Eine halbstündige verzweifelte Suche führte zu keinem positiven Ergebnis, und länger Ausschau halten würde nur die Chance aufs Spiel setzen, Mary und das Ungeborene lebend herauszubringen. Daher stapfte ich zurück zu der von Efeu überwucherten Ziegelhütte wie ein Mann auf dem Weg zum Galgen. Was sollte ich Mary sagen? Ihr Sohn war entführt worden und war höchstwahrscheinlich schon tot – alles unter meiner Aufsicht …
Das ganz gewöhnliche Geräusch von Grillen folgte mir bis ins Haus, aber dann ertönte ein anderes Geräusch, eines, das meine allumfassende Verzweiflung ins Wanken brachte:
Das Geräusch eines weinenden Babys.
Ich stürzte aus der tintenschwarzen Dunkelheit der Diele in das von einer Kerze erhellte Zimmer, in dem das Babygeschrei meinen Blick gefangen nahm und auf den Haufen auf einer Matratze lenkte. »Mary!«
Dort saß sie zwischen den behelfsmäßigen Kissen und lächelte erschöpft. In den Armen, an ihren schwellenden Busen gedrückt, hielt sie ein neugeborenes Baby, das sie in Leinen gewickelt hatte.
»Ich habe Wehen bekommen, gleich nachdem du weg warst«, berichtete sie mit rosigen Wangen. »Und dann, nur Minuten später, war es da.« Sie drehte das Kind, dass ich es sehen konnte.
Ein Wunder, dachte ich. Es war so perfekt, wie jedes Baby, das ich je betrachtet habe. In dem Moment, in dem es mich bemerkte, wurde es still und sah mich mit großen Augen an.
»Sieh nur, er mag dich, Foster. Schon dein Anblick beruhigt ihn.« Mary wiegte ihn so gut sie konnte.
»Was für ein Wunder«, flüsterte ich. »Es tut mir nur leid, dass ich nicht hier war, um dir beizustehen, als es so weit war.«
»Mit jedem Mal wird es leichter«, informierte sie mich. »Bei diesem hatte ich kaum Schmerzen.« Sie sah mich hoffnungsvoll an, und ihre Augen funkelten im Kerzenlicht. »Aber wir müssen ihm sofort einen Namen geben, für den Fall …«
Für den Fall, dass wir bei dem Fluchtversuch sterben, beendete ich den Satz für sie.
»Ich werde ihn Foster nennen«, sagte sie.
Ich war sprachlos und hatte Tränen in den Augen.
Dann wurde ihr hoffnungsvoller Blick hart wie Granit. »Und sie werden dieses Baby nicht bekommen. Nur über meine Leiche …«
Sie wusste noch immer nicht, dass Walter verschwunden war.
»Mary, ich … ich …«
»Ich liebe dich so sehr, Foster«, unterbrach sie mich, selbst mit Tränen in den Augen. »Ich möchte, dass du mich heiratest. Ich möchte den Rest meines Lebens mit dir verbringen und dieses Kind zusammen mit dir aufziehen … und ich möchte dich nachtnächtlich lieben …«
Die Worte, schöner als jedes Geschenk, das ich je erhalten hatte, zogen meinen Geist nur noch tiefer in den Abgrund trauriger Wahrheit.
»Du, Walter und ich«, sinnierte sie, während sie ihr Kind stillte. »Wir werden solch eine glückliche Familie sein.«
Trauer verschnürte mir die Kehle. Ich brachte die Worte kaum heraus: »Mary, du verstehst nicht. Es geht um …«
»Ich weiß, worum es geht«, sagte sie ruhig. »Es geht um Walter.«
Ich glotzte.
»Ich hatte bisher nicht die Gelegenheit, es dir zu erklären«, fuhr sie fort und verdeckte züchtig genug ihrer Brust, um meinen Blicken zuvorzukommen. »Du hast vorhin gesagt, dass du Cyrus Zalen auf der Sandbank gesehen hast, wo er den Vollblütigen Säcke voller Neugeborener gegeben hat.«
»Ja, aber … aber, Mary, was …«
»Keine Sorge, Schatz. Du hast dich einfach geirrt.«
»Geirrt?«, fragte ich und war jetzt völlig durcheinander. »Nein, nein, Mary, ich habe ihn gesehen, es war Zalen.«
»Du hast einen Mann in einem schwarzen Regenmantel gesehen, nicht wahr, Foster?«
»Äh … ja.«
Sie sah mich direkt an. »Foster, der Mann, der dich früher am Tage im Wald verfolgt hat, war nicht Zalen.«
Der Kommentar bestürzte mich. »Aber … Ich war mir so sicher.«
»Und der Mann, den du heute Abend auf der Sandbank gesehen hast, war ebenfalls nicht Zalen.«
»Wer dann?«, wollte ich wissen.
Mary wand sich an ihrem Platz, Kerzenlicht schien fahl auf ihr Gesicht. »Das war Walters Vater …«
»Was!«
»Foster … dreh dich um.«
Ich kam dem kryptischen Befehl nach, und meine Augen weiteten sich bei dem surrealen Anblick.
In der gegenüberliegenden Ecke stand ein groß gewachsener, hagerer Mann. Der schwarze Regenmantel schien mehrere Nummern zu groß, und die Kapuze verdeckte den Großteil seines Gesichts. Wichtiger war die geringe Last in seinen Armen: Es war Walter. Zuerst befürchtete ich, der Junge wäre tot, doch dann sah ich, dass sich seine junge Brust hob und senkte.
»Das ist Walters Vater«, erklärte mir Mary im flackernden Licht. »Die Male, als du ihn versehentlich für Zalen gehalten hast, der dir nachstellt, war er eigentlich auf dem Weg hierher, um einen Blick auf seinen Sohn zu erhaschen.«
Ich schätze, ich wusste durch irgendein finsteres ätherisches Omen bereits, bevor die Gestalt die Kapuze abnahm, dass sie das Gesicht von Howard Phillips Lovecraft enthüllen würde.
Ich stand mit offenem Mund da und starrte benommen die Ikone an, als sähe ich vom höchsten Felshang der Erde herunter …
Die Stimme, die über die dünnen Lippen kam, klang hoch, aber ausgedörrt, ein angestrengtes Flüstern. Er bewegte seine lebendige Last. »Mein Sohn ist nicht in Gefahr, Sir; er ist nur durch den Schreck über die Entführung durch mehrere Mitglieder des Stadtkollektivs in Ohnmacht gefallen. Bitte seien Sie versichert, dass selbige Entführer nicht länger unter den Lebenden weilen.«
»Sie haben sie umgebracht?«
Das dünne Gesicht nickte. »Ebenso wie ich den Vollblütigen umgebracht habe, der bei Onderdonk auf Sie losgegangen ist. Und wie Mary Ihnen bereits mitgeteilt hat, war ich der Fährmann, den sie heute Abend auf der Sandbank gesehen haben.« Die Stimme schwankte nun zwischen brüchig und hohen Tönen, irgendwie hohl, gleichzeitig aber auch sehr tief. »Bei der Ausübung meiner verabscheuungswürdigen Pflicht. Diese schändliche Tat ist seit dem sechzehnten März neunzehnhundertsiebenunddreißig ganz allein meine Domäne.«
Dem Tag nach seinem Tod, wie ich wusste. Die Worte des Meisters klangen schwach, wie dünne Fetzen, die vom Wind durch die Latten eines Zauns geweht wurden. Die obszöne Umgehung des Todes hatte sein schmales Gesicht so bleich werden lassen, als wenn altes Leichenwachs auf einen Totenschädel aufgetragen worden wäre. Diese Halbdurchsichtigkeit seiner Haut ließ mich erschaudern, ebenso wie sein Augenweiß es tat, das eher schmutzbeflecktem Harsch glich.
»Und wie Sie selbst bereits teilweise begriffen haben«, fuhr er fort, »sind die widerlichen Kreaturen, die ich als ›Tiefe Wesen‹ fiktionalisiert habe, im Besitz aggressiver Tränke, die die Nukleotidaktivität in einer gewissen spiralförmigen Struktur, die innerhalb jeder menschlichen Zelle existiert, künstlich nachbilden können. Dieser geniale – und diabolische – Prozess besitzt neben anderen Dingen die Macht, das Leben in den Toten wiederherzustellen. Daher, Sir, auch meine Verdammnis zur Wiedergutmachung meiner Sünden.«
»Ihrer … Sünden?«, erkundigte ich mich. »Aber Sie waren Ihr ganzes Leben hindurch als Atheist bekannt. Das Konzept der Sünde ist keines, an das Sie glauben.«
»Ich rede nicht von meiner Auffassung«, entgegnete der gequälte Mann, »sondern von deren Auffassung.«
»Was auch immer meinen Sie damit?«
»Ich habe Schatten über Innsmouth vor knapp einem Jahrzehnt geschrieben, aber sehen Sie, ob seiner Mängel wurde es nicht veröffentlicht, und da dies so war, erfuhren die Vollblütigen auch nichts von dessen Existenz …«
»Aber all das änderte sich«, spekulierte ich, »Ende 1936, als die Visionary-Publications-Ausgabe der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurde. Und die Nachricht gelangte zu …«
»… gelangte zu den ewig währenden Monstren, die an diesem Ort das Sagen haben, genau. Aber sie machten sich damals nicht die Mühe, mir nachzujagen – es war bereits bekannt, dass ich an einer tödlichen Krankheit litt. Einige Monate später jedoch, als ich starb, drang die Nachricht von meinem Hinscheiden ebenfalls an ihr Ohr. In der Nacht, nach dem ich begraben wurde, kam ein Rudel dieser verfluchten Dinger aus der Narragansett Bay herauf, exhumierte mich und erweckte meinen erbärmlichen Leichnam wieder zum Leben. Seitdem bin ich gezwungen, ihnen zu dienen, auf mehrere, widerwärtige Weisen, deren Details ich Ihnen ersparen werde. Doch der Höhepunkt meiner Bestrafung, der, wie ich denke, nunmehr ziemlich klar ist, besteht in der Auslieferung aller Neugeborenen an die seelentoten Machenschaften der Vollblütigen.«
Meine Kehle zog sich plötzlich zusammen. »Dafür haben die Sie zurückgeholt. Damit Sie ihnen dienen.«
»Dafür und für weit, weit schlimmere Dinge, Sir. Allerdings bin ich ein unwilliger Verräter an meiner Rasse – und der Botenjunge des Teufels. Der einzige Weg, das Leben meines Sohnes zu schützen, war, zu tun, was mir aufgetragen wurde, und die Neugeborenen in deren entsetzliche Klauen zu geben.« Die toten Augen sahen Mary und ihr jetzt schlafendes Baby an. »Es ist eine Pflicht, die ich nie wieder erfüllen werde.« Er legte Walter neben Mary ab und wandte sich dann erneut an mich. »Und Sie, Sir, muss ich um einen Gefallen bitten.«
»Ich verdanke Ihnen mein Leben«, erklärte ich. »Die Bestie bei Onderdonk war kurz davor, mich umzubringen, als Sie eingeschritten sind …«
»Tun Sie, was Sie versprochen haben«, flehte die geisterhafte Stimme, »und bringen Sie Mary und meinen Sohn in Sicherheit.«
»Das werde ich tun. Ich verspreche es …«
Dann zögerte ich, als mir etwas Entscheidendes einfiel; gleichzeitig wirkte Mary mit einem Mal niedergeschlagen.
»Dein Bruder, Mary. Und dein Stiefvater«, begann ich die finstere Schlussfolgerung.
»Ich weiß«, erwiderte sie. »Paul ist nicht hier, er schläft im Hinterzimmer des Ladens.«
Die Blicke, die wir uns zuwarfen, sagten alles.
»Wir haben keine Wahl, außer ihn zurücklassen. Ein Rettungsversuch würde unsere Chancen auf eine gefahrlose Flucht mit Walter und dem Baby deutlich verringern …«
»Ich werde selbst die Pflicht übernehmen, ihn von seinem Leid zu erlösen«, bot Lovecraft an. »Die Vollblütigen werden ihn umbringen, sobald sie herausfinden, dass Mary aus dem Kollektiv geflohen ist, und sie werden das auf eine sehr grausame und qualvolle Weise tun. Ich bin sicher, ihn beseitigen zu können, bevor die Gelegenheit dazu haben. Er wird kein Jota Schmerz erdulden müssen.«
»Aber mein Stiefvater …« Mary weinte beinahe. »Er ist im Nebenzimmer, und ich habe Angst …«
Sie brauchte den Satz nicht zu beenden. Er würde euthanasiert werden müssen, und da ich derjenige mit der Waffe war … »Dieses Zimmer?«, fragte ich und deutete auf die primitive, leicht schiefe Holztür an der Seitenwand.
Sie schluckte schwer und nickte.
»In Ordnung.« Ich zog meine Handfeuerwaffe und ging auf die Tür zu.
Mary kam mühsam auf die Beine und näherte sich mir. »Aber, Foster, du musst verstehen. Mein Stiefvater – er ist inzwischen fast völlig hinübergewechselt.«
»Hinübergewechselt?«
Lovecraft übernahm die Erklärung: »Die Metamorphose, welche die Mischlinge befällt, verdirbt nicht nur ihr körperliches Erscheinungsbild, sondern, ich bedaure, das mitteilen zu müssen, auch ihre mentalen Veranlagungen. Es besteht eine gewisse Möglichkeit, dass solche Hybriden in fortgeschrittenem Alter wie Marys Stiefvater mit der Zeit feindselig werden und Aspekte der Denkweisen, Standpunkte und Ansichten der Vollblütigen annehmen.«
»Das ist wahr, Foster«, fügte Mary zu. »Er ist jetzt schlimmer als je zuvor. Wenn du da reingehst, wird er dich angreifen.«
Dann soll er es versuchen, dachte ich, aber als ich mich der Tür näherte, legte mir Lovecraft eine Hand auf die Schulter. »Sie sind nicht entbehrlich, Sir, ich aber schon. Es ist sehr viel schwerer, einen toten Mann zu töten, als einen, der noch am Leben ist.«
»Aber ich habe das Gefühl, dass es in meine Verantwortung fällt«, äußerte ich.
»Sie dürfen das Risiko nicht eingehen«, wiederholte er. »Sie sind Marys und Walters einzige Hoffnung. Sparen Sie Ihre Munition.« Er nahm die Waffe und steckte sie wieder in meine Tasche, dann zog er aus seiner eigenen ein rasiermesserscharfes Filettiermesser hervor. »Wenn ich keiner anderen, monströseren Aufgabe zugeteilt bin, zwingen die Vollblütigen mich, in den Arbeitshäusern Fisch zu filetieren, und zufälligerweise …« Er erschauderte bei dem Gedanken. »… hasse ich Fisch.« Seine ruinierten Augen sahen mich direkter an. »Gehen Sie jetzt. Bringen Sie sie hier raus … und erfüllen Sie Ihr Versprechen mir gegenüber.«
»Aber … aber«, stammelte ich und konnte noch immer nicht recht fassen, dass es tatsächlich Lovecraft war, der vor mir stand, mit seinem missgebildeten Kinn und all dem. »Sie könnten mit uns kommen.«
»Nein, es wird Zeit, dass die Natur ihren wahren Lauf nimmt«, flüsterte seine Stimme. »Meine Existenz hat den Tod schon viel zu lange pervertiert. Heute Abend – dafür sorge ich – werde ich endgültig tot sein.« Dann hob er den noch immer bewusstlosen Walter auf, deponierte ihn in meine Arme und half dann Mary mit dem Baby zur Tür.
Mary versuchte ihr Möglichstes, ihre Schluchzer zu unterdrücken, als wir in die Nacht hinaustraten. Lovecraft entbot nicht mehr als ein Adieu; er warf lediglich einen letzten Blick auf den Jungen in meinen Armen und schloss dann leise die Tür.
Ich verstaute meine Passagiere im vorderen Teil des Wagens, aber geriet ob eines plötzlichen und sehr grotesken Zwangs ins Stocken. »Foster!«, flüsterte mir Mary energisch zu. »Wo willst du hin?«
»Nur … einen Moment«, erwiderte ich und dann zog diese Pression mich zum hinteren Teil der Bruchbude.
An das Rückfenster…
Ich musste hineinsehen, da ich am Nachmittag nicht mehr als die Umrisse von Marys Stiefvater erhascht hatte, als dieser im Schatten saß. Doch jetzt sah ich mit geweiteten Augen durch die matte Glasscheibe. Als die tiefe Dunkelheit des Raums durch die sich öffnende Tür durchbrochen wurde und Lovecraft couragiert mit einer Kerze in der Hand das Zimmer betrat. Jetzt konnte ich Marys Stiefvater genau erkennen …
Das Ding lag schlängelnd drüben auf dem Boden und sein Atemgeräusch klang wie unter Wasser ausgestoßene Blasen. Als es Lovecrafts Gegenwart bemerkte, zuckte der Kopf, der nach unten zusammengequetscht aussah, zurück. Mary hatte gesagt, dass ihr Stiefvater jetzt völlig »hinübergewechselt« war, aber ich konnte erkennen, dass die Metamorphose noch nicht ganz abgeschlossen war. Ein Auge sah in der Tat froschähnlich aus insofern, als es halb aus der Augenhöhle hervorstand unter einem glänzenden grünschwarzen Lid. Eine goldene Iris glänzte in der pfirsichgroßen Kugel; dennoch, das andere Auge sah weit menschlicher aus, und diese Vereinigung der Gegensätze ließ das lebende Resultat der Vermischung der beiden unterschiedlichen Rassen nur noch grotesker wirken. Zwei einfache Löcher fungierten als Nase; Falten, bei denen es sich nur um Kiemen handeln konnte, pulsierten an der Kehle, und am ganzen Körper sah die Haut nach einer seltsamen Kombination aus Kröte und Mensch aus.
Dann klaffte der breite Mund der Kreatur auf und …
Ssssschnapp!
… heraus schoss ein ekelhaft rosafarbener Strang, der nur seine Zunge sein konnte. Augenblicklich fielen mir die Details meines Blicks durch das Fenster früher am Tage wieder ein, als dieselbe deformierte und missgebildete Gestalt, die Walter »Opa« genannt hatte, denselben Strang abgefeuert hatte, den ich irrtümlich für eine Peitsche gehalten hatte. Aber jetzt sah ich, dass es keine Peitsche war, sondern ein schmaler, aber von vielen Adern durchzogener Tentakel voller winziger Saugnäpfe, die abscheulich funkelnd pulsierten. Das beängstigende, knochenlose Körperglied wurde geschickt von Lovecrafts Handgelenk aufgehalten, woraufhin dieser den Tentakel mit seinem Messer abtrennte.
Der Schmerz der Kreatur war sogleich offenkundig; Arme, nur noch vage menschlich, schossen protestierend in die Höhe. Der schiefe Kopf erschauderte, der große Mund klappte auf, um einen Schrei zu entlassen, der nur in der Hölle geboren sein konnte: ein Pfeifen wie von einem Teekessel begleitet von dem überschwappenden, spritzenden Schrei, von dem ich zuvor einen Abklatsch gehört hatte. Als das Wesen aufzustehen versuchte, auf Gelenken, die sich nach hinten durchbogen, kam Lovecraft mit seinem Filetiermesser näher …
Ich trottete fort, unfähig, mehr von dieser düsteren Hinrichtung zu ertragen. Als sich Tonhöhe und Lautstärke des Schreis des Mischlings vervierfachten, wusste ich, dass die furchtbare Aufgabe erledigt war.
Mit einer großen Leere im Kopf ließ ich das klapprige Fahrzeug an und fuhr los. Rauch kam aus dem Auspuff und Federn quietschten, aber jetzt rollte der Wagen die Straße hinunter, weg von dem furchtbaren Haus, das Mary nie wieder würde betreten müssen.
Die Straße gen Süden schien der direkteste Weg zu sein, und die erste Viertelmeile war er wundersamerweise frei. Nach einer Kurve allerdings …
Mary und ich schrien gleichzeitig auf.
Eine veritable Barrikade aus Monstern versperrte die Durchfahrt. Fünfzig von ihnen? Oder hundert? Auf die genaue Zahl kam es schwerlich an. Das Licht unserer Scheinwerfer erhellte eine durch und durch chaotische Szenerie: grün glänzende Haut, krötengleich übersät mit braunen Beulen, Augen, die Kugeln aus schwarzem Glas gleich aus platt gedrückten, ohrlosen Köpfen hervorstanden. Da sie alle aufrecht standen, konnte man ihren weißen, zerfurchten Unterbauch und ihre mit seltsamen Muskeln ausgestatteten Beine erkennen. Die herunterhängenden schrecklichen Genitalien verrieten, dass es überwiegend männliche Exemplare waren. Ihre Größe schwankte zwischen 1,50 m und 2,10 m, doch selbst in ihrer aufrechten Haltung waren die meisten halb vorgebeugt, sodass nur Gott allein ihre wahre Größe kennen konnte. Sollte ich es wagen, vorwärtszurasen, und versuchen, sie niederzumähen? Alleine hätte ich es riskiert, aber mit Mary und ihren Kindern im Wagen konnte ich es nicht tun.
Das Bild gefror, was den Schrecken dessen, was wir sahen, nur vergrößerte. Die Versammlung aus Abscheulichkeiten stand da und spannte die hervortretenden Muskeln an, und als das Licht der Scheinwerfer auf sie fiel, lehnten sich alle zurück, legten den Kopf in den Nacken und sahen zum Himmel hinauf; dann öffneten sie wie auf einen übersinnlichen Befehl hin alle auf einmal ihren hässlich breiten Mund und begannen zu schreien.
Das Geräusch bewirkte, dass sogar der Wald zu vibrieren begann: Ein phlegmatisches Wehklagen vermengte sich mit dem Geräusch Tausender Männer, die durch Schlamm marschierten. Wenn Geräusche eine physikalische Wirkung ausüben konnten, dann sicher im Fall dieser Kakofonie, die den Wagen merklich zum Wackeln brachte. Ich bin mir sicher, dass ich selbst geschrien habe, als ich den Rückwärtsgang einlegte, doch selbst wenn ich aus voller Lunge gebrüllt hätte, wären meine Angstschreie nicht zu hören gewesen bei der unirdischen Geräuschlawine, die uns entgegengeschleudert wurde. Mary war bereits bewusstlos geworden, so musste sie nicht mit ansehen, was ich in der letzten halben Sekunde erblickte, bevor ich vollständig gewendet hatte …
Während uns die Vollblütigen protestierend anschrien, ließ jeder Einzelne von ihnen die Zunge aus seinem Mund schnellen. Anders als bei Marys Stiefvater, dessen hybride Zunge nur aus einem einzigen rosafarbenen Tentakel bestanden hatte, besaß jedes dieser Monster eine Zunge aus wenigstens einem Dutzend dieser glänzenden, saugnapfgepockten Anhängsel. Jeder Klumpen aus deformierten Zungen schien sich zu einer einzigen, dicken, pulsierenden Säule zu verdrillen, die während des gesamten Schreis in der Luft verharrte. Und diese Säulen widerwärtigen Fleisches mussten wenigstens eineinhalb Meter lang gewesen sein.
Ich trat das Gaspedal ganz durch, als es mir gelungen war, in nördliche Richtung zu wenden. Hatten meine Augen mich getrogen, als ich es gewagt hatte, einen Blick in den Rückspiegel zu werfen? Ich hätte schwören können, dass sie mir nachjagten – die gesamte Gruppe dieser Dinger –, und einige schienen bis zu sieben Meter weite Sprünge zu machen, sodass ich mit dem beschleunigenden Wagen noch keine große Distanz zu ihnen hatte aufbauen können. Ich brauchte tatsächlich eine halbe Meile, bis ich einen halbwegs komfortablen Vorsprung erzielt hatte, aber in dem Moment, da mir das bewusst wurde …
Ich schrie erneut auf und trat heftig auf die Bremse.
Wenigstens doppelt so viele Vollblütige blockierten den nördlichen Weg hinaus. Mein Gott, was kann ich denn jetzt machen? Als ich über meine Schulter durch die nicht mehr vorhandene Rückscheibe des Lieferwagens sah, konnte ich die ersten Kreaturen der südlichen Abteilung um die Kurve kommen sehen, mitsamt ihrem akustischen Sturm, doch mir fiel ebenso etwas anderes auf …
Der Benzinkanister, der zuvor noch auf der Ladefläche gestanden hatte, war nicht mehr da.
Ich hatte schwerlich Zeit, darüber nachzudenken, wo er abgeblieben war. Nun, so schien es, hatte ich keine andere Wahl, als zu versuchen, einen Weg durch die Menge Richtung Norden zu pflügen. Das Baby schrie jetzt, und Walter wachte endlich ebenfalls auf, nur um auf den schrecklichen Anblick vor uns zu treffen.
»Sprich deine Gebete, Walter«, forderte ich ihn auf, und dann begannen die Vollblütigen vor uns, loszuwatscheln. Mir war klar, dass sie uns in weniger als einer Minute aus Norden und Süden erreichen würden.
Als ich selbst mein letztes Gebet sprechen und das Gaspedal in dem schwachen Versuch, die Blockade aus Monstern vor uns zu durchbrechen, durchtreten wollte, deutete Klein Walter nach links und schrie: »Mr. Morley! Wer ist der Mann da?«
Mann?, registrierte mein angespanntes Gehirn, aber als ich hinblickte, sah ich Lovecraft in seinem schwarzen Regenmantel uns deutlich zuwinken. Er drängte mich, den Wagen nach links auf einen schmalen Pfad zu lenken, der kaum breit genug für unser Fahrzeug schien.
Außerdem sah ich, dass er es gewesen war, der den Benzinkanister von der Ladefläche genommen hatte. Den Kanister hielt er in der Hand.
Als ich in den Pfad einbog, bemerkte ich, dass die Biester aus dem Norden selbst in den Wald liefen, als versuchten sie mir den Weg abzuschneiden, bevor ich fahren konnte, wo immer die Straße uns hinführen mochte. Kurz darauf ergoss die Menge aus dem Süden sich hinter uns in den Pfad. Das Geräusch, das die Kreaturen machten, ließ den Waldboden erbeben: der feuchte, platschende Strom, zerteilt von Welle auf Welle unmenschlichen Maunzens. Zu diesem Zeitpunkt war der Wald verseucht von den taumelnden, beulenhäutigen Dingern.
Dann flackerte knisterndes Licht im Wald auf …
»Ein Feuer!«, schrie Walter.
Ich konnte es jetzt nur zu leicht erkennen, während ich den alten Lieferwagen an die Grenze seiner mechanischen Möglichkeiten zwang. Eine wahre Flammenwand breitete sich direkt hinter den durch den Wald eingreifenden Reihen aus, und als ich voller Verzweiflung gen Süden blickte, sah ich einen weiteren Feuerwall anwachsen. Lovecraft hatte offenbar auf jeder Seite des Pfads eine Spur aus Benzin gezogen und entzündet, sobald die beiden Massen fischartiger Kreaturen weit genug in den Wald gelaufen waren, um in der Falle zu sitzen. Die unentwegte Dürre dieses Monats hatte den Waldboden und das Gestrüpp trocken wie Zunder werden lassen, und nun ging dies alles nahezu gleichzeitig in Flammen auf. Orangefarbenes, waberndes Licht drang auf uns ein, und das Geräusch brennender Bäume übertönte bald das schaurige Jaulen der Vollblütigen; deren unirdischer Schlachtruf wandelte sich schnell zu einem Laut äußerster Bestürzung. Nach einer oder zwei Minuten stand unsere gesamte Umgebung in Flammen.
Unsere Widersacher saßen im Wald zwischen zwei näher kommenden Flammenwänden fest. Die Dinger saßen in der Falle. Jawohl.
Aber wir ebenso.
Jede der beiden Feuerlinien schien mit dem Lieferwagen Schritt zu halten. Eine unglaubliche Hitze brandete herein, und als ich zur Seite blickte, sah ich wilde, unmenschliche Gestalten um sich schlagen, zu Boden stürzen und konvulsivisch zucken, gekleidet in Anzügen aus Feuer. Der Blick aus dem Rückfenster zeigte den schmalen Pfad komplett überflutet mit geisterhaften, lodernden, bei lebendigem Leib eingeäscherten Dingern. Gleichsam begann das Feuer, den Wagen zu umschlingen …
Ich hätte bei dem Anblick in Ohnmacht fallen können.
Der Pfad spuckte uns auf einer mondbeschienenen Lichtung aus.
»Wir sind draußen!«, schrie Walter.
»Wir haben es geschafft«, flüsterte ich ungläubig. Ich fuhr dennoch weiter, aus Angst, dass einige der Vollblütigen der Feuersbrunst entkommen waren, doch als wir in sicherer Entfernung waren, hielt ich den Wagen an und schaute zurück zu der feurigen Szene.
Walter hatte sich ebenfalls umgedreht. Das Feuer breitete sich jetzt nach außen weiter aus, und Rauch stieg von den Baumwipfeln zum Himmel auf. Das makabre, streitsüchtige Jaulen Hunderter von Vollblütigen war zu erbärmlichen und vereinzelten Aufschreien abgeklungen. Das Knistern der gewaltigen Flammen übertönte alles andere.
»Was … Was ist passiert?«, fragte Mary verwirrt, das schlafende Baby an ihrer Brust haltend. »Das sieht ja aus, als stünde der ganze Wald in Flammen.«
»Das wird er auch, daher sollten wir schnell von hier weg«, erkannte ich, legte den Gang wieder ein und fuhr weiter. Walters Kenntnisse der Gegend aufgrund seiner vielen Wanderungen durch den Wald brachten uns glücklicherweise zu einem anderen schmalen Weg, der uns innerhalb von Minuten zur Hauptstraße führte. Jetzt folgte uns nichts mehr außer einer geradezu gespenstischen Stille.
»Mr. Morley?«, fragte Walter. »Dieser Mann im Regenmantel hat uns gerettet.«
»Das hat er in der Tat, Walter.«
»Ich habe ihn schon zuvor im Wald gesehen, viele Male, aber ich bin nie in seine Nähe gekommen. Wer war dieser Mann?«
Ich nahm Marys Hand. »Eines Tages werden deine Mutter und ich dir das erzählen, Walter …«
Nicht allzu lange danach teilte uns ein Schild die gute Nachricht mit, dass wir uns der State Route Nummer eins näherten. Mit einem klitzekleinen bisschen Glück würden wir bei Sonnenaufgang in Providence sein.