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Belehre, Herr, mich über Deine Wege.

Gewöhne mich an Deine Pfade.

Psalm 25

1. BEFÖRDERUNGSFEIER

Als Grant in die Cafeteria zurückkehrte und seinen Tischgenossen die Neuigkeit seiner Versetzung mitteilte, lächelte Muzorawa, als hätte er es die ganze Zeit gewusst. Und Grant begriff, dass es sich so verhielt; Muzorawa musste bei Dr. Wo Grants Versetzung in seine Gruppe beantragt haben.

»Zeb, Sie haben dies für mich getan!«, sprudelte er hervor. »Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll!«

»Ich tat es für mich, mein Freund«, sagte Muzorawa. »Ich brauche so viel Hilfe wie ich bei Dr. Wo durchdrücken kann. Leisten Sie gute Arbeit, das ist aller Dank, den Sie abstatten müssen.«

»Das verlangt nach einer Feier«, erklärte Karlstad. »Es kommt nicht jeden Tag vor, dass ein Studienanfänger in die Reihen von uns Scootern aufgenommen wird.«

»Bin ich jetzt ein Scooter?«, fragte Grant verdutzt.

Alle nickten und lachten. Ukara schlug ihm sogar auf den Rücken.

»Was für eine Feier soll es geben?«, fragte O'Hara.

»Wir könnten in den Aufenthaltsraum gehen, nehme ich an«, schlug Muzorawa vor.

»Und Fruchtsaft trinken, während Wo jedes Wort aufzeichnet, das wir sagen?«, höhnte Karlstad.

»Der Aufenthaltsraum ist langweilig«, pflichtete ihm Ukara bei.

»Und verwanzt«, ergänzte O'Hara.

Karlstad machte eine Geste zu den Überresten ihres Abendessens auf den Tellern und sagte: »In meinem Quartier habe ich etwas, das einer Feier angemessener ist als dieses schleimige Zeug.«

»Sojafleisch ist kein schleimiges Zeug«, sagte Hideshi mit gespielter Empörung. »Es ist ein Hauptnahrungsmittel für die Hälfte der Weltbevölkerung.«

»Er meint den Algensalat«, sagte Ukara. »Und darin stimme ich ihm zu.«

»Los, gehen wir«, sagte Karlstad und stand auf. »Sie alle sind eingeladen zu Grants Beförderungsfeier.«

»Beförderung?«

»Aus dem Sklavenstand«, sagte Karlstad. »Aus der Leibeigenschaft des Laborhelfers …«

»… in die Vertragsknechtschaft des Scootertums«, beendete O'Hara den Satz für ihn.

Als sie durch den Korridor gingen, fragte Grant: »Woher kommt dieser Begriff ›Scooter‹?«

»Er bedeutet ›Wissenschaftler‹«, antwortete Ukara. »Es ist ein abschätziges Wort, erfunden von den Bürokraten.«

»Aber warum ›Scooter‹?«, beharrte Grant. »Wie konnte dieses Wort für die Bedeutung ›Wissenschaftler‹ gewählt werden?«

»Wahrscheinlich ist es eine Entstellung des lateinischen Wortes ›scholasticus‹, das ›Gelehrter‹ bedeutet«, meinte O'Hara.

»Oder es kommt von dem Wort ›scoter‹«, sagte Hideshi.

»Scoter?«, grübelte Karlstad. »Ist das nicht die Bezeichnung für die Trauerente?«

»Genau. Ein passender Name für einen Wissenschaftler, nicht wahr?«

»Quack, quack«, machte Ukara in einem bei ihr seltenen Anflug von Humor.

»Sie meinen Quark, Quark«, sagte Karlstad.

»Nur wenn Sie Physiker sind«, sagte O'Hara. »Und zwar ein Theoretischer Physiker.«

Karlstads Quartier war mit Grants beinahe identisch, soweit es die Abmessungen und die Einrichtung betraf, aber Karlstad hatte seinen Raum mit Wasserkulturen von Pflanzen in langen Gefäßen geschmückt, und als sie das Zimmer betraten, leuchtete der Wandbildschirm mit einer Ansicht schöner Wälder und Wiesen auf. Auch begann leise Musik zu spielen. Grant erkannte sie nicht, aber sie klang sinfonisch, melodiös und entspannend.

»Willkommen in meiner bescheidenen Behausung«, sagte Karlstad, als sie eintraten und umherblickten.

Der größte Teil des Bodens war von einem farbenfrohen Teppich bedeckt. Grant fragte sich, woher er das Stück hatte.

»Sprachen Sie nicht von etwas Besonderem zur Feier des Anlasses?«, fragte Ukara.

»Gewiss, das tat ich«, erwiderte Karlstad und trat zum Schrank.

Grant war unwohl zumute. Karlstad musste alkoholische Getränke haben, dachte er. Dann fiel ihm ein, dass Karlstad Biophysiker war und sein Zimmer voll von grünen Pflanzen. Konnte es sein, dass er hier illegal Rauschmittel anbaute? Narkotika?

Stattdessen zog Karlstad mehrere dicke Sitzkissen aus dem Schrank und warf sie auf den Boden. Als die anderen sich auf die Kissen niederließen, führte er Grant zu dem einzigen gepolsterten Stuhl im Raum.

»Sie bekommen heute Abend den Ehrensitz«, sagte er großartig.

Muzorawa hockte sich neben Grant nieder, den Rücken an die Wand gelehnt. Karlstad ging zum Kühlschrank in seiner Kochnische.

»Wein«, verkündete er und hob eine Flasche mit dunklem Inhalt in die Höhe. »Der feinste Raketensaft. Hat garantiert noch nie eine Traube gesehen.«

»Hundert Prozent künstlich, wie?« Ukara rümpfte die Nase.

»Das feinste Produkt der Prospektoren draußen im Asteroidengürtel«, sagte Karlstad.

Grant atmete auf. Er hatte schon öfter Wein getrunken. Es war in Ordnung.

Aber Muzorawa beugte sich zu ihm und sagte im Flüsterton: »Wenn Sie alkoholische Getränke nicht gewohnt sind, nehmen Sie sich vor diesem Zeug in Acht. Es ist ziemlich stark.«

»Ich habe nicht genug Gläser«, sagte Karlstad. »Wir werden die Flasche herumreichen müssen.«

»Wie unhygienisch«, sagte Hideshi grinsend. Sie entriss Karlstad die Flasche und nahm einen Schluck. Sie würgte, hustete, dann krächzte sie: »Samtig und mild« und reichte sie Ukara.

»He, Moment«, rief Karlstad. »Der Ehrengast sollte zuerst trinken.« Er brachte die Flasche wieder an sich und gab sie Grant.

Grant war so vorsichtig, dass er die Flüssigkeit kaum seine Lippen berühren ließ. Trotzdem brannte sie auf der Zungenspitze und weiter hinunter, als er den winzigen genippten Schluck in die Kehle hinab rieseln ließ. Seine Augen tränten, als er die Flasche Muzorawa gab.

Der sie an Kayla Ukara weitergab, ohne sie an die Lippen zu setzen. Natürlich, Moslem, sagte sich Grant. Alkohol ist ihnen verboten.

Karlstad, der in der Mitte des Zimmers stand, während die fünf anderen die Flasche herumgehen ließen, sagte: »Für diejenigen, die Wein nicht mögen, habe ich auch ein paar chemische Zubereitungen.«

»Etwas Hasch würde willkommen sein«, sagte Muzorawa.

Grant war völlig schockiert.

Karlstad ging wieder zu seinem Kühlschrank und sagte über die Schulter: »Devlin sagt, sein Vorrat sei aufgebraucht …«

»Red Devlin ohne Vorrat?« O'Hara sah völlig konsterniert aus.

»Wahrscheinlich will er bloß den Preis hochtreiben«, murrte Ukara.

»Was immer«, sagte Karlstad, als er Muzorawa zwei rosa Gelatinekapseln gab. »Macht nichts. Ich habe ein paar helle Burschen im biochemischen Labor, die schwören, dass dieses Zeug ein beinahe genaues Analogon der Tetrahydrocannibole sei.«

Als er Grants entsetzte Miene sah, lächelte Muzorawa. »Es ist durchaus in Ordnung, mein Freund. Diese Zubereitung ist denen, die medizinisch zum Stressabbau benutzt werden, ganz ähnlich … werden sogar von Mitgliedern der Neuen Ethik genommen.«

»Wirklich?«

Muzorawa zeigte ihm die Kapseln in der offenen Hand. »Es ist ein Beruhigungsmittel, nichts weiter. Ich glaube, in den Staaten wird es unter einer Handelsbezeichnung vermarktet: De-Tense, glaube ich.«

»Oh.«

»Obwohl diese Kapseln wahrscheinlich eine höhere Konzentration der aktiven Bestandteile enthalten.« Damit steckte Muzorawa die Kapseln in den Mund und schluckte sie trocken hinunter.

Grant wünschte, er hätte etwas Fruchtsaft, fühlte sich aber zu eingeschüchtert, um Karlstad danach zu fragen. Stattdessen gab er vor, von dem Gebräu zu schlucken, als die Flasche wieder bei ihm anlangte, und beobachtete, wie die wirklichen Trinker lauter und fröhlicher wurden.

Nach mehreren Runden war die Flasche leer. Karlstad zeigte zum Kühlschrank. »Bedienen Sie sich, Herrschaften«, sagte er. Seine Sprache begann undeutlich zu werden. »Mi refrigerador es tu refrigerador.« Er runzelte einen Moment angestrengt die Stirn. »Oder muss es esta heißen?«

Das löste eine ausgelassene Diskussion über die spanische Sprache aus, und aus dieser entwickelte sich bald ein Streit über den Zauber Barcelonas gegenüber den Attraktionen von Paris. Dann brachte jemand Rom zur Sprache.

»Kairo«, murmelte Muzorawa träumerisch. »Keiner von Ihnen ist in Kairo gewesen?«

»Dieses Pestloch?«, sagte Hideshi. »Übervölkert und schmutzig.«

Muzorawa legte den Kopf an die Wand zurück und erwiderte lächelnd: »Dieses übervölkerte und schmutzige Pestloch hat die großartigsten Bauwerke der Welt gleich auf der anderen Seite des Flusses.«

»Die Pyramiden«, sagte O'Hara.

»Und die Sphinx. Und weiter flussauf das Tal der Könige.«

»Und Hatschepsuts Mausoleum. Eines der schönsten Bauwerke des Altertums.«

»Haben Sie es gesehen?«, fragte Muzorawa.

O'Hara schüttelte den Kopf. »Nur in virtueller Realität. Aber es ist wahrhaft großartig und eindrucksvoll.«

O'Hara hatte ihr aufgestecktes Haar gelöst und ließ es in einer kastanienbraunen Kaskade über eine Schulter beinahe bis zur Hüfte fallen. Aber sie war jetzt in ein Gespräch mit Muzorawa vertieft. Auch die anderen redeten alle untereinander, Karlstad und die zwei anderen Frauen saßen auf der anderen Seite an sein Bett gelehnt und diskutierten lebhaft über dies und jenes. Grant war vollständig ausgeschlossen. Feiner Ehrengast, dachte er. Sein Mund war trocken, also stand er auf und ging zum Kühlschrank. Bis auf eine kleine Plastikdose, die drei weitere Kapseln enthielt, und den grünlich verschimmelten Rest eines Brotweckens war er leer.

Grant fühlte sich auf einmal müde und gelangweilt. Unter einer Feier hatte er sich etwas Lustigeres vorgestellt. Ich werde in mein Quartier gehen und Marjorie eine Botschaft senden, dachte er.

Er durchquerte den Raum und erreichte die Tür, ohne dass ihm jemand Beachtung schenkte. In der Türöffnung räusperte er sich vernehmlich und sagte: »Ah, danke für die Feier. Es war großartig.«

»Sie gehen schon?« Karlstad machte ein schockiertes Gesicht.

Grant zwang sich zu einem Lächeln. »Ich muss mich morgen früh zur Arbeit bei der Gruppe für Flüssigkeitsdynamik melden. Befehl des Direktors.«

Muzorawa winkte ihm etwas zittrig zu. »Guter Mann. Bis morgen früh.«

Grant nickte und trat hinaus in den Korridor. Niemand sagte ein weiteres Wort zu ihm. Karlstad blickte kaum auf. Als er die Tür hinter sich schloss, begriff er, dass er keineswegs der Mittelpunkt der Feier gewesen war, sondern bloß der Vorwand dafür.

2. DESSERT

Grant war überrascht, den Korridor noch von so vielen Menschen belebt zu sehen. Seine Armbanduhr zeigte 21:14 an, also war es noch früh. Er stand eine Weile im Korridor, während die Leute vorbeigingen und starrte auf die Sekundenanzeige seiner Uhr. Wie viele Sekunden, bis ich in die Heimat zurückkehren kann, zu Marjorie — wenn sie mich noch will? Er versuchte nicht, die Zahl zu ermitteln.

Zu seiner eigenen Tür waren es nur ein paar Meter. Vielleicht war es besser, sich frühzeitig schlafen zu legen und morgen früh frisch und ausgeruht anzufangen. Aber als er seinen Sicherungscode eingab, fühlte er eine Hand auf der Schulter.

Es war O'Hara. Groß und geschmeidig, das Haar noch immer offen über die Schulter fallend. Sie lächelte ihm zu.

»Sie haben kein Dessert gehabt«, sagte sie.

Grant musste einen Moment überlegen. »Das stimmt«, sagte er. »Irgendwie kam ich nicht dazu.«

»Nun, dann kommen Sie mit.« Sie zupfte leicht an seinem Ärmel. »Ich habe einen Vorrat Eiskrem in meinem Quartier. Und richtige belgische Schokolade.«

Grant ließ sich zu ihrem Quartier führen, das nur ein paar Dutzend Schritte entfernt war.

»Ist die Feier schon beendet?«, fragte er.

»Nein, aber es ging abwärts damit, fanden Sie nicht auch? Egon und die beiden Kolleginnen wurden ziemlich ausgelassen miteinander. Ich mag keine Gruppenszenen.«

»Und Zeb?«

»Er hat sich in seine eigene kleine Fata Morgana zurückgezogen. Gott allein weiß, wovon er träumt, aber es ist nicht spaßig, ihm zuzuschauen, wie er ins Leere starrt.«

Sie hatten ihre Tür erreicht. O'Hara tippte den Sicherungscode ein und sie betraten ihr Zimmer.

Es war von gleicher Größe und Form wie die anderen Quartiere, und doch unterschied es sich vollkommen von allem, was Grant bis dahin in der Station gesehen hatte. Die Wandbildschirme zeigten Unterwasserszenen von ozeanischen Korallenriffen: Myriaden bunter Fische, kleine Kraken, die dicht über dem Boden dahinschnellten und ihre Fangarme nachzogen, Haie, die bedrohlich vor dem Riff patrouillierten. Auch der Boden begann lebendig zu werden. Vor Grants Augen zeigte sich unter ihm die Fortsetzung des Korallenriffs, die steil in eine endlose, dunkle Tiefe abfiel. Er drückte sich gegen die geschlossene Tür, plötzlich von Schwindelgefühl ergriffen.

O'Hara bemerkte seine Panik. »Erschrecken Sie nicht. Der Boden ist ganz fest.« Sie tappte mit einem Fuß darauf. »Sehen Sie? Ich vergesse manchmal, dass die Wirkung für manche Leute desorientierend ist. Ich habe hier nicht oft Besucher, müssen Sie wissen.«

Grant hielt den Atem an und ging einen Schritt in den Raum. Der Boden fühlte sich fest an, aber es schien ihm, dass er unmittelbar in den gähnenden dunklen Abgrund der Tief see hinabblickte.

»Schauen Sie nach oben«, schlug O'Hara vor.

Die Sterne! Anstelle einer Decke sah Grant den unendlichen schwarzen Nachthimmel, übersät von Tausenden von Sternen. Die Unterwasserszenen an den Wänden verschwanden und wurden ersetzt durch weitere Sterne. Er hatte das Gefühl, in einer sternklaren, mondlosen Nacht auf hoher See zu sein.

»Das würden wir sehen, wenn wir außerhalb der Station wären«, erklärte sie. »Ohne Jupiter, versteht sich. Ich könnte Jupiter in die Darstellung hineinbringen, aber er würde den großartigen Anblick des Himmels überwältigen, nicht wahr?«

Er nickte stumm, den starren Blick nach oben gerichtet. Die Sterne blickten zu ihm zurück, ernst und ohne das leiseste Flimmern.

»Das da ist die Erde«, sagte O'Hara neben ihm und zeigte zu einem hellen bläulichen Lichtpunkt unter den ungezählten Sternen.

Die Erde, dachte Grant. Sie schien schrecklich weit entfernt.

»Es ist ein richtiges Planetarium«, hörte er sich mit gedämpfter Stimme sagen.

»Mein Vater war Direktor des Planetariums in Dublin«, sagte O'Hara. »Er schickte mir das Programm.«

»Aber … wo ist der Projektor? Wie bringen Sie all diese Sterne an die Decke, sodass es beinahe dreidimensional aussieht?«

»Mikrolaser«, sagte sie. »Ich habe Decke und Boden mit ihnen besprüht.«

»Es müssen Tausende sein«, mutmaßte Grant.

»O ja. Und mehr am Boden, versteht sich.« Sie schritt langsam durch den Raum.

»Wie haben Sie es gemacht? Woher haben Sie die Dinger bekommen?«

»In der optischen Abteilung gebaut.« Sie öffnete die Tür des kleinen Kühlschranks, dessen Licht in den Raum fiel und die Illusion, draußen auf hoher See zu sein, zerstörte.

»Ich versprach Ihnen Eis und Schokolade, und das sollen Sie bekommen«, sagte O'Hara, als ob es irgendwie fraglich gewesen wäre.

Aber Grants Denken war auf die praktischen Dinge konzentriert. Er bewegte sich langsam durch die sternenhelle Dunkelheit über den matt leuchtenden Boden. »Sie bauten Tausende von Mikrolasern? Ganz allein?«

»Es handelt sich nur um winzige Kristalle, ein Hundertstel von einem Kubikzentimeter oder so.« Sie suchte im Licht des noch offenen Kühlschranks in einer Schublade.

»Und Sie bauten Tausende davon?«

»Ich hatte Hilfe.«

»Ach.«

Sie reichte Grant einen kleinen Teller mit einer Portion Vanilleeis, auf dem ein kleines dunkles Stück Schokolade lag.

»Ich verwendete Nanomaschinen«, sagte sie.

»Nanomaschinen?«

»Natürlich. Wie sonst?«

»Aber das ist gegen das Gesetz!«

»Auf Erden.«

»Das Gesetz gilt hier auch. Überall.«

»Es gilt nicht in Selene und den anderen Mondstationen«, erwiderte O'Hara.

»Aber es sollte. Nanomaschinen können gefährlich sein.«

»Vielleicht«, sagte sie und warf die Kühlschranktür mit einem Hüftstoß zu.

»Wirklich«, bekräftigte Grant. »In einer kleinen Station wie dieser könnten die Nanomaschinen alle töten, wenn sie außer Kontrolle gerieten.«

O'Hara hielt ihren eigenen Teller mit Eis in einer Hand, nahm Grant beim Ärmel und führte ihn zu einer niedrigen Couch unter den Sternen. Er ließ sich unbeholfen nieder und hatte das Gefühl, in der Couch zu versinken, so weich war sie.

Sie setzte sich zu ihm und sagte: »Essen Sie Ihr Eis, bevor es schmilzt.«

Er war entschlossen, sich nicht ablenken zu lassen.

»Im Ernst, Lane, Nanomaschinen sind wie ein Spiel mit dem Feuer. Und wenn Dr. Wo davon erfährt?«

Sie lachte. »Wo fing vor mehr als einem Jahr schon an, hier mit Nanotechnik zu arbeiten.«

Grant fühlte sich wie vor den Kopf geschlagen.

»Es ist schon in Ordnung, Grant«, sagte O'Hara. »Wir sind keine Terroristen. Wir werden keine Nanowanzen entwickeln, die Proteine essen. Wir werden keine Seuche in die Welt bringen.«

»Aber wie können Sie sicher sein?«

»Es sind Maschinen, bei allen Heiligen! Sie mutieren nicht. Sie haben keinen eigenen Willen. Sie sind nichts als kleinwinzige Maschinen, die das tun, wofür sie konstruiert sind.«

Grant schüttelte den Kopf. »Sie sind aus guten Gründen verboten.«

»Gewiss«, stimmte sie ihm zu. »Auf Erden, mit ihren Milliarden Menschen könnte die Nanotechnik leicht in die Hände von terroristischen Fanatikern, Verrückten oder bloß Sensationslüsternen fallen. Aber hier ist es anders, ebenso wie in den lunaren Siedlungen.«

»Sie behaupten, dass sie Nanotechnik benötigen, um auf dem Mond zu überleben«, murmelte Grant.

»Richtig. Und wir brauchen sie hier auch.«

Grant blickte zu den Sternen auf und höhnte: »Zur Innendekoration?«

Er hörte sie scharf einatmen. Dann antwortete sie: »Dafür und für andere Dinge.«

»Wie etwa?«

Sie zögerte wieder. »Vielleicht sollten Sie danach besser den Direktor fragen.«

»Sicher«, erwiderte er. »Dr. Wo wird mir sein Herz ausschütten. Ich brauche ihn bloß zu fragen.«

Sie lachte freundlich. »Sie haben Recht. Wo hat Ihnen gerade erlaubt, eine Stufe höher zu steigen. Dies würde nicht die rechte Zeit sein, ihm sensible Fragen zu stellen.«

»Da ist wieder dieses Wort.«

»Welches Wort?«

»Sensibel. Jedes Mal, wenn ich nach irgendetwas frage, erzählt mir jemand, es sei sensible Information.«

»Hm, ja.«

»Was geht vor, Lane? Was in aller Welt ist am Studium Jupiters so sensibel, dass man nicht darüber sprechen darf?«

Sie blieb lange Augenblicke still. Dann hob sie im Halbdunkel des Sternenlichts die Hand und nahm ihre eindrucksvolle Haarpracht vom Kopf, Grant sah, dass sie vollständig kahl war.

Trotz der schlechten Beleuchtung sah sie seine erschrockene Miene.

»Es ist die Enthaarungsbehandlung, wissen Sie. Wir müssen vollständig haarlos sein, von Kopf bis Fuß.«

»Haarlos? Warum?«

»Für das Eintauchen«, sagte Lane. »Sobald wir an Bord sind.«

»An Bord wovon?«

»An Bord der Tauchsonde, die für die Tiefenmission repariert wird.«

Ein elektrischer Alarmstoß durchfuhr Grant. Dann fragte er vorsichtig: »Wovon, in Gottes Namen, sprechen Sie?«

O'Hara holte tief Luft. »Es ist nicht fair, Sie völlig im Dunkeln zu lassen. Nun, da Sie ein Scooter sind, sollte man meinen, dass Dr. Wo Ihnen davon erzählen würde.«

»Warum erzählen Sie es mir nicht?«

»Ich tue es ja. Aber lassen Sie niemanden wissen, dass ich Sie eingeweiht habe. Kein Wort zu irgendjemand! Versprechen Sie es?«

Grant nickte. »Ich verspreche es.«

Wieder holte sie hörbar Atem. Dann begann sie in einem gedämpften, fast flüsternden Ton, als fürchtete sie abgehört zu werden: »Es gab eine Mission unter die Wolkendecke in den Ozean, aber wir hatten einen Unfall. Ein Scooter wurde getötet. Der arme Dr. Wo und sein Stellvertreter wurden beide schwer verletzt.«

»Sie auch? Und Zeb?«

»Wir alle waren übel zugerichtet. Wir baten Selene um medizinische Unterstützung — Nanomaschinen, die in die verletzten Körper eingeführt werden und die Schäden reparieren konnten.«

»Aber was ist mit Geweberegeneration? Man braucht keine Nano …«

»Die Schäden waren zu ernst.«

»Zu ernst sogar für Stammzellenregeneration?«

Sie nickte im schwachen Sternenlicht. »Wie ich sagte, ein Mann kam ums Leben. Dr. Wos Beine mussten eingefroren werden, bis die Fachleute aus Selene eintrafen. Als sie dann kamen, erwiesen sich die meisten seiner Verletzungen als irreparabel. Die Neuronen des Rückenmarks waren zu weit degeneriert, als dass die Nanomaschinen sie hätten wiederherstellen können.«

Grant sank zurück in die weichen Polster der Couch. »Darum also ist er im Rollstuhl.«

»Ja. Und Dr. Krebs musste zur Mikrochirurgie nach Selene überführt werden.«

»Wer ist Dr. Krebs?«

»Sie war die stellvertretende Leiterin der Mission.«

»Und dies alles passierte vor mehr als einem Jahr?«

»So ist es.«

Grant überlegte, bevor er fragte: »Was hat das mit diesem Diskus-Ding zu tun, das an der anderen Seite der Station festgemacht ist?«

»Das ist die Tauchsonde, in der sie waren.«

»Ach du lieber Gott.«

»Sie waren in Jupiters Ozean eingetaucht. Dort kam es zu dem Unfall.«

»In den Jupiterozean«, murmelte Grant. »Und Dr. Wo will wieder hinunter.«

»Sie reparieren und erneuern die Tauchsonde.«

»Aber Wo ist körperlich nicht in einem Zustand, der ihm die Teilnahme an der Mission erlauben würde.«

Er hörte das leise Klirren ihres Löffels auf dem Teller, den sie hielt. »Es schmilzt«, sagte sie.

»Wo kann an der nächsten Mission in den Ozean nicht teilnehmen. Zeb sagte mir, es solle eine Tiefensonde sein.«

»Das sagte er Ihnen?«

»Ja.«

»Ja, das stimmt. Obwohl ich es nicht genau weiß. Dr. Wo ist ein sehr entschlossener Mann. Er unterzieht sich allen Arten von Nanotherapie und Stammzelleninjektionen. Er glaubt noch immer, er könne seinen Körper wiederherstellen, die Neuronen des Rückenmarks regenerieren oder durch Biochips ersetzen.«

»Er ist verrückt!«

»Natürlich«, sagte sie ruhig. »Sind wir es nicht alle? Aber er hat hier die Leitung, und er ist entschlossen, herauszufinden, was diese Objekte im Ozean sind.«

Grant schwirrte der Kopf. Ei tauchte seinen Löffel ins Vanilleeis. Es war beinahe zergangen.

»Zeb und ich werden das Training für die nächste Mission beginnen«, sagte O'Hara. »Darum braucht Zeb Sie, damit Sie ihn im Programm für Flüssigkeitsdynamik entlasten.«

»Sie nehmen an der Mission teil?«

»Ja«, sagte sie mit tonloser, schicksalsergebener Stimme. »Alle Überlebenden der ersten Mission sind mit der neuen beauftragt.«

»Tragen Sie deshalb diese Leggings?«

»Die sind für die Implantate. Sie haben unsere Beine mit Biochips verdrahtet. Es ist der erste Schritt in der Anpassung für die Mission.«

»Verdrahtet …?«

Mühsam erhob sich O'Hara aus den Tiefen der Couch. Grant hörte ihren Löffel auf den Boden klappern.

»Ach du liebe Zeit. Ich habe das Eis verschüttet.«

»Ich werde Ihnen helfen«, sagte Grant. Aber es war nicht leicht, aus der Couch hochzukommen. Er stellte seinen Teller auf den Boden, und doch kam er erst beim dritten Versuch in die Höhe.

»Ich fürchte, etwas davon ist auf Ihre Hose gekommen«, sagte sie, schon unterwegs zur Einbauküche.

»Das macht nichts. Es lässt sich auswaschen.«

»Hier ist ein Wischtuch«, sagte sie, als sie zurückkam und ihm den feuchten Lappen gab.

Grant konnte im Sternenlicht nicht gut sehen. Der matte Lichtschein vom Boden warf Schatten über seine Hosen. Er tupfte daran herum.

»Es tut mir schrecklich Leid, dass ich so ungeschickt war«, sagte O'Hara. Sie schien wirklich aufgeregt über das kleine Malheur.

»Es macht nichts. Machen Sie sich deswegen keine Gedanken.« Er sagte es fast geistesabwesend, vollständig beherrscht von dem, was sie ihm gerade über Wos verhängnisvolle Mission in den Jupiterozean erzählt hatte.

»Es liegt an meinen Beinen, müssen Sie wissen«, fuhr O'Hara fort. »Seit sie die Biochips implantierten, ist es mir nicht gelungen, sie wieder ganz in Ordnung zu bringen. Sie sagen uns, wir sollten uns keine Sorgen machen, die Beine seien sowieso ziemlich nutzlos, wenn wir an Bord herumschwimmen, aber das macht es hier und jetzt nicht einfacher, im Gegenteil.«

»Machen Sie sich keine Sorgen darum.« Grant fand, dass es schwachsinnig klang, wusste aber nicht, was er sonst sagen sollte.

Sie standen zusammen im matten Sternenlicht, so nahe, dass er ihren Atem fühlen konnte. Am liebsten hätte er sie in die Arme genommen und geküsst und aufgehoben und zur Couch getragen. Er spürte die Elektrizität, die zwischen ihnen knisterte.

Lane stand schweigend und unbewegt vor ihm, als warte sie darauf, dass er etwas sagen, tun oder eine Bewegung machen würde.

»Ich sollte jetzt besser gehen«, hörte er sich mit zittriger Stimme sagen.

»Ja, richtig«, erwiderte sie.

»Danke, dass Sie mir das alles erzählt haben«, sagte er, dann, um eine aufhellende Note hineinzubringen: »Und für das Eis.«

Sie lächelte traurig. »Sie haben es an der Hose, fürchte ich.«

Er zuckte die Achseln. »Kein Problem.«

Sie gingen zur Tür, und Lane öffnete sie. Einem Impuls folgend streifte er ihre Wange leicht mit den Lippen. Sie legte ihm eine Hand an den Oberarm und flüsterte: »So geht es nicht, Grant. Nicht mehr. Es sind die Biochips, sehen Sie … man ist wie geschlechtslos.«

Grant trat schockiert einen Schritt zurück.

»Vielleicht nach der Mission«, sagte O'Hara, aber es klang trübe und hoffnungslos, als wäre sie ein verwaistes Kind. »Vielleicht dann, wenn sie die Biochips entfernen …«

Verlegen um ein passendes Wort, überhaupt um jedes Wort, trat Grant in den Korridor hinaus und schritt eilig davon.

Geschlechtslos!, hallte es in ihm nach. Dr. Wo hatte ihr dies angetan. Ihr und Zeb und allen anderen, die zur Teilnahme an der Mission ausersehen waren.

Kein Wunder, dass sie sich über Egon geärgert hatte; er musste genau gewusst haben, dass sie sich nicht mit ihm einlassen würde …

Ihm brummte der Schädel. Aber dann, als er ziellos an seiner eigenen Tür vorbei und blindlings den Korridor entlangwanderte, fiel ihm ein, dass Lane angedeutet hatte, sie würde nach der Mission vielleicht an ihm interessiert sein, nachdem die Neurochirurgen ihren Normalzustand wiederhergestellt hätten.

Sie weiß, dass ich verheiratet bin, sagte er sich. Und ich küsste sie. Ich wollte mit ihr schlafen! Ich hätte mein Ehegelöbnis gebrochen. Er wusste, dass er sich beschämt, untröstlich fühlen sollte. Untreue in Gedanken war beinahe so schlimm wie wirklicher Ehebruch.

Stattdessen aber fühlte er sich seltsam aufgeregt, beinahe erfreut. Das ist falsch, sagte er sich. Du begehst eine Sünde.

Drei uniformierte Wachen kamen den Korridor entlang auf ihn zu, zwei Frauen und der Hauptmann der Wache, ein großer, athletischer Albaner mit einer langen Patriziernase und grauer Bürstenfrisur. Er hatte den Körperbau eines Athleten: Muskeln spannten sein Uniformhemd.

»Überstunden?«, fragte der Mann in freundlichem Ton. Dennoch spürte Grant eine Andeutung von Drohung unter den Worten.

»Ich bin gerade auf dem Heimweg zu meinem Quartier«, sagte Grant. Die drei sahen auf den nassen Fleck an Grants Hose. Beide Frauen grinsten.

Grant fühlte brennende Röte in den Wangen. Es musste ausgesehen haben, als hätte er sich nass gemacht. Oder — er errötete noch mehr. Mein Gott, was sollte er tun? Wie konnte er hier überleben?

3. DYNAMIK

Grant stürzte sich in seine neue Arbeit in Muzorawas Labor. Zu seiner frohen Überraschung entdeckte er, dass die Flüssigkeitsdynamik des Jupiterozeans ihn wirklich faszinierte.

Muzorawa hatte ein Computermodell des weltumspannenden Ozeans ausgearbeitet, beruhend auf Daten von den Sonden, die sie unter die Wolkenhülle gesandt hatten. Diese Daten waren bestenfalls eine Serie von Annäherungswerten. Grant war entschlossen, sie zu vervollständigen und zu verfeinern und ein zutreffendes Bild davon zu gewinnen, wie diese ungeheure, mit Ammoniak und anderen Elementen durchmischte See wirklich beschaffen war.

Sie arbeiteten gemeinsam im Labor für Flüssigkeitsdynamik. Grant fand es ziemlich lächerlich, das enge kleine Abteil ein Laboratorium zu nennen. Es ging keine wirklich experimentelle Arbeit vor sich. An Geräten waren nur ein schreibtischgroßer Windkanal, ein kleines Stoßwellenrohr und ein zwei Meter hoher transparenter Behälter vorhanden, der als Wolkensimulator diente. Es gab nichts, was die Druckverhältnisse und Temperaturen des Jupiterozeans simulieren könnte. Tatsächlich gab es nirgends eine Laboratoriumseinrichtung, welche die Bedingungen auf dem Jupiter auch nur annähernd künstlich erzeugen konnte. Also arbeitete man stattdessen mit Computersimulationen: elektronischen Annäherungen an die Realität mittels Programmen, die das wenige bekannte Wissen verarbeiteten und zurückspielten.

Wenn die Eingabe nichts taugt, dachte Grant, kann auch nichts Gescheites herauskommen. Gleichungen waren kein Ersatz für richtige Daten.

»Diese Forschung würde Stoff für eine gute Doktorarbeit abgeben«, sagte ihm Muzorawa eines Tages, als sie nebeneinander am Computer saßen.

»Doktorarbeit?«

Muzorawa neigte den Kopf auf die Seite, als dächte er darüber nach, dann meinte er: »Ja, wenn es Ihnen nichts ausmacht, vom Thema Astrophysik auf planetarische Physik umzusteigen.«

Grant dachte darüber nach. Er könnte seine Zeit in der Station besser nutzen. Statt die vier Jahre zu vergeuden, könnte er sein Studium fortsetzen und das Material für eine Dissertation zusammentragen … Später, sobald er einen Posten an einer Universität bekäme, würde er noch immer tun können, was er wollte.

»Natürlich würden Sie für alle im normalen Studiengang vorgesehenen Kurse die Arbeit machen müssen, um die notwendigen Scheine zu bekommen«, fuhr Muzorawa in seiner bedächtigen, überlegten Art fort. »Wir können uns die notwendigen Materialien von meiner Abteilung in Kairo schicken lassen. Ich könnte die Aufsicht und fachliche Betreuung übernehmen und …«

Grant sperrte die Augen auf. »Sie sind an der Fakultät in Kairo?«

»Im Fachbereich Physik«, antwortete Muzorawa in beiläufigem Ton. »Professor für Flüssigkeitsdynamik.«

»Das ist die älteste Universität der Welt«, sagte Grant ehrfürchtig.

Muzorawa lächelte bedächtig. »Ja, richtig. Al-Azhar wurde im zehnten Jahrhundert von den Fatimiden gegründet. Später ging sie in der Universität von Kairo auf.« Sein Lächeln wurde breiter. »Die Fakultät für Physik ist eine vergleichsweise neue Ergänzung.«

»Aber was tun Sie hier, wenn Sie eine Professur in Kairo haben?«

Grants Frage schien Muzorawa zu überraschen. »Ich bin hier, um das Innere Jupiters zu studieren. Es ist das größte Problem der Flüssigkeitsdynamik, das direkter Beobachtung zugänglich ist.«

»Sie sind freiwillig hier?«

Der andere nickte ernst. »Und ich beabsichtige so lange wie möglich hier zu bleiben. Der Jupiterozean stellt ein Problem dar, das für einen Wissenschaftler eine Lebensaufgabe sein kann.«

Grant konnte nur staunend den Kopf schütteln. Dies ist mein Mentor, dachte er stolz. Er wird mein Doktorvater sein. Sich Gedanken über die geistige Gesundheit eines Mannes zu machen, der freiwillig in einer Orbitalstation lebte, die sich der Erde niemals mehr als bis auf sechshundert Millionen Kilometer annäherte, kam Grant nicht in den Sinn.


* * *

An diesem Abend schickte Grant zum ersten Mal seit Monaten wirklich glückliche Botschaften an Marjorie und seine Eltern. Von seiner Frau hatte er seit mehr als einer Woche nichts gehört, wusste aber, dass sie sehr beschäftigt war. In ihrer letzten Botschaft hatte sie müde ausgesehen, abgespannt und besorgt. Er fragte sich, ob sie krank war, ob sie etwas vor ihm verbarg. Und ob sie ihn noch liebte.

Das bereitete ihm Kopfzerbrechen. Wie konnte die Liebe zu jemandem andauern, wenn man vier Jahre getrennt und noch dazu Millionen von Kilometern voneinander entfernt ist? Er bemühte sich, Gedanken an Lane O'Hara aus seinem Bewusstsein zu verdrängen, sogar aus seinen Träumen. Marjorie war umgeben von stattlichen jungen Offizieren und Universitätsabsolventen, die ihre Dienstpflicht ableisteten: Dutzenden, sogar Hunderten.

Immerhin hatte er ihr zum ersten Mal seit seiner Abreise gute Nachrichten mitzuteilen und lächelte während seiner ganzen Botschaft an sie. Erst als der Computer und die Raumbeleuchtung ausgeschaltet waren und er im Bett lag, allein in der Dunkelheit, verwandelte die Angst um Marjorie sein Gesicht in eine gequälte, unglückliche Maske. Er versuchte zu beten, aber die Worte kamen ihm leer und nutzlos vor.


* * *

Im Laufe der nächsten Wochen verbrachte Muzorawa mehr und mehr Zeit beim Training für die bevorstehende bemannte Mission; umso weniger blieb ihm für seine Untersuchungen zum Problem der Flüssigkeitsdynamik.

»Ich fürchte, die Arbeit wird in nächster Zeit größtenteils auf Ihren Schultern ruhen«, eröffnete er Grant.

»Ich werde schon damit fertig.«

»Es tut mir Leid, Ihnen all die Arbeit aufzuladen«, fuhr Muzorawa fort, den Blick auf der grafischen Darstellung, die Grant auf den Bildschirm gebracht hatte.

»Sie können nicht an zwei Orten zugleich sein«, sagte Grant. »Außerdem haben Sie den Löwenanteil bereits getan, die grundlegenden Gleichungen entwickelt und alles.«

Muzorawa nickte, aber seine Miene zeigte, dass er mit der Situation nicht zufrieden war.

Grant war es. Zum ersten Mal seit seiner Abreise hatte er wirkliche wissenschaftliche Arbeit zu tun. Eine Herausforderung. Es war nicht Astrophysik, aber beinahe genauso gut. Niemand verstand, wie es im Innern Jupiters aussah und welche Wechselwirkungen dort stattfanden. Es war unerforschtes Territorium, und Grant hatte die Gelegenheit, einen Vorstoß ins Unbekannte zu tun. Er war entschlossen, das Beste daraus zu machen.

Zuerst war er überrascht gewesen, als er entdeckt hatte, dass Muzorawas Arbeitsgruppe Flüssigkeitsdynamik aus dem Sudanesen allein bestand.

»Ich dachte, Tamiko arbeite mit Ihnen«, hatte er gesagt.

»Das ist richtig, sie hatte sich mit der Atmosphäre und den dort herrschenden Strömungsverhältnissen beschäftigt, aber sie wurde der Arbeitsgruppe Europa zugeordnet, um dort am Problem des Ozeans mitzuarbeiten.«

Muzorawa erzählte ihm, dass es zwei Flüssigkeitsdynamiker in seiner Abteilung gegeben habe.

»Lucy Denora war eine tüchtige Wissenschaftlerin mit einem erstklassigen Verstand«, erinnerte er sich. »Aber in dem Augenblick, als die Dienstpflicht abgelaufen war, floh sie zurück in die Heimat. Inzwischen hat sie es dort zur Universitätsdozentin gebracht. Hin und wieder stehen wir noch in Verbindung.« Er schmunzelte. »Aber von dieser Station will sie nichts mehr wissen. Sie zieht ihre heimatliche Umgebung vor.«

»Und wer war Ihr anderer Assistent?«, fragte Grant.

»Kein Assistent, mein Freund. Es war Dr. Wo persönlich.«

»Er ist ein Flüssigkeitsdynamiker?«

»Er war es, bevor er zum Direktor der Station befördert wurde. Trotzdem arbeiteten wir ziemlich lange zusammen, bis …« Er brach ab.

»Bis zum Unfall«, ergänzte Grant.

»Sie wissen davon?«

»Ein wenig.«

»Ein wenig Wissen kann gefährlich sein«, sagte Muzorawa.

»Dann sollte ich mich um mehr Wissen bemühen«, erwiderte Grant.

Das bestritt Muzorawa nicht. Aber er tat auch nichts, um Grants Wissen über den Unfall zu erweitern.

Das Hauptproblem, mit dem sie zu tun hatten, bestand darin, dass sie Bedingungen zu untersuchen hatten, die noch nie direkt beobachtet, geschweige denn erfahren und an Ort und Stelle gemessen worden waren.

Die von außen gewonnen Messdaten waren zudem sehr spärlich. Dutzende von unbemannten Sonden waren in die ungemessenen Tiefen des Jupiterozeans entsandt worden, aber nur wenige hatten Messdaten übermittelt, und diese waren nicht mehr als vereinzelte Lichtpunkte in der unermesslichen Finsternis von Unwissenheit.

Unter dem massiven Druck von Jupiters Schwerkraft wird die dichte, turbulente Atmosphäre ungefähr siebzigtausend Kilometer unter der sichtbaren Wolkenoberfläche zu Flüssigkeit komprimiert: einem seltsamen und unbekannten Ozean, dessen Wasser stark von Ammoniak und Schwefelverbindungen durchsetzt ist.

Doch liegt die Temperatur des Ozeans weit unter dem Gefrierpunkt, wie er auf Erden normal ist. Unter dem ungeheuren Druck bleibt das Wasser trotz der niedrigen Temperatur flüssig. Mit zunehmender Tiefe aber wird die See wärmer, erhitzt von der Glut im Innern des Planeten.

Dieser Ozean ist wenigstens fünftausend Kilometer tief. Mehr als fünfhundertmal tiefer als der tiefste ozeanische Graben auf Erden.

Und das lag noch im Oberflächenbereich des gigantischen Jupiter. Zum ersten Mal begann Grant zu verstehen, wie ungeheuer groß Jupiter war. Die Zahlen allein reichten nicht aus, um einen zutreffenden Eindruck zu vermitteln; sie konnten es nicht. Jupiter war einfach zu groß für bloße Zahlen.

Ein Ozean, dessen Oberfläche die gesamte Erdoberfläche um das Zehnfache übertraf und fünhundertmal tiefer als die Erdozeane war und doch nur wie eine dünne Zwiebelschicht die gigantische Masse des Planeten umhüllte. Unter diesem Ozean liegt eine weitere See, eine unvorstellbar immense See von flüssigem Wasserstoff und Helium, beinahe sechzigtausend Kilometer tief. Nahezu achtmal tiefer als der gesamte Erddurchmesser!

Und darunter steigt der Druck weiter an, erreicht das Millionenfache des normalen atmosphärischen Druckes und komprimiert den Wasserstoff zu festem Metall, das eine Temperatur von einigen zehntausend Grad hat. Unter diesem Mantel von metallischem Wasserstoff mag eine weitere Schicht aus flüssigem Helium liegen. Auf Erden wird Helium nur wenige Grade über dem absoluten Nullpunkt flüssig. Doch tief im Innern Jupiters wird Helium trotz der hohen Temperaturen im Kernbereich des Planeten verflüssigt, weil der unvorstellbare Druck von oben den Heliumatomen nicht mehr Raum genug gibt, um in den gasförmigen Zustand überzugehen.

Im Herzen des Planeten liegt ein massiver Kern aus Gestein und Metall, wenigstens fünfmal größer als die Erde, glühend unter dem ungeheuren Druck der planetarischen Masse, die auf ihm lastet. Seit mehr als vier Milliarden Jahren hat die immense Schwerkraft den Planeten langsam und unerbittlich zusammengedrückt und Gravitationsenergie in Hitze umgewandelt, sodass die Temperatur dieses festen Kerns auf dreißigtausend Grad Celsius anstieg und die Energie erzeugt, die den Planeten von innen erhitzt. Dieser heiße, massive Kern ist der ursprüngliche Protoplanet aus der Zeit, in der sich das Sonnensystem bildete, der Kern, um den sich allmählich Schichten von Wasserstoff und Helium und Ammoniak sammelten, von Methan und Schwefelverbindungen und Wasser.

Jupiters Kern war weit jenseits der Möglichkeiten irgendeiner Sondenerkundung. Grant musste sich mit Gleichungen zufriedengeben, die Schätzungen über den Zustand ermöglichten. Aber diese Zwiebelschale von Wasser, die den Ozean ausmachte, war jetzt seine Domäne. Er war entschlossen, ihre Geheimnisse zu erfahren, ihre Tiefen zu ergründen, ihre Geheimnisse aufzudecken. Die erste bemannte Mission war katastrophal gescheitert, weil sie auf die Bedingungen, die dort unten herrschten, nicht hinreichend vorbereitet gewesen war. Wo scheute keine Anstrengung, um sicher zu gehen, dass die nächste bemannte Mission in den Jupiterozean nicht in gleicher Weise enden würde.

Durch die rasche Umdrehung des Planeten gab es in dieser See schnelle und gefährliche Strömungen, angetrieben auch von den wilden, orkanartigen Winden der dichten Wolkenatmosphäre. Auch die Konvektionswärme aus dem Kernbereich erzeugte starke Unterströmungen, die oft in anderen Richtungen verliefen als die der oberen Schichten. So befand sich der Jupiterozean in ständiger turbulenter Bewegung. Orkane rasten über seine Oberfläche und wühlte die See mit der Energie von tausend Taifunen auf.

Muzorawa verbrachte jetzt sehr wenig Zeit im Labor; die meisten seiner wachen Stunden wurden von der Ausbildung für die Mission der Tauchsonde in Anspruch genommen. Dann und wann erschien er im Labor für Flüssigkeitsdynamik, manchmal auch unangemeldet, aber die meiste Zeit arbeitete Grant allein und rang mit dem Bemühen, ein Muster der großen globalen Strömungen kartographisch zu erfassen. Anfangs hatten ihn die langen Abwesenheiten seines Mentors beunruhigt, doch als die Wochen dahingingen, begriff Grant, dass Muzorawa ihm zutraute, die notwendige Arbeit zu tun. Ich entlaste ihn für die Tiefenmission, sagte sich Grant. Wäre ich nicht hier, diese Arbeit zu tun, würde er sich nicht auf die Mission vorbereiten können.

Eines Spätnachmittags betrat Muzorawa das Labor und ließ sich müde auf den leeren Stuhl neben Grant sinken.

»Wie geht es mit der Arbeit, mein Freund?«

»Sie glauben, jemand würde die Bewegungsgleichungen für turbulente Strömungen gelöst haben?«, fragte Grant, von der Arbeit aufblickend.

»Ja, die turbulenten Strömungen.« Muzorawa zeigte trotz seiner offensichtlichen Erschöpfung ein blitzendes Lächeln. »In all den Jahrhunderten, in denen Physiker und Mathematiker turbulente Strömungen studiert haben, ist man der Lösung nicht näher gekommen.«

»Weil es chaotisch ist«, klagte Grant. »Man kann das Verhalten turbulenter Strömungen nicht von einem Augenblick zum nächsten vorhersagen.«

»Ist das eine neue Maßeinheit, die Sie erfunden haben, der Augenblick?«, fragte Muzorawa lächelnd.

»Nein, ich glaube, Galilei hat sie erfunden«, erwiderte Grant scherzend.

»Wenn Sie die Gleichungen turbulenter Strömung lösen könnten, könnten Sie Monate im Voraus das Wetter vorhersagen«, sagte Muzorawa und strich sich das bärtige Kinn. »Der Nobelpreis wäre Ihnen sicher. Wenigstens.«

»Wenigstens«, stimmte Grant zu.

»Bis dahin müssen Sie das Beste tun, was Sie können. Wir müssen so viel wie möglich über die Strömung wissen, und wie sie sich mit der Tiefe verändert.«

»Ich arbeite daran«, sagte Grant ohne große Zuversicht. »Aber die Messdaten sind spärlich und stammen von weit entfernten Punkten, und die Mathematik ist nicht sehr hilfreich.«

»Situation normal«, sagte Muzorawa. »Alles beschissen.«

Grant errötete. Bisher hatte er nie gehört, dass Muzorawa Fäkal-Ausdrücke gebrauchte.

»Ich muss schlafen«, sagte Zeb. »Dr. Wo hat uns alle unbarmherzig angetrieben.« Er stand schwerfällig auf und fügte dann als nachträglichen Einfall hinzu: »Und sich selbst unbarmherziger als uns alle.«

Grant stand mit ihm auf. »Dr. Wo treibt sich selbst an? Warum?«

»Er beabsichtigt, die Mission zu leiten«, sagte Muzorawa. »Wussten Sie das nicht?«

»Das heißt, er will mit Ihnen in die Tauchsonde?«

»Das ist seine Absicht.«

»Aber er kann nicht gehen! Er kann nicht einmal seinen Stuhl verlassen.«

»Doch, er kann. Die Therapien beginnen endlich anzuschlagen. Er kann jetzt ohne Hilfe aufstehen — mit Klammern an den Beinen.«

»Trotzdem, in diesem Zustand kann er keine Mission in den Ozean leiten.«

Muzorawa ging zur Tür, und Grant sah, dass er auch Schwierigkeiten beim Gehen hatte. Kopfschüttelnd erwiderte Zeb: »Er behauptet, es sei unwichtig. Tatsächlich brauchen wir innerhalb der Tauchsonde unsere Beine nicht.«

»Wieso nicht?«

»Wir werden alle in verdichtetem PFCL eingetaucht sein. Es ist die einzige Möglichkeit, die Schwerkraft und den Druck einer Tieftauchmission zu überleben.«

»Was ist PFCL?«, fragte Grant.

»Perfluorcarbon. Es befördert Sauerstoff in die Lungen und entfernt Kohlendioxid. Wir werden eine unter Druck stehende Flüssigkeit atmen.«

»Darin werden Sie schwimmen?«, fragte Grant.

»Richtig. Es ist wie Schwerelosigkeit. Darum trainieren wir im Delphintank für die Mission.«

»Das wusste ich nicht.«

Muzorawa legte einen Finger an die Lippen. »Jetzt wissen Sie es, mein Freund.«

4. SIMULATIONEN

Grant wollte Lane über den Delphintank fragen, hatte sich aber gezwungen, ihr seit dem Abend, den er in ihrem Quartier verbracht hatte, aus dem Weg zu gehen. Meide die Versuchung, sagte er sich streng. Seine Abende verbrachte er damit, dass er Marjorie lange, wortreiche Botschaften sandte und ihre an ihn gerichteten von neuem las.

Zu seiner Überraschung hatte es wegen seiner befleckten Hose keine Auswirkungen gegeben. Entweder hatten die Wachen, die ihn an jenem Abend gesehen hatten, den Vorfall nicht für wichtig genug gehalten, um ihn zu melden, oder die Klatschmäuler der Station fanden ihn nicht der Beachtung würdig. Wenn er zufällig mit O'Hara zusammentraf, war sie freundlich und höflich, geschäftsmäßig und kameradschaftlich zugleich. Der flüchtige Kuss, der Grant so sehr beschäftigt hatte, wurde nicht erwähnt. Es gab keine persönlichen Gefühle, die er ausmachen konnte.

Du machst aus einer Mücke einen Elefanten, sagte sich Grant immer wieder. Aber trotz seiner angestrengten Bemühungen, es nicht zu tun, träumte er von O'Hara. Wie bringt man es fertig, nicht an etwas zu denken?, fragte er sich. Finde kein Vergnügen darin, hörte er den Rat seines moralischen Beraters aus Jugendtagen. Wenn du rigoros jeden Gedanken zurückweist, der Vergnügen bereitet, dann ist keine Sünde dabei.

Er betete um die Kraft, der Versuchung zu widerstehen. Doch je mehr er betete, desto mehr dachte er an Lane. Geschlechtslos, hatte sie gesagt. Die elektronischen Biochips blockierten irgendwie den Sexualtrieb. War das eine zufällige Nebenwirkung? Oder hatte Dr. Wo es absichtlich so gemacht?

Immer wieder las er jede Botschaft, die er von Marjorie erhielt, mehrmals und hütete sie wie einen seltenen Schatz, wie ein Ertrinkender, der sich an eine Schwimmweste klammert. Bis …

Marjorie saß an einem Schreibtisch in einer Art Büro, oder vielleicht war es ein Krankenhaus. Grant konnte nicht genug vom Hintergrund erkennen, um es zu beurteilen. Außerdem war seine Aufmerksamkeit auf Marjorie konzentriert, auf ihre seelenvollen braunen Augen und das schöne dunkle Haar. Sie hatte es kurz geschnitten, und nun umrahmte es ihr Gesicht mit dicken, üppigen Locken.

»Ich denke, das sind alle Neuigkeiten von hier in Bolivien«, sagte sie munter. »Sie schicken mich für einen Monat Heimaturlaub nach Hause. Ich werde die Gelegenheit nutzen, um deine Eltern zu besuchen.«

Bevor Grant daran denken konnte, fügte sie hinzu: »Ach ja, und Mr. Beech rief an, um zu sagen, er habe nichts von dir gehört. Er hätte gern Nachricht von dir, wenn du eine Gelegenheit findest.«

Ellis Beech.

»Das ist alles für heute, Liebling. Ich werde dir eine Nachricht schicken, wenn ich im Haus deiner Eltern bin. Wiedersehen! Ich liebe dich!«

Der Bildschirm wurde dunkel, und Grant sackte in seinen Stuhl zurück. Beech wollte von ihm hören. Das kann ich mir denken, dachte Grant. Aber ich habe ihm nichts zu erzählen.

Bisher hatte die Neue Ethik keinerlei Druck auf ihn ausgeübt; man hatte nicht einmal versucht, Verbindung mit ihm aufzunehmen. Und Grant konnte ihnen nichts weiter melden als dass eine bemannte Tauchsonde in den Ozean katastrophal gescheitert war und Dr. Wo eine weitere Mission vorbereitete. Das wussten sie bereits, sagte er sich. Er war seit Monaten in der Station und wusste nicht mehr als Ellis Beech schon damals gewusst hatte, als ihm der Auftrag erteilt worden war.

In gewisser Weise war er beinahe froh darüber. Es ärgerte ihn, auf Befehl die Wissenschaftler zu bespitzeln, zum Jupiter hinausgeschickt zu werden, um das Schnüffelbedürfnis eines Mannes wie Beech und seiner unsichtbaren, aber mächtigen Vorgesetzten zu befriedigen. Er musste entscheiden, auf welcher Seite er stehen wollte, hatte Beech ihm gesagt, aber warum muss es gegensätzliche Seiten geben? Warum konnte man Jupiter nicht studieren, ohne dass die Neue Ethik ihre Nase hineinsteckte?

Verwirrt und niedergeschlagen saß Grant noch stundenlang wach und ließ alle Botschaften, die er von Marjorie erhalten hatte, nochmals über den Bildschirm gehen. Er fand, dass er sich ihr Gesicht nicht vorstellen konnte, wenn er ihre Videos nicht sah.

Der Schlaf wollte sich nicht einstellen. Er war zu aufgeregt, zu ärgerlich. Seine Gedanken drehten sich im Kreis, immer und immer wieder. Endlich zog er einen Overall über und tappte barfuß hinunter zur Cafeteria, um sich heißen Kakao zu holen. Sie war leer, die Deckenbeleuchtung auf Nachteinstellung reduziert. Als er vor dem Getränkeautomaten stand und überlegte, ob ein Becher Tee nicht vielleicht besser für ihn wäre, sah er Red Devlin zwischen den leeren Tischen auf sich zukommen.

»Noch spät auf den Beinen, wie?«, sagte Devlin munter. »Irgendwie finde ich heute Nacht keinen Schlaf.«

Devlin neigte den Kopf auf die Seite, wie ein Buntspecht mit roter Kappe. Er zeigte mit dem Daumen zum Getränkeautomaten und sagte: »Nichts da drinnen wird viel helfen, wissen Sie.«

Grant sagte: »Vielleicht ein heißer Kakao …«

Devlin schüttelte den Kopf. »Ich habe genau, was Sie brauchen. Ein paar von diesen«, sagte er und zog eine Hand voll Pillen aus der Hosentasche, »und Sie werden schlafen wie ein Säugling.«

»Drogen?«, jaulte Grant.

Devlin schüttelte den Kopf und lachte. »Und was meinen Sie, ist Kakao? Oder Koffein?«

»Das sind keine Narkotika.«

Devlin steckte die Pillen wieder ein. »Gegen Ihre Religion, wie?«

Grant nickte und verbiss sich die Antwort, die er geben wollte. Ein Mann, der Narkotika verkauft, ist das personifizierte Böse, wusste er. Aber Devlin schien nur helfen zu wollen — auf seine eigene unwissende Art und Weise.

»Vielleicht brauchen Sie in Wirklichkeit eine Anregung«, überlegte Red Devlin. »Ein VR-Programm. Ich habe einige wirklich heiße Sachen, energiegeladen, wissen Sie.«

Doch ehe Grant antworten konnte, lachte Devlin und sagte: »Aber das würde auch gegen Ihre Religion sein, nicht wahr?«

»Ja, das würde es«, sagte Grant steif.

»Nun, dann kann ich nicht viel für Sie tun, fürchte ich«, sagte Devlin gutmütig. »Aber sollten Sie mich jemals brauchen, wissen Sie, wo ich zu finden bin.« Er schlenderte durch den halbdunklen Korridor davon und pfiff eine Melodie, die Grant nicht kannte.

Dr. Wo sollte ihn nicht in dieser Station bleiben lassen, sagte sich Grant. Was er verkauft, ist schlecht, sündhaft. Trotzdem fragte er sich, wie Sex in virtueller Realität sein würde. Wäre es wirklich eine Sünde? Vielleicht wenn er sich selbst mit Marjorie vorstellen könnte …


* * *

Grant verbrachte beinahe alle wachen Stunden im Labor für Flüssigkeitsdynamik und arbeitete in verbissener Hartnäckigkeit an einer detaillierten Karte der turbulenten ozeanischen Strömungen, beruhend auf den spärlichen Daten von den unbemannten Sonden. Das Lehrmaterial, das von der Universität Kairo geschickt worden war, blieb in seinem Computer, unberührt und unbeachtet.

Eines Spätnachmittags kam Karlstad ins Labor geschlendert, ein wissendes, überlegenes Grinsen im blassen Gesicht. Grant war allein unter den summenden Computern und den stummen Experimentiergeräten.

»Sie haben wirklich die Neigung, einen Eremiten aus sich zu machen, Grant«, sagte er und zog den Bürosessel auf seinen Rollen vom Nebenplatz zu Grant.

Dieser blickte von den Darstellungen auf seinem Bildschirm auf und murmelte: »Die Arbeit erledigt sich nicht von selbst.«

»Ein Jammer, dass Sie nicht in der Biologie sind«, sagte Karlstad. »Zum Beispiel helfe ich zurzeit der Biogruppe von Callisto einige ihrer frostharten Foraminiferen in Kulturen zu züchten.«

»Tatsächlich?« Grant wandte sich wieder dem Bildschirm zu.

»Tatsächlich«, bestätigte Karlstad, lehnte sich zurück und verschränkte die Hände hinter dem Kopf. »Hilfreiche kleine Geschöpfe. Die Foraminiferen vermehren sich ganz von selbst in der Versuchsanlage, die ich für sie gebaut habe. Sie simuliert sehr hübsch das eisbedeckte Meer auf Callisto. Die Foraminiferen tun alle Arbeit, und ich treibe mich in der Station herum …«

»… und hindern Leute daran, ihre Arbeit zu erledigen«, vollendete Grant den Satz.

Karlstad gab sich verletzt. »Ist das eine Art, einen Kollegen zu behandeln?«

»Nein, glaube, das war jetzt nicht höflich von mir.«

»Ich bin nicht hier, um Sie an irgendetwas zu hindern. Ich bin gekommen, um Ihnen eine Lernerfahrung zu bieten.«

»Was?«

Karlstad beugte sich näher. »Zeb und Laynie gehen zusammen in den Tank.«

Grant blieb der Mund offen stehen. »Was … was heißt das?«

Karlstad lachte. »Entspannen Sie sich. Tun Sie die Augen in den Kopf zurück.«

Grant errötete und versuchte sein Vorstellungsbild von O'Hara und Muzorawa zusammen im Delphintank zu löschen. Sie können nichts tun, sagte er sich. Sie haben beide implantierte Biochips. Trotzdem sah er sie nackt und geschmeidig durchs Wasser gleiten.

»Sie gehen in den Simulationstank«, sagte Karlstad. Es war offensichtlich, dass er Grants unverkennbare Verblüffung genoss.

Bevor Grant etwas erwidern konnte, ergänzte er: »Und der alte Wo geht mit ihnen hinein.«

»In den Simulationstank«, sagte Grant dumpf.

Karlstad nickte. »Der Test soll strikt unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfinden; ausgenommen sind nur die Techniker, die für die Simulation gebraucht werden.«

Er sagte es so, dass Grant überzeugt war, Karlstad habe noch einen Trumpf im Ärmel. Und Karlstad fuhr denn auch fort: »Aber ich habe eine direkte Leitung zu den Kameras, die den Test aufzeichnen.«

»Wirklich? Wie?«

Der Biophysiker mahnte mit erhobener Hand zur Geduld und sagte: »Ich kann meine Quellen nicht preisgeben. Aber wenn Sie mir erlauben …«

Er wandte sich zu dem Datenanschluss neben Grant zu und zog die Tastatur heraus. Er blies Staub von den Tasten, dann brachte er die Maschine manuell in Gang und gab eine lange, komplexe Reihe von Ziffern und Buchstaben ein. Grant beobachtete, gegen seinen Willen fasziniert, wie der Bildschirm flackernd aufleuchtete.

Und da stand O'Hara in dem schmalen Korridor vor dem Delphintank, gekleidet in einen glatten, weißen, hautengen Tauchanzug, der im Licht glänzte, als wäre er bereits nass. Sie schienen aus einiger Höhe herabzublicken. Grant erkannte, dass sie die Ansicht von einer in die Deckenverkleidung eingebauten Kamera im Korridor empfingen.

»Sollen wir das Bild auf den Wandbildschirm schalten?«, fragte Karlstad.

»Und wenn jemand hereinkommt?«

Er zuckte die Achseln. »Ich werde den Bildschirm löschen, bevor sie Gelegenheit haben, sich darüber klar zu werden, was wir sehen.«

»In Ordnung«, sagte Grant und nickte.

Im Wandbildschirm erschien das Bild lebensgroß, aber etwas körnig. Er muss eine Mikrokamera benutzen, dachte Grant, mit einer faseroptischen Verbindung. O'Haras glatter weißer Tauchanzug haftete wie eine Haut an ihr. Sie hat keine so tolle Figur, sagte sich Grant. Schlank, beinahe knabenhaft. Beinahe.

Muzorawa kam in Sicht. Sein Tauchanzug war hellgrün, ließ aber seine kräftigen Beine bloß. Sie waren mit Implantaten besetzt, deren Metallknöpfe dicht an dicht aus der Haut standen, wie die offenen Stellen eines Leprakranken. Kein Wunder, dass sie die ganze Zeit lange Hosen tragen, dachte Grant. Ihn schauderte vor der Hässlichkeit der Verunstaltung.

Ein halbes Dutzend Techniker in grauen Overalls waren geschäftig an der Arbeit. Karlstad bediente eine Taste, und der Blickwinkel veränderte sich. Nun sahen sie über Muzorawas Schulter in den Delphintank. Aber es waren keine Delphine in Sicht. Statt ihrer enthielt der Tank etwas, was wie die Nachbildung einer Schalttafel aussah, eine breite, etwas gekrümmte Anordnung von Bildschirmen, Reihen von Kontrolleuchten und Knöpfen.

Grant sagte: »Hoffentlich platzt Sheena nicht dazwischen.«

»Nein, nein«, versicherte ihm Karlstad. »Die kleine Sheena ist sicher in ihrer Kammer, ruhig gestellt bis zu den knochigen Augenbrauen. Sie schläft wie ein Säugling.«

Zwei Techniker in dunkelgrauen Tauchanzügen stiegen die Leiter hinauf, die in die Trennwand zwischen zwei Tanks montiert war, und sprangen mit mächtigem Aufklatschen ins Wasser.

Grant sah, wie sie sich am Boden des Tanks niederließen. Blasen perlten von ihren Gesichtsmasken nach oben.

»Könnt ihr Nachtwächter nicht in den Tank hinein, ohne dass die Hälfte vom Wasser herausschwappt?«, schimpfte eine nasale Stimme. Der Versuchsleiter, dachte Grant, der alles von einem zentralen Punkt überwachte.

Die beiden Techniker winkten fröhlich vom Boden des Tanks.

»Also los«, sagte die Stimme des Versuchsleiters, etwas kratzig durch elektrostatische Störungen. »Lassen wir die Simulation durchlaufen.«

O'Hara nickte und zog die Haube ihres Tauchanzugs und ein transparentes Visier über den Kopf, das ihr ganzes Gesicht bedeckte. Zwei der Techniker halfen ihr mit den Armen durch die Schultergurte eines Sauerstoffbehälters, dann schlossen sie an dessen oberem Ende einen dünnen Schlauch an und führten ihn zu ihrer Gesichtsmaske. Um ihre schmalen Hüften legten sie einen mit Gewichten beschwerten Gürtel. O'Hara schloss die Schnalle.

Zwei andere Techniker taten das Gleiche für Muzorawa. Schließlich überprüften sie, dass die Luftzufuhr durch die Schläuche funktionierte.

»Hier alles klar«, sagte O'Hara. Ihre Stimme war durch die Maske gedämpft.

Muzorawa verlangte einen etwas stärkeren Luftstrom, und ein Techniker justierte die Einstellung auf seiner Sauerstoffflasche. Dann nickte er und machte einen Kreis mit dem rechten Daumen und Zeigefinger.

O'Hara wandte sich um und stieg die Leiter zum oberen Rand des Tanks hinauf. Grant sah, dass sie barfuß war.

»Radioüberprüfung«, sagte eine körperlose Stimme.

»O'Hara auf eins«, sagte sie. Es hörte sich etwas undeutlich an. Offenbar hatte sie ein kleines Funkgerät, eingebaut in die Gesichtsmaske.

Aber die Stimme des Versuchsleiters sagte: »Im Grün. Vorwärts und hinein.«

O'Hara schwang ihre langen Beine über den Rand des Tanks und glitt ins Wasser, ohne mehr als ein paar Riffel zu hinterlassen.

»Nun, das ist die Art und Weise, wie man ins Wasser geht«, sagte die bewundernde Stimme des Versuchsleiters.

Die beiden Techniker unten im Tank machten übertriebene Applausbewegungen.

Muzorawa erstieg die Leiter erheblich langsamer und schwerfälliger als O'Hara. Grant hatte den Eindruck, dass Zeb Schwierigkeiten bei der Koordination der Beinbewegungen hatte. Aber er schaffte es hinauf, schwang beide Beine über den Rand, als wären sie steife Holzstücke, und plumpste ins Wasser.

»Nun kommt der langweilige Teil«, murmelte Karlstad.

»Und was ist das?«

Grinsend antwortete Karlstad: »Die Arbeit, natürlich.«

O'Hara und Muzorawa glitten zu der Schalttafel und steckten ihre bloßen Füße in am Boden befestigte Schleifen. Die beiden Techniker hielten sich hinter ihnen in Bereitschaft.

»Simulation eins-a«, verkündete die Stimme des Versuchsleiters. »Trennung und Systemüberprüfung. Manuelles Verfahren.«

Die Schalttafel war in Brusthöhe angeordnet, sah Grant. Die zwei Scooter standen davor, verankert in den Fußschlingen, und arbeiteten sich durch eine lange Checkliste, die vom Versuchsleiter Punkt für Punkt angesagt und kontrolliert wurde. Es war wirklich langweilig, dachte Grant. Eintönig und sich immer wiederholend.

»Sie sagten, Dr. Wo werde an dieser Simulation teilnehmen«, sagte Grant zu Karlstad.

»Er wird schon kommen.«

»Wann?«

»Wenn das langweilige Routinezeug erledigt ist, wird der Alte seinen dramatischen Auftritt inszenieren, keine Bange.«

Ich sollte arbeiten, dachte Grant. Ich sollte die Daten in die Gleichungen einsetzen, um zu sehen, wie sie die Strömungskarten beeinflussen. Stattdessen aber beobachtete er O'Hara und Muzorawa, während sie geduldig und methodisch die Simulation absolvierten.

»Das ist der Trennungsvorgang«, sagte Karlstad. »Die Loslösung der Tauchsonde von der Station.«

»Und das dauert so lange?«

Karlstad grunzte. »Sie können nicht starten, bevor alle Bordsysteme doppelt kontrolliert sind und die Nabelschnur, die sie mit der Station verbindet, gekappt ist.«

»Aber trotzdem, können diese Verfahrensweisen nicht automatisiert werden? Ich meine, es gibt zuverlässige Computerprogramme für Systemüberprüfungen …«

»Achtung!«, unterbrach ihn Karlstad. »Da kommt er.«

Grant konnte nur die Techniker außerhalb des Tanks sehen, die sich umwandten und den Korridor entlangspähten, wo etwas oder jemand jenseits des Aufnahmewinkels der Kamera war. Er hörte Karlstad wieder die Computertastatur bedienen. Der Aufnahmewinkel veränderte sich und zeigte Dr. Wo, der in seinem elektrischen Rollstuhl zum Tank fuhr. Er trug einen hellroten Tauchanzug mit glänzenden Metallklammern über der unteren Hälfte seiner jämmerlich dünnen, schwachen Beine.

Wo rollte zum Tank, und die Techniker bildeten einen ehrerbietigen Halbkreis um seinen Rollstuhl.

»Dr. Wo«, sagte die körperlose Stimme des Versuchsleiters. »Wir haben den Trennungsvorgang abgeschlossen und sind bereit, mit der Simulation von Zündung und Eintritt zu beginnen.«

»Gut«, sagte der Direktor. »Ich werde jetzt an der Simulation teilnehmen.«

Niemand sagte ein Wort. Niemand rührte sich. Wo stemmte sich hoch und stand unsicher auf seinen von Stahlklammern gestützten Beinen. Nach einem langen, atemlosen Augenblick tat er einen Schritt zur Leiter. Noch einen Schritt. Mein Gott, dachte Grant, er tappt dahin wie Frankensteins Monster. Ohne ihre Hilfe wird er nie die Leiter hinaufkommen.

Als hätte er seine Gedanken gelesen, sagte Karlstad: »Der Handel, den unser Herr und Meister mit dem Versuchsleiter abgeschlossen hat, ist folgender: wenn er ohne fremde Hilfe die Leiter hinaufkommt, kann er in den Tank steigen und an der Simulation teilnehmen. Andernfalls nicht.«

»Als ob der Versuchsleiter ihm etwas verweigern könnte«, höhnte Grant.

»Während der Simulation ist der Versuchsleiter die oberste Instanz. Unangefochten. Wenn er nein sagt, ist es nein. Es spielt keine Rolle, zu wem er spricht. Für die Dauer der Simulation ist er der Chef.«

»Und danach?«

Karlstad zuckte die Achseln.

Wo stand wie unschlüssig am Fuß der Leiter und atmete tief durch. Der Mann tat Grant beinahe Leid. Es hatte ihn all seine Energie gekostet, die wenigen Schritte vom Rollstuhl zur Leiter zu tun. Sicherlich würde er es nicht schaffen …

Plötzlich ergriff Wo die Sprossen der Leiter und zog sich Hand über Hand mit nutzlos baumelnden Beinen hinauf. Grant sah, wie ihm Schweißperlen auf die Stirn traten, sah seine zusammengebissenen Zähne, die unbedingte Entschlossenheit. Er schaffte es bis zum oberen Ende der Leiter, schwang die Beine über den Rand und ließ die Füße ins Wasser hängen.

Zwei Techniker stiegen eilig die Leiter hinter ihm hinauf, brachten ihm die Gesichtsmaske, die Sauerstoffflasche und Gewichte. In kaum zwei Minuten hatten sie Wo für den Tauchgang ausgerüstet. Er stieß sich vom Rand des Tanks ab und platschte unbeholfen ins Wasser. Einer der Techniker begann zu applaudieren, doch als er sah, dass er allein war, ließ er es verlegen sein.

Wo sank zum Grund des Beckens und schwamm scheinbar mühelos zur Schalttafel, wo er seinen Platz zwischen O'Hara und Muzorawa einnahm.

»Man muss es ihm lassen, er hat Schneid«, sagte Karlstad widerwillig.

Grant nickte.

»Mich werden Sie nie in diesen Fischtank springen sehen«, bemerkte Karlstad.

»Sie nehmen nicht teil an der Mission?«

»Ich? Seien Sie nicht albern!«

»Aber ich dachte …«

»Wo bestimmte mich für die Mannschaft, ja«, gab Karlstad zu. »Ich werde einer der Überwachungstechniker in der Zentrale sein, wenn die Tauchsonde startet. Aber das ist alles! Sie kriegen mich nie in diese Todesfalle, solange sie mir nicht eine Pistole an den Kopf halten. Vielleicht nicht einmal dann.«

5. „DER ZORN LI ZHANG WOS“

Es war langweilig und faszinierend zugleich, die drei bei der Simulation zu beobachten. Grant sagte sich immer wieder, dass er an seine Arbeit zurückkehren sollte, statt seine Zeit so zu vergeuden, aber er konnte den Blick nicht vom Bildschirm wenden.

Dr. Wo hatte offensichtlich die Leitung übernommen und seine Freude daran. Statt wie O'Hara und Muzorawa vor der Schalttafel verankert zu bleiben, zog er die Füße aus den Halteschlingen und trieb fast schwerelos wie ein träger Dugong in dem großen Tank. Bald schwebte er über den beiden, bald trieb er gemächlich von einer Seite zur anderen. Dabei gab er die Anweisungen und übernahm den gesamten Sprechverkehr mit dem Versuchsleiter.

»Es macht ihm Spaß, wie man sieht«, sagte Grant.

Karlstad grunzte. »Das erste Mal seit dem Unfall, dass er sich ohne seinen Rollstuhl bewegen kann.«

»Kein Wunder, dass es ihm gefällt.«

»Ihm gefällt auch das Gefühl von Macht, vergessen Sie das nicht.«

»Das kann er die ganze Zeit haben«, konterte Grant. »Hier hat er mehr Macht als Gott … so ungefähr.«

»Es gibt verschiedene Arten von Macht, Grant. Im Augenblick, in diesem Tank, fühlt er sich körperlich stark. Ich wette, im Hintergrund seines Bewusstseins denkt er, er könne Laynie packen und vernaschen, und sie würde es toll finden.«

Grant merkte, wie er errötete, und Karlstad kicherte boshaft. »Das hat einen Nerv getroffen, was?«

»Ich glaube eher, dass Sie von sich auf andere schließen. Und ich finde, Sie können manchmal ziemlich ordinär sein, Egon.«

Karlstad zuckte geringschätzig die Achseln. »Warum nicht? Man soll die Dinge beim Namen nennen.«

»Ich dachte, die Biochips würden den Sexualtrieb kurzschließen«, sagte Grant.

»Wer hat Ihnen das erzählt?«

»Lane.«

Karlstads wissendes Grinsen wurde noch breiter. »Die Chips haben mit dem Trieb nichts zu tun; der ist im Kopf, im Gehirn.«

»Aber …«

»Anscheinend schalten sie alle sensorischen Nerven unterhalb der Gürtellinie aus«, fuhr Karlstad fort. »Das muss Wos brillante Idee gewesen sein.«

»Warum sollte er das tun?«

»Die Besatzung der Tauchsonde wird wochenlang in diesem Scheibending zusammengepfercht sein. Wo will nicht, dass jemand von der Besatzung durch menschliche Schwächen vom Ziel des Unternehmens abgelenkt wird.«

Grant nickte. Wo hatte die Gefühle beseitigt, aber das Verlangen gelassen. Das musste ein höllischer Zustand sein.

»Ich muss zurück an meine Arbeit«, sagte Grant, überrascht, seine eigenen Worte zu hören.

»Sie wollen nicht den Rest der Simulation beobachten?«

»So interessant ist es nicht.«

»Laynie im Tauchanzug beobachten ist nicht interessant?«

Grant wandte sich wieder seinem Arbeitsplatz zu und brachte den Computer wieder in Gang. Auf dem Bildschirm erschien das Fraktalmuster, verschwand wieder und wurde ersetzt durch die Darstellung, an der Grant gearbeitet hatte, als Karlstad hereingekommen war.

»Oder vielleicht ist es zu interessant für Sie, Laynie zu beobachten? Ist es das?«, fragte Karlstad mit einem wölfischen Grinsen.

Grant sagte unwirsch: »Ich habe zu viel Arbeit zu erledigen, um herumzusitzen und zu …«

»Halt!«, rief die Stimme des Versuchsleiters. »Medizinische Unterbrechung.«

Die drei Leute im Tank blickten auf. Blasenketten stiegen von ihren Masken auf.

»Dr. Wo«, sagte der Versuchsleiter, »wir registrieren einen scharfen Anstieg Ihres Blutdrucks. Auch Ihr Puls geht bedenklich in die Höhe.«

»Das ist vorübergehend. Überwachen Sie weiter und …«

»Die Bestimmungen für Simulationsversuche verlangen eine Unterbrechung, wenn eine der beteiligten Personen die festgesetzten medizinischen Parameter überschreitet, Dr. Wo«, sagte der Versuchsleiter in respektvollem, aber festem Ton.

»Es ist nur vorübergehend, sage ich!«

O'Hara und Muzorawa hatten ihre Arbeit an der Schalttafel beendet. Rote Kontrollleuchten blinkten und warfen schimmernde Reflexe ins Wasser.

Womöglich noch ruhiger sagte der Versuchsleiter: »Dr. Wo, ich habe keine andere Wahl als die Simulation zu beenden.«

»Nicht nötig!«, rief Wo. Er fuchtelte ungeduldig mit den Armen.

»Aber die Sicherheitsbestimmungen …«

»Hier ist der ärztliche Dienst«, unterbrach ihn eine Frauenstimme. »Diese Simulation ist beendet.«

Karlstad, der noch neben Grant saß, lachte unterdrückt.

»Was ist komisch?«, fragte Grant.

»Verschiedenes. Erstens, zu sehen, wie Wos Machonummer in die Hosen geht.«

Wo stritt noch mit dem Versuchsleiter und der diensthabenden Ärztin. Aber inzwischen waren alle Kontrollleuchten auf der Schalttafel in einem gleichmäßigen Rot.

»Zweitens, zu wissen, dass sein Blutdruck noch höher steigt, weil er seinen Willen nicht haben kann.«

Grant fand das nicht lustig.

»Aber das Komischste von allem ist die Sache mit der Ärztin«, fuhr Karlstad fort. »Der Alte kann sie nicht fertigmachen.«

»Die Ärztin kann nicht überstimmt werden?«

»Diese nicht. Mit dem nächsten Versorgungsschiff wird sie abreisen. Und sie hat eine Professur an der Universitätsklinik in Basel. Wo kann ihr nichts anhaben.«

»Sie hat die Simulation abgeschaltet.«

»Ganz recht. Und ich denke, sie hat auch Wos Plan, die Tiefenmission zu leiten, zunichte gemacht.«


* * *

Die nächsten Wochen gingen als »der Zorn Li Zhang Wos« in die Stationsgeschichte ein. Enttäuscht in seiner Hoffnung, die bevorstehende Tiefenmission zu leiten, richtete der Stationsdirektor seinen Zorn gegen jeden, der ihm in die Quere kam. Dutzende von Scootern wurden summarisch aus der Station verbannt und in die gefrorenen Einöden Europas und der anderen Jupitermonde geschickt, der intensiven Strahlung des Riesenplaneten ausgesetzt und gezwungen, wochenlang in gepanzerten Schutzanzügen zu leben, während sie sich auf dem Eis wie gewöhnliche Ölfeld-Bohrarbeiter mit schweren Bohrausrüstungen abplacken mussten. Alle Techniker, die an der verhängnisvollen Simulation mitgearbeitet hatten, wurden versetzt. Mehrere wurden mit den schlechtesten Beurteilungen, die Wo schreiben konnte, zur Erde zurückgeschickt. Unter ihnen befand sich auch der Versuchsleiter, dessen Personalakte um eine vernichtende Bewertung seiner Tätigkeit in der Station bereichert worden war. Trotzdem waren sie alle froh, mit heiler Haut davonzukommen.

»Gegen Laynie und Zeb kann er nichts unternehmen«, sagte Karlstad inmitten des wochenlangen Wütens zuversichtlich zu Grant. Aber er flüsterte jetzt und sprach vom Direktor nur wenn sie unter vier Augen waren. »Er braucht sie für die Mission.«

»Wer wird die Mission leiten?«, flüsterte Grant zurück.

»Zeb wahrscheinlich, wenn Wo noch einen Rest von gesundem Menschenverstand hat. Zeb ist das tüchtigste Mitglied der Mannschaft.«

Grant war da nicht so sicher. Er ging Dr. Wo aus dem Weg, soweit es ihm möglich war, arbeitete still und fleißig im Labor für Flüssigkeitsdynamik und behielt eine saubere Weste. Er versuchte sogar Begegnungen mit O'Hara und Muzorawa zu vermeiden, da er befürchtete, dass Dr. Wo, wenn er schon nicht diese beiden Zeugen seiner Demütigung nicht direkt bestrafen konnte, seinen Zorn sehr leicht an ihren Freunden auslassen könnte.

»Er kann die Mission nicht einfach abschreiben«, flüsterte Karlstad, obwohl sie allein in seinem Quartier waren, nachdem die Cafeteria für den Abend geschlossen hatte. »Er muss einen neuen Leiter ernennen und die Aufgabenverteilung der Mannschaft neu ordnen.«

»Es gibt eine Vakanz bei der Besatzung«, sagte Grant. »Bedeutet das nicht, dass einer der Ersatzleute in die Liste der Aktiven aufgenommen wird?«

Karlstad machte große Augen. »Es gibt nur drei Ersatzleute.«

»Und Sie sind einer davon.«

»Mich wird er nicht auswählen«, sagte Karlstad und schüttelte den Kopf, als wollte er ihn von der bloßen Idee befreien. »Irene und Frankovic sind viel besser qualifiziert.«

Grant kannte die beiden kaum. Irene Pascal war eine Fachärztin für Neurophysiologie, Bernard Frankovic ein Biochemiker.

»Aber Sie sind einer der verfügbaren Ersatzleute«, bekräftigte Grant, überrascht, wie sehr er den Ausdruck schieren Entsetzens in Karlstads normalerweise ruhig und kühl blickenden Augen genoss.

»Er wird mich nicht auswählen«, murmelte Karlstad wieder. »Er wird nicht. Er kann nicht!«


* * *

Mehrere Tage später wurde die ganze Jupiter-Arbeitsgruppe zu Dr. Wo bestellt. Zu seiner Überraschung hatte man auch Grant in die Vorladung einbezogen. Warum ich?, fragte er sich. Aber er achtete darauf, dass er mehrere Minuten vor der angegebenen Zeit den Konferenzraum neben dem Büro des Direktors erreichte.

Neun Männer und Frauen drängten sich in dem kleinen, nüchternen Raum, davon vier in den schwarzen, mit Metallknöpfen besetzten Leggings, die sie als Besatzungsmitglieder oder Ersatzleute kennzeichneten. Eine Weile standen sie herum und sprachen in vorsichtigem Flüsterton miteinander, bis der Augenblick der Sitzungseröffnung gekommen war.

Genau in diesem Augenblick wurde die Tür von Dr. Wos Büro geöffnet. Alles erstarrte, als der Direktor mit seinem Rollstuhl zum Kopfende des Konferenztisches fuhr. Das leise Summen des Elektromotors war das einzige Geräusch im Raum. Plötzlich drängten sie alle zu den Sitzen am unteren Ende des Tisches, so weit wie möglich vom Direktor entfernt. Es war wie ein kurzes, aber intensives Stühlerücken. Schneller als die meisten anderen ergriff Grant einen nahe am Ende des Tisches und setzte sich, flankiert von O'Hara zu seiner Rechten und Pascal, der Neurophysiologin. Karlstad saß genau ihm gegenüber.

Ohne Vorrede sagte Dr. Wo: »Die Mediziner haben mich von der Teilnehmerliste der Mission gestrichen.«

Er machte eine Pause. Alle um den Konferenztisch gaben ihrem Bedauern Ausdruck.

»Darum«, fuhr der Direktor fort, »ist die Ernennung eines neuen Leiters der Mission notwendig geworden.«

Er blickte zur offenen Tür seines Büros, und mit merklichem Hinken trat zögernd eine Frau in den Konferenzraum. Ein Seufzen des Wiedererkennens ging durch den Raum, beinahe ein Ächzen, dachte Grant. Die Frau war ihm fremd, doch die meisten der anderen kannten sie offenbar. Grant blickte über den Tisch zu Karlstad; sein langes, blasses Gesicht sah entgeistert aus.

»Die meisten von Ihnen kennen bereits Dr. Krebs«, sagte Wo. »Sie wird die Leiterin der nächsten Mission und stellvertretende Direktorin der Station sein, mit dem besonderen Auftrag, die Mission der bemannten Tauchsonde vorzubereiten.«

Grant hatte ein unheimliches Gefühl, ein seltsames Prickeln im Nacken. Die Atmosphäre im Raum war angespannt, beinahe ängstlich. Die meisten der Anwesenden kannten Dr. Krebs, sagte er sich, aber sie hatten bestimmt nicht viel für sie übrig.

Dr. Krebs war kaum mittelgroß und stämmig, mit dicken, muskulösen Armen. Ihre Beine steckten bereits in den mit Metallknöpfen besetzten Leggings, die Grant verrieten, dass sie mit Biochips implantiert war. Grant schätzte ihr Alter auf Mitte vierzig bis Anfang fünfzig. Ihr Gesicht war kantig und energisch, das tiefschwarze Haar, offensichtlich eine Perücke, in einem kurzen Bubikopf mit einem Pony geschnitten, das ihr in die Stirn fiel bis dorthin, wo ihre Augenbrauen hätten sein sollen. Ihre Gesichtsfarbe war ein teigiges Grau, als hätte sie in vielen Jahren kein Sonnenlicht und nicht einmal eine UV-Lampe gesehen. Der Ausdruck dieses Gesichts war hart wie Granit; das breite, ausgeprägte Kinn kämpferisch vorgeschoben, die blassblauen Augen mit einem kalt abschätzenden Blick, der über alle ihr zugewandten Gesichter ging, jedes einzelne ein paar Sekunden lang musterte und dann zum nächsten weiterging. Sie schien zu sagen: Ich weiß, dass ihr mich nicht mögt, und das Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.

Der prüfende Blick dieser kalten Augen konzentrierte sich auch für einen Moment auf Grant und lähmte ihn, hinderte ihn, den Kopf abzuwenden.

Endlich richtete sie ihre Aufmerksamkeit auf die nächste Person. Grant war zumute, als wäre er gerade noch an einem Polizeiverhör vorbeigekommen.

»Sie«, sagte sie und zeigte auf Karlstad.

»Ich?«, fragte er mit leicht quiekender Stimme.

»Karlstad«, sagte sie.

»Ja.«

»Sie werden sich der Besatzung anschließen. Halten Sie sich ab sofort für den Eingriff bereit.«

Grant starrte über den Tisch zu Karlstad. Der sah wie ein Mann aus, der gerade seinen eigenen Tod gesehen hat.

6. KREBS

»Christel Krebs«, sagte Frankovic, mit trüber Miene über den Cafeteriatisch gebeugt. »Sie ist Wos ultimative Rache.«

Muzorawa nickte düster. Sogar O'Hara sah besorgt aus. Die vier hatten unbewusst die Köpfe zusammengesteckt und flüsterten wie Verschwörer. Die Cafeteria war nur halb besetzt, hallte aber von Geklapper und Gesprächen an anderen Tischen wider. Trotzdem flüsterten sie miteinander.

Frankovic war ein kleiner, rundlicher und schon ziemlich kahlköpfiger Mann. Grant hatte den Biochemiker in seinen Tagen als Hilfstechniker im Labor oft genug gesehen, doch hatte der Mann bisher kaum ein Dutzend Worte zu ihm gesprochen.

»Was tun sie mit Egon?«, fragte Grant. »Was ist mit dem Eingriff, von dem Krebs sprach?«

»Die Implantation und Verdrahtung der Biochips in seine Beine«, sagte Muzorawa.

»Und die Technik, Flüssigkeit zu atmen«, ergänzte Frankovic schaudernd.

Grant hatte gehört, dass die Besatzung der Tauchsonde während der Mission in einer dicken Flüssigkeit aus Perfluorcarbon leben würde. Es war die einzige Möglichkeit, die enormen Druckverhältnisse des Jupiterozeans auszuhalten. Sie würden in einer Umgebung aus Hochdruckflüssigkeit leben und Sauerstoff aus dem Perfluorcarbon atmen. Dies geschah zu dem Zweck, dass der Druck in den Zellen ihrer Körper hinreichend erhöht werden konnte, um den Druck außerhalb der Tauchsonde auszugleichen. In der Theorie und in den praktischen Erprobungen hatte die Methode funktioniert. Aber während der ersten bemannten Mission in den Jupiterozean war ein Besatzungsmitglied umgekommen und die anderen verletzt worden. Wo war so übel zugerichtet worden, dass er sich nie wieder erholen würde. Grant fragte sich, ob Krebs völlig wiederhergestellt sei.

»Der arme Egon«, sagte O'Hara. »Er war entsetzt, dass ihm dies zustoßen könnte.«

»Kann er sich nicht weigern?«, fragte Grant. »Ich meine, wir haben noch immer unsere gesetzlich garantierten Rechte.«

Muzorawa schüttelte den Kopf. »Egon nicht. Juristisch ist er ein zu Haft verurteilter Straftäter, der hier seine Strafe verbüßt.«

»Darum hat Krebs ihn ausgewählt. Er kann nicht ablehnen.«

»Ich bin bloß froh, dass ich es nicht machen muss«, sagte Frankovic inbrünstig.

»So schlimm ist es nicht«, meinte O'Hara. »Sobald man den Eingriff hinter sich hat und mit der Sonde verbunden ist.«

»Verbunden?«, fragte Grant.

»Die Biochips verbinden einen mit den Bordsystemen der Tauchsonde«, erläuterte Muzorawa. »Statt über Tastaturen oder Scanner oder gesprochene Kommandos, wird das Nervensystem direkt mit den Bordsystemen verbunden.«

Grant zog die Brauen hoch.

»Es ist … sonderbar, ganz eigentümlich«, sagte O'Hara. »Man hat ein Gefühl von Macht, wissen Sie. Man fühlt die Maschinerie und die Technik der Sonde. Man wird eins mit ihr.«

Muzorawa nickte. »Ich habe nie etwas dergleichen erfahren. Es ist …« Er suchte nach einem Wort.

»Intim«, sagte O'Hara.

»Ja. Eine irgendwie körperlose Erfahrung, die gleichwohl im eigenen Kopf vor sich geht.«

»Beinahe wie Sex«, sagte O'Hara.

»Besser«, sagte Muzorawa.

»Besser, sagen Sie?«, erwiderte sie herausfordernd.

Muzorawa lächelte wissend. »Es dauert länger.«

Grant wechselte das Thema. »Aber was ist mit Dr. Krebs? Wer ist sie? Woher kommt sie?«

»Sie war bei der ersten Mission dabei«, antwortete Zeb. »Als Wos Stellvertreterin.«

»Tatsächlich steuerte sie die Tauchsonde«, sagte O'Hara, »und bei dem Unfall wurde sie ziemlich schwer verletzt.«

»Manche Leute behaupten, sie habe den Unfall verursacht«, sagte Frankovic. »Und nun übergibt Wo ihr die Leitung.«

»Ich dachte, sie sei irgendwo auf der Erde«, sagte Grant.

»Das war sie«, antwortete O'Hara. »Zur Behandlung und Rehabilisierung nach dem Unfall, wie sich denken lässt.«

»Sie muss ganz wiederhergestellt sein«, meinte Muzorawa.

Frankovic schüttelte den Kopf. »Körperlich vielleicht. Aber haben Sie den Ausdruck in ihren Augen gesehen? Wie bei einer gemeingefährlichen Fanatikerin.«

Weder Muzorawa noch O'Hara erwiderten etwas.

Grant kam eine weitere Frage in den Sinn. »Wenn Sie mit den Bordsystemen der Tauchsonde verbunden waren, als der Unfall geschah, wie fühlte es sich an? Empfanden Sie Schmerzen? Oder was?«

Muzorawa schloss kurz die Augen. »Lane und ich hatten dienstfrei, als es passierte.«

»Den Heiligen im Himmel sei Dank«, murmelte O'Hara.

»Jorge Lavestra fand den Tod, Krebs und Dr. Wo wurden schwer verletzt.«

Frankovic beugte sich vor und legte die Hände auf der Tischplatte ineinander. »Nach dem, was ich hörte, hatte sich Lavestra gerade in die Bordsysteme eingeklinkt. Er wurde nicht körperlich verletzt. Er starb an einer Gehirnblutung.«

»Einem Schlaganfall?«

»Ja, das ist wahr«, sagte O'Hara. »Zur falschen Zeit mit der Sonde verbunden zu sein, kann fatale Folgen haben.«

7. NEUE AUFGABEN

Am nächsten Morgen erwachte Grant in kalten Schweiß gebadet. Sein Bettlaken war völlig durcheinander und um seine Beine gewickelt. Unbestimmt erinnerte er sich eines Traums, eines Albtraums über Fremde, die ihn niederhielten und mit Skalpellen sein Fleisch aufschnitten, während er sich vergeblich zur Wehr setzte und um Gnade winselte.

Es war noch früh, sah er. Er rief Karlstads Nummer, bekam aber keine Antwort. Der Arme musste sich noch von dem chirurgischen Eingriff erholen, vermutete Grant. Er nahm eine Dusche, zog sich an und ging zur Cafeteria. Um diese Stunde war sie beinahe leer, aber Red Devlin lachte und schwatzte mit ein paar Frühaufstehern. Er musste hinter der Theke schlafen, dachte Grant.

Erst am nächsten Abend nach dem Essen sah er Karlstad wieder. Egon betrat die Cafeteria mit unsicheren Schritten, und seine Beine steckten in den gleichen, mit Metallknöpfen besetzten schwarzen Leggings und er trug den gleichen Rollkragenpullover wie O'Hara und Muzorawa sie zu allen Zeiten trugen. Sein Kopf war völlig haarlos.

Grant ließ sein halb verzehrtes Abendessen stehen und eilte zu Karlstad.

Der Mann lächelte halbherzig, als Grant zu ihm kam.

»Nun ja«, sagte er zittrig, »wenigstens habe ich den Eingriff überlebt.«

»Wie fühlen Sie sich?«

Statt zu antworten, zog Karlstad den Rollkragen seines Pullovers herunter. »Darf ich Sie mit Frankensteins Monster bekannt machen?«, sagte er. In beide Seiten seines Halses waren kreisrunde Kunststoffgeräte eingesetzt. Die Haut um die Implantate sah rot und entzündet aus.

»Was ist das?«

»Nahrungsanschlüsse. Wenn wir in der Suppe sind, können wir keine normale Nahrung zu uns nehmen. Wir werden intravenös ernährt.«

»Für wie lange?«

Karlstad ließ den Rollkragen los und antwortete mit grimmiger Miene: »So lange wir auf Mission sind.«

»Mein Gott«, stieß Grant hervor.

»Ich werd's überleben — denke ich.«

Grant leistete ihm Gesellschaft, als Karlstad einen bescheidenen Salat und einen Becher Fruchtsaft wählte. Der Mann wankte unsicher, als er zu Grants Tisch kam.

»Wo sind Laynie und Zeb und die anderen?«, fragte Karlstad, während er sich langsam und vorsichtig niedersetzte.

»Noch nicht hier.«

»Hm.« Karlstad stocherte in seinem Salat.

Grant versuchte seinen Teller leer zu essen, aber ihm war der Appetit vergangen.

»Sie möchten wissen, wie es ist, oder?«, sagte Karlstad mit tonloser Stimme.

»Ich will nicht neugierig sein.«

»Sie können es ruhig sein, es macht mir nichts. Das Schlimmste ist vorbei. Sie schnitten mich auf und steckten mir ihre verdammten Chips hinein. Aber zuerst ertränkten sie mich.«

»Ertränkten …?«

»Es wird alles unter Wasser gemacht. Oder in dieser beschissenen Perfluorcarbonbrühe. Es ist, als müsste man Suppe atmen. Eiskalte Suppe, noch dazu. Ist so einfacher, Infektionen vorzubeugen, während sie einen aufschneiden, behaupten sie.«

Die nächste Viertelstunde verbrachte Karlstad damit, dass er bis ins grässliche Detail alles beschrieb, was sie ihm angetan hatten. Grant verlor den letzten Rest Appetit.

»Und nun brauche ich nur wieder das Gehen zu lernen«, schloss er seine Schilderung. Er klang bitter und resigniert.

»Es scheint Ihnen ganz gut zu gehen«, versuchte Grant ihn aufzumuntern.

»Für einen ambulanten Patienten ja. Wird wohl so sein.«

»Was ich nicht verstehe, ist, warum sie die Biochips in die Beine stecken«, sagte Grant. »Wäre es nicht vernünftiger, sie ins Gehirn zu implantieren?«

Karlstad warf ihm einen mitleidigen Blick zu. »Im Schädel ist nicht genug Raum. Außerdem würden sie durch das Schädeldach gehen müssen, wie sie es mit Sheena machen wollen.«

»Oh.«

»Aber die Chips sind mit dem Gehirn verbunden. Ich bin mit Fasern verdrahtet, die an meinem Rückgrat entlang bis in den zerebralen Cortex führen. Was diese Elektroden in meinen Beinen aufnehmen, wird an mein Gehirn weitergeleitet. Sehr effizient.«

»Da ist er!«

Grant blickte auf und sah O'Hara durch die Cafeteria auf sie zu eilen. Muzorawa war ein paar Schritte hinter ihr. Die beiden hatten keine Tabletts genommen, und beide hinkten merklich.

»Na, wie fühlen Sie sich?«, fragte O'Hara. Sie zog den Stuhl neben Karlstad heraus und setzte sich.

»Danke, furchtbar.«

»Willkommen im Verein«, sagte Muzorawa, als er sich neben Grant setzte.

»Was sind wir jetzt, Schiffskameraden?«, sagte Karlstad verdrießlich.

»Nehmen Sie es nicht so schwer«, sagte O'Hara mit einem aufmunternden Lächeln. Sie fuhr mit einer Hand über Karlstads kahlen Schädel. »Ich finde, Sie sehen so besser aus.«

»Ohne Augenbrauen?«, erwiderte Karlstad verächtlich.

»Sobald Sie mit der Tauchsonde verbunden sind, wird Ihnen anders zumute sein.«

»Sie werden ein Machtgefühl verspüren«, versicherte Muzorawa. »Es ist anders als alles, was Sie je erfahren haben.«

»Besser als Sex«, spottete O'Hara.

Zum ersten Mal seit Krebs mit dem Finger auf ihn gezeigt hatte, lächelte Karlstad.


* * *

An diesem Sonntag tauchte Tamiko Hideshi wieder in Referend Caldwells Gottesdienst auf. Grant drängte sich durch die kleine Gemeinde, um neben ihr zu sitzen. Anschließend gingen sie zur Cafeteria.

»Die Katholiken stehen auf Krapfen nach der Messe«, informierte sie Grant, als sie sich vor der Essenausgabe in die Schlange einreihten. »Die Moslems nehmen Kaffee und Obst.« Sie verzog das Gesicht.

»Und die Protestanten?«, fragte Grant lachend.

»Fressen am meisten«, antwortete Tamiko und grinste zurück.

Grant wählte Fruchtsalat und Sojamilch; Hideshi füllte ihr Tablett mit Getreideflocken, Räucherfisch, heißem Tee und vier Scheiben Toast.

»Wie schaffen Sie es, so dünn zu bleiben, wenn Sie so viel essen?«, fragte Grant, als sie sich an einen Tisch setzten.

Sie schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht so dünn. Mein Körper ist wie ein Betonblock.«

»Sie sind nicht fett.«

»Wahrscheinlich verbrenne ich die Kalorien bei der Arbeit.«

Das brachte sie auf ihre Studien des eisbedeckten Ozeans auf Europa.

»Allmählich kommen wir dahinter«, sagte sie. »Wie geht es mit Ihrer Arbeit voran?«

Grant nickte und kaute an einer kleinen Melonenschnitte. »Ungefähr genauso. Allmählich komme ich dahinter.«

»Sie kommen dahinter, was es mit dem Jupiterozean auf sich hat?« Ihre Augen weiteten sich.

»Nach und nach«, sagte er.

»Vielleicht können wir einander helfen«, schlug Hideshi vor. »Schließlich arbeiten wir beide an Flüssigkeitsdynamik. Vielleicht sollten wir unsere Aufzeichnungen vergleichen.«

Grant zögerte, dann sagte er: »Das würde ich wirklich gern tun, Tamiko, aber wir haben es mit einem sensiblen Gebiet zu tun. Ich kann nicht …«

Sie winkte missbilligend ab. »Ach was, Dr. Wo und seine albernen Sicherheitsbestimmungen. In der Physik gibt es keine Geheimnisse.«

»Vielleicht nicht«, gab Grant zu, »aber mir ist es nicht erlaubt, meine Arbeit mit irgendjemandem außerhalb der Gruppe zu diskutieren.«

Sie machte ein verletztes Gesicht. »Nicht einmal mit mir?«

Grant dachte darüber nach. Tamikos Vorschlag war nicht unvernünftig. Schließlich arbeiteten sie beide auf dem gleichen Gebiet.

Aber er hörte sich sagen: »Ich kann nicht, Tamiko. Dr. Wo würde mir lebendig die Haut abziehen.«

Sie seufzte kopfschüttelnd. »Wie können Sie wissenschaftlich arbeiten, wenn Sie sich vor dem Erfahrungsaustausch mit Kollegen fürchten?«

Grants Miene hellte sich auf. »Ich könnte den Direktor um die Erlaubnis fragen, mit Ihnen zusammenzuarbeiten. Wenn er einverstanden ist …«

»Nein!«, unterbrach sie ihn. »Nein, ich glaube nicht, dass das funktionieren würde. Wo ist so paranoid, dass er uns beide weiß Gott wohin schicken würde.«

»Aber vielleicht würde er Zusammenarbeit für sinnvoll halten«, sagte Grant.

Hideshi schüttelte den Kopf. »Sagen Sie kein Wort darüber zu Wo. Er ist schon so verrückt genug.«

Grant zuckte die Achseln. »Vielleicht haben Sie Recht.«

»Ich weiß es«, sagte sie.


* * *

Es überraschte Grant, als er sich ausrechnete, dass er seit einem halben Jahr an Bord der Forschungsstation Gold war. Eines Morgens erwachte er und sah die Kontrollleuchte an seinem Videophon blinken. Als er sich gähnend und am Kinn kratzend meldete, erschien Dr. Wos grimmiges Gesicht auf dem kleinen Bildschirm.

Automatisch setzte Grant sich gerader im Bett auf und versuchte sein vom Schlaf zerzaustes Haar zu glätten. Aber die Botschaft war eine Aufzeichnung. »Kommen Sie morgen um elf Uhr zu Ihrer Halbjahresbeurteilung in mein Büro«, sagte Dr. Wo. Dann erlosch der kleine Bildschirm.

Grant holte tief Luft. Halbjahresbeurteilung, dachte er. Großartig. Das bedeutete, dass seine Dienstverpflichtung nur noch dreieinhalb Jahre dauerte.

Er lächelte beinahe, bis ihm einfiel, dass Besprechungen in Dr. Wos Büro niemals erfreulich waren.

Am nächsten Tag klopfte er um Punkt elf Uhr vernehmlich an die Tür des Direktors. Keine Antwort. Er stand im Korridor und widerstand dem Impuls, nochmals kräftiger an die Tür zu schlagen, als Leute vorbeigingen. Wos alberne kleine Machtdemonstrationen, dachte Grant. Er würde nicht noch einmal darauf hereinfallen wie beim ersten Mal, als er ins Büro des Direktors gerufen worden war.

Endlich hörte er: »Herein.« Er öffnete die Tür und betrat das Büro.

Wie gewöhnlich war es überheizt. Sogar die blutroten Tulpen in der zierlichen Vase ließen die Köpfe hängen. Der Direktor gab sich schroff und geschäftsmäßig. Es schien Grant, dass Wo noch immer vor Wut schäumte und kaum an sich halten konnte. Er blickte zurück auf Grants erste Tätigkeit als Hilfslaborant und auf seine neuere Arbeit mit Muzorawa im Labor für Flüssigkeitsdynamik. Grant saß steif und mit unbewegter Miene auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch des Direktors.

»Alles in allem«, fasste Wo zusammen und blickte von dem Bildschirm auf, der Grants Personalakte zur Schau stellte, »einigermaßen akzeptable sechs Monate. Wenigstens haben Sie keine größeren Fehler gemacht.«

Grant fragte sich, welche kleineren Fehler der Direktor in seinen Unterlagen sah.

»Nun, einige Veränderungen sind angebracht«, sagte der Direktor nach kurzer Pause.

»Veränderungen, Dr. Wo?«, fragte Grant besorgt.

»Zunächst einmal wird Dr. Muzorawa mit dem Training und den Vorbereitungen für die bevorstehende Tiefenmission vollauf beschäftigt sein und als Ihr Studienberater und Betreuer ausfallen, bis die Mission beendet ist.«

Grant sank der Mut.

»Darum werde ich seine Stelle als Ihr Tutor einnehmen. Sie werden hier als Fernstudent der Universität Kairo weiterarbeiten. Die Verwaltung der Universität hat mir eine Gastprofessur eingeräumt.«

»Sie werden mein Tutor sein?«, fragte Grant. Seine Stimme ging unwillkürlich eine Oktave hinauf.

»Haben Sie Einwände gegen solch eine Lösung?«

»O … o nein, Sir. Keineswegs«, log Grant. Der Gedanke, Dr. Wo in einer weiteren Kapazität über sich zu haben, erfüllte Grants Seele mit Verzweiflung, aber er wusste, dass es nicht zu umgehen war.

»Gut«, sagte Wo.

»Tatsächlich bin ich geschmeichelt, Sir«, hörte Grant sich sagen. Es galt, das Beste aus einer Situation zu machen, über die er keine Macht hatte.

Wo nickte, doch seine düstere Miene hellte sich nicht auf. »Die zweite Veränderung«, fuhr er fort, »mag für Sie weniger angenehm sein. Ich brauche jemanden, der mit Sheena arbeitet.«

»Mit dem Gorilla?«

»Ja. Ihr Intelligenzniveau hat sich abgeflacht. Jede Zunahme an Intelligenz wird eine chirurgische Öffnung des Schädels erfordern.«

»Oh«, sagte Grant. »Das würde schwierig sein, nicht wahr?«

»Keineswegs. Das Tier kann ruhig gestellt und der chirurgische Eingriff in vollkommener Sicherheit vorgenommen werden. Die Rekonvaleszenzphase ist es, die uns vor Probleme stellen könnte.«

Grant stellte sich die hundert Kilo schwere Sheena mit verbundenem Schädel und schlimmen Kopfschmerzen vor. Es war kein angenehmer Gedanke.

»Wir werden jemanden brauchen, der sich nach dem Eingriff um Sheena kümmert, jemand, den sie nicht mit dem medizinischen Personal in Verbindung bringen wird. Einen Freund, sozusagen.«

»Mich?«

»Sie. Sie werden täglich wenigstens zwei Stunden mit Sheena verbringen. Sie werden ihr Früchte und neues Spielzeug geben. Das Spielzeug wird aus Lernspielen und entsprechenden Geräten bestehen, versteht sich; von solchen Dingen ist genug vorrätig.«

»Aber mein Studium …«

»Diese Pflicht werden Sie zusätzlich zu ihrer Arbeit in der Flüssigkeitsdynamik übernehmen. Sie wird täglich zwei Stunden von Ihrer Freizeit beanspruchen, nicht mehr.«

Ich habe keine Freizeit, murrte Grant zu sich selbst. Ich verbringe meine wachen Stunden alle mit der Arbeit an der Dynamik dieses verdammten Ozeans. Aber er sagte kein Wort.

»Denken Sie daran, Ihre Aufgabe ist es, sich mit Sheena anzufreunden, sodass sie imstande sein wird, nach dem gehirnchirurgischen Eingriff mit Ihnen als einem vertrauten Gefährten umzugehen.«

Wundervoll, dachte Grant. Ein postoperativer Gorilla wird mir das Genick brechen.

Wenn der Direktor Grants Niedergeschlagenheit oder Furcht spürte, ließ er es sich nicht anmerken. »Haben Sie irgendwelche Fragen?«, erkundigte sich Wo verdrießlich.

Grant legte unbewusst die Fingerspitzen zusammen, dann ließ er die Hände rasch in den Schoß sinken, als ihm klar wurde, dass es aussah, als wollte er beten — oder den Direktor anflehen.

»Ja, Sir, ich habe eine Frage.«

Wo nickte knapp.

»Sheena … die Delphine … weshalb untersuchen wir ihre Intelligenz? Wenn ich es richtig sehe, ist die Erforschung Jupiters und seiner Monde Zweck dieser Forschungsstation. Warum verwenden wir Zeit und Energie auf die Intelligenz dieser Tiere?«

Dr. Wos Gesicht nahm den erbarmungslosen Ausdruck eines Lehrers an, der entschlossen ist, seinen begriffsstutzigen Schüler zu zwingen, seine Probleme selbst zu lösen.

»Das ist eine Frage, über die Sie nachdenken sollten, während Sie Sheena unterhalten.« Die Spur eines Lächelns bewegte seine Mundwinkel um einen knappen Millimeter.

8. LEVIATHAN

Beim Kreuzen durch die ewige See warnten Leviathans sensorische Gliederteile vor dem Sturm. Leviathans Augenteile konnten ihn nicht sehen, er war für visuelle Wahrnehmung viel zu weit entfernt, aber die für Druckveränderungen sensitiven Gliederteile entlang seines immensen Körpers fühlten den Zug von Strömungen, die den Weltozean in den gefräßigen Rachen des Sturmes ziehen wollten.

Es war ein gigantischer Wirbel, dessen mächtige Spirale Strömungen erzeugte, die stärker und stärker wurden, bis sogar Riesen wie Leviathan und seinesgleichen nicht mehr widerstehen konnten und in eine wirbelnde, vernichtende Entgliederung gesogen wurden.

Leviathan hatte keine Angst vor dem entfernten Sturm und seiner unersättlichen Anziehung. Aus dieser Entfernung war die Auswirkung zu schwach, um gefährlich zu sein, und Leviathan hatte nicht die Absicht, sich näher heranzuwagen. Gleichwohl verspürte er ein Gefühl von Neugierde. Kein Mitglied der Sippe war jemals nahe genug an diesen Sturm herangekommen, um ihn selbst zu sehen. Wie würde diese Erfahrung sein?

Die aus dem kalten oberen Abgrund niedersinkende Nahrung schien stärker konzentriert, je näher Leviathan in die Nachbarschaft des Sturmes geriet. Die einwärts ziehenden Strömungen, erzeugt vom mächtigen Sturmwirbel, sogen die treibenden Partikel ein, bis sie regelrechte Ströme wurden, die in den Strudel des Sturmes fluteten. Es war unmöglich, sie zu ignorieren, und schwierig, ihnen zu widerstehen. Man sollte es den Alten zeigen, dachte Leviathan.

Weit entfernt am Horizont machten Leviathans Augenteile ein mattes Flackern aus, nicht mehr als ein winziges, kaum erkennbares Lichtgefunkel. Doch es machte Leviathan aufmerksam auf die Tatsache, dass er dem Sturm tatsächlich nahe genug kam, um ihn zu sehen. Er verspürte einen seltsamen Kitzel, eine Mischung von Erregung und Besorgnis.

Reißer!, warnten die sensorischen Gliederteile.

Leviathans Augenteile stellten sich auf sie ein, so nahe waren die Reißer herangekommen. Schnelle, stromlinienförmige Gestalten, schlank und gefährlich, hielten gerade auf Leviathan zu. Es waren Dutzende, die sich ausbreiteten, um Leviathan zu umringen und von allen Seiten anzugreifen. Sie würden sich nicht mit einem schnellen Zuschnappen und einem Fetzen der Außenhaut begnügen; ein Schwarm dieser Größe wollte töten und von allen Gliederteilen Leviathans fressen.

Hoffnung auf Entkommen lag im Rückzug, aber ein Rückzug war nur in Richtung des Sturmes möglich. Die Reißer hatten eine schlaue Jagdtaktik ausgeheckt. Sie wussten, dass Leviathans Gliederteile sich instinktiv voneinander lösen würden, wenn sie Leviathan nahe genug zum Wirbel der Sturmfront verfolgten. Dann würden sie leichte Beute für die gefräßigen Jäger sein.

Leviathan schätzte die Entfernung zum ragenden Ringwall der Turbulenz, den Zug der Strömungen, die in den Sturmwirbel eingingen, und plante eine eigene Strategie. Er befahl seinen Flagellenmitgliedern, so schnell sie konnten zu den unaufhörlichen Blitzentladungen zu rudern, die verrieten, wo der Sturm wütete. Keine Fragen, keine Zweifel kamen von den Flagellen. Sie waren blindlings gehorsam, wie immer.

Nun war es ein Rennen, und eine Kraftprobe. Die Reißer jagten dem fliehenden Leviathan nach, begierig, seinen dicken äußeren Panzer aufzureißen und an die lebenswichtigen Organmitglieder im Innern heranzukommen. Leviathan fühlte den Zug der Strömungen, die ihn näher und näher zu der Sturmfront zogen. Lichtentladungen zuckten grell durch das schwarze Wasser, und Leviathans sensorische Gliederteile schmerzten unter dem Tosen des endlosen brüllenden Rauschens. Mitglieder sandten Alarmsignale zu Leviathans zentralem Gehirn: bald würden sie mit der automatischen Entgliederung beginnen und sich abstoßen; sie hatten keine Herrschaft über ihre programmierten Instinkte.

Einige Reißer waren jetzt nahe genug, um nach dem verdickten toten Gewebe von Leviathans äußerer Haut zu schnappen. Leviathan schlug nach ihnen, verwandelte die treuen, hirnlosen Flagellen in brutale Keulen, die Fleisch zerfetzen und Knochen brechen konnten.

Von der Witterung zerrissenen Fleisches zur Raserei getrieben, verdoppelten die Reißer ihre Angriffe. Leviathan fühlte ihre Zähne in seiner Haut, alle Mitglieder sandten Signale von Schmerz und Furcht, während die wachsende Sogwirkung der mächtigen Strömungen Leviathan näher zur unfreiwilligen Auflösung trug.

Jetzt! Leviathan änderte plötzlich den Kurs und schwamm parallel zu den Strömungswirbeln des Sturms, durchstieß das Netz der Reißer, die ihn umringten. Sie waren dem von Blitzen durchzuckten Sturm zu nahe, um den Strömungen zu widerstehen. Wie hilflose Nahrungsbrocken wurden sie in den Wirbel gesogen, einer nach dem anderen. Vergeblich kämpften sie gegen die überwältigende Sturmesgewalt. Ihr Todesgeheul gellte, als sie in den saugenden Trichter des Wirbels gerissen wurden.

Auch Leviathan kämpfte, strengte sich mächtig an, um an der Sturmfront vorbeizukommen und sich in Spiralen allmählich vom Sog des Wirbels zu befreien.

Als er endlich außer Gefahr war, fühlte Leviathan sich erschöpft, ausgelaugt — und hungrig. Aber hier gab es keine Nahrung; auf dieser Seite des Sturms war die See leer. Nur allmählich erkannte er, dass die Strömungen und die Flucht ihn weit von seinen gewohnten Weidegründen entfernt hatten, in eine Region des allumfassenden Ozeans, die er noch nie aufgesucht hatte.

Er sandte einen Ruf zu den anderen seiner Art aus. Es kam keine Antwort. Allein, geschwächt und blutend, begann Leviathan nach Nahrung zu suchen, angetrieben von der verzweifelten Hoffnung, genug Kräfte zu sammeln, um sich weiter von dem Sturm zu entfernen und vielleicht den Weg zurück zu den vertrauten Weidegründen der Sippe zu finden.

9. SHEENAS HERRENBESUCH

Grant dachte daran, seinen neuen Auftrag vor den anderen zu verbergen, wusste aber, dass es unmöglich sein würde. Die Station war zu klein, um solche Geheimnisse zu wahren. Nur der mächtige Wo konnte mit der Undurchschaubarkeit des Ostens und der Macht des Direktors etwas vor dem Personal geheim halten.

Daher war er nicht überrascht, als Karlstad ihn schon am ersten Abend nach Wos Ankündigung seiner neuen Pflichten beim Essen aufzog.

»Wie ich höre, hat Sheena jetzt öfter Herrenbesuch«, sagte der Biophysiker geheimnisvoll, während er Suppe löffelte. Er schien sich von dem chirurgischen Eingriff gut erholt zu haben und hatte seine alte sarkastische Art wiedergefunden.

Ursula Neumann warf Grant einen Blick zu und sagte: »Tatsächlich?«

»Wer könnte das sein?«, fragte Irene Pascal, sofort bereit, in das Spiel einzusteigen. Die Neurophysiologin war eine kleine brünette Frau, die über ihren Leggings stets kurze, geblümte, ärmellose Kleider trug. Gewöhnlich war sie still und in sich gekehrt, aber jetzt zwinkerten ihre nussbraunen Augen schelmisch.

»Ich bin es«, gab Grant zu. Er wünschte, dass Muzorawa oder O'Hara am Tisch wären. Sie würden diesem Unsinn bald ein Ende machen, dachte er.

»Das hörte ich«, sagte Karlstad mit breitem Grinsen. »Wie ich erfuhr, brachten Sie ihr gestern Abend Blumen und Süßigkeiten.«

»Es war Dr. Wos Idee«, wehrte sich Grant.

»Blumen und Süßigkeiten?«, fragte Pascal ungläubig.

»Haben Sie sie schon geküsst?«, fragte Neumann.

»Es ist gut, dass Grant nicht katholisch ist«, sagte Karlstad ganz ernsthaft.

Pascal spielte den Stichwortgeber. »Warum sagen Sie das?«

Karlstad breitete die Hände aus. »Ist doch klar. Wenn Grant katholisch wäre, dann müssten auch alle Sprösslinge, die sie hervorbringen, katholisch getauft und aufgezogen werden.«

Die beiden Frauen prusteten, und Karlstad lachte schallend über seinen eigenen Witz. Grant nahm ihn in gutmütigem Schweigen hin, zwang sich zu einem Lächeln auf eigene Kosten und dachte bei sich, dass er solche Witzeleien nicht mehr gehört hatte, seit er Raoul Tavalera an Bord des alten Frachters Lebewohl gesagt hatte.

Sie witzelten über das richtige Verhalten bei Rendezvous und machten während des ganzen Essens sexuelle Anspielungen. Endlich aber schien das Thema erschöpft, und als sie Obst und Eiskrem aus Sojamilch zum Nachtisch aßen, dachte Grant, sie wären damit fertig.

Dann fragte Pascal ganz ernsthaft: »Glauben Sie, dass Sie Sheena dazu bringen können, sich einer Computertomographie zu unterziehen?«

Grant sah überrascht auf. »Sie meinen, von ihrem Gehirn?«

»Im Prinzip ja, aber wir brauchen es noch detaillierter«, sagte Pascal. »Wir haben die Ausrüstung in unserem Labor, aber als wir letztes Mal versuchten, sie hineinzubringen, wehrte sie sich mit Händen und Füßen.« Ihre Stimme war ein warmer Alt, der angenehm im Ohr klang und jetzt Besorgnis ausdrückte.

Grant überlegte. »Ist die Ausrüstung tragbar?«

Pascal zuckte die Achseln. »Wie eine Konsole von Schreibtischgröße. Oder wie ein Kühlschrank.«

»Ich nehme an, dass Sie sie dann ruhigstellen müssen.«

Sie schüttelte den Kopf. »Ich möchte sie bei Bewusstsein. Ich muss sehen, wie ihr Gehirn funktioniert, wenn sie aktiv ist.«

»Können Sie es nicht mit Fernübertragung machen?«, schlug Karlstad vor. »Sie haben doch neurale Übertragungsnetze mit Kopfschutz.«

Neumann stimmte zu. »Ja, ich habe diese verdammten Netze selbst getragen, tagelang.«

Pascal sagte mit ironischem Lächeln: »Und wenn Sie es unbequem und unangenehm fanden, Ursula, wie lange würde Sheena nach Ihrer Meinung eins tragen?«

»Wie lang würde es nötig sein?«, fragte Grant.

»Natürlich so lange wie möglich, damit ich genug Daten bekomme.«

Grant nickte. »Ich meine, welches ist die minimale Dauer, auf die Sie sich einlassen würden?«

Sie dachte einen Moment lang nach. »Zehn Minuten. Fünfzehn. Eine halbe Stunde wäre ausgezeichnet.«

»Würden Sie irgendwelche speziellen Ausrüstungen in Sheenas Kammer benötigen, während Sie das Kontaktnetz mit dem Kopfschutz trägt?«

Wieder das Achselzucken. »Nun, der Empfänger muss nicht mit dem Tier in der Kammer sein. Er kann draußen im Korridor stehen.«

»Wie weit entfernt?«, fragte Grant.

»Zehn … fünfzehn Meter.«

»In Ordnung«, sagte Grant. »Bringen Sie das Gerät morgen in den Bereich und lassen Sie es im Korridor stehen, ohne es anzuschließen.«

»Aber es ist nutzlos, solange Sheena nicht das Kontaktnetz auf dem Kopf trägt.«

»Das ist mir klar. Aber der erste Schritt besteht darin, dass sie das Aufzeichnungsgerät akzeptiert und nicht als eine Bedrohung sieht.«

»Oho«, sagte Karlstad. »Unser Gorillaliebhaber wird schon zu einem Primatenpsychologen.«

Grant lächelte ihm zu. »Spielen Sie Ihre Karten richtig, Egon, dann verschaffe ich Ihnen ein Stelldichein mit Sheena.«

Karlstad hielt in gespieltem Schrecken die Hände hoch. »Nein, nein! Darauf kann ich verzichten!«

Neumann grinste. »Kommen Sie schon, Egon, es könnte auf Monate hinaus Ihre einzige Chance sein, jemanden zu vernaschen.«

Grant und die anderen lachten. Karlstad runzelte unglücklich die Stirn.


* * *

Jeden Abend brachte Grant »Geschenke« zu Sheena: ein einfaches hölzernes Puzzle aus vier Teilen, groß genug für die dicken Finger des Gorillas; einen weichen Ball aus Schwammgummi und eine Zielscheibe, die Grant an die Wand ihrer Kammer klebte, sodass sie Wurfübungen machen konnte; Karten zum Vorzeigen, die als Lehrmittel Zahlen von eins bis zehn und die Buchstaben des Alphabets zeigten.

Und mit jedem neuen Spielzeug brachte Grant auch ein paar Früchte oder Bonbons, die Sheena sofort mit ihren kräftigen Zähnen zermalmte und schlürfend hinunterschluckte, sich dann geräuschvoll die Lippen leckte und nach mehr verlangte.

Sheena hatte freien Zugang zur Aquarienabteilung, die vom Rest der Station durch luft- und wasserdichte Sicherheitsluken abgetrennt war. Gewöhnlich traf Grant den Gorilla im schmalen Korridor vor dem Aquarium an, wo Sheena auf und ab ging oder still auf den Keulen saß und mit endloser Faszination die Fische und Delphine beobachtete.

Schon nach wenigen Besuchen fand Grant, dass Sheena begierig vor der Luke, durch die er immer kam, auf ihn wartete. Bald fand er es normal, einen Arm um ihre dicken Schultern zu legen, wobei er hoffte, dass sie sich zurückhalten und ihm nicht die Rippen brechen würde, wenn sie ihn ihrerseits umarmte. Zugleich hoffte er inständig, dass weder Karlstad noch sonst jemand von seinen Freunden sah, wie er zärtlich mit ihr umging. Ihm fiel auf, dass er an die anderen als seine »menschlichen Freunde« dachte. Es zeigte, dass er dieses Tier ganz von selbst als Freund zu betrachten gelernt hatte.

Er saß am Boden des Korridors und Sheena und er warfen den weichen Ball zwischen sich hin und her. Sie saß ein paar Meter entfernt und ließ den Ball von ihrer Brust abprallen, bevor sie ihn mit ihren großen Händen packte und dann — linkshändig, wie Grant bemerkte — zu ihm zurückwarf.

»Guter Wurf, Sheena!«, rief Grant, als er den Ball fing. »Du wirst jeden Abend besser.«

»Guter Wurf«, sagte sie mit ihrer mühsamen, kratzenden Stimme.

Sie ist eine Freundin, sagte sich Grant. Wie ein Kind, eine kleine Nichte oder ein Nachbarskind. Sie warfen den Ball hin und her, bis die Deckenlichter ausgingen und von der schwachen Nachtbeleuchtung abgelöst wurden.

»Zeit zum Schlafen, Sheena«, sagte Grant und mühte sich auf die Beine. Oft schmerzten ihn vom langen Sitzen die Gelenke oder es schliefen ihm die Füße ein.

Sheena erhob sich auf alle viere und ging langsam auf ihren Knöcheln zu ihrer Kammer. Sie war so groß und ihr Gang so breit und behäbig, dass Grant ihr folgen musste; um neben ihr zu gehen, gab es nicht genug Raum.

Niemals lehnte sie sich auf, wenn die Schlafenszeit gekommen war, niemals versuchte sie sich zu widersetzen und den Zeitpunkt hinauszuzögern. Ihr Benehmen, erkannte er bald, war besser als das der meisten Kinder, die er in der Heimat gekannt hatte.

Pascal und ihre Assistenten hatten schließlich das Aufzeichnungsgerät hereingebracht und ein paar Meter von Sheenas Kammer in den Korridor gestellt. Sehr nahe bei ihrer Kammer, dachte er, als er es zuerst sah. Vielleicht allzu nahe. Der Gorilla stand im offenen Eingang ihrer Kammer, starrte angestrengt die massige graue Metallkonsole an und wandte sich dann zu Grant.

»Es ist in Ordnung, Sheena«, sagte er. »Bloß ein Gerät aus dem Neurolabor. Es wird dir nicht wehtun. Keine Sorge.«

Er wusste, dass sie nicht alle Worte verstehen konnte, hoffte aber, dass sein Tonfall sie beruhigen und ermutigen würde.

Sheena näherte sich vorsichtig der Maschine, schnüffelte misstrauisch, beklopfte sie mit beiden Händen und schlug sie dann plötzlich hart genug mit der flachen Hand, dass das Gerät trotz seiner blockierten Räder ein Stück verschoben wurde.

»Nein, nein!«, rief Grant, ging zu ihr und fragte sich, wie viel die Festkörperelektronik vertragen konnte.

Sheena wandte sich zu ihm um. Es war unmöglich, ihren Gesichtsausdruck zu deuten, aber Grant glaubte etwas in ihren Augen zu sehen — Verwunderung? Sorge? Angst?

»Es ist in Ordnung, Sheena«, wiederholte er. »Hab keine Angst davor.«

»Schlecht«, keuchte Sheena. »Schlecht.« Und sie stieß gegen das Gerät.

»Nein, es ist nicht schlecht. Hab keine Angst davor. Es wird dir nicht wehtun.«

Sie setzte sich schwerfällig und wandte den Kopf von Grant zu der stummen elektronischen Maschine und zurück zu Grant.

»Warum?«, fragte sie.

Grant zwang sich zu einem Lächeln. »Wir müssen sehen, wie dein Gehirn arbeitet, Sheena. Das ist alles.«

»Nein«, sagte der Gorilla entschieden. »Schlecht Ding.«

Grant streckte instinktiv die Hand aus und rieb Sheenas knochigen Kopf. »Ich werde nicht zulassen, dass jemand dir wehtut, Sheena. Ich werde es nicht zulassen.«

»Grant Freund.«

»Ja«, sagte er und nickte. »Ich bin dein Freund. Sie dürfen dir nicht wehtun. Niemals. Ich werde es nicht zulassen.«

Sheena schien darüber nachzudenken. Dann fragte sie: »Warum du?«

»Ich bin dein Freund, Sheena«, wiederholte Grant.

»Nicht mich.«

Grant verstand nicht, was sie meinte.

»Grant nicht mich«, sagte Sheena.

»Ich bin Grant, ja. Und du bist Sheena.«

»Grant nicht mich.«

Er überlegte, was sie ihm klarzumachen versuchte.

»Lane nicht mich.«

Nun traf es ihn wie ein Donnerschlag. Sie begriff, dass die Menschen verschieden von ihr waren!

»Fisch nicht mich«, sagte Sheena und zeigte mit einem langen kräftigen Arm zum Aquarium.

»Du bist …« Grant zögerte. Wie sollte er ihr antworten? Er holte tief Luft, dann sagte er: »Du bist Sheena. Sheena ist groß. Sheena ist stark.«

»Nicht wie mich.«

»Richtig, Sheena, niemand sonst ist wie du. Du bist der einzige Gorilla im Umkreis von einer halben Milliarde Kilometer.«

»Warum nicht wie mich?«

»Ich wünschte, ich könnte dir das erklären, Sheena«, sagte Grant mit Tränen in den Augen. »Ich wünschte wirklich, ich könnte es.«

10. INTELLIGENZ

»Es ist amtlich«, sagte Muzorawa.

»In dreißig Tagen geht es los.«

Er war ins Labor für Flüssigkeitsdynamik gekommen, um, wie er sagte, Grants Fortschritte bei der kartographischen Aufzeichnung der Meeresströmungen zu sehen. Grant war froh über seinen Besuch. Muzorawa hatte beinahe die ganze Zeit für die Tiefenmission trainiert, und Grant fand, dass er die unbeirrbare, ruhige Kameradschaft des älteren Mannes vermisst hatte.

»Dreißig Tage«, sagte er.

Muzorawa nickte ernst. »Ich glaube nicht, dass ich bis dahin oft Gelegenheit haben werde, Sie zu sehen. Wo steckt uns in Quarantäne.«

»Wozu Quarantäne?«

»Aus Sicherheitsgründen, sagt er. Niemand von der Besatzung darf Mahlzeiten in der Cafeteria einnehmen. Einer der Konferenzräume wird als Speisezimmer für uns hergerichtet.«

»Dann werde ich Sie überhaupt nicht zu sehen bekommen«, sagte Grant.

Muzorawa schenkte ihm sein warmes Lächeln. »Ich werde hin und wieder hereinschauen, aber nicht viel mit Ihnen arbeiten können.«

»Ich weiß.«

»Diese kartographische Arbeit, die Sie geleistet haben, wird uns eine große Hilfe sein. Eine sehr große Hilfe.«

»Ich hoffe es.«

Grant saß am Computertisch, den die Techniker mit einem holographischen Projektionsraum ausgestattet hatten, sodass er die ozeanischen Strömungen in drei Dimensionen betrachten konnte. Die Darstellung war in grellen Falschfarben, Stahlblau und Signalrot, um die wirbelnden, turbulenten Strömungen im Ozean deutlicher sichtbar zu machen. Trotzdem musste Grant genau an der richtigen Stelle sitzen und seinen Kopf im richtigen Winkel halten, um den dreidimensionalen Effekt zu erzielen.

Vom benachbarten Platz fragte Muzorawa: »Nun, haben Sie mir etwas Neues zu zeigen?«

»Vielleicht, denke ich.« Grant nahm den Kopfhörer auf, den er auf dem Schreibtisch abgelegt hatte, und rief seine letzte graphische Darstellung ab. Die Holographie erlosch und wurde von einem flachen Diagramm wellenförmiger Linien ersetzt, die mit roten Datenpunkten gesprenkelt waren.

»Schrotschussmuster«, murmelte Muzorawa.

»Nicht genau«, widersprach Grant. Er fuhr mit ausgestrecktem Finger eine der Linien nach und erklärte: »Wenn Sie alle Datenpunkte zeitlich integrieren, bekommen Sie etwas, das wie eine Periodizität aussieht.«

Muzorawa richtete sich auf. »Periodizität?«

»Die Gewitterstürme tragen Energie von unten in die obere Atmosphäre, nicht wahr?«

»Richtig«, sagte Muzorawa in vorsichtigem Ton.

Grant zeigte auf den Bildschirm und sagte: »Die Gewitterstürme kommen in Zyklen. Sowohl ihre Frequenz wie auch ihre Intensität verändern sich alle paar Tage. Das heißt alle paar Erdentage.«

»Wie wäre das zu erklären?«

Grant lächelte. »Ich halte es für eine Gezeitenwirkung. Es scheint ein Zusammenhang mit den Positionen der vier großen Monde zu bestehen. Sehen Sie …« — wieder zeigte er auf die Linien — »wenn alle vier auf derselben Seite des Planeten sind, entfalten die Stürme ihre größte Aktivität — auf eben dieser Seite des Planeten.«

Lange starrte Muzorawa schweigend auf die Darstellung. Schließlich fragte er: »Wie verlässlich sind diese Daten?«

»Einige gehen ein Vierteljahrhundert zurück«, räumte Grant ein. »Ich habe sogar Datenpunkte von den frühesten Missionen, bevor diese Station gebaut wurde.«

»Gezeitenwirkungen.« Muzorawa schüttelte den Kopf. »Schwer zu glauben.«

»Aber sie sind da«, beharrte Grant. »Klein aber eindeutig vorhanden.«

»Wie im Namen des Propheten könnten Gezeitenwirkungen die Gewitterstürme beeinflussen?«

Mit einer kleinen wedelnden Handbewegung antwortete Grant: »Es könnten elektromagnetische Kräfte daran beteiligt sein, ebenso wie die Gravitation.«

»Elektromagnetisch?« Muzorawa beäugte ihn ungläubig.

»Io und die anderen Galileischen Monde schneiden die Linien von Jupiters Magnetfeld, nicht wahr?«

Muzorawa ließ sich in den Stuhl zurücksinken und dachte nach. Ohne bewusst zu überlegen, rief Grant eine Echtzeitansicht von Jupiter für den großen Wandbildschirm ab. Der Planet dräute über ihnen, gewaltig und Furcht einflößend. Wolken bildeten Streifen und Wirbel, Blitzentladungen zuckten hier und dort entlang des Terminafors und in der Nachtseite des Planeten. Glühwürmchen?, dachte Grant. Eher wie Wasserstoffbomben; jede Blitzentladung setzte Megatonnen von Energie frei.

Mit wachsender Lebhaftigkeit sagte Muzorawa: »Das ist sehr interessant, Grant. Äußerst interessant. Ich werde die Aufzeichnungen überprüfen müssen, so weit wir zurückgehen können … bis zur Sonde Galileo, wenn nötig.«

»Das kann ich machen«, sagte Grant. »Sie werden in den nächsten paar Wochen genug zu tun haben.«

Muzorawa stimmte mit einem widerwilligen Nicken zu. Dann fragte er: »Haben Sie irgendwelche Gezeitenwirkungen im Roten Fleck beobachtet?«

Die Frage überraschte Grant. »Sie haben doch nicht vor, in den Fleck zu gehen, wie?«

»Gott behüte!« Muzorawa hob beide Hände. »Ich frage mich bloß, ob der Fleck sich in einer vorhersehbaren Weise verändert.«

»Es gibt nicht genug Daten aus dem Innern des Roten Flecks«, sagte Grant. »Ich habe vereinzelte Daten aus der Zeit vor fünf Jahren und mehr, aber auch damals überlebten die Sonden nicht länger als ein paar Minuten; zu kurz, um wirklich aufschlussreiche Daten zurückzusenden.«

»Sie hörten auf, Sonden in den Roten Fleck zu schicken, als Wo die Station übernahm«, sagte Muzorawa. »Er hielt es für eine Vergeudung von Zeit und Mühe.«

»Er hat Recht. Das ist ein unglaublich mächtiger Zyklon dort unten.«

»Ja, richtig. Trotzdem …«

Ohne den Blick vom Bildschirm zu wenden, fragte Grant wieder: »Sie werden nicht in der Nähe des Flecks hinuntergehen, oder?«

»Nein, natürlich nicht. Wir werden auf der entgegengesetzten Seite des Planeten sein.«

»Wie tief wollen Sie hineingehen?«

»Tief genug, um festzustellen, was diese Dinger sind, die wir bei der ersten Mission im Ozean schwimmen sahen.«

»Glauben Sie wirklich, dass sie lebendig sind?«, fragte Grant.

Muzorawa wandte sich vom Bildschirm zu Grant. »Wie hoch ist oben?«, fragte er.

Grant verstand. Stelle keine nutzlosen Fragen. Die erste Mission hatte im Ozean Objekte ausgemacht. Diese neue Mission sollte versuchen, diese Objekte wieder zu finden und zu bestimmen, was diese Objekte waren. Bis mehr Daten darüber vorlagen, konnten Fragen über die Natur der Objekte nicht beantwortet werden.

Aber dann nickte Muzorawa kaum merklich. »Ich glaube, sie sind lebendig, ja. Aber das ist nur eine Meinung, eine Frage des Glaubens — oder vielleicht wäre es besser zu sagen, eine Frage der Hoffnung. Bis wir Beweise bekommen, ist das alles, was wir haben: unser Glaube, unsere Vermutungen, unsere Hoffnungen und unsere Befürchtungen.«

»Befürchtungen?«

»O ja, Befürchtungen.« Muzorawa zeigte auf den großen Wandbildschirm. »Es gibt viele Leute, die fürchten, was wir unter diesen Wolken entdecken könnten.«

Grant sah ihn erstaunt an. »Wer? Niemand hier in der Station, nicht wahr?«

»Wahrscheinlich nicht«, antwortete Muzorawa. »Wo hat das gesamte Personal hier ziemlich gründlich durchleuchtet.« Er zögerte, überlegte seine nächsten Worte, dann sagte er: »Zuerst fürchtete er Sie, wussten Sie das?«

»Er fürchtete mich

Muzurawa lächelte. »Ja. Er befürchtete, Sie wären ein Agent der Zeloten, um seine Arbeit auszuspionieren.«

»Der Zeloten?«

»Der Glaubenseiferer. Sie sind immer unter uns, Menschen, die neues Wissen fürchten. Vor bald tausend Jahren vernichteten sie einen großen persischen Astronomen und Mathematiker: Omar Khayyam.«

»Ich dachte, er sei ein Dichter gewesen.«

Muzorawa schüttelte bedächtig den Kopf. »Seine Vierzeiler waren ein Steckenpferd von ihm. Er war vor allem Wissenschaftler. Er fand drei Jahrhunderte vor Kopernikus heraus, dass die Eide sich um die Sonne dreht. Dafür musste er sterben. Bis heute weiß niemand, wo er begraben liegt.«

»Glaubenseiferer …« murmelte Grant.

»In meinem Teil der Welt nennen Sie sich ›Das Schwert des Islam‹. Sie haben genug von diesen Fanatikern unter Ihrer Neuen Ethik, nicht wahr?«

»Aber ich bin keiner von ihnen!«

»Dr. Wo war Ihrer nicht sicher. Darum gab er uns Anweisung, Ihnen sensible Informationen vorzuenthalten.«

»Aber warum sollte die Neue Ethik oder die Zeloten oder wer immer ihn ausspionieren?« Grant sagte es mit schlechtem Gewissen, weil es auf eine bewusste Täuschung seines Mentors und Freundes hinauslief. Aber ich bin kein Zelot, sagte er sich, kein religiöser Eiferer. Das nicht!

Muzorawa legte Grant seine Hand auf die Schulter. »Junger Freund, es gibt mächtige Strömungen, die neues Wissen fürchten. Das Studium außerirdischer Lebensformen missfällt ihnen.«

»Ich weiß, dass einige Strenggläubige mit der Idee außerirdischen Lebens nicht glücklich sind«, gab Grant zu, »aber …«

»Wenn sie mit außerirdischen Bakterien und Flechten nicht glücklich sind«, unterbracht ihn Muzorawa, »wie werden sie erst über die Begegnung mit intelligenten außerirdischen Lebensformen denken?«

»Intelligenten?«

»Die Möglichkeit besteht.«

Grant hatte ein hohles Gefühl im Magen. »Intelligente Wesen? Sie meinen, hier auf Jupiter?«

»Die Möglichkeit besteht«, wiederholte Muzorawa. »Aber die extremen Bedingungen … und es gibt keine Beweise …«

»Sie haben keine Beweise gesehen. Dr. Wo vertraut Ihnen noch immer nicht vollkommen.«

»Sie meinen die Dinger, die Sie im Ozean sahen?«

»Er glaubt es«, sagte Muzorawa.

»Intelligent?«

»Es gibt nicht einmal genug Daten, um zu beweisen, dass es sich um lebende Organismen handelt. Aber der Direktor glaubt, dass sie nicht nur lebendig, sondern auch intelligent sein mögen.«

Endlich ging Grant ein Licht auf. »Darum hat er die Delphine in die Station bringen lassen. Und Sheena!«

»Ja, um nichtmenschliche Intelligenz zu studieren. Um uns auf die Probleme einer möglichen Kommunikation mit den Jovianern vorzubereiten.«

»Alles das nur auf der Grundlage seines Glaubens, seiner Vermutung?«

»Der Glaube ist eine mächtige Kraft, junger Freund. Mächtiger als Sie denken. Kopernikus glaubte, dass die Erde um die Sonne kreist. Maxwell glaubte, das Licht sei eine Form elektromagnetischer Strahlung und hatte dafür keine weiteren Hinweise als die Koinzidenz von Zahlen in seinen Gleichungen.«

»Und die Kreationisten glauben, dass Gott uns nach seinem Ebenbild erschaffen habe. Außerirdisches Leben bedroht diesen Glauben.«

»Und intelligentes außerirdisches Leben zerstört ihn.«

»Aber wir wissen seit Jahrzehnten von den Marsbewohnern«, konterte Grant.

»Sie sind längst ausgestorben«, sagte Muzorawa. »Und sie können von den Gläubigen wegerklärt werden.«

Grant nickte. Sein eigener Vater glaubte fest daran, dass die seit Jahrmillionen verschwundenen Marsbewohner zur Erde gekommen seien, und dass der Mars der ursprüngliche Garten Eden gewesen sei. Alle archäologischen und anthropologischen Beweise und Erkenntnisse zeigten, dass solch eine Vorstellung unsinnig war, ganz und gar unmöglich, aber viele Gläubige hielten daran fest. Weil sie es glauben wollten.

»Intelligentes außerirdisches Leben«, fuhr Muzorawa fort, »das uns in keiner Weise ähnelt, ist eine beängstigende Vorstellung für viele Menschen in vielen Religionen.«

»Gott erschuf den Menschen nach Seinem Ebenbild«, murmelte Grant.

»Wenn wir intelligentes Leben finden, das uns nicht ähnlich ist …«

»Widerlegt es die Schöpfungsgeschichte der Bibel«, folgerte Grant.

»Deshalb sind die religiösen Kreise stets gegen die Raumforschung gewesen. Darum haben sie sich gegen den Einsatz von Radioteleskopen zur Suche nach Signalen außerirdischer Zivilisationen gestellt.«

»Und Wo dachte, ich könnte einer dieser fundamentalistischen Zeloten sein, nur weil ich religiös bin.«

»Ich denke, er vertraut Ihnen jetzt allmählich.«

Grant nickte ungewiss. »Vielleicht.«

»Er hat Sie unter seine Fittiche genommen, nicht wahr? Er arbeitet mit Ihnen und fungiert als Ihr Mentor.«

Grant nickte wieder, dachte aber, dass ein Mann wie Dr. Wo klug genug war, ihn unter die Fittiche zu nehmen, um ihn umso besser beobachten zu können. Vielleicht wusste er über Beech Bescheid. Vielleicht wusste er sogar, dass man ihn mit einem Spionageauftrag hierher geschickt hatte.

Beech. Grant sah ihn vor sich, das ernste, angespannte Gesicht, die durchbohrenden hellbraunen Augen. Ellis Beech, ein Fanatiker? Das konnte nicht sein, dachte Grant. Ellis Beech war bloß ein Funktionär, ein Bürokrat, der den ganzen Tag hinter einem Schreibtisch saß und Papiere hin und her schob. Er konnte kein Zelot sein; das konnte er sich nicht vorstellen.

Genau in diesem Augenblick kratzte es im Deckenlautsprecher, als die Gegensprechanlage der Station eingeschaltet wurde, und eine Stimme schnarrte: »Grant Archer, melden Sie sich unverzüglich im Büro des Direktors.«

Großer Gott, dachte Grant erschrocken, der Mann kann Gedanken lesen!

11. COUNTDOWN

Wenn Dr. Wo wirklich wissen konnte, was Grant dachte, gab er es nicht zu erkennen. Seine ständig finstere Miene schien ein wenig milder, als er Grant mit einer Handbewegung zum Stuhl vor seinem Schreibtisch dirigierte. Dieser war wie immer leer bis auf die Blumenvase, die diesmal mit üppigen Pfingstrosen gefüllt war und den einzigen Farbtupfer im nüchtern-funktionalen Büro darstellte. Trotz der beinahe erstickenden Wärme im Raum hatte Wo seinen Uniformrock mit dem steifen Kragen bis zur Kehle zugeknöpft.

»Dr. Muzorawa hat Sie unterrichtet, dass die Mission in dreißig Tagen beginnen soll.« Es war eine Feststellung, keine Frage.

»Ja, Sir«, erwiderte Grant. Wo musste jedes Labor und jeden Raum in der Station verwanzt haben. Es war kein angenehmer Gedanke.

»Ich habe mir Ihre Arbeit über die Flüssigkeitsdynamik des Ozeans angesehen«, sagte Wo in seinem kratzigen, angestrengten Flüsterton. »Gezeitenvariationen. Sehr interessant. Das verlangt nach weiteren Studien.«

»Ja, Sir, das denke ich auch.«

»Und wie reagiert Sheena auf die Idee, das Kontaktnetz mit Kopfschutz zu tragen?«

Am Vorabend hatte Grant das mit Elektroden besetzte Netz selbst auf dem Kopf getragen, um Sheena an den Anblick und die Vorstellung zu gewöhnen. Vielleicht war sie erheitert gewesen; sie konnte natürlich nicht lachen, nahm aber mehrmals auf »Grant Hut« bezug.

»Ich denke, Sie wird sich in einer Woche oder so daran gewöhnt haben. Das zugehörige Gerät erschreckt sie nicht mehr. Sie braucht bloß etwas Zeit, um sich an neue Dinge zu gewöhnen und sich in ihrer Nähe wohl zu fühlen — besonders Dingen, die den Geruch eines Laboratoriums an sich haben.«

Wo trommelte mit den Fingern auf die Schreibtischplatte. »Sie hat ein langes Gedächtnis.«

Grant nickte. »Sie vergisst nichts, was sie geängstigt hat oder Schmerzen bereitete.«

»Das neurale Elektrodennetz wird ihr in keiner Weise Schmerzen bereiten.«

»Aber es könnte sie ängstigen, es sei denn, sie sieht es als ein Spielzeug oder einen Zeitvertreib.«

»Ja«, räumte Wo ein. »Sehr schlau.«

»Es erfordert nicht viel, um ein Kleinkind zu übertölpeln«, hörte Grant sich mit einiger Bitterkeit sagen. »Nur Zeit und Geduld.«

Wo schenkte ihm ein ironisches Lächeln. »Es freut mich, dass Sie Geduld lernen.«

»In dieser Hinsicht ist Sheena eine gute Lehrerin.«

Das dünne Lächeln des Direktors ging in die Breite. »In Ihrer zunehmenden Weisheit werden Sie beinahe konfuzianisch, Mr. Grant.«

Da er nicht wusste, was er sonst sagen sollte, erwiderte Grant: »Danke, Sir.«

»Ich fürchte jedoch, dass ich Ihnen eine weitere Pflicht aufbürden muss.«

»Eine weitere?«

»Ich habe Sie zum Mitglied der Tiefenmission ernannt. Sie werden sich morgen zum Intensivtraining bei der Missionsleitung melden. Sie müssen imstande sein, der Missionsleitung zu assistieren, wenn die Tiefensonde startet.«

»Intensivtraining?«, erwiderte Grant konsterniert. »Aber … wann? Wie kann ich … der Tag hat nicht genug Stunden für alles, was auf meinem Programm steht.«

»Dann werde ich einige Dinge aus Ihrem Programm streichen«, erwiderte Wo knapp. »Ihre Pflichten im Labor für Flüssigkeitsdynamik werden bis zum Ende der Mission ausgesetzt.«

»Aber meine Arbeit!«

»Sie kann ein paar Wochen warten.«

»Die Kartographierung der Meeresströmungen … Sie werden das für die Mission brauchen.«

»Die Kartographierung ist für die Zwecke der Mission hinreichend detailliert. Weitere Verfeinerung ist nicht notwendig.«

Grant schüttelte heftig den Kopf. »Wie können Sie das sagen? Wie können Sie bestimmen, wie viel Information genug ist? Je mehr Daten verarbeitet werden können …«

Wo unterbrach ihn mit einer zornig abwärts schlagenden Handbewegung. »Es liegt in meiner Verantwortung zu sagen, wie viel genug ist.«

»Sie treffen eine willkürliche Entscheidung, Dr. Wo.«

»Ja, natürlich.« Der Direktor wandte seinen Blick einen Moment von Grant, als müsste er es tun, um seine Selbstbeherrschung zurückzugewinnen, dann sagte er in ruhigerem Ton: »Als Wissenschaftler stimme ich Ihnen zu. Gewiss, je mehr Daten, desto besser. Arbeiten und lernen Sie weiter.«

»Also dann …«

»Aber ich bin nicht bloß Wissenschaftler. Ich bin Direktor dieser Station und Leiter dieser Tiefenmission. Ich muss harte Entscheidungen treffen, wenn es notwendig wird. Ich muss entscheiden, wie ich das Personal einsetze, das mir zur Verfügung steht, und ich habe entschieden, dass die beste Verwendung für Sie die Assistenz in der Zentrale der Missionsleitung ist. Für die Dauer der Mission.«

»Es gibt in dieser Station mehrere Dutzend Techniker, die diese Arbeit besser tun können als ich.«

»Vielleicht«, räumte Wo ein. »Aber ich habe entschieden, kein zusätzliches Personal für diese Mission abzustellen.«

»Warum nicht? Wäre es nicht klüger …«

»Genug!«, fauchte Wo. »Ich habe meine Entscheidung getroffen, und Sie werden meine Befehle ausführen. Ende der Diskussion!«

Grant verstummte. Die beiden starrten einander über den schimmernden Schreibtisch hinweg an.

»Es ist eine Sicherheitsfrage, nicht wahr?«, fragte Grant mit viel zaghafterer Stimme. »Sie möchten keine zusätzlichen Leute in die Mission bringen, weil Sie ein Sicherheitsleck befürchten.«

Wo schwieg eine Weile. Grant fühlte, wie ihm Schweißtropfen von den Schläfen und über den Rücken rannen. Er konnte nicht verstehen, warum Wo sein Büro so höllisch überheizte.

Schließlich sagte Wo: »Dr. Muzorawa hat mit Ihnen über die Zeloten gesprochen.«

Grant nickte. Allmächtiger, dachte er, er hört tatsächlich unsere sämtlichen Gespräche ab.

»Ich fürchte sie«, sagte Wo so leise, dass Grant die Worte kaum verstand.

»Aber sicherlich ist hier in dieser Station keine Gefahr, Sir. Wir sind Millionen von Kilometern von ihnen entfernt.«

»Sind wir das? Wer unter den Dutzenden von Technikern, die Sie erwähnten, könnte ein Zelot sein? Wer unter den Wissenschaftlern, die auf Europa oder Io arbeiten?«

»Kein Wissenschaftler«, erwiderte Grant.

»Warum nicht? Sie sind doch auch gläubig, oder?«

»Ja, aber ich bin kein Fanatiker.«

Wos Blick durchbohrte Grant, als wollte er ihm bis in die innerste Seele dringen. »Nein«, sagte er schließlich, »ich vertraue darauf, dass Sie es nicht sind.«

Es war das Wort ›vertraue‹, das Grant am härtesten traf. Er hörte sich sagen: »Als ich den Auftrag erhielt, in dieser Station Dienst zu tun, forderte die Neue Ethik mich auf, ihr Meldung darüber zu machen, was Sie tun.«

Wo sagte nichts. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich nicht um einen Millimeter.

»Sie forderte mich auf, Sie auszuspionieren«, gestand Grant.

»Und haben Sie es getan?«

»Ich habe ihnen nichts gesagt. Ich habe nichts kennen gelernt, was sie nicht bereits weiß. Aber wenn Sie mich nun zu einem Teil dieser Tiefenmission machen …«

Dr. Wo schloss die Augen und nickte. »Ich sehe. Ihre Loyalität ist geteilt.«

»Nein, das ist sie nicht«, widersprach er. »Ich bin gläubig und auch Wissenschaftler. Aber meine Loyalität ist klar. Ich bin kein Spion, und was immer die Leute von der Neuen Ethik daheim wissen wollen, hat nichts mit dem Glauben an Gott zu tun. Was sie von mir verlangten, ist Politik, nicht Religion.«

Wo schwieg nachdenklich. Grant wartete mehrere Augenblicke und sagte dann: »Sie können mir vertrauen, Sir. Ich bin kein Spion. Ich wollte Sie niemals ausspionieren. Man ließ mir keine Wahl.«

»Ich möchte Ihnen vertrauen, Archer. Es gibt in dieser Station sehr wenige Leute, denen ich vertrauen kann. Das ist der Grund, weshalb meine Mannschaft für die Tiefenmission so jämmerlich klein ist.«

»Und der Grund, dass Sie die Mannschaft unter Quarantäne gestellt haben«, sagte Grant.

Wo ließ das Kinn auf die Brust sinken. In einer vor innerer Wut bebenden Stimme sagte er: »Es würde nur eines Zeloten bedürfen, müssen Sie verstehen. Diese Station ist sehr verletzlich. Ein Fanatiker könnte uns alle vernichten.«

»Ein Terrorist?«

»Ein Mann — oder eine Frau — der überzeugt ist, dass unsere Suche nach intelligentem außerirdischem Leben sündhaft ist. Eine Person, die bereit ist zu sterben und uns alle zu töten, nur um diese Suche zu verhindern.«

»Werden solche Fanatiker nicht durch die psychologischen Profile ausgefiltert?«

Wo runzelte die Stirn über so viel Naivität. Dann schien sein Zorn sich zu legen. »Ich hätte in dieser Station niemals Nanomaschinen erlauben sollen«, sagte seine kratzende Stimme so leise, dass Grant sein Gehör anstrengen musste. »Das war ein Fehler. Eine persönliche Schwäche.« Er schüttelte den Kopf, scheinbar untröstlich.

Grant wusste nichts darauf zu sagen. Die Idee war seinem Denken zu fremd, fremd auch allem, was er glaubte.

»Wird diese Station zerstört, so wird man sie niemals ersetzen«, fuhr Wo fort. »Es ist schwierig genug, die Mittel für Instandhaltung und Reparaturen zu bekommen. Niemals würden sie den Bau einer neuen Station erlauben.«

»Ich kann nicht glauben, dass das wahr ist. Die Arbeit, die wir hier tun …«

»Sie verabscheuen die Arbeit, die wir hier tun! Wären nicht die Gewinne, die mit den Sammlerschiffen erzielt werden, hätten sie längst alle finanzielle Unterstützung gestrichen und diese Station geschlossen.«

»Das würden sie nicht tun! Das könnten sie nicht!«

»Sie glauben das nicht?«, höhnte Dr. Wo. »In diesem Augenblick ist eine Gruppe von Beamten der IAB in einem Schiff hoher Beschleunigung unterwegs hierher.«

»Leute der IAB?«

»Eine Untersuchungskommission«, sagte Wo sarkastisch. »Wie viele davon sind Mitglieder der Neuen Ethik? Wie viele gehören zu den Jüngern Gottes oder zum Schwert des Islam? Einer von ihnen ist Jesuit, so viel weiß ich. Ein Astronom, nichts Geringeres.«

»Und sie kommen hierher?«

»Um unsere Arbeit zu untersuchen und zu bewerten. Darum glaube ich, dass Sie keinen so wirkungsvollen Spion für sie abgegeben haben, wie sie sich das erhofft hatten. Wenn sie wüssten, was wir tun, würden sie die Station sofort schließen.«

Grant schüttelte den Kopf. »Sie glauben wirklich, die Kommission kommt hierher, um die Station zu schließen?«

»Warum sonst? Die Kommission soll unsere Arbeit untersuchen und bewerten. In meinen Augen ist sie nur vorgeschoben, um einen bereits gefassten Beschluss formal zu rechtfertigen.«

»Nicht unbedingt«, sagte Grant. »Die IAB wird nicht von der Neuen Ethik beherrscht.«

»Pah!«

»Gut, ich gebe zu, dass es in der Neuen Ethik und anderen Gruppen, die der wissenschaftlichen Forschung kritisch gegenüberstehen und sie auf den meisten Gebieten ganz unterbinden möchten, religiöse Eiferer gibt. Aber sie sind nur eine kleine Minderheit der Bewegung. Eine lautstarke Minderheit, aber doch nur ein kleiner Teil des Ganzen. Die Leute an der Macht, die in Amt und Würden sind, verstehen die Bedeutung wissenschaftlicher Forschung, auch der, die hier betrieben wird.«

»Leute wie diejenigen, die Ihnen den Auftrag gaben, mich auszuspionieren?«

Darauf fand Grant keine Antwort. Er erkannte, dass Dr. Wo wahrscheinlich Recht hatte. Die IAB war finanziell von den nationalen Regierungen abhängig, und die meisten dieser Regierungen standen unter dem Einfluss von religiösen Bewegungen wie der Neuen Ethik.

Wo brach das Schweigen. »Warum ist Nanotechnik verboten?«

»Nanotechnik?«, fragte Grant. Verwirrt fragte er sich, was dies mit der IAB oder der Neuen Ethik zu tun hatte. »Man verwendet sie auf dem Mond.«

»Nur unter strikten Einschränkungen. Die Leute dort mussten einen langwierigen Kampf gegen die Vereinten Nationen führen, um den Gebrauch von Nanomaschinen genehmigt zu bekommen. Und Menschen, die Nanomaschinen in ihren Körpern haben, erhalten keine Einreiseerlaubnis für die Erde.«

»Nanomaschinen können zu Waffen werden«, sagte Grant. »Deshalb sind sie verboten.«

Wo schnaubte geringschätzig. »Pah! Können Sie mir sagen, warum Sie mit Computersystemen arbeiten, die wenigstens zehn Jahre alt sind? Warum haben Sie kein Kl-System, das Ihnen bei der Arbeit behilflich sein könnte?«

Verwirrt von einem weiteren plötzlichen Themenwechsel, sagte Grant: »Es ist noch niemandem gelungen, ein System künstlicher Intelligenz zu entwickeln, das zuverlässig arbeitet.«

»Unsinn«, entgegnete der Direktor. »Vor zwanzig Jahren wurde die Forschung auf dem Gebiet der Systeme künstlicher Intelligenz unterbunden. Warum? Weil die Forscher einen Prototyp entwickelt hatten, der funktionierte. Durchaus verlässlich.«

»Wie könnten sie alle Forschung unterbinden?«

»Weil sie fürchteten, wohin diese Forschung führen würde. Sie fürchteten die Entwicklung von Maschinen mit der Intelligenz von Menschen. Mit höherer Intelligenz, unausweichlich. Das ist Teufelswerk.«

Grant saß da und versuchte diese Flut von Informationen und Anklagen zu verdauen.

»Wenn sie wüssten, in welche Richtung unsere Erforschung des Jupiter geht, wenn sie verstünden, was wir entdecken könnten …« Wo ließ den Satz unvollendet.

»Sie würden befürchten, dass wir tatsächlich intelligentes Leben im Ozean finden könnten«, murmelte Grant.

»Genau. Darum achte ich auf strenge Sicherheitsmaßnahmen. Darum weigere ich mich, mehr Leute in das Missionsprojekt einzubeziehen. Einer von ihnen könnte sich als ein religiöser Fanatiker erweisen.«

Grant versuchte das Gehörte in seinem Verstand zu sortieren. »Aber es gibt keinen Beweis für intelligentes Leben dort unten. Wir wissen nicht einmal, ob es eine Form von Leben in dem Ozean gibt.«

»So? Wir wissen es nicht?« Wo stieß mit einem Finger auf die in seine Schreibtischplatte eingebaute Tastatur. Sogleich verwandelte sich eine der Wände in eine düstere, körnige, formlose Szene.

»Dieses Video wurde von der ersten Mission in den Ozean gerettet«, erläuterte Wo. Seine kratzige Stimme klang erschöpft.

Irgendwo in der trüben Dunkelheit flackerte eine Blitzentladung. Blitze?, fragte sich Grant. Unter Wasser?

Als er auf den Wandbildschirm starrte, erkannte Grant, dass es keine Blitzentladung war, was er sah. Die Lichterscheinungen waren rot, gelb, tieforange.

Langsam nahmen die Lichter vor seinen faszinierten Augen Gestalt an. Es waren Silhouetten im Wasser, ein Dutzend oder mehr schemenhafte Gebilde, die zusammen durch den Ozean trieben. Lichter flackerten zwischen ihnen hin und her.

Lebewesen! Für Grant gab es keinen Zweifel. Und sie signalisierten einander!

In atemloser Spannung beobachtete Grant das Geschehen. Die Lichter blinkten hin und her, her und hin.

Es schien eine Art Muster zu geben. Zuerst leuchtete eines, dann alle anderen in den gleichen Farben. Er konnte nicht erkennen, ob die Lichter eine bestimmte Form oder Gestalt bildeten, denn die Lebewesen waren zu weit entfernt, als dass man während der hellen, kurz aufzuckenden Lichter etwas hätte ausmachen können. Die grenzenlose Dunkelheit der See ließ keine Entfernungsschätzung zu. Es war frustrierend. Wenn er nur näher herangehen könnte, Einzelheiten erkennen …

Die Szene erlosch, die Wand war wieder wie zuvor. Grant war zumute wie einem Kind, dem gerade ein Weihnachtsgeschenk aus den Händen gerissen worden war. Er wandte sich zu Dr. Wo. »Sie sind lebendig«, flüsterte er.

»Ich glaube es. Aber der Beweis ist kaum schlüssig.«

»Und sie signalisierten sich gegenseitig!«

»Vielleicht.«

»Konnten Sie ihnen nicht näher kommen?«

»Wir hatten etwas weniger als fünfzehnhundert Kilometer Tauchfahrt in einem Winkel von sechzig Grad hinter uns gebracht, als der Unfall unsere Mission beendete. Sie waren erheblich tiefer im Ozean als wir.«

»Fünfzehnhundert …« Grant überlegte. »Diese Wolken von Lebewesen mussten sehr groß gewesen sein, um sie in der Weite dieses Ozeans zu sehen.«

»Diese Schwärme kommen in einer Größenordnung zwischen fünf und fünfzehn Kilometern vor«, sagte Wo.

»Das … das ist ungeheuer!«

Wo nickte. »Das ist die Dimension, die unsere Computeranalyse zeigt. Könnte natürlich falsch sein.«

»Aber … wie … warum …?« Grants Gedanken rasten.

»In der dichten Wolkendecke bilden sich organische Verbindungen«, sagte Wo. »Das haben wir gesehen; wir haben sogar Proben genommen. Sie sinken wie Regen oder Manna vom Himmel hinab in den Ozean. Es ist Nahrung, was von den Wolken in den Ozean sinkt.«

»Aber diese organischen Verbindungen werden unter den Bedingungen, die im Ozean herrschen, nicht von Bestand sein«, überlegte Grant.

»Oder sie könnten von diesen Lebewesen, die wir gerade sahen, verzehrt werden.«

»Lebenden Jovianern.«

Wo zählte die Argumente an seinen kurzen Fingern ab. »Es gibt eine starke Ausstrahlung von Wärmeenergie aus dem Innern des Planeten. Es gibt einen Ozean flüssigen Wassers …«

»Stark durchsetzt mit Ammoniak und Gott weiß was noch. Ein saurer Ozean.«

Wo ließ das unbeachtet und fuhr fort: »Es gibt eine ständige Nahrungsquelle, die in diesen Ozean hinabregnet. Energie, Wasser, Nahrung: wo immer diese Faktoren angetroffen wurden, fand sich Leben. Was in diesem Ozean herumschwimmt, sind lebende Jovianer.«

»Aber intelligent …?«

»Warum nicht? Sie scheinen einander zu signalisieren. Warum sollte sich in diesem immensen Ozean im Laufe von Milliarden Jahren keine Intelligenz entwickeln? Bei uns zeigen Delphine und Wale beträchtliche Intelligenz. Warum nicht hier? Warum nicht sogar eine höhere Intelligenz?«

»Höher?«

»Warum nicht?«, wiederholte Wo.

Dann erinnerte sich Grant. »Aber wenn die IAB-Kommission wirklich hierherkommt, um die Station zu schließen …«

»Das ist der Grund, warum ich darauf dränge, die Tiefenmission so bald wie möglich auf den Weg zu bringen.«

»Wann wird die Kommission hier eintreffen?«

Wo brauchte nicht einmal auf den Kalender zu sehen.

»In neununddreißig Tagen. Die Tiefenmission wird bis dahin im Ozean sein. Sie werden keine Möglichkeit haben, die Tauchsonde zurückzurufen.«

Der Direktor zeigte ein seltenes Lächeln.

»Aber wenn die religiösen Eiferer vorher davon erfahren«, murmelte Grant, »werden sie versuchen, die Station zu zerstören.«

Wos Selbstzufriedenheit löste sich auf. Er seufzte. »Ein selbstmörderischer Fanatiker, mehr wäre nicht nötig.«

»Aber … angenommen, Sie können bestätigen, dass es unten im Ozean intelligente Jovianer gibt. Was dann?«

Wo lehnte sich im Stuhl zurück und blickte zum Metallgeflecht der Decke auf. »Dann senden wir die Information zur Erde. Zum Sitz der Internationalen Astronautischen Behörde, zu den wissenschaftlichen Organisationen der Vereinten Nationen, zu allen Nachrichtendiensten und Universitäten. Gleichzeitig. Wir machen unsere Bekanntgabe so laut und so umfassend, dass sie nicht übersehen oder unterdrückt werden kann.«

»Sie würde für viele Leute schockierend sein«, meinte Grant.

Wo nickte. »Ja. Diese Entdeckung wird die Fundamente von allem erschüttern. Man wird gezwungen sein, unsere Arbeit fortzusetzen, sogar zu erweitern. Die Menschen werden es verlangen.«

»Vielleicht«, sagte Grant, zweifelte aber daran. Was würden die Menschen der Welt denken, wenn wir hier auf Jupiter intelligente Lebewesen entdeckten? Wie würden die Menschen auf Erden darauf reagieren?

»Oder vielleicht«, fügte er hinzu, »würden die Zeloten oder irgendein anderer Haufen von Verrückten versuchen, uns alle umzubringen, aus Furcht und Hass.«

Wo schnaubte geringschätzig. »Was hätte das schon zu sagen? Sobald die Entdeckung öffentlich gemacht ist, kann niemand die Information löschen.«

»Aber sie werden uns umbringen!«

»Ja, möglicherweise«, räumte der Direktor ein. »Das spielt keine Rolle. Solch eine Entdeckung gemacht zu haben, wird unser aller Leben wert sein.«

12. BEFEHLSZENTRALE

Grant erzählte niemandem von seinem Gespräch mit dem Direktor. Er ist ein Fanatiker, dachte er bei sich. Auf seine Weise ist er genauso verrückt wie die Zeloten oder alle anderen engstirnigen Extremisten. Ich frage mich, ob jemand von den anderen weiß, wie er wirklich denkt.

Trotzdem sprach er zu niemandem davon. Nicht einmal zu Lane oder Zeb oder den anderen, die bereits Bescheid wissen mussten. In einer Hinsicht stimmte Grant mit dem Direktor überein: je weniger Leute wussten, was wirklich vorging, desto besser.

Wie Grant feststellte, war Wos Vorstellung von Quarantäne sehr locker. Er und die anderen Mitglieder der Missionsmannschaft nahmen ihre Mahlzeiten in einem Konferenzraum ein und arbeiteten zusammen, aber sie schliefen nach wie vor in ihren eigenen Quartieren und waren in der Lage, mit dem Rest des Stationspersonals zu verkehren. Es war mehr eine Frage der Einstellung, des Verantwortungsgefühls, die sie daran hinderte, mit den »Außenseitern« über die Mission zu sprechen.

Krebs verstärkte diese Haltung in ihrer eigenen, stahlharten Art. Als Grant am ersten Abend mit der Mannschaft beim Essen saß, erschien sie im Konferenzraum und fasste jeden Einzelnen der Reihe nach ins Auge.

»Sie werden unsere Arbeit mit niemandem diskutieren«, sagte sie aus heiterem Himmel. »Das ist entscheidend! Lebenswichtig! Jeder von Ihnen hat eine Sicherheitsvereinbarung unterschrieben. Jeder Verstoß gegen diese Vereinbarung wird mit der vollen Härte des Gesetzes geahndet.«

Dann setzte sie sich zum Essen nieder. Niemand saß näher als drei Stühle von ihr.

Grant vergaß seine Forschungsarbeit über die Flüssigkeitsdynamik des Jupiterozeans. Wenn es sich bei den beobachteten Phänomenen wirklich um Lebewesen handelte, womöglich sogar um intelligente, dann hatten sie es mit der größten Entdeckung der Geschichte zu tun! Was die Kameras gesehen hatten, waren vielleicht Unterseeboote, gigantische, bewegliche Unterwasser-Lebensräume. Vielleicht besaßen die Jovianer eine Technik, die jener der Menschen gleichkam. Oder sie übertraf.

Dann wieder warnte ihn eine innere Stimme, dass er auf einem Pulverfass sitze. Alles kam darauf an, keine unüberlegten Schritte zu tun. Diese Geschichte konnte ihn das Leben kosten.

Wie sich herausstellte, war die Befehlszentrale ein nicht weiter bemerkenswerter kleiner Raum, in dem sich sechs Schreibtische mit Datenanschlüssen und Kommunikationseinrichtungen drängten. Es sah so aus, als wäre alles mit dem Schuhlöffel in ein Abteil hineingezwängt worden, das mehrere Nummern zu klein war. Es gab kaum genug Platz, um sich mit Verrenkungen zu den kleinen Stühlen der Arbeitsplätze durchzuwinden. Direktor Wo hatte jedoch einen separaten Schreibtisch vor sich, genau in der Mitte des Raums und mit einem schmalen Gang, der von der Korridortür direkt zu seinem Platz führte. Dieser Mittelgang war der einzige freie Raum in der Zentrale.

Die Bildschirme waren mit der Simulationskammer im Aquarium verbunden, und so bekam Grant Muzorawa und O'Hara und die anderen in jeder Schicht zu sehen, wenigstens auf dem Bildschirm. Und auch Karlstad, der angespannt und beinahe ängstlich auf seinem Unterwasserposten stand, die Füße in Plastikschlaufen, die ihn am Boden verankerten.

Dr. Wo setzte Grant an die Konsole zur Überwachung der elektrischen Energiesysteme der Tauchsonde. Frankovic, der neben ihm für die lebenserhaltenden Systeme zuständig war, hatte den Auftrag, Grant über alles zu belehren, was dieser wissen musste.

»Hat er Sie also auch in dies hineingesaugt«, sagte Karlstad in sein Kehlkopfmikrofon, als Grant zuerst in die Befehlszentrale kam und die Besatzung im Tank begrüßte.

»Wir sind eben eine festgefügte kleine Familie«, erwiderte Grant.

»Glauben Sie bloß das nicht«, stieß Karlstad hervor. »Wir sind Gefangene. Marionetten an seinen Fäden. Er bewegt die Finger, und wir tanzen.«

Krebs platschte in den Simulatortank und Karlstad verstummte.

Grant wandte sich zu seinem Nebenmann Frankovic. »Es wird Zeit, dass Sie mir zeigen, was ich hier tun soll«, sagte er. Der schmale kleine Stuhl war alles andere als bequem.

»Sie wollen sich wohl mit Wo auf guten Fuß stellen?«, sagte Frankovic. »Das ist ein sehr zweifelhaftes Beginnen. Bisher ist noch jeder dabei auf den Bauch gefallen.«


* * *

Die Abende verbrachte Grant mit Sheena, ganz gleich wie müde er nach den langen Stunden in der Befehlszentrale war. Er verstand jetzt Dr. Wos Interesse am Gorilla und den Delphinen. Wie verständigen wir uns mit einer anderen Spezies? Wie machen wir uns Lebewesen verständlich, die nichts mit uns gemeinsam haben?

Nicht selten trug Grant sein Abendessen hinunter zum Aquarium und aß mit dem Gorilla. Natürlich zog Karlstad ihn damit auf, aber Grant wollte, dass Sheena die Kopfbedeckung mit den neuralen Kontakten mit möglichst wenig Aufhebens akzeptierte. Nachdem er sich mehrere Abende mit dem Netz auf dem Kopf zu ihr gesetzt hatte und sich dabei ziemlich albern vorgekommen war, brachte er ein zweites mit und bot es Sheena an.

Sie schien zwischen Neugier und Furcht hin und her gerissen. Zuerst sah sie nur von dem Kontaktnetz auf Grants blondem Haar zu dem anderen, das neben ihm am Boden lag.

Er teilte seinen Früchtebecher mit Sheena, als sie mit ihren vom Sirup klebrigen Fingern das Netz vom Boden nahm. Sie hielt es vors Gesicht und untersuchte das mit Elektroden besetzte Geflecht der Drähte, das wie ein geheimnisvoller Schmuck in ihrer Hand hing.

Grant tippte an sein eigenes Netz, lächelte und sagte: »Lustiger Hut, Sheena.«

»Lustig Hut«, brachte sie in ihrem heiseren Flüstern hervor.

»Ich hab ihn dir mitgebracht.«

Sheenas tiefbraune Augen blickten von dem baumelnden Netz zu Grants Gesicht und wieder zurück.

Er sagte nichts. Langsam hob Sheena das Netz höher und ließ es dann ungeschickt auf ihren Kopf fallen. Es glitt ab und landete mit einem leisen metallischen Ticken am Boden.

»Ich helf dir«, sagte Grant und griff nach den Drähten.

»Nein.« Sheena stieß seine Hand zurück. Es war nur eine wischende Armbewegung, aber kräftig genug, dass Grant beinahe das Gleichgewicht verlor. Er hatte vergessen, wie stark der Gorilla war. Er hatte sich so an ihr gutmütiges Wesen gewöhnt, dass er es für selbstverständlich hielt. Das war ein Fehler.

Sheena fummelte mit dem Netz, diesmal mit beiden Händen, und legte es wieder über ihren Kopf. Es saß schief und vorn über einem Auge, rutschte aber nicht ab.

Der Anblick war lächerlich, und Grant verbiss sich ein Lachen. »Gutes Mädchen, Sheena«, lobte er sie.

»Lustig Hut«, sagte der Gorilla.

»Lustig Hut«, pflichtete er ihr bei und legte die flache Hand auf seinen Kopf.

In einer Woche, dachte er, konnten sie das Netz anschließen und anfangen, Ablesungen von ihrer Gehirntätigkeit zu machen. Zuvor aber musste sie sich daran gewöhnen. Er beschloss, sich von Pascal zeigen zu lassen, wie man die Konsole bediente. Es war nicht zweckmäßig, Fremde ins Spiel zu bringen; es würde Sheena nur aufregen.

Er holte tief und erleichtert Atem. Nein, sagte er sich, Sheena in Aufregung zu versetzen, brachte niemandem etwas. Nur Geduld konnte zum Ziel führen.

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