche so gut er konnte, dann zog er einen frischen Overall und Mokassins an. Er ging zur Tür, zögerte dort. Du musst es tun, sagte er sich. Du hast keine Wahl.

Erfüllt von siedendem Zorn und einer wachsenden, hilflosen Besorgnis, riss er die Tür auf und schritt den Korridor entlang zum Aquarium. Je weiter er kam, desto mehr wurde sein Zorn von Angst verdrängt.

Der Herr ist mein Hirte, betete er stumm. Mir wird nichts mangeln …

Als er das Aquarium erreichte, hatte er den Psalm ein Dutzend Male wiederholt.

Der Hauptmann und ein halbes Dutzend seiner Leute warteten auf ihn. Auch Sheena war da, kauerte am Boden neben dem Tank und kaute auf Selleriestängeln. Sie erhob sich auf alle viere und kam Grant entgegen.

»Hallo, Sheena«, sagte er mit gepresster Stimme.

»Grant schwimmen«, flüsterte der Gorilla mit heiserer Stimme. »Grant Fisch.«

Er schluckte.

Der Hauptmann der Wache kam heran. »Wir verspäten uns.«

»Tut mir Leid«, murmelte Grant. Er zog die Mokassins aus, dann öffnete er den Reißverschluss seines Overalls.

Einer der Wachmänner pfiff durch die Zähne, als Grant aus seinen Kleidern stieg. »Hübsche Beine.«

Die anderen lachten.

»Dann lasst uns anfangen«, sagte der Hauptmann.

»Einen Moment. Ich möchte …«

Sie warteten nicht. Der Hauptmann stieß ihn zum Rand des großen Tanks.

»Nein, warten Sie«, sagte Grant. Er schnaufte vor Angst. Seine Augen waren groß, der Blick irrte umher.

Sheena kam zu ihm und ergriff Grants rechten Arm; sie gab Acht, ihn nicht zu verletzen, aber ihr Griff war trotzdem schmerzhaft. Zwei der Wachen hielten seinen linken Arm, während ein Dritter ihn um die Mitte fasste und ein Vierter seine bloßen Füße vom Boden hob, sodass er keine Hebelwirkung für sein wildes Zappeln bekommen konnte.

Keiner der Männer sagte ein Wort.

Grant hörte sein eigenes, verzweifeltes, panisches Keuchen, das Scharren der Stiefel auf dem kalten Metall des Bodens, das angestrengte Atmen der Wachen, die ihn festhielten.

Dann umfasste der Kapitän der Wache Grants kahlen Kopf mit seinen großen, fleischigen Händen und stieß ihn mit dem Gesicht voran in den Tank mit dickflüssiger, öliger Lösung.

Grant drückte die Augen zu und hielt den Atem an, bis seine Brust sich anfühlte, als müsse sie bersten. Er brannte innerlich, erstickte, ertrank. Der Schmerz war unerträglich. Er konnte nicht atmen, wagte nicht zu atmen. Ganz gleich, was sie ihm erzählt hatten, er wusste auf der tiefsten, primitivsten Ebene seines Wesens, dass ihn dies umbringen würde.

Aber der Reflex überwältigte seinen Verstand. Gegen seinen Willen und trotz des Schreckens holte er Atem. Und würgte. Er wollte schreien, um Hilfe oder Gnade bitten. Seine Lunge füllte sich mit der kalten Flüssigkeit, und sein ganzer Körper verkrampfte sich, zitterte mit der letzten Hoffnung auf Leben, als sie seinen nackten Körper mit einem letzten erbarmungslosen Stoß ganz in den Tank warfen und er hinabsank, tiefer und tiefer.

Er öffnete die Augen. Unten waren Lichter. Er atmete! Hustend, würgend, von unbeherrschbaren Krämpfen geschüttelt, aber er atmete. Die Flüssigkeit füllte seine Lunge, und er konnte sie atmen. Genau wie normale Luft, hatten sie ihm gesagt. Eine Lüge. Das flüssige Perfluorcarbon war kalt und dick, völlig fremdartig, schleimig und scheußlich.

Aber er konnte atmen. Er sank den Lichtern entgegen. Blinzelte in ihren grellen Schein und sah schließlich, dass dort unten andere nackte und haarlose Körper auf ihn warteten.

»Willkommen in der Mannschaft«, dröhnte eine sarkastische Stimme in seinen Ohren, tief, langsam und widerhallend.

Eine andere Stimme, nicht so laut, aber noch tiefer, ein wahrer Basso profundo, sagte: »Gut, bereiten wir ihn für den Eingriff vor.«

Sie schnallten ihn auf den Operationstisch.

»Herrgott«, rumpelte eine ärgerliche Stimme, »Sie sollten sich enthaaren.«

Grant versuchte zu sagen, dass er es so gut gemacht habe wie er konnte, aber er würgte nur.

»Wir werden ihn rasieren müssen, verdammt noch mal.«

»Her mit dem Rasenmäher.«

Jemand drückte Grant eine Maske aufs Gesicht, und er sank rasch und dankbar in Bewusstlosigkeit.


* * *

Als er erwachte, lag er auf dem Rücken in einem schmalen Alkoven, eingeschlossen von dünnen Plastikvorhängen. Die Krankenstation, dachte er. Medizinische Monitore summten und piepten leise irgendwo über seinem Kopf.

Ich atme Luft!

Der chirurgische Eingriff hat nicht geklappt, war sein erster Gedanke. Die Mission bleibt mir erspart. Er wollte lachen, aber Enttäuschung und Scham überspülten sein Gefühl von Erleichterung.

Seine Beine schmerzten. Den Kopf zu heben, erforderte einige Anstrengung, doch als es ihm gelang, sah er, dass er ein weites grünes Krankenhaus-Nachthemd trug, das zwei Handbreit über den Knien endete — und dass die Außenseiten seiner Beine mit Metallelektroden besetzt waren.

Das Fleisch um diese nietenähnlichen Metallköpfe war rot, entzündet und gekräuselt.

Mit zitternden Händen fasste er sich an den Hals. Hinter den Ohren waren Plastikanschlüsse für die Schläuche der intravenösen Ernährung eingesetzt. Sie waren kaum größer als Centmünzen, aber sie zu berühren, ließ ihn erschauern. Es war ein übles Gefühl, diese Anschlüsse zu betasten, denn er wusste, dass sie unter seiner Haut in die Halsadern führten.

»Wie fühlen Sie sich, mein Freund?«

Grant wandte ein wenig den Kopf und sah Muzorawa neben seinem Bett sitzen. Zeb lächelte vorsichtig, wie ein Mann, der auf gute Nachricht hofft.

»Etwas schwindlig«, sagte Grant und ließ den Kopf aufs Kissen zurücksinken.

»Das ist normal.« Muzorawa zeigte zu den Monitoren über Grants Kopf und sagte: »Ihr Zustand scheint recht gut zu sein.«

»Wie lange war ich ohnmächtig?«

»Ungefähr sechs Stunden, glaube ich.«

»Und die ganze Zeit saßen Sie hier?«

Muzorawa schmunzelte. »Nein, wir wechselten ab. Ich kam erst vor ein paar Minuten. Wären Sie früher erwacht, hätten Sie an meiner Stelle Lane gesehen.«

»Oh.«

»Der Eingriff verlief glatt«, sagte Muzorawa. »Sie waren ein ausgezeichneter Patient.«

»Das ist gut, nehme ich an.«

»Besser als Sie wissen.« Dann verlor sich Muzorawas Lächeln. »Während Sie in Narkose waren, bekamen wir Irenes Autopsiebericht.«

»Was ging daraus hervor?«

»Sie hatte eine schwere Ladung Amphetamine im Blut.«

»Was?« Trotz seines Schwindelgefühls richtete Grant sich zu sitzender Haltung auf.

Muzorawa hob die Hände und ließ sie wieder auf die Schenkel fallen. »Anscheinend wirkten diese Amphetamine in der Hochdruckumgebung stärker als normal auf das Zentralnervensystem.«

»Und das verursachte ihren Herzinfarkt?« Grant konnte es nicht glauben.

Muzorawa nickte.

»Aber weshalb hat sie das Zeug genommen?«, fragte Grant.

»Vielleicht, um ihre Angst zu beherrschen. Oder ihre Reaktionsfähigkeit und Wachsamkeit zu erhöhen …« Seine Stimme verlor sich in Schweigen.

»Sie glauben das nicht, wie?«

Muzorawa schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe nie gewusst, dass Irene Drogen irgendwelcher Art nahm. Ganz gewiss keine Kokainderivate.«

»Sie bekam etwas von Red Devlin«, erinnerte sich Grant.

»Wann?«

»Mehrere Tage bevor Sie in den Tank eintauchten. Muntermacher, nannte er die Pillen, glaube ich.«

Muzorawa runzelte die Stirn. »Ich werde mit Devlin sprechen. Aber ich kann nicht glauben, dass Irene Speed oder etwas Ähnliches nehmen würde, schon gar nicht während der Mission. Sie wusste es besser.«

»Aber vielleicht … wenn sie sich fürchtete …«

»Es hätte ihr ganz und gar nicht ähnlich gesehen.«

»Wie soll es dann in ihr Blut gekommen sein?«

Muzorawa beugte sich näher zum Bett. »Vielleicht wurden ihr die Amphetamine ohne ihr Wissen beigebracht.«

»Sie meinen, jemand hätte ihr das Zeug ins Essen getan?«

»Oder in ihr Getränk.«

»Aber wer würde das tun?«

»Ein Zelot.«

»Devlin? Ein Zelot?« Grant hätte beinahe gelacht.

»Vielleicht.«

»Nein«, erwiderte Grant. »Ausgeschlossen. Woher sollte er wissen, wie das Zeug auf Irene wirken würde, wenn sie in der Tauchsonde war? Wie sollte irgendjemand es wissen?«

Muzorawa schüttelte sehr ernst den Kopf. »Mein Freund, Sie nehmen an, dass die Zeloten allesamt unwissende, irrationale Dummköpfe seien. Das ist falsch. Ein Mensch kann intelligent und sehr gebildet und trotzdem ein religiöser Fanatiker sein.«

»Es konnte nicht Devlin sein«, murmelte Grant, mehr zu sich selbst als zu Muzorawa. »Er … er ist bloß ein besserer Koch.«

»Er ist ein höchst einfallsreicher Mann«, sagte Muzorawa. »Sehr tüchtig, in seiner Weise.«

»Aber er ist kein Zelot. Er ist ein Typ, der fünf gerade sein lässt. Er kann es nicht gewesen sein.«

»Warum nicht? Glauben Sie, alle Zeloten seien wild blickende Hysteriker? Ein Mann mag lächeln und doch ein Schurke sein, wie Shakespeare sagte.«

»Aber … Devlin?« Grant blickte in Muzorawas wachsame dunkle Augen. »Glauben Sie nicht, dass es wahrscheinlicher wäre, wenn einer von uns dahinter steckte? Einer von der Besatzung?«

»Nein, ganz sicher nicht. Das wäre wie Selbstmord.«

»Aber einem Zeloten würde es nichts ausmachen, sein Leben hinzugeben, wenn er damit sein Ziel erreichte. Oder ihres.«

»Ich kann nicht glauben, dass es Egon oder Lane war.«

»Was ist mit Krebs?«

»Krebs?«

»Sie ist unheimlich, Zeb. Ich denke, dass sie vielleicht verrückt ist.«

Muzorawa dachte eine Weile nach. Dann sagte er mit gedämpfter Stimme: »Wenn es tatsächlich Krebs war, dann sind wir alle zum Untergang verurteilt.«

12. TRAINING

Der Chirurg, der Grant die Biochips und Elektroden implantiert hatte, war ein glattgesichtiger, scharfzüngiger Zuchtmeister: jung, nicht viel älter als Grant, offensichtlich begabt und sich seiner Talente bewusst, ungeduldig mit seinem knapp bemessenen Personal, seiner Dienstpflicht, den Einrichtungen der Station und insbesondere seinen Patienten.

»Sie können nicht ewig im Bett bleiben«, erklärte der Chirurg, kaum dass er den Plastikvorhang auf der Seite von Grants Alkoven zurückgezogen hatte. Zwei weitere Ärzte standen in respektvoller Distanz hinter ihm und sahen zu. »Dr. Wo will Sie auf den Beinen sehen. Jetzt.«

Mit einiger Beklommenheit hob Grant die Beine und schwenkte sie vom Bett. Sie fühlten sich wie Holzstücke an, als gehörten sie nicht zu ihm.

»Lassen Sie das Bett los!«, verlangte der Chirurg. »Stehen Sie auf ihren eigenen Beinen!«

Grant versuchte es und stand leicht schwankend da. Ihm war, als müsse er jede Sekunde umfallen. Der Chirurg musterte ihn finster, die Fäuste in die Hüften gestemmt. Die beiden anderen Ärzte sahen schweigend zu.

»Gut, nun gehen Sie auf mich zu«, sagte der Chirurg und streckte die Hände aus.

Grant tat einen zögernden, unbeholfenen Schritt. Seine Beine schmerzten; ein Stechen ging von den Implantaten aus.

Der Chirurg ging rückwärts und winkte ihn voran. »Kommen Sie, nur zu!«

Grant setzte den anderen Fuß nach vorn. Es war wie das Vorziehen eines toten Gewichts, aber eines toten Gewichts, das vor Schmerz brannte.

»Nun los, gehen Sie schon, verdammt!«, schrie der Chirurg. Die Ärzte hinter ihm zogen sich zurück, blieben auf Distanz von ihrem Chef.

Grant zwang sich zu einem weiteren Schritt, dann strauchelte er. Er streckte die Hand instinktiv nach dem Chirurgen aus, konnte aber nur dessen Ärmel zu fassen bekommen, als er stürzte und schmerzhaft hinschlug.

»Gott im Himmel!«, jaulte der Chirurg. »Reißt mir der Kerl doch den Ärmel aus dem Hemd!«

Er kehrte Grant den Rücken und stapfte zornig davon. Seine Assistenzärzte eilten ihm nach. Grant blieb allein am Boden liegend zurück.

»Der ungeschickteste verdammte Trottel, der mir je untergekommen ist«, hörte er den Chirurgen laut klagen. »Tölpelhafter Kerl! Wo wird der Schlag treffen, wenn er davon hört.«

Grant zog sich langsam am Bett hoch und ließ sich keuchend vor Anstrengung auf den Rand der Matratze sinken. Seine Beine fühlten sich an, als stünden sie in Flammen. Diese verfluchten Scheißkerle haben mich zum Krüppel gemacht, sagte er sich. Ich kann nicht mehr gehen!


* * *

Stundenlang, wie ihm schien, saß Grant mit schmerzenden Beinen auf dem Krankenbett, erfüllt von der trostlosen Gewissheit, dass seine Beine ruiniert waren. Es wird mir wie Dr. Wo ergehen, sagte er sich; den Rest meines Lebens werde ich im Rollstuhl verbringen.

Er glaubte sogar, das dünne summende Winseln eines elektrischen Rollstuhls zu hören. Und als er von seinen ruinierten Beinen aufblickte, sah er Dr. Wo an den zumeist leeren Krankenbetten vorbei auf ihn zurollen.

Er zuckte zusammen. Doch als Wo näher kam, regte sich bitterer Zorn in ihm. Seine Finger krampften sich in das Bettzeug, und er setzte sich gerader aufrecht.

Er kann mich nicht einschüchtern, sagte er sich. Er macht mir keine Angst. Mag er sagen, was er will, mich kümmert es nicht …

Wo hielt fünf Meter vor Grant an und musterte ihn von oben bis unten, vom völlig kahlen Kopf zu den nutzlosen, mit Elektroden besetzten Beinen.

»Ich weiß, dass es schwierig ist, zuerst«, sagte Wo mit ruhiger, beinahe freundlicher Stimme. »Aber wir haben keine Zeit zu verlieren. Die Untersuchungskommission der IAB wird in wenig mehr als acht Tagen hier sein. Die Zheng He muss unter der Wolkendecke sein, bevor sie diese Station betritt.«

Grant schüttelte traurig den Kopf. »Ich weiß. Ich verstehe, was Sie zu tun versuchen, aber …«

»Ihre Beine sind kräftig. Sie können gehen. Es erfordert bloß ein wenig Übung, um die Nervenbahnen wiederherzustellen.«

»Ich kann nicht mal aufstehen«, sagte Grant.

»Doch, Sie können.«

»Ich hab's versucht …«

»Versuchen Sie es noch einmal«, sagte Wo im gleichen ruhigen Ton. »Versuchen Sie es mit mir.«

Der Direktor umfasste die Armlehnen seines Rollstuhls und stemmte sich empor, bis er stand. Seine Beine hatten keine Klammern, sah Grant. Dr. Wo stand, zitternd vor Anstrengung.

»Wenn ich es kann«, sagte er, und auf seiner Stirn erschienen Schweißperlen, »können Sie es auch.«

Grants Zorn war verflogen. Mit angehaltenem Atem und zusammengebissenen Zähnen ließ er die Beine vom Bett gleiten und stand auf. Die Beine schmerzten, aber er stand aufrecht.

»Gut«, sagte Wo. »Ausgezeichnet. Nun kommen Sie zu mir.«

Grant tat einen wankenden Schritt. Wo tat es ihm gleich, hielt die Arme seitwärts ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu halten. Grant trat einen weiteren Schritt vor. Seine Beine fühlten sich an, als ob sie nicht zu ihm gehörten. Er musste ihnen bewusst befehlen, dass sie sich bewegen sollten. Wo trat zittrig auf ihn zu, die Arme ausgestreckt. Grant ging, langsam und zögernd. Er kam sich vor wie der von den Toten auferweckte Lazarus.

»Gut«, ermutigte ihn Wo. »Sehr gut.«

Plötzlich knickten dem Direktor die Beine ein. Als er zusammensackte, griff Grant zu, konnte ihn unter den Armen fassen und hielt ihn aufrecht.

»Danke«, keuchte Wo. »Ihre Beine sind kräftig genug, um uns beide zu halten.«

Grant lachte, und der Direktor gestattete sich ein leichtes Schmunzeln. Grant half ihm zurück in seinen Rollstuhl. Wo setzte sich dankbar, rückte ein wenig herum, um es sich bequem zu machen. Grant stand vor ihm und fühlte sich etwas wacklig auf den Beinen, wusste aber jetzt, dass er kein Krüppel sein würde. Sogar der Schmerz schien nachgelassen zu haben.

»Sehr gut, Mr. Archer«, sagte Wo und nickte zu ihm auf. »Melden Sie sich sofort zum Intensivtraining. Die Zheng He wird in drei Tagen starten.«

Damit drehte Wo den Rollstuhl auf der Stelle und rollte aus der Krankenstation. Grant blieb verblüfft zurück und wusste nicht, ob er zornig oder dankbar sein sollte.


* * *

Den Rest des Tages arbeiteten Lane, Egon und Muzorawa abwechselnd mit Grant und halfen ihm, wieder gehen zu lernen.

»Sie müssen die Nervenbahnen wiederherstellen«, erläuterte Karlstad, als Grant an seiner Schulter hing und langsam die Reihe der Krankenbetten entlangging. Nur zwei waren belegt. Einer der Patienten war ein Ingenieur, der bei einem Arbeitsunfall Schwefeldioxid eingeatmet hatte. Der andere war ein Verwaltungsangestellter der Station, der wegen Alkoholismus behandelt wurde.

»Sie müssen die Beinnerven, die mit dem Zentralnervensystem im Rückgrat verbunden sind, dazu bringen, dass sie wieder miteinander sprechen«, präzisierte Karlstad. »Es dauert einen Tag oder so.«

»Wir haben nicht einen Tag oder so«, murmelte Grant. Er schwitzte vor Anstrengung bei dem Versuch, normal zu gehen. »Wo möchte in drei Tagen starten.«

Karlstad zuckte die Achseln. »Na ja, wenn Sie erst in der Suppe untergetaucht sind, brauchen Sie eigentlich nicht mehr gehen können.«

Auch Lane half ihm, obwohl es Grant beunruhigte, sich an ihr festzuhalten, wenn sie zusammen gingen. Er schloss die Augen und versuchte sich Marjorie vorzustellen, aber Lanes subtiles Parfüm ließ das Vorstellungsbild seiner Frau immer wieder verschwimmen.

Muzorawa arbeitete die ganze Nacht mit ihm durch, hilfsbereit, geduldig, ohne hohe Ansprüche. Er war kräftig genug, um Grant zu heben und ihn durch den Hauptkorridor der Krankenstation zu tragen, wenn es sein musste, aber er bot ihm nur so viel Hilfe an, wie benötigt wurde, nicht mehr.

»Es ist hart«, sagte Grant, als er wieder einmal die Reihe der Betten entlanghinkte. Er ging jetzt aus eigener Kraft, ungestützt. Die Schmerzen, die er fühlte, waren fast ganz psychosomatisch, versicherte ihm das medizinische Personal; er mache gute Fortschritte.

»Natürlich ist es hart«, sagte Muzorawa, der langsam neben ihm ging. »Sie müssen wieder gehen lernen. Wir alle mussten es.«

»Mit mir geht es ziemlich langsam, wie?«

»Sie sind wie der Tausendfüßler in der alten Geschichte.«

»Tausendfüßler?«

»Eines der Tiere im Wald fragt den Tausendfüßler, wie er all diese Füße beherrschen kann. Und der Tausendfüßler antwortet, dass es eigentlich ganz einfach ist. Aber als er erklärt, wie er es macht, und anfängt, darüber nachzudenken, wie er seine tausend kleinen Füße beherrscht, gerät er so in Verwirrung, dass er gar nicht mehr gehen kann.«

Grant nickte. »Ja, richtig, ich erinnere mich vom Kindergarten daran.«

»Wir alle haben so früh im Leben gehen gelernt, dass wir es für selbstverständlich halten. Wenn wir gezwungen sind, es noch einmal zu lernen, sehen wir erst, wie viel Anstrengung es erfordert.«

Grant stolperte und suchte Halt an einem der leeren Krankenbetten.

»Vierbeinern braucht man nicht beizubringen, wie sie gehen müssen«, sagte Muzorawa, als Grant sich gefangen hatte und weiterging. »Menschliche Säuglinge kriechen ganz natürlich auf allen vieren. Aber sie müssen lernen, wie sie auf ihren zwei Füßen gehen; ich glaube, das ist ein Zeichen, dass auch wir uns aus vierbeinigen Lebewesen entwickelt haben.«

»Glauben Sie das wirklich?«, fragte Grant.

»Ich bin kein Biologe, aber ja, ich glaube, dass es sich so verhält.«

»Sie glauben an Darwins Evolutionstheorie?«

»Beleidigt Sie das?«

»Nein«, antwortete Grant wahrheitsgemäß. »Ich nehme an, dass ich selbst daran glaube. Schließlich ist die Evolution längst wissenschaftlich bewiesen.«

»Sie nehmen an, dass Sie daran glauben, obwohl Sie einräumen, dass die Evolution wissenschaftlich bewiesen ist?«, fragte Muzorawa.

Grant zog es vor, das Thema zu wechseln. »Ich wünschte, wir wären in Schwerelosigkeit.«

»Das ist die Ironie daran«, meinte Muzorawa. »Während der Dauer der Mission werden wir eingetaucht sein und schwerelos dazu. Wir werden unsere Beine nicht zum Gehen brauchen.«

»Ja, das ist eine hübsche Ironie, wenn man es bedenkt.«

Muzorawa hob die Hand wie ein Seher alter Zeiten, der im Begriff ist, eine Prophezeiung zu machen. »Aber unsere Beine werden während der Mission eine andere Funktion haben, eine weitaus wichtigere.«

Und er lächelte, als erinnere er sich an etwas sehr Angenehmes.


* * *

Grant begann zu begreifen, was Muzorawa gemeint hatte, als er sein beschleunigtes Training im Simulator begann.

Angetrieben von Dr. Wos zunehmend nervösem Drängen, stolperte Grant von der Krankenstation direkt zum Aquarium, legte einen Tauchanzug mit Gesichtsmaske an und gesellte sich zu Zeb, Lane und Egon im Simulationstank — unter Krebs' unerbittlichem Kommando.

Wenn Sie eine Zelotin ist, dachte Grant, als er sich durch die Manöversimulationen des ersten Tages tastete, weiß sie es sehr gut zu verbergen. Sie benimmt sich, als sei diese Mission ihr persönliches Anliegen.

Vielleicht ist es so, antwortete eine innere Stimme. Wenn sie sich im Jenseits eine Belohnung dafür erhofft, dass sie uns alle zerstört, dann gibt es keine bessere Methode als die absolute Befehlsgewalt über die Mission …

Sehr bald aber war Grant viel zu beschäftigt, um an Krebs' wahre Loyalität auch nur zu denken. Erbarmungslos trieb sie die Besatzung durch die Simulationsprogramme, angefangen mit der Abkoppelung von der Station bis zum Eintritt in die Jupiteratmosphäre.

»Hören Sie auf zu jammern! Wenn wir in diese Wolkenhülle eintauchen, werden Sie gar keine Zeit zur Entspannung haben«, fauchte Krebs sie an.

Während der ersten Simulationsphase arbeiteten sie mit den manuellen Steuerungselementen. Als das endlich überstanden war, erklärte Dr. Wo von seinem Posten in der Befehlszentrale: »Morgen werden Sie eintauchen und in Zheng He anstelle des Simulators arbeiten.«

»Bedeutet das, dass wir gut gearbeitet haben?«, fragte Grant aus seiner Gesichtsmaske.

Muzorawa lächelte und machte das Zeichen mit erhobenem Daumen. Aber Krebs sagte verdrießlich: »Es bedeutet, dass wir uns an den beschleunigten Zeitplan halten müssen, ohne Rücksicht darauf, wie schwach Ihre Leistung war.«


* * *

Das Eintauchen ängstigte Grant von Neuem, aber wenigstens konnte er sich diesmal ohne den Zwang und die Gewaltsamkeit der Sicherheitsbeamten damit auseinander setzen.

Ihm war kalt, als er mit den anderen im Zugangstunnel stand, bekleidet nur mit einem dünnen Turnanzug. Wir könnten genauso gut nackt sein, dachte er. Diese Turnanzüge verhüllen nichts. Er musste sich zwingen, den Blick von O'Haras Brüsten abzuwenden und die gekrümmte blanke Metallwand des Tunnels anzustarren.

Muzorawa ging zuerst durch die Luftschleuse, dann Lane. Das flaue Gefühl in Grants Magen verstärkte sich zu Übelkeit. Seine Beine schmerzten noch immer; wahrscheinlich würden sie es bis zu seinem Lebensende tun, wenn Karlstad und die anderen Recht hatten. Finde dich damit ab, dachte er bei sich. Es ist ein Kreuz, das du wirst tragen müssen. Er blickte zu Karlstad und sah, dass der genauso nervös und ängstlich war wie er selbst.

Die Luke zur Schleusenkammer öffnete sich. Nun war er an der Reihe. Grant zog sie weit genug auf, um in die leere, sargähnliche Schleuse zu steigen. Er bediente den Mechanismus, der die Luke schloss und versiegelte. Nun kam es darauf an, ruhig zu bleiben. »Der Herr ist meine Zuflucht und meine Stärke«, betete er.

Nur eine einzige, in die Decke eingelassene Fluoreszenzlampe beleuchtete die Schleusenkammer und die Kontrollleuchten an der Schalttafel. Die ölige Flüssigkeit begann in die luftdichte Kammer zu strömen, kalt wie der Tod. Grant biss die Zähne zusammen und presste beide Hände gegen die kalten Metallwände.

»Vater unser, der du bist im Himmel …«

Seine Füße hoben sich vom Boden, sein Kopf stieß an die Decke. Durch die dicke, schleimige Flüssigkeit konnte er die winzigen Kontrollleuchten an der Schalttafel erkennen, eine Reihe schwach glimmender grüner Punkte.

Die Flüssigkeit erreichte seine Achselhöhlen, seine Schultern, sein Kinn. Er presste die Lippen zusammen, als das kalte, haftende Perfluorcarbon über seinen Mund stieg. Er war in diesem Metallsarg gefangen, fror erbärmlich, ertrank in der schleimigen, fremdartigen Flüssigkeit. Seine Lungen brannten. Er musste atmen. Es geht schon, tadelte er sich. Hör auf, dich zu wehren, und lass es geschehen.

Er schloss die Augen und versuchte zu atmen. Und würgte. Seine Brust schmerzte, sein ganzer Körper verkrampfte sich. Der Schmerz in seiner Brust wurde unerträglich. Ich kann nicht atmen!, schrie er lautlos.

Und doch atmete er.

Hustend, spuckend, von reflexhaften Krämpfen geschüttelt, versuchte Grant seine Panik zu unterdrücken. Es beginnt mit dem Verstand. Du weißt, was geschieht; du verstehst den Prozess. Entspann dich. Nimm es hin. Hol tief Atem und nimm auf dich, was immer Gott dir zu ertragen aufgegeben hat.

Die Krämpfe nahmen ab, hörten ganz auf. Er konnte atmen, ohne zu würgen, ohne zu husten. Vorsichtig atmete er versuchsweise durch. Das Perfluorcarbon fühlte sich noch immer bitterkalt an, und nun durchflutete es seine Lungen, seinen Körper. Aber er konnte es atmen ohne zu ersticken. Noch immer empfand er Unbehagen, sogar Schmerz, aber die Furcht war gebannt.

»Wollen Sie den ganzen Tag da drinnen bleiben?«

Grant erkannte Krebs' Stimme kaum; in seiner neuen, untergetauchten Welt klangen ihre Worte wie das tiefe, dröhnende Donnern einer Stimme aus dem Jenseits.

»Ich öffne jetzt die innere Luke«, antwortete er. Die eigene Stimme klang seltsam tief und undeutlich in seinen Ohren.

Er schwebte durch einen weiteren langen, engen Zugangstunnel, berührte die gekrümmten Wände mit den Fingerspitzen und machte leichte Schwimmbewegungen mit den Füßen. Er schwamm tatsächlich. Dr. Wo hatte gesagt, er würde die Beine nicht brauchen, wenn er in der Tauchsonde wäre, aber das stimmte nicht ganz.

Die Brücke der Tauchsonde schien größer als sie ausgesehen hatte, als Grant die Besatzung von der Kontrollzentrale aus beobachtet hatte. O'Hara und Muzorawa schwebten mit einer gewissen leichten Eleganz im Innenraum.

»Willkommen an Bord«, sagte Lane mit breitem Lächeln. Auch ihre Stimme klang tiefer, verlangsamt wie eine Aufzeichnung, die mit verringerter Geschwindigkeit abgespielt wird.

Grant versuchte ihr Lächeln zu erwidern, brachte aber nicht viel mehr als ein nervöses Zucken der Lippen zustande.

»Ich glaube, ihr Christen habt eine Zeremonie des Eintauchens«, sagte Muzorawa. Seine Stimme klang endlich tief genug, sodass sie zu seiner Erscheinung passte.

»Ja, die Taufe«, sagte Grant.

»Einige Ihrer Sekten schreiben sogar ein vollständiges Untertauchen vor, um die Wiedergeburt zu symbolisieren?«

»Das ist richtig«, antwortete Grant.

»Ich verstehe«, sagte O'Hara und brachte es fertig, in der kalten Suppe tatsächlich zu lachen. »Wir sind Wiedergeborene.«

Muzorawa nickte. »In eine neue Welt.«

Für einen Moment dachte Grant, dass sie ihn aufzogen, sich über eine Art Religion lustig machten, an die keiner von ihnen glaubte. Aber dann erkannte er, dass sie wenigstens zum Teil, wenn nicht ganz ernsthaft waren. Wir sind in eine neue Welt geboren, sagte er sich. In Vorbereitung dieser Mission haben wir uns einem Eintauchritual unterzogen.

Die Politiker wollten diese Mission verhindern, die Glaubenseiferer würden vielleicht nicht einmal vor der Zerstörung der Tauchsonde zurückschrecken. Aber vielleicht verrichtete die Besatzung dieser Tauchsonde in Wirklichkeit ein gottgefälliges Werk. Vielleicht war es ihr bestimmt, den Jupiter zu erforschen und zu entdecken, was unter dieser dichten Wolkenatmosphäre lebte.

Der Gedanke traf Grant mit der Wucht eines körperlichen Schlages. Konnte dies Gottes Wille sein? Teil Seines Planes für die Menschheit?

»In Ordnung, ich bin hier«, verkündete Karlstad und zerbrach Grants Gedankengang. »Wir sind zu viert; laden wir den Computer, dann können wir Bridge spielen.«

O'Hara sagte: »Wir werden nicht Bridge spielen, Egon. Wir werden arbeiten.«

»Allzu wahr«, räumte Karlstad ein.

Ihr unernstes Geplänkel endete, als Krebs zu ihnen stieß. Sie sorgte dafür, dass jeder schnell an seinem Posten stand, Seite an Seite entlang den Konsolen der Brücke, die Füße in den Bodenschlaufen verankert. Grant wurden die Antriebs- und Energiesysteme zugewiesen, die er schon von der Befehlszentrale kannte.

»Heute simulieren wir die Aktivierung der Bordsysteme, die Trennung von der Station und den Eintritt in die Jupiteratmosphäre«, sagte Krebs, als hätten sie den Plan nicht längst mehrmals durchgespielt. »Keines der Bordsysteme wird tatsächlich eingeschaltet. Dies ist nur eine Simulation.«

Grant nickte. Der für Simulationen zuständige Computer der Station würde alles abwickeln, ganz gleich, welche verrückten Notfälle Dr. Wo erfand, um sie damit zu überraschen, es war alles virtuell.

Aber das würde sich bald ändern.

13. ANGESCHLOSSEN

Krebs drillte sie erbarmungslos. Alle vier Besatzungsmitglieder verbrachten den ganzen Tag auf der Brücke und simulierten die ersten Phasen ihrer Mission immer wieder, bis ihre Bewegungen beinahe wie Reflexhandlungen wurden.

Grant stand mit O'Hara auf einer und Muzorawa auf der anderen Seite an seiner Konsole und war überzeugt, dass er die Generatoren und Antriebseinheiten der Tauchsonde mit geschlossenen Augen in Betrieb setzen und die Trennung von der Station und das Eintauchen in die Jupiteratmosphäre bewerkstelligen könne. Sogar im Schlaf.

Trotzdem ließ Krebs sie alle Schritte immer wieder ausführen. Es war der einzige Teil der Mission, der simuliert werden konnte. Niemand wusste, was zu erwarten war, sobald sie die dichte Wolkenatmosphäre durchstoßen hatten und in den Ozean eintauchen würden.

Dr. Wo veränderte immer wieder den Innendruck der Tauchsonde, erhöhte ihn bis zum höchsten, konstruktiv vorgesehenen Wert und ließ ihn dann wieder absinken. Grant hätte nie gedacht, dass seine Ohren unter Wasser knacken könnten, aber sie taten es mehr als einmal.

»Er will sehen, ob die Druckveränderungen sich nachteilig auf uns auswirken«, verriet Karlstad.

»Mich stören sie«, gab Grant zu. »Die Druckveränderungen hinauf und hinunter sind verdammt unangenehm.«

Krebs hatte ihnen beiden eine kurze Essenspause zugebilligt. Die Mahlzeiten an Bord der Zheng He bestanden darin, dass man zum Automaten an der Rückseite des Brückenraumes schwamm und einen der dort hängenden Plastikschläuche an das Ventil der intravenösen Eingangsöffnung anschloss. Grant schauderte es beim bloßen Gedanken daran, aber es schmerzte nicht und hatte den Vorteil, dass der Nährwert einer vollen Mahlzeit in nur wenigen Minuten dem Körper zugeführt wurde. Kein Kauen, kein Verdauen; die Nahrung war bereits verflüssigt und konnte vom Blutkreislauf in den Körper verteilt werden.

»Wahrscheinlich will unser verehrter Direktor feststellen, ob die Druckveränderungen etwas mit Irenes Herzanfall zu tun hatten«, bemerkte Karlstad.

»Ich dachte, das hätten die Amphetamine besorgt.«

»Unter normalen Bedingungen hätte die Dosis, die sie nahm, nicht zum Tode geführt.«

»Es war doch von einer sehr hohen Dosis die Rede«, sagte Grant.

»Nicht so hoch … unter normalen Bedingungen wäre sie nicht tödlich gewesen.«

»Aber sie hätte Irene desorientiert, nicht wahr? Sie dienstunfähig gemacht?«

Karlstad setzte zur Antwort an, zögerte und fragte dann: »Glauben Sie, dass Irene versuchte, aus der Mission auszusteigen …«

Die Signalglocke des Automaten ertönte — ziemlich dumpf in der Hochdruckflüssigkeit, die sie atmeten, und die Kontrollleuchte wurde rot.

»Ihr Abendessen ist beendet«, sagte Karlstad unnötigerweise. »Wünschen Sie eine Nachspeise?«

Mit einer Grimasse zog Grant den dünnen Plastikschlauch aus der Ventilfassung in seinem Hals. »Nachspeise ist inklusive«, sagte er in einem Versuch zur Munterkeit. »Keine Extraberechnung.«

»Hören Sie auf mit dem Geplapper und gehen Sie wieder an Ihre Plätze«, knurrte Krebs.


* * *

Als die lange, anstrengende Simulation endlich zu Ende war, entließ Krebs nur O'Hara und Karlstad. Grant und Muzorawa blieben auf ihren Posten, während die beiden anderen ihre Kojen aufsuchten. Krebs selbst blieb auf der Brücke.

Grant fragte sich, ob sie jemals schlief.

Bald begann er sich zu fragen, ob Krebs ihn jemals schlafen ließ. Die Simulationen waren beendet, soweit er sehen konnte. In ihrer virtuellen Realität sanken sie durch die immer dichteren Schichten der Jupiteratmosphäre abwärts, bis die atmosphärischen Gase durch die enorme Schwerkraft des Planeten zum flüssigen Zustand komprimiert wurden. Da sie wenig über die Bedingungen unter der Atmosphäre wussten, gab es wenig zu simulieren — es sei denn, Wo überraschte sie mit irgendwelchen Fehlfunktionen und Defekten.

Stattdessen verstrichen die Stunden so ereignislos, dass Grant gegen Langeweile ankämpfen musste. Seltsamerweise verspürte er kein Bedürfnis zu gähnen, wie es unter normalen Umständen der Fall sein würde. Vielleicht unterdrückte das Atmen dieser Brühe den Gähnreflex.

Endlich kehrten Karlstad und O'Hara zur Brücke zurück.

»Muzorawa und Archer in die Kojen«, befahl Krebs unnötigerweise. Grant schwebte bereits zu der Luke, die zum Schlafbereich führte, der ungefähr die Größe eines Schrankes hatte. Karlstad nannte ihn »die Katakomben.«

Dann fügte Krebs hinzu: »Wenn Sie zurückkommen, werden wir uns mit den Bordsystemen verbinden.«

Grant war zu müde, um sich Gedanken darüber zu machen. Er wollte nur seine vier Stunden Schlaf. Aber dann sah er Lanes Gesichtsausdruck: sie strahlte in erwartungsvoller Vorfreude.


* * *

Der Schlaf stellte sich nicht leicht ein. Sobald er die Augen schloss, wurde Grant von Neuem bewusst, dass er in diese kalte, dicke Flüssigkeit eingetaucht war und sie in seine Lungen sog, dass er sich in einer vollständig unnatürlichen Umgebung befand, so fehl am Platz wie ein Fisch auf einem Berggipfel. Die Furcht, die zurückgedrängt worden war, solange er mit den anderen auf der Brücke Dienst getan hatte, drängte sich wieder an die Oberfläche seines Bewusstseins. Seine Brust hob und senkte sich mühsam atmend, seine schmerzenden Beine zuckten mit dem kaum unterdrückten Drang zu rennen, zu fliehen, einen sicheren Ort zu finden, eine Zuflucht, wo er sich verstecken und wirkliche Luft atmen und die Sonnenwärme im Gesicht fühlen konnte.

Er öffnete die Augen, und sogar in der Dunkelheit seiner abgeschirmten Koje sah er, dass er in einem metallenen Fach lag, wie es im Leichenschauhaus zur Aufbewahrung der Toten verwendet wurde, einem Sarg, der ihn mit seiner Enge von allen Seiten bedrängte. Und außerhalb dieser Krypta, jenseits ihrer Metallschalen herrschte ein ungeheurer, unermesslicher Druck, der unerbittlich bestrebt war, die Tauchsonde und ihn zu zermalmen.

Grants Herz flatterte in der Brust wie ein gefangener Vogel; er glaubte jeden Nerv in seinem Körper zu fühlen, der ihm sagte, er müsse fliehen, hinaus aus dieser Todesfalle.

Er versuchte zu beten. Er versuchte in seiner Vorstellung ein Bild von Marjorie zu beschwören, Erinnerungen an ihre gemeinsame Zeit, an jene kurzen Augenblicke, als sie die Wärme ihrer Körper gefühlt hatten, auf einer Welt, wo der Himmel blau war, wo es Bäume und Gras und singende Vögel gab.

Nichts half. Er war in diesem Metallsarg gefangen, atmete einen grässlichen fremdartigen Schleim, eine Milliarde Kilometer von daheim, von Marjorie, seinen Eltern, von der Sicherheit. Selbst Gott hatte ihn vergessen. Er war allein und verlassen.

Dennoch musste er eingeschlafen sein, denn er fand sich umringt von Ungeheuern, unbestimmten dunklen Gestalten, die knurrten und grollten und ihn in einer Welt von Schatten und Bedrohungen verfolgten. Eine davon ähnelte einem Gorilla, nur war sie viel größer und ragte über ihm auf wie ein Berg. Ihr tiefes, bedrohliches Grollen vibrierte in Grants Schädel.

Er riss die Augen auf. Das grollende Geräusch war der Wecker, dessen normales Signal in der Flüssigkeit seltsam verfremdet klang. Die Schlafenszeit war um. Zeit, an die Arbeit zurückzukehren.

Grant glitt aus der Koje; es gab keinen Platz, wo er stehen konnte, außer in dem schmalen Gemeinschaftsbereich außerhalb der Kojen. Seine Füße lösten sich bei jeder Bewegung vom Boden. Er fand, dass es keinen Sinn hatte, den Turnanzug zu wechseln oder zur Toilette zu gehen; das vorverdaute Zeug, das sie ihm in die Adern pumpten, erzeugte praktisch keinen Abfall.

Mit einem Gefühl wie eine der verdammten Seelen in Dantes Hölle schwamm Grant durch die Luke zurück in den Brückenraum.

Krebs war noch dort und schwebte über Karlstad und O'Hara, die an ihren Konsolen standen und ihm den Rücken zukehrten. Sie starrte Grant finster an, als hätte er etwas Unrechtes getan. Dann erkannte er, dass sie an ihm vorbei sah. Er wandte den Kopf und sah Zeb durch die Luke kommen.

Krebs starrte die beiden an, als fiele es ihr schwer, sie wiederzuerkennen. Ihr Blick ging von Muzorawas Gesicht zu Grant und wieder zurück.

»Wir melden uns zurück zum Dienst«, sagte Muzorawa.

»Ah. Dr. Muzorawa«, erwiderte Krebs, als sähe sie ihn zum ersten Mal. »Und Mr. Archer.«

»Ja, Madam«, sagte Grant.

Krebs trieb rückwärts und machte ihnen Platz, und Grant nahm seinen Posten zwischen Lane und Zeb ein. Dann sagte sie im Befehlston: »Nun werden wir uns alle mit den Bordsystemen verbinden.«

O'Hara wandte sich von ihrer Konsole ab und nickte lächelnd. Karlstad sah aus — Grant konnte seine Miene nicht deuten. Anscheinend bemühte er sich, ein gleichmütiges Gesicht zu machen, wie ein kleiner Junge, der so tut, als wisse er nicht, dass er gleich mit Weihnachtsgeschenken überschüttet wird.

Muzorawa sagte: »Bereit für die Verbindung.«

»Fangen Sie an«, sagte sie.

Grant tat es den drei anderen nach: er öffnete das schmale Fach, das in die Vorderseite seiner Konsole eingesetzt war. Ein Satz haarfeiner faseroptischer Drähte kam aus der schmalen Öffnung und trieb träge in der Perfluorcarbonflüssigkeit wie das wehende Haar einer mörderischen Medusa. Das Ende jedes Drahts war farbcodiert und passte zu den Farbmarkierungen an den Elektroden in Grants Beinen.

Aus den Augenwinkeln beobachtete er die anderen und fummelte mit den höllisch dünnen Fasern. Seine Finger schienen zu dick und ungeschickt, um mit ihnen umzugehen. Die anderen waren fertig, bevor er ein Bein angeschlossen hatte. Glücklicherweise waren die Faserenden elektrisch geladen, um sich mit bestimmten Elektroden zu verbinden; an die falsche Elektrode ließen sie sich nicht anschließen. Grant fühlte eine leichte, aber merkliche abstoßende Kraft, wie wenn er versuchte, die gleichpoligen Teile eines Magneten zusammenzubringen.

»Wir warten, Mr. Archer«, sagte Krebs, als er endlich mit einem Bein fertig war und am anderen anfing.

Endlich gelangen ihm die Anschlüsse. Er richtete sich auf und fand, dass er ein wenig einer Marionette glich, wenngleich es bei ihm und den anderen die Beine waren, an denen die Drähte hingen. Die faseroptischen Drähte an Krebs' dicken Beinen standen in Verbindung mit einer Schalttafel, die in die Decke eingelassen war.

Wenn sie nicht Acht gibt, dachte Grant, wird sie sich in diese Drähte verstricken. Die Vorstellung, wie sie sich in ihre eigenen Drähte verwickelte und um Befreiung kämpfte wie eine fette Schmeißfliege in einem Spinnennetz, brachte ihn beinahe zum Lachen.

»Sie sind erheitert, Mr. Archer?«

Grant merkte, dass er lächelte. Er war so erschrocken, dass er nicht wusste, was er tun und wie er auf den anklagenden Blick der Missionsleiterin reagieren sollte.

»Wir freuen uns alle, dass wir im Begriff sind, uns mit der Sonde zu verbinden, Kapitän«, sagte Muzorawa neben ihm.

»Wir freuen uns auf die Erfahrung«, pflichtete ihm O'Hara bei.

»Kann ich mir denken.« Krebs' zorniger Blick ging von einem zum anderen. »Und was haben Sie zu sagen?«, fragte sie Karlstad.

»Kein Wort, Madam«, erwiderte Egon. »Ich erwarte Ihren nächsten Befehl.«

Krebs murmelte etwas, zu leise als dass Grant es verstehen konnte, dann sagte sie widerwillig: »Also gut. Aktivieren Sie die Verbindungen.«

Sie streckten die Hände zu den Konsolen aus, nahmen die Plastikabdeckungen von den Schaltern, welche die Verbindungen auslösten, und betätigten sie.

Grant erwartete ein Aufbranden von Kraft, einen elektrischen Schlag, vielleicht einen Kitzel von Euphorie oder wenigstens Vergnügen. Besser als Sex, hatten sie ihm gesagt. Stattdessen fühlte er nichts. Ein leichtes Prickeln in den Beinen, als wären sie eingeschlafen. Aber das verging noch bevor er die Empfindung richtig registrierte, und es blieb — beinahe nichts.

Beinahe.

Grant stand da, ohne auf seine Kollegen zu achten, die neben ihm standen, und fühlte ein merkwürdiges Vibrieren, das durch seine Beine zu pulsieren begann. Es war anders als alles, was er je verspürt hatte. Und es beschränkte sich nicht auf seine Beine. Bald schien sein ganzer Körper zu vibrieren, innerlich zu summen wie die angezupfte Saite eines Kontrabasses. Er starrte auf seine Hände. Sie sahen ruhig aus, zitterten kein bisschen, aber innerlich hatte er das Gefühl, als zittere er wie ein Mann, der einen epileptischen Anfall nahen fühlt.

Er schloss die Augen und merkte, dass die Vibration nicht in ihm war, sondern vom Fusionsgenerator herrührte, tief im Kern der Tauchsonde, der Materie in Energie umwandelte, indem er Atomkerne miteinander verschmolz, um ihre verborgenen Kräfte freizusetzen. Die gewaltige Strahlungsenergie diente nicht nur als Antriebskraft, sondern versorgte die Tauchsonde auch mit Elektrizität für Licht, Heizung und den Betrieb aller anderen Bordsysteme. Von diesen Funktionen rührte das leichte Vibrieren her, das er fühlen konnte, nicht vom Fusionsreaktor selbst, diesem von Menschenhand gemachten Miniaturstern, dessen weißglühendes Plasma hinter mehrschichtigen Abschirmungen verborgen war. Nur im übertragenen Sinne seiner Vorstellung konnte Grant den Donner der immerwährenden Glut hören.

Es war wie Musik, wie ein Sinfonieorchester, das in seinem Geist und Körper spielte, jeden Nerv und jede Ader mit seinen Tönen durchdrang. Die elektrischen Ströme, die durch die Tauchsonde flossen, prickelten wie eine wundersame Kadenz, die kein Ende nahm.

Das Antriebssystem blieb vorerst ausgeschaltet. Grant hätte es gern gefühlt, die Verbindung mit ihm wie eine Erweiterung seiner Selbst gespürt, wenn die gebändigte Urkraft des sonnenheißen Plasmas die Triebwerke der Tauchsonde feuerte.

Undeutlich hörte er eine Stimme. Er beachtete sie nicht. Dies war ein zu großes Vergnügen, um sich durch irgendetwas davon ablenken zu lassen. Die gesamten elektrischen Versorgungssysteme waren Teil von ihm. Er war die Sonde, sie und er waren eins. Es war reine Freude. Ekstase! Wie wenn er ein Gott wäre.

»Fehlt Ihnen was?«

Er zwang sich, die Augen zu öffnen, und sah in Zebs besorgtes Gesicht.

»Nein, nein, es geht mir gut«, sagte Grant. Und das war noch zu wenig gesagt. Er hatte sich sein Leben lang noch nie so … so wohl gefühlt, so lebendig.

»Es kann ein mächtiges Gefühl sein«, bemerkte O'Hara. Grant wandte den Kopf und sah, dass auch sie ein besorgtes Gesicht machte. »Lassen Sie sich nicht davon hinreißen.«

Er nickte. Ja, Vorsicht war angezeigt. Es war ein mächtiges, überwältigendes Gefühl. Besser als Sex. Besser als Drogen. Die anderen hatten Recht. Man war bereit, seine Seele dafür zu verkaufen.

»Sind wir bereit, an die Arbeit zurückzukehren?« Krebs' säuerliche Stimme brach mit ihrer nüchternen Schärfe in Grants euphorische Stimmung ein.

»Jawohl, Kapitän«, sagte er hastig.

»Sehr gut. Nun werden wir noch einmal die Trennungs- und Zündungssimulation durchgehen.«

Aber diesmal, erkannte Grant, diesmal werden wir mit der Sonde verbunden sein. Ich werde die elektrischen Ströme fühlen, die Triebwerke zünden. Mit meinem eigenen Willen werde ich die Sonde in Bewegung setzen.

14. ABREISE

In seinem ganzen Leben hatte Grant sich niemals so mächtig und erregt gefühlt. Als Krebs die Simulationsübung beendete, wollte er nicht aufhören, wollte sich nicht von der Tauchsonde lösen. Weitermachen, nur weiter, drängte es ihn. Endlich richtig auf Antrieb gehen und starten, endlich fühlen, wie es ist, durch diese stürmische Wolkenatmosphäre und in den Jupiterozean zu tauchen …

»Ich sagte abschalten und Stecker ziehen, Mr. Archer! Jetzt!«

Krebs' scharfer Befehlston traf ihn wie ein Peitschenschlag. Mit großem Widerwillen tat Grant, was die anderen schon getan hatten: streckte die Hand zur Konsole aus und unterbrach seine Verbindung mit den Antriebs- und elektrischen Systemen.

Es kam ihm wie eine Lobotomie vor. Einen Augenblick hatte er die ganze Macht eines Miniatursterns, die ihn durchpulste, die ein Teil von ihm war, so verwoben mit seinem Bewusstsein wie seine eigene Identität. Dann, mit dem Betätigen eines Schalters, war alles fort, und er war wieder ein einsamer, schwacher, haarloser Affe, allein und isoliert vom Rest des Universums.

Er musste sich erst besinnen, bevor er bemerkte, dass die anderen schon die faseroptischen Drähte von den Elektroden in ihren Beinen abzogen. Ein dumpfer Ärger stieg in ihm auf, als er die Drähte von seinen Beinen zog, einen nach dem anderen. Die losen Enden trieben in der Perfluorcarbon-Flüssigkeit und bewegten sich sanft auf und nieder, als winkten sie ihm zu. Als er fertig war, aktivierte er die Feder, welche die Drähte in ihren schmalen Aufbewahrungsbehälter zurückzog, und schloss den Deckel.

»Die Simulation ist abgeschlossen«, sagte Krebs. »Nun werden wir alle schlafen. Wenn wir wieder den Dienst antreten, wird es keine weiteren Simulationen geben. Die Mission beginnt in fünf Stunden und vierzehn Minuten.«

Die vier Besatzungsmitglieder schwammen zurück zu ihren sargähnlichen Kojen in der Katakombe. Krebs blieb auf der Brücke und zog sich ein Kommunikationsgerät mit Kopfhörern und Mikrofon über den kahlen Schädel.

»Schläft sie überhaupt nicht?«, flüsterte Karlstad.

»Sie muss«, flüsterte Muzorawa zurück.

»Aber wann?«

Krebs war bereits in ein Gespräch vertieft, wahrscheinlich mit Dr. Wo.

»Na«, sagte O'Hara zu Grant und schenkte ihm ein Lächeln, das ein wenig gezwungen schien, »wie hat es Ihnen mit der Verbindung gefallen?«

Grant merkte, dass er außer Atem war. Es bedurfte mehrerer Versuche, bis seine Stimme ihm gehorchte. »Überwältigend«, sagte er schließlich.

»Ja, das ist es, nicht?«

»Wann verbinden wir uns so miteinander?«, warf Karlstad mit einem lüsternen Grinsen zu O'Hara ein. »Das ist es, worauf ich mich freue.«

Sie sah ihn stirnrunzelnd an. Ernsthaft wie gewöhnlich, sagte Muzorawa: »Sie müssen sich davor hüten, von der Erfahrung überwältigt zu werden. Es ist eine außerordentliche Erfahrung, das gebe ich zu, aber Sie dürfen nicht zulassen, dass sie Ihr nüchternes Urteil überwältigt.«

»Richtig«, stimmte ihm O'Hara zu. »Wir sind hier, um die Funktionen der Bordsysteme zu überwachen und zu lenken, nicht um eine neue Form von Lasterhaftigkeit zu erfinden.«

Karlstad grinste noch immer. »Nur Arbeit und kein Spiel ist nicht gut für Sie.«

Muzorawa trieb zwischen ihn und O'Hara. »Egon, die erste Mission wurde zu einem Fiasko, weil ein Mitglied der Besatzung zuließ, dass das Hochgefühl der neuralen Verbindung mit der Sonde sein nüchternes Urteil überwältigte.«

»Oder ihr Urteil«, sagte Karlstad mit einer Kopfbewegung zu Krebs, die noch immer im Brückenraum weilte, vertieft in ihre Diskussion mit Dr. Wo.


* * *

In der Katakombe gab es nicht die geringste Zurückgezogenheit, bestand sie doch nur aus einem kahlen, engen Gemeinschaftsabteil, in dem sie zu viert kaum zusammen Platz fanden. Ihre Kojen, die aufeinander gestapelten Särgen ähnelten, nahmen eine Seite davon ein, die Luke zum Brückenraum die andere.

»Ich muss mich umziehen«, sagte O'Hara und begann ihren Turnanzug auszuziehen.

Grant konnte nicht umhin, sie anzustarren. Karlstad grinste wölfisch und fragte: »Brauchen Sie Hilfe, Lane?«

»Werden Sie endlich erwachsen!«

Er zuckte die Achseln und begann seinen eigenen Turnanzug abzuschälen.

»Ja, wir sollten saubere Sachen anziehen«, meinte Muzorawa.

Grant war überrascht, dass er beim Anblick von O'Haras nacktem Körper keine körperliche Erregung fühlte. Trotzdem bekam er Herzklopfen, und sein Atem ging schneller. Sie war schlank, mit kleinen Brüsten und schmalen Hüften, dazu völlig haarlos, aber trotzdem war dies eine nackte Frau mit glatter, cremiger Haut und schönen grüngrauen Augen, die weniger als eine Armeslänge vor ihm stand. Vor allem fühlte er sich in Verlegenheit gebracht, besonders als auch Zeb und Egon ihre Turnanzüge auszogen. Keiner von beiden zeigte Zeichen von Erregung.

Wortlos kroch er in seine Koje, zog das Rollo herunter und wand sich aus seinem Turnanzug. Die frischen Kleider waren in einem Spind draußen im Gemeinschaftsraum, ebenso die Waschmaschine für die alten. Er beschloss zu warten, bis die anderen in ihren Kojen lagen und schliefen, bevor er sich wieder hinauswagte.

Er schalt sich albern und prüde. Es war nichts Sündhaftes an dem, was hier geschah. Außerdem war sein eigener Geschlechtstrieb durch den chirurgischen Eingriff praktisch eliminiert worden. Lanes Anblick war wie das Betrachten eines Aktgemäldes.

Ja, sagte seine innere Stimme, aber es hat dir Spaß gemacht, sie anzusehen. Das wichtigste Geschlechtsorgan des menschlichen Körpers ist das Gehirn, und dir hat es Vergnügen bereitet, ihren nackten Körper zu sehen. Das ist sündhaft.

Er hörte, wie O'Hara in die benachbarte Koje schlüpfte; zwischen ihnen war nichts als eine dünne Trennwand aus Kunststoff. Er stellte sich vor, wie sie sich nackt in der Koje ausstreckte. Dann kniff er die Augen zu und versuchte das Bild aus seiner Vorstellung zu vertreiben.

»Was halten Sie von ihr?«, flüsterte Karlstads Stimme vor seiner Koje.

»Von Krebs?«, fragte Muzorawas tiefere Stimme zurück.

»Richtig.«

»Was soll mit ihr sein?«

»Glauben Sie, dass sie jemals schlafen wird?«

»Selbstverständlich. Sie nimmt ihre Verantwortung sehr ernst.«

Grant erinnerte sich seines früheren Gesprächs mit Zeb, als er die Möglichkeit erwähnt hatte, dass Krebs eine selbstmörderische Zelotin sein könnte.

Karlstad fragte: »Haben Sie bemerkt, wie sie Ihnen diesen starren Fischblick zuwarf? Als ob sie nicht wüsste, mit wem sie es zu tun hat.«

»Ja, es ist seltsam«, räumte Muzorawa ein.

»Mir ist das nicht geheuer.«

»Solange sie ihre Arbeit richtig macht, haben wir keinen Grund, uns zu beklagen.«

»Sie vielleicht nicht«, erwiderte Karlstad, noch immer im Flüsterton, »aber mir gefällt es nicht. Nicht im Geringsten. Sie ist unheimlich. Ich halte sie für verrückt.«

Muzorawa schwieg mehrere Sekunden lang. Schließlich seufzte er und sagte: »Nehmen Sie eine Mütze voll Schlaf. In ungefähr fünf Stunden werden wir alle unsere Energie brauchen.«


* * *

»Verbindungen einschalten«, befahl Krebs.

Grant betätigte den Schalter, der die faseroptischen Verbindungen zu den implantierten Biochips seiner Beine aktivierte. Er schloss die Augen, als er die summende Energie des Fusionsgenerators in sich vibrieren fühlte. Sie wärmte ihn, erfüllte ihn mit Empfindungen, die er vor der Verbindung niemals gefühlt hatte. Er hatte einen flammenden, von Menschenhand gemachten Stern in sich. Die Elektrizität, die dieser Stern erzeugte, durchpulste ihn, die Verdrahtung der Tauchsonde war sein eigenes Nervensystem, die Leitungen seine Arterien und Adern.

Er fühlte die Vibrationen der Pumpen, die den Kreislauf der Perfluorcarbon-Flüssigkeit im bewohnten Teil der Tauchsonde besorgten. Jedes Licht und jede Kontrollleuchte auf den Konsolen der Brücke war wie eine Verlängerung seiner Finger. Er fühlte, wie die Sensoren der Tauchsonde aktiviert wurden und wie Scheinwerfer eines alten Leuchtturms in den Raum außerhalb des Rumpfes spähten.

Es erforderte eine konzentrierte Willensanstrengung, die Augen zu öffnen und zu erkennen, dass er vor seiner Konsole stand, die Füße verankert in den Bodenschlaufen, flankiert von Muzorawa und O'Hara, Karlstad auf O'Haras anderer Seite, während Krebs hinter ihm schwebte.

O'Hara war an der Kommunikationskonsole, deren zahlreiche kleine Bildschirme sie wie die Facettenaugen eines Insekts anstarrten. Den zentralen Bildschirm füllte Dr. Wos angespanntes Gesicht.

»… automatische Trennungssequenz in fünfzehn Sekunden beginnen«, sagte der Direktor gerade.

»Fünfzehn Sekunden«, wiederholte Krebs mit ruhiger, nüchterner Stimme. Wenn die Trennung von der Station und der Start der Tauchsonde in Jupiters turbulente Wolkenatmosphäre sie erregte oder ängstigte, verbarg sie es vollkommen.

Grant biss sich auf die Lippe. Die synthetische Computerstimme begann mit der letzten Minute des Countdowns.

»Energie und Antrieb?«, fragte Krebs unnötigerweise. Sie konnte Grants Bildschirme so gut sehen wie er selbst.

»Energie und Antrieb okay«, sagte er.

»Lebenserhaltende Systeme?«

»Im grünen Bereich«, sagte Karlstad.

»Kommunikation?«

»Kommunikation einwandfrei«, erwiderte O'Hara.

»Sensoren?«

»Alle Sensoren eingeschaltet und in Funktion«, meldete Muzorawa.

»Wir sind bereit für Trennung und Start«, sagte Krebs zu Wos Abbild.

Gleichzeitig zählte die Computerstimme: »… automatische Trennungssequenz eingeleitet. Trennung in dreißig Sekunden … neunundzwanzig …«

Endlos zogen sich die Sekunden hin. Grant stand an seinem Platz und war sich bewusst, dass er eine kalte, schleimige, mit Sauerstoff angereicherte Flüssigkeit atmete, aber das kümmerte ihn nicht mehr. Die Tauchsonde erwachte zum Leben, elektrische Ströme rasten jetzt durch all ihre Systeme, die Antriebseinheiten wurden eingeschaltet, die Elektronen in den starken supraleitenden Spulen sangen ihre ewige Hymne ständiger Bewegung, unaufhörlicher Hingabe an ihre Aufgabe.

»Zehn Sekunden«, verkündete der Computer.

Die magnetohydrodynamischen Kanäle waren bereit, die sternheißen Plasmaströme des Fusionsreaktors aufzunehmen und in die Triebwerke zu schleudern. Grants Nerven prickelten vom Kitzel der Erwartung.

Die Klammern, die Zheng He an der Station hielten, öffneten sich wie ein Dutzend Gesichter, die alle gleichzeitig zu lächeln begannen. Auch Grant lächelte. Sie waren frei, auf sich selbst gestellt.

»Zündung.«

Die Plasmatriebwerke liefen langsam an. Grant fühlte ihre gewaltige Schubkraft, als wären es seine eigenen Arme, die sich ausstreckten und eine schwere Last hoben. Als die Schubkraft sich aufbaute, vervielfachte sich seine Stärke, und er war stärker als jeder bloße Mensch jemals hoffen konnte zu sein. Er war stärker als Sheena, stärker als ein ganzer Stamm von Gorillas: er hob die ganze Tauchsonde und schob sie mit präziser, zielgerichteter Kraft fort von der Station und hinunter in die wartenden Wolken Jupiters.

Besser als Sex? Dies war besser als leben! Er konnte die Triebwerke auf volle Leistung bringen und die Sonde in einem Augenblick am Jupiter vorbei und hinaus zu den Sternen jagen! Zum Ende des Universums! Grant fühlte, dass die ganze Kraft dieses Universums in ihm pulsierte, übermenschliche Energie, die Stärke und Macht eines Gottes.

Dieses Aufbranden von Arroganz brachte ihn zur Besinnung. Hochmut kommt vor dem Fall, hörte er seines Vaters Stimme. All diese Energie, dieses Empfinden göttlicher Macht ist eine Falle, eine Versuchung zu der Art von Hybris, die so manchen guten Mann schon in ewige Verdammnis geschleudert hat. Eitelkeit, Eitelkeit, alles ist Eitelkeit …

Zitternd stand er vor seiner Konsole, suchte die Selbstbeherrschung zurückzugewinnen und kämpfte an gegen die enorme verführerische Macht dieser Illusion, die ihn täuschen wollte. Es ist ein elektronisches Trugbild, sagte er sich. Du bist nicht mehr als ein Mensch, der elektronisch mit der Maschinerie dieser Sonde verbunden ist. Beherrsche dich.

Trotzdem zitterte er.

Er fragte sich, ob es so etwas Ähnliches gewesen war, das die erste Mission hatte scheitern lassen. War diese Verbindung so überwältigend, dass jemand mit den Bordsystemen Amok lief? Er hatte in seinem eigenen Verstand eine Stelle berührt, wo er den Wunsch verspürt hatte, mit den Plasmatriebwerken auf volle Kraft zu gehen, alle Einschränkungen beiseite zu stoßen und nur aus reiner Freude an der Macht blindlings davonzujagen. Ja, so war es gewesen. Und wenn er es getan hätte, wären sie alle umgekommen.

Noch immer zitterte er, aber nun hatte es mit dem Verstehen der enormen Gefahren zu tun, die in seinem Geist wohnten, in seiner Seele. Es war der uralte Krieg, erkannte er, das niemals endende Ringen zwischen Vergnügen und Verantwortung, zwischen Gut und Böse. Diese kleine Tauchsonde war nur ein neues Gefechtsfeld in jenem immerwährenden Krieg. So lange die Menschheit bestand, ging dieser Krieg weiter.

Aber einen Augenblick lang war Grant mehr als ein Mensch gewesen. Und in gewisser Weise war er es noch immer. Noch immer fühlte er die pulsierende Energie des Generators und der Plasmatriebwerke, sie waren noch immer ein Teil von ihm.

Oder er ein Teil von ihnen.

Macht erfordert Verantwortung, sagte er sich. Extreme Macht erfordert extreme Vorsicht.

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