II

Ich war außerordentlich enttäuscht, als der Rauchwolken ausstoßende Bus an der Stelle hielt, die ich für das Stadtzentrum von Olmstead hielt. In meiner Fantasie hatte ich schon geglaubt, eine unfassbare Entdeckung gemacht zu haben. Ich hatte mir ausgemalt, das wahre Vorbild für die wohl beste Geschichte des Meisters gefunden zu haben und jeden Moment die vom Bösen überschatteten Gassen, zerfallenen Werften und in einem seltsamen Winkel stehende baufällige Gebäude mit schiefen Dächern von Innsmouth zu sehen, ebenso den »Wurmzerfall«, den der Schöpfer der Geschichte so treffend beschrieben hat.

Stattdessen begrüßte mich nichts Derartiges. Die Architektur von Olmstead war geprägt von den funktionellen Blockhäusern, die mit den subventionierten Aufbauprojekten Ende der 20er und Anfang der 30er Jahre eingeführt worden waren. Was für eine Enttäuschung! Daher ließ sich Olmstead nur als rundum durchschnittlich und nicht etwa als einzigartig bezeichnen.

Der Bus schien eine volle Minute lang Rauch auszustoßen, bevor der Motor endlich zum Stillstand kam. Das halbe Dutzend schäbiger Fischer stand nahezu gleichzeitig von den Sitzen auf und stieg dann mitsamt Angelruten, Ausrüstung und Netzen aus. »Fünfzehn Minuten, falls Sie sich mal die Beine vertreten und Luft schnappen wollen«, informierte mich der Fahrer, ohne mich anzusehen. »Sie wollen doch nach Salem, oder?«

»Ja, Sir. Vielen Dank«, entgegnete ich und verließ nach ihm den Bus. Er ging über die sterile Straße und auf ein Geschäft zu.

Der Geruch nach Fisch und Ebbe kam aus der Richtung herübergeweht, in der die Küste liegen musste. Der widerliche Gestank, der Robert Olmstead in der Geschichte derart abgestoßen hatte, blieb allerdings aus. Das Stadtzentrum war nicht bemerkenswert. Ein Blockhaus stand neben dem nächsten. Einige schienen Wohnhäuser zu sein, da an den Fenstern Wäsche zum Trocknen aufgehängt worden war, während andere geschäftlich genutzt wurden, auch wenn kaum Hinweise auf hiesige Handelsaktivitäten zu erkennen waren. Bei dem Gedanken an die Übereifrigkeit, die ich empfunden hatte, musste ich grinsen. Die Namensgleichheit schien tatsächlich nur ein Zufall zu sein. Und dieser Ort hat Lovecraft ebenso wenig kreativ beeinflusst wie jeden anderen Reisenden, da man ihn nur als glanzlos, unscheinbar und langweilig beschreiben konnte, dachte ich.

Als ich näher kommende Schritte hörte, die mich aus diesem jugendlichen Anflug von Enttäuschung rissen, erwartete ich, den frostigen Fahrer wiederzusehen, doch stattdessen sah ich in das lächelnde Gesicht eines lebhaften, gut gebauten Mannes meines Alters, vielleicht auch etwas jünger als ich, der einen klassischen Anzug mit Krawatte trug und dessen dunkelbraunes Haar ordentlich gekämmt war. Er hatte einen Aktenkoffer bei sich und trug einen dieser schicken beigen Strohhüte, die heutzutage bei den jüngeren Männern so in Mode waren. Sein Gesichtsausdruck wirkte seltsamerweise eher erleichtert, obwohl ich mir sicher war, dass wir uns noch nie zuvor begegnet waren.

»Wie geht es Ihnen?«, begrüßte er mich.

»Mir geht es gut und Ihnen hoffentlich auch.«

»Entschuldigen Sie die Störung, aber ich freue mich so, Ihr Gesicht zu sehen, mehr als bei jedem anderen hier.« Seine Augen erblickten den sperrigen Bus. »Gehe ich recht in der Annahme, dass Sie auf der Durchreise sind?«

»Ja, das ist richtig. Ich bin auf dem Weg nach Salem. Mein Name ist Foster Morley …«

»William Garret«, erwiderte er und schüttelte herzlich meine Hand. Dann flüsterte er: »In dieser Stadt wohnen seltsame Leute, finden Sie nicht auch?«

»Das ist mir bisher noch nicht aufgefallen«, gestand ich. »Außer Ihnen habe ich bisher noch niemanden gesehen. Und Sie sind offensichtlich kein ›Olmsteader‹, um den Ausdruck des Fahrers zu gebrauchen.«

»Nein, das bin ich nicht. Ich komme aus Boston und bin Buchhalter – äh, ich sollte sagen, ein arbeitsloser Buchhalter. Haben Sie zufällig einen blonden Mann hier vorbeigehen sehen?«

»Leider nicht. Ich vertrete mir nur ein wenig die Beine, bevor der Bus weiterfährt. Warum fragen Sie?«

Jetzt wirkte er auf einmal sehr viel angespannter. »Er ist mein Freund, müssen Sie wissen … Sein Name ist Poynter. Wir haben in derselben Firma gearbeitet und beide die Anstellung verloren, als diese Rezession, wie sie es nennen, unseren Geschäftszweig in Mitleidenschaft gezogen hat. Er ist vor einem Monat hierher gekommen und hat mir vor Kurzem geschrieben, dass er Arbeit gefunden hätte. Aber jetzt kann ich ihn nicht finden.«

»Ist dem so? Hat er denn geschrieben, wer ihn eingestellt hat?«

»Einer der Fischereibetriebe unten am Hafen, um die Bücher zu führen.« Mit diesen Worten drehte er sich um und deutete auf den Ursprung des fischigen Meeresgeruchs. »Da unten gibt es einige, aber keine, die ich aufgesucht hatte, wusste etwas über meinen Freund, und niemand will einen Buchhalter einstellen.«

»Vielleicht hat Ihr Freund Poynter seinen neuen Job schon wieder aufgegeben und die Stadt verlassen«, schlug ich vor.

»Nein, nein, das würde er nicht tun. Er hat mich erwartet.«

Meine nächste Frage schien mir die naheliegendste zu sein. »Wo wollte er sich nach Ihrer Ankunft denn mit Ihnen treffen?«

Nun deutete Garret auf ein mehrstöckiges Blockhaus auf der anderen Straßenseite. »In dem Motel dort, dem Hilman House. Ich habe mir ein Zimmer genommen – kostet nur fünfzig Cent die Nacht, darüber kann ich mich nicht beschweren –, aber das Seltsame ist …« Er machte eine Pause, um die Spannung zu steigern. »Als ich mich angemeldet habe, hat man mir berichtet, dass Leonard Poynter, mein Freund, dort tatsächlich ein Zimmer gemietet hat und weiterhin Gast sei. Das Problem ist nur, dass ich ihn beim besten Willen nicht finden kann.«

Mr. Garret war offensichtlich verwirrt, aber die ganze Situation war auch mir rätselhaft. Diese krankhafte Aufregung stieg erneut in mir auf, und jetzt wusste ich genau, dass ich auf etwas gestoßen war. Zuerst eine Stadt und eine Figur, die beide den Namen Olmstead trugen, und jetzt das?

In Lovecrafts Schatten über Innsmouth steigt die Hauptfigur in einem Hotel namens Gilman House ab, und jetzt stand ich hier vor einem Motel, das Hilman House genannt wird. Das konnte nun wirklich kein Zufall mehr sein. Das war einfach nicht möglich. Etwas an dieser langweiligen Stadt schien Lovecraft immerhin so stark beeinflusst zu haben, dass er Namen daraus entlehnt hatte, und ich war auf einmal überzeugt davon, dass es hier noch weitere Einflüsse zu finden gab, die nur ihrer Entdeckung harrten.

Garret trat näher an mich heran, und in seinen Augen zeichnete sich die Besorgnis ab. »Mr. Morley? Geht es Ihnen gut?«

Seine Stimme riss mich aus meinen Überlegungen. »Oh, entschuldigen Sie bitte. Mir ging da gerade etwas durch den Kopf. Aber wissen Sie was? Ich werde ebenfalls einige Tage hierbleiben.«

»Großartig!« Er flüsterte erneut, doch jetzt umspielte ein leises Lächeln seine Lippen. »Es ist gut zu wissen, dass ich dann nicht der einzige normale Mensch in dieser Stadt sein werde.«

Ich lachte verwirrt auf, aber bevor ich noch etwas sagen konnte …

»Hallo, meine Herren«, grüßte uns eine sanfte Stimme.

Wir drehten und beide mit geweiteten Augen um und erblickten eine gewöhnlich gekleidete, aber außerordentlich attraktive Frau. Sie kam den Gehweg herunter, hatte die Arme voller Einkäufe und grinste uns beide überaus freundlich an.

Garret tippte sich an den Hut. »Miss …«

»Ein wunderschöner Tag, nicht wahr?«, warf ich ein.

»Oh ja, das ist er«, erwiderte sie, und das war auch schon das Ende unserer Unterhaltung.

»Ein echter Hingucker«, flüsterte Garret.

»Das kann man wohl sagen«, erwiderte ich leicht beschämt, denn das überaus gute Aussehen dieser Frau hatte bewirkt, dass ich sie weitaus länger als für mich üblich angestarrt hatte. Ihr Busen ließ sich nur als ungezügelt beschreiben, da er nicht nur üppig war, sondern überdies nicht durch ein Korsett eingezwängt schien. Der Respekt, den ich für meinen christlichen Glauben hegte, rief mir die Worte ins Gedächtnis, die Jesus über die Lust gesagt hatte, aber nicht schnell genug, um rechtzeitig den Blick abzuwenden.

»Wie sagt man in England so schön?«, meinte mein Freund kichernd. »Das ist eine wandelnde Milchbar.« Dann beugte er sich weiter zu mir herüber und fügte diskret hinzu: »Aber da ist noch etwas Seltsames, das diese kleine Stadt an sich hat.«

»Und das wäre?«

»Das ist mein Ernst, Mann. Ich habe in meinem Leben noch nie so viele schwangere Frauen an einem Ort gesehen.«

»Schwan…«, setzte ich an, und als ich einen weiteren, wenngleich deutlich diskreteren Blick hinüberwarf, entging mir auch der deutlich gewölbte Bauch der Frau nicht mehr. »Das ist ja ein Ding. Sie scheinen recht zu haben.«

»Wenigstens vierter oder fünfter Monat, und das ist auch nicht der erste Braten in ihrem Ofen.«

Ich sah ihn entgeistert an. »Wie in aller Welt können Sie das mit Bestimmtheit sagen?«

Er stieß mich grinsend mit dem Ellenbogen in die Seite. »Sie haben ihre Titten doch gesehen. Die sind immer noch prall gefüllt vom letzten Kind.«

Das unkultivierte Gerede machte mich ganz nervös, da ich es ganz und gar nicht gewöhnt war. »Aber wie haben Sie das gemeint, als Sie sagten, Sie hätten noch nie so viele …«

»Diese Stadt … Das ist mein voller Ernst. Ich würde wetten, dass ich wenigstens ein Dutzend schwangere Frauen gesehen habe, seitdem ich hier bin, und ich kann Ihnen verraten, dass die meisten davon echte Hingucker sind.«

»Also wirklich … Aber das ist doch etwas Gutes, wenn Sie mir diese Meinung erlauben. Die Regierung ist weise, die Fortpflanzung seit der Spanischen Grippe 1918 zu fördern. Wir haben damals eine halbe Million Menschen verloren, sagt man, und fast alles waren junge Männer.«

Garret nickte ernst. »Und direkt danach verloren wir – wie viele? – einige Hunderttausend weitere Männer in diesem teuflischen Krieg gegen die Hunnen. Ich stimme Ihnen voll und ganz zu. Amerika braucht mehr Geburten, insbesondere wenn wir auf einen neuen Krieg gegen Deutschland zusteuern, was viele zu glauben scheinen.«

Ich war mir meiner Gedanken hinsichtlich dieses Themas nicht sicher, aber ich neigte dazu, den Autoritäten zu vertrauen. »Doch der Präsident hat kürzlich erst seine Neutralität hinsichtlich des europäischen Krieges erklärt.«

»Ich muss Ihnen gestehen, dass mich das nicht wirklich beruhigen kann. Sie erinnern sich, was passiert ist, direkt nachdem Deutschland und Russland den Nichtangriffspakt unterzeichnet hatten? Russland ist in Finnland einmarschiert. Und glauben Sie auch diesem Briten Neville Chamberlain kein Wort. Frieden in unserer Zeit? Hitler zieht der Welt einen Schleier vor die Augen. Und was machen die Japaner in der Zwischenzeit? Sie marschieren in der Mandschurei ein.«

»Beten wir zu Gott, dass die Menschen eine diplomatische Lösung finden können.« Es lag in meiner Natur, mich nicht an politischen Diskussionen zu beteiligen, aber der Mann hatte einige Argumente genannt, die bewirkten, dass ich mir ziemlich naiv vorkam. »Aber um auf unser vorheriges, falls nicht zu derbes Thema zurückzukommen, das möglicherweise ein wenig zu weltlich, dass wir fruchtbar sein und uns vermehren sollen …«

»Ja, so wie es im Buch der Bücher steht. Und ich sage Ihnen«, fuhr er fort, »ich war nicht gerade erfreut, dass der Kongress den Comstock Act außer Kraft gesetzt hat – wann war das? Letztes Jahr?«

»Nein, nein, das war ’36, und da sind wir erneut einer Meinung, William. Verhütungsmittel sollten illegal bleiben, wenn sie nicht von einem Arzt zur Vermeidung einer Krankheit verschrieben worden sind. Ein offener Markt für derartige Dinge wäre ja so, als wolle man die Natur umgehen …«

»Und Gottes Wille, wenn Sie mir die Bemerkung erlauben würden.«

»Aber natürlich«.« Doch dann sahen wir einander an und lachten. »Nicht gerade eine alltägliche Unterhaltung, was?«

»Nein, mein Freund, das ist sie nicht, aber es ist dennoch anregend, auf jemanden zu treffen, der meine Grundsätze teilt«, erwiderte er.

»Das sehe ich genauso. Ich vermute, dass Sie Ihre Suche nach Ihrem Freund Poynter nun wieder aufnehmen möchten. Ich werde mir im Hilman ein Zimmer nehmen und dann einen Spaziergang machen. Dabei halte ich natürlich die Augen nach Ihrem Freund offen. Wie wäre es, wenn wir heute Abend zusammen speisen? Falls ich Ihren Freund zufällig treffen sollte, werde ich ihn mitbringen. Sagen wir um neunzehn Uhr?«

»Eine großartige Idee, Mr. Morley …«

»Nennen Sie mich Foster, bitte. Und wo finden wir ein passendes Restaurant?«

Erneut deutete er auf die andere Straßenseite, dieses Mal auf ein kleines Restaurant, das mir zuvor schon aufgefallen war, Wraxall’s Eatery. »Es ist nicht übel, und da gibt es große Portionen zu einem kleinen Preis.«

»Gut. Dann bis heute Abend.«

Garret ging davon, und seine Schritte wirkten irgendwie angeregter, nun, da er einen »normalen« Vertrauten hatte. Ich verspürte hingegen erneut den Drang, meiner Lovecraft-Obsession nachzugehen. Die Stadt sah zwar nicht nach dem Innsmouth des Meisters aus, aber möglicherweise ließen sich ja winzige Erinnerungsbruchstücke in irgendwelchen Details entdecken?

Ich holte meinen kleinen Handkoffer aus dem Bus, und als ich auf die Straße zurückkehrte, stand der Fahrer mit finsterer Miene vor mir. Seinen Blick hätte man fast schon hasserfüllt nennen können. »Warum haben Sie Ihre Tasche geholt? Wir fahren jetzt weiter nach Salem. Sie wollen doch nicht etwa in Olmstead bleiben, oder?«

»Doch, das möchte ich«, erklärte ich ihm. »Ich habe meine Meinung geändert und beschlossen, einige Tage hierzubleiben.«

Anfänglich schien er protestieren zu wollen, als würde ihn diese Aussicht erzürnen. Schließlich war ich kein »Olmsteader«. In diesem Augenblick fiel mir auf, wie klein sein Mund erschien. Seine Lippen verzogen sich kaum merklich. »Wenn ich so darüber nachdenke, dann könnte Ihnen Olmstead tatsächlich gefallen.« Dabei breitete sich tatsächlich ein richtiges Lächeln aus. »Und Olmstead könnte Sie mögen.«

Er stieg wieder in seinen Bus und fuhr mit einer Rauchfahne und lautem Geklapper davon.

Olmstead könnte mich mögen?, sinnierte ich. Das war mir herzlich egal. Aber irgendetwas an diesem Ort hatte Lovecraft offensichtlich beeindruckt, sodass er einige Einzelheiten in seine erschütternde Geschichte über inzüchtige Fischersleute und einen Pseudokultschrecken eingearbeitet hatte.

Wie in der Geschichte wirkte der mit einer Weste bekleidete ältere Rezeptionist im Hilman freundlich und durch und durch normal, und er vermietete mir nur zu gern ein Zimmer. Ohne groß nachzudenken, sprudelte aus mir heraus: »Ist Zimmer 428 zufälligerweise noch frei?«, da es sich dabei, wie scharfsinnige Leser wissen werden, um das Zimmer handelte, das Robert Olmstead in der Geschichte bewohnt hatte.

»Sie sind schon einmal hier gewesen!« Der Mann, der mit einem unerkennbaren Akzent sprach, schien sich zu freuen. »Das kann nur bedeuten, dass es Ihnen hier gefallen hat. Seit dem Wiederaufbau sieht Olmstead recht schmuck aus, und hier gibt es einige Annehmlichkeiten.«

Ich wollte seine Annahme nicht widerlegen, indem ich zugab, noch nie hier gewesen zu sein, sondern erkundigte mich stattdessen: »Seit dem Wiederaufbau?«

»Ah, ja, Sir. 1930, ’31 ungefähr haben Regierungsfirmen all diese schönen, robusten Blockhäuser aufgestellt. Feuerfest, sturmfest, wie sie an vielen anderen Orten auch stehen. Als letzten September der große Sturm über uns niederging, waren danach keine Schäden an den Gebäuden festzustellen. Das Olmstead der Vergangenheit war ein trauriger Anblick. Nichts als eine verrottete Hafenstadt, die in sich selbst zusammenfiel. Gott möge Roosevelt und Garner segnen!«

Das überraschte mich keineswegs. Kurz nach dem Zusammenbruch der Börsen ’28 hatte man die landesweite Wiederbeschäftigungskampagne ins Leben gerufen, bei der Tausende Arbeitsloser für einen Dollar pro Tag bei Bauprojekten beschäftigt wurden. Viele reparaturbedürftige Städte wurden auf diese Weise wieder aufgebaut. Angeregt durch diese neue Information glaubte ich, mir ziemlich gut vorstellen zu können, wie Olmstead vor diesem Wiederaufbau ausgesehen haben musste – das Stadtbild musste in etwa so ausgesehen haben, wie es Lovecraft seinen Lesern in Schatten über Innsmouth beschrieben hatte.

Ich bin genau am richtigen Ort, dachte ich und war ob dieser Aussichten ganz aufgeregt. Gewiss mussten sich hinter dem neuen Antlitz von Olmstead noch einige Überreste des alten Stadtbilds verbergen, und ich war entschlossen, jeden noch so kleinen Riss aufzuspüren, der mich zu ihnen führen konnte.

Zimmer 428 stellte sich als sehr angenehm heraus: Es war gut möbliert und mit einem neuen Bett ausgestattet, und es gab sogar ein eigenes Badezimmer mit weichen Handtüchern. Nichts ähnelte der schäbigen Absteige, mit der sich Lovecrafts Charakter hatte zufriedengeben müssen. Im Badezimmer lagen sogar brandneue Stücke einer Luxusseife, der besten, die es landesweit zu kaufen gab. Ebenso beeindruckt war ich von dem Radio, das mir hier zur Verfügung stand; es war ähnlich – wenn auch nicht ganz so – gut, wie das kostspieligere Modell, das ich in Providence stehen hatte. Durch die Fenster mit Metallrahmen hatte ich Blick auf den seewärtigen Hang und somit eine formidable Aussicht. Wenn mich überhaupt irgendetwas störte, dann war es die Tatsache, dass hier alles neu war. Das ganze Gebäude fühlte sich irgendwie unbenutzt an, als wäre es nur eine Fassade und erweckte den Anschein von Wohlstand, der eigentlich gar nicht existierte.

Was für ein absurder Gedanke!

Als ich das Zimmer verließ, erhaschte ich einen Blick auf ein Zimmermädchen, das gerade ein anderes Zimmer verließ, allerdings schob es nicht den erwarteten einen Wagen voller Besen und Laken vor sich her, sondern schleppte einen Koffer. Die Frau konnte kein Gast sein, da ihre Kleidung keine Trugschlüsse hinsichtlich ihrer Aufgaben hier zuließ. Das ganze Szenario kam mir seltsam vor, doch was mich am meisten besorgte, war ihr offensichtlichstes Merkmal.

Sie war schwanger.

»Miss!«, rief ich und eilte zu ihr. »Sie dürfen in Ihrem Zustand doch nicht so schwer tragen! Lassen Sie mich das nehmen.«

Als ich sie direkt ansprach, wurde ich mit einem Lächeln in ihrem anmutigen, jugendlichen Gesicht, das von üppigen Locken umrahmt war, belohnt. Ein weniger feinfühliger Mensch hätte sie als einen von Garrets »Hinguckern« bezeichnet. Ihre wohlgeformten Beine bogen sich, als sie den Koffer hochhob, während die Schwangerschaft bei ihr – ebenso wie bei der Frau auf der Straße – den Busen auf Dimensionen gesteigert hatte, die selbst der standhafteste Gentleman nur ungeniert anstarren konnte.

»Oh, das ist sehr nett von Ihnen, Sir, aber der ist überhaupt nicht schwer«, erwiderte sie freundlich.

»Ich bestehe darauf. Sie erwarten ein Kind und sollten wirklich nicht …«

»Also wirklich, Sir.« Sie kicherte amüsiert. »Der Koffer ist federleicht. Und mein Arzt hat gesagt, dass leichte Übungen gut für das Baby wären.«

Dagegen konnte ich nichts mehr sagen. Auch wenn sie schwanger war, wirkte sie ausgesprochen gesund und agil auf mich. Sie konnte nicht viel älter als zwanzig sein, und ich schätzte, dass die Geburt nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Seltsamerweise fühlte ich mich in ihrer Gegenwart irgendwie jünger, was vermutlich ebenso ihrem Lächeln, ihrem Geschlecht und ihrer Jugend zu verdanken war. Mir wurde klar, was sie symbolisierte: Vitalität, einen strahlenden jungen Menschen, der weiteres Leben hervorbringen würde … All das rief mir die fehlende Produktivität meiner eigenen, selbstzufriedenen Existenz ins Bewusstsein. Auf einmal rasten die Gedanken in meinem Kopf, bemüht darum, das Gespräch aufrechtzuerhalten, und sei es auch nur, um sich einige Augenblicke länger in ihrer Nähe aufhalten zu können.

»Ein Bekannter, Mr. Garret, sucht seinen Freund, einen Leonard Poynter. Allem Anschein nach hat er sich hier ebenfalls ein Zimmer genommen. Sind Sie ihm zufälligerweise begegnet?«

Trotz ihrer Jugend und Schönheit wirkten die Augen des Zimmermädchens auf einmal sehr müde. »Nein, tut mir leid, Sir«, erwiderte sie, wobei sie jetzt deutlich schneller sprach. Ihre vollen Lippen glänzten. »Es steht mir auch nicht zu, die Namen der Gäste zu erfahren.«

»Oh, verstehe«, erwiderte ich und überlegte, was ich noch sagen konnte. »Wie ist Ihre Meinung über die Küche des Restaurants auf der anderen Straßenseite, Miss? Ich habe vor, mich dort später mit Mr. Garret zu treffen.«

»Oh, das Wraxall’s ist ziemlich gut, und das Karwell’s macht um zwanzig Uhr auf, da kann man seit der Aufhebung der Prohibition wieder etwas trinken. Die Leute da sind nett. Unsere kleine Stadt sieht nicht sehr groß aus, aber viele gute Leute, Arbeiter und Vertreter, kommen auf dem Weg in größere Städte hier vorbei.«

»Freut mich, das zu hören, und die Stadt ist wirklich sehr schön …«

»Ich muss jetzt aber wirklich gehen, Sir«, warf sie ein. »Es war angenehm, mit Ihnen zu plaudern.«

»Das Vergnügen war ganz auf meiner Seite …«

Ich beobachtete ihren Abgang mit einem niedergeschlagenen Lächeln und konnte mich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie sich ein wenig unwohl fühlte.

Sie ging die Treppe hinunter und verschwand, und ich zwang mich dazu, noch einen Moment zu warten, bevor ich ebenfalls losging. Schließlich sollte sie mich ja nicht für lästig oder gar unhöflich halten. Nach einer Minute indes betrat ich selbst das Treppenhaus. Die Schritte des abwärtseilenden Zimmermädchens waren noch zu hören, und als ich über das Geländer blickte, sah ich, dass sie gerade auf dem Absatz angekommen war und den Koffer durch die Tür trug. Leise hallte der Klang der zuschlagenden Tür zu mir nach oben.

Augenblicklich begann etwas an mir zu nagen, als ich die Treppe hinunterging, und ich wusste, was es war, als ich auf dem Absatz angekommen war, an dem ich sie aus den Augen verloren hatte. Sie war nicht etwa in die Lobby, sondern durch die Tür in den ersten Stock gegangen.

Warum sollte sie den Koffer eines Gastes in den ersten Stock tragen?

Ich drehte am Knauf und fand die Tür verschlossen.

Ein Gast hatte einfach das Zimmer gewechselt, argumentierte ich, nichts weiter.

Mehrere Angestellte und vermutlich ein Wartungstechniker waren in der Lobby zugange, alle ziemlich sympathisch, und jetzt draußen auf der Straße, erspähte ich mehrere Ladenbesitzer hinter ihren Schaufenstern, einen Mann, der die Kopfsteinpflasterstraße fegte, sowie einen Postboten. Alle lächelten und nickten mir zu. Während ich die Straße entlangging, sah ich noch weitere Einheimische, von denen keiner es unterließ, mich freundlich zu grüßen oder mir wenigstens nett zuzunicken. Dabei fiel mir Garrets Bemerkung wieder ein: Einige seltsame Leute in dieser Stadt, was?

Was konnte er nur damit gemeint haben? Abgesehen von dem ungehobelten Busfahrer und vielleicht den verschlagen wirkenden Fischern im Bus hatte ich noch an keiner Person, die mir begegnet war, etwas Seltsames bemerkt. Er hatte erwähnt, dass er sich bei den Fischereibetrieben am Hafen nach Arbeit umgehört hatte, möglicherweise war er dort seltsam behandelt worden. Hafenarbeiter waren bekannt dafür, im Allgemeinen eher mürrisch und eigenbrötlerisch zu sein.

Ich hatte eine Ausgabe von Schatten über Innsmouth dabei, und nachdem ich ein wenig herumgewandert war, wollte ich unter einem Schatten spendenden Baum oder in einem Park, so ich denn einen finden konnte, ein wenig darin lesen. Es handelte sich um ein Exemplar der einzigen Hardcoverausgabe von Lovecrafts Werken, die zu seinen Lebzeiten gebunden und veröffentlicht worden war, die Visionary-Publications-Edition. Sie kostete einen Dollar plus Porto. Ich war mir inzwischen fast sicher, dass Lovecraft in der Tat in Olmstead gewesen war und dass ihn dieser Ort ziemlich beeinflusst hatte. Dieses Wissen würde das erneute Lesen der Geschichte noch faszinierender gestalten.

Jetzt suche ich mir einen ruhigen Ort zum Lesen, dachte ich.

Auf der anderen Straßenseite ging eine recht jung wirkende Frau an einem Fahnenmast vorbei und lächelte mich ebenfalls recht freundlich an. Sie war ebenso hübsch wie das Zimmermädchen, und sie teilten eine weitere Gemeinsamkeit: Sie war ebenfalls schwanger.

Ungeachtet dessen, was Garret glaubte, fand ich es nicht ungewöhnlich, an einem Tag drei schwangeren Frauen zu begegnen. Es schien einfach Zufall.

Doch Zufälle waren auch der Grund dafür, dass ich mich jetzt an diesem Ort aufhielt, und als mir das in den Sinn kam, war mein Eifer erneut geweckt. Jetzt konnte ich mein Bestreben angehen, einige entscheidendere Übereinstimmungen zwischen der sehr realen Stadt Olmstead und Lovecrafts fiktivem Innsmouth aufzuspüren.

Ich ging hinüber zur Tankstelle der Ethyl Gas Company, deren Schild Benzin für 9 Cent pro Gallone anpries, was einen Penny unter dem Preis in der Stadt lag. Dort kaufte ich ein Paket des von mir bevorzugten Beechies-Kaugummi mit Pepsin von dem sehr freundlichen Tanzstellenbesitzer, der mit mitteilte, dass es keine Karten der Gegend, sondern nur solche des ganzen Landes oder Countys zu kaufen gäbe. Er informierte mich jedoch auch, dass es am Wasser Bänke gäbe, auf denen ich bequem lesen könne.

Einen Block weiter pries ein Filmtheater Gene Autrys neuesten Film Drei Lümmel in Texas an. Inzwischen lachte ich über meine Fantasie. Lovecraft wäre angesichts derartiger moderner Etablissements in der Stadt, die einst das Vorbild für das zusammenfallende Innsmouth gewesen war, entsetzt gewesen.

Bevor ich die Straße überqueren konnte, erschreckte mich ein plötzlich aufheulender Motor, und als ich mich umdrehte, rumpelte ein großer Lastwagen an mir vorbei, an dessen Türen IPSWICH FISH CO. stand. Er fuhr offensichtlich gen Norden in Richtung seiner Heimatstadt. Der Wagen war hoch mit gekühlten Fischen beladen, was ich erkennen konnte, als er vorbeifuhr. Die Anomalie sprang mir sofort ins Auge: Warum sollte ein großer Fischereibetrieb aus Ipswich Fische in Olmstead kaufen? Es sollte andersherum sein, oder nicht? Olmstead kam mir nicht groß oder wichtig genug vor, um mit den bedeutenden Fischereibetrieben mithalten zu können, und außerdem hatte ich in der Zeitung gelesen, dass die Fischerei in diesem Teil von Massachusetts aufgrund der vom Großen Sturm verursachten Turbulenzen sowie der Versalzung der Flüsse durch die sommerliche Dürreperiode drastisch in Mitleidenschaft gezogen worden war.

Als mir von hinten ein Finger auf die Schulter tippte, zuckte ich zusammen und drehte mich ruckartig um. In eine Arbeitsschürze und ein Baumwollkleid gehüllt stand eine junge, nicht gerade groß gewachsene Frau mit hellen Augen lächelnd vor mir, die kaum älter als dreißig sein konnte. Sie strahlte ob ihrer Schönheit noch stärker als das Zimmermädchen, und nicht einmal die klobigen Arbeitsstiefel und das unvorteilhafte Haarnetz konnten sie verunstalten. Ihre Haare unter dem Netz schienen karamellblond zu sein. »Kommen Sie doch auf ein Eis herein, Sir. Es kostet nur fünf Cent, und wir stellen es ganz frisch her. Sehen Sie, wir haben sogar eine eigene Maschine dafür.«

Sie schien diese Worte mit einem überschwänglichen Stolz auszusprechen, und ich war schier sprachlos, als sie einfach meine Hand ergriff und mich in das Geschäft führte, das ich nun als Baxters Gemischtwarenladen und Postbüro identifizierte, wie auf dem Fensterglas geschrieben stand.

Die Glocke läutete, als wir durch die Tür gingen. »Mein Name ist Mary Simpson, Sir«, teilte sie mir strahlend mit, bevor sie hinter den Tresen eilte. »Ich vermute, dass Sie nur auf der Durchreise sind, aber Sie müssen unser Eis probieren.«

Meine Belustigung wurde durch ihr gutes Aussehen nur weiter intensiviert. »Schokolade, bitte. Ich bin Foster Morley, Miss Simpson, und Sie haben recht, dass ich nur auf der Durchreise bin. Ich mache gewissermaßen eine Rundreise, um neue Orte zu entdecken und dergleichen. Außerdem bin ich ein eifriger Leser. Doch ich habe vor, wenigstens einige Tage zu bleiben, und mir daher ein Zimmer im Hilman gemietet.«

»Oh, gut. Das ist jetzt ein schönes Motel, schön wie alles andere seit dem Wiederaufbau.«

»Hm, ja, das hat mir der Rezeptionist auch erzählt …« Auf einmal erstarrte ich entgeistert: Nun, da ich der Frau direkt gegenüberstand, konnte ich erkennen, dass die gut aussehende und übersprudelnde Miss Simpson nicht nur sehr attraktiv und sehr großbusig, sondern auch sehr schwanger war. Das war anhand der deutlichen Wölbung ihrer Schürze nicht zu übersehen. »Ich finde Olmstead höchst interessant«, fuhr ich fort. »Der Ort ist ein leuchtendes Beispiel für Präsident Roosevelts Wiederaufbauprogramm.«

»Oh ja, Sir. Olmstead war vorher kaum lebenswert. Aber jetzt haben wir überall neue Gebäude, eine neue Bücherei, einen neuen Lagerhausbezirk und eine Feuerwehr. Es gibt sogar eine Eisfabrik am Ufer, wie in den großen Häfen.«

»Zufälligerweise habe ich gerade eben erst einen Lastwagen voller eingefrorener Fische gesehen, der nach Ipswich unterwegs war. Dann darf ich davon ausgehen, dass die Fischerei hier noch gut läuft?«

Sie reichte mir eine Schüssel und einen Löffel. »Es lief nie besser, Sir …«

»Bitte nennen Sie mich Foster, Mary, und bitte erlauben Sie mir, Ihnen ebenfalls ein Eis auszugeben.«

Meine Großzügigkeit schien sie zu erfreuen. »Vielen Dank, Sir … äh, Foster.« Dann bereitete sie sich selbst ebenfalls eine Schüssel zu. »Aber die Fischerei ist tatsächlich der Rückhalt der Stadt. Wir verkaufen unseren Fisch an viele Städte, sogar bis nach Boston, während wir in der Vergangenheit immer Fisch kaufen mussten, wenn wir welchen essen wollten. Die Fischerei läuft hier besser als überall sonst. In Olmstead merkt man kaum etwas von der Rezession.«

Da sie es ausgesprochen hatte, viel es mir auf einmal auch wie Schuppen von den Augen: Ich hatte seit meiner Ankunft nur saubere Straßen, schmucke Gebäude und lächelnde Menschen gesehen, keine entmutigten Leute, die sich für Brot anstellten, keinen herumliegenden Abfall und auch keine einstürzenden Häuser. Überdies erkannte ich eine weitere Parallele zu Lovecraft: Innsmouth war wie Olmstead eine Fischereistadt, der es ungewöhnlich gut ging.

»Sehen Sie«, erzählte sie voller professionellem Stolz weiter, während sie mit dem Löffel auf die schimmernden weißen Maschinen deutete, »hier gibt es auch Westinghouse-Fleischzüchter mit einem eigenen Lieferwagen, der nagelneu ist. Und …«

Ich wartete darauf, dass sie weitersprach, aber stattdessen schwieg sie und ihre Augen weiteten sich.

»Was ist, Mary?«

»So ein Zufall!«, verriet sie. »Ich meine Ihr Buch!«

Ich hatte meine Ausgabe von Schatten über Innsmouth auf die Theke gelegt, als ich die Eisschüssel in die Hand genommen hatte. Es erstaunte mich, dass sie es erkannte. »Sagen Sie jetzt nicht, dass Sie den großen H. P. Lovecraft ebenfalls lesen?«

»Nein, Foster, aber das liegt daran, dass ich nie richtig lesen gelernt habe. Ich erkenne den Namen, weil sich Mr. Lovecraft kurze Zeit hier in Olmstead aufgehalten hat, als ich etwa achtzehn Jahre alt war.«

Ich hätte beinahe die Schüssel fallen lassen. »Mary. Sie sind doch nicht zufällig … Mr. Lovecraft begegnet, oder?«

»Oh nein, dieses Privileg hatte ich leider nicht, aber ich kann Ihnen etwas Interessantes erzählen. Damals war das Baxter’s eine Zweigstelle der First National Bank, und mein Bruder Paul, der zu der Zeit siebzehn gewesen ist, hat Mr. Lovecraft in eben diesem Geschäft, in dem Sie gerade stehen, bedient. Mr. Lovecraft wollte sich in der Stadt ein wenig umsehen, daher hat Paul ihm eine Karte gezeichnet.«

Vor Erschütterung drohten meine Knie nachzugeben. Der Bruder dieser attraktiven Frau war dem Meister begegnet! Was für eine faszinierende Unterhaltung sich da abgespielt haben musste. Und jetzt noch das: Sie erwähnte eine Karte, die ihr Bruder gezeichnet hatte! Diese hatte zweifellos Einfluss auf eine der frühen Szenen in der Geschichte gehabt, als Robert Olmstead von einem liebenswürdigen »Ladenangestellten« genau das erhielt: eine Karte von Innsmouth. Wie die meisten Autoren hatte Lovecraft eine alltägliche Begebenheit, die sich tatsächlich abgespielt hatte, benutzt, um die Fiktion auszuschmücken.

»Foster, Sie sehen ja …«

»Sprachlos aus?« Ich lachte. »Dem ist auch so, Mary. Es mag Ihnen eigenartig erscheinen, aber die Werke von Lovecraft sind mein größtes Hobby. Ich verfolge es mit großer Leidenschaft und interessiere mich auch für jede Information über sein Leben. Von daher ist dies ein großes Glück für mich. Sie könnten mir tatsächlich helfen, meine Neugier weiter zu befriedigen. Bitte erlauben Sie mir, Sie und Ihren Bruder in den nächsten Tagen zum Abendessen einzuladen. Dann könnte ich nicht nur Ihre wunderbare Gesellschaft genießen, sondern auch Paul – so heißt er doch, nicht wahr? – einige Fragen über Lovecrafts Besuch stellen …« Doch dann überkam es mich siedend heiß, als mir mein Fauxpas bewusst wurde. »Entschuldigen Sie, Mary, natürlich meine ich Sie, Ihren Bruder und Ihren Ehemann.«

Bei diesem Kommentar schreckte Mary nicht zurück, sondern erwiderte nur: »Oh, das tut mir leid, aber mein Ehemann hat sich als kein sehr guter herausgestellt. Er hat mich für eine andere Frau verlassen und ist mit ihr nach Maryland gegangen.«

»Das bedauere ich sehr, Mary. Sie haben etwas Besseres verdient als so einen verantwortungslosen Rüpel.« Es machte mich wütend, dass es ein Mann wagte, seine schwangere Frau zu verlassen.

»Ach, es ist schon in Ordnung. Das ist eine der Lektionen, die man im Leben lernen muss«, erwiderte sie überraschend fröhlich. »Mein Stiefvater sagt immer, aus den härtesten Lektionen lernt man am meisten.«

»Wie wahr.«

»Und ich habe ein gutes Leben. Meine Arbeit macht mir Spaß, und ich lebe in einer schönen Stadt. Ich fühle mich gesegnet.«

»Eine selbstlose und lobenswerte Haltung. Es gibt heutzutage zu viele Menschen, die so vieles als gegeben hinnehmen«, erwiderte ich.

»Und mein Bruder Paul …« Sie richtete den Blick kurz zu Boden. »Ihm geht es leider nicht so gut, fürchte ich, und er kann das Haus nicht verlassen.«

Ich wusste nicht, was ich darauf sagen sollte, daher ging ich nicht näher darauf ein, sondern meinte nur: »Oh, das ist aber schade. Hoffentlich erholt er sich bald wieder.«

»Aber ich unterhalte mich gern jederzeit mit Ihnen über Mr. Lovecraft. Sie müssen wissen, dass Paul den Mann sehr faszinierend fand und er mir alles erzählt hat, worüber die beiden während Mr. Lovecrafts Aufenthalt gesprochen haben.«

»Dann müssen wir das unbedingt tun.«

Sie reagierte mit einem angedeuteten schüchternen Lächeln. »Wenn Ihre Frau nichts dagegen hat, dass Sie mit einer anderen Frau essen gehen.«

»Ich habe nie geheiratet«, platzte ich heraus, und mit einem Mal wurde mir die leicht prekäre Situation bewusst. Sie trug schließlich das Kind eines Trottels unter dem Herzen.

»Das kann doch nicht Ihr Ernst sein!«, entgegnete sie, nachdem sie noch einen Löffel voll Eis gegessen hatte. »Ein gut aussehender Gentleman wie Sie mit so guten Manieren hat nie geheiratet?«

Ich hoffte, dass ich bei ihren Worten nicht errötet war. »Ich befürchte, es gibt keine Frau, die mich ertragen könnte«, sagte ich mit einem Lachen. »Ich bin viel zu zügellos.«

»Oh, das glaube ich nicht!«

»Aber es stimmt. Ich komme morgen Vormittag vorbei, dann können Sie mir sagen, wann es Ihnen passt.«

»Das klingt großartig, Foster. Ich freue mich schon darauf.«

Inzwischen fühlte ich mich ein wenig schuldig, dass ich mich zu einer Frau hingezogen fühlte, die schwanger war, aber mein Interesse war natürlich rein platonischer Art. Außerdem stellte dies eine großartige Gelegenheit da. Alles, was mir Mary über die Unterhaltungen zwischen Paul und dem Meister berichten konnte, interessierte mich sehr. Ich wollte die Unterhaltung schon fortsetzen, als die Glocke über der Tür ertönte und jemand hereinkam.

»Oh, hallo, Dr. Anstruther«, begrüßte Mary den Neuankömmling.

»Hallo, meine Liebe …«

»Dr. Anstruther, darf ich Ihnen Foster Morley vorstellen? Er macht hier Urlaub.«

Ich drehte mich zu einem distinguierten gut gekleideten Mann mit eisengrauem Haar und ebensolchem Bart um. »Wie geht es Ihnen, Sir?« Mit diesen Worten schüttelte ich eine weiche, aber kräftige Hand.

Er grinste breit. »Mir geht es hervorragend, Mr. Foster. Wie gefällt Ihnen unsere kleine Stadt?«

»Ich finde sie ganz faszinierend, Sir, sie ist sehr sauber und angenehm.« Ich warf einen kurzen Blick zu Mary hinüber. »Und die Einwohner sind ebenfalls sehr nett.«

»Oh ja. Falls Sie es noch nicht wussten, Sie kosten soeben die Erzeugnisse der allerersten Eismaschine von Olmstead. Es gab ein ziemliches Aufsehen, als sie aufgebaut wurde.«

»Gott segne derartigen Luxus!«, versuchte ich zu scherzen.

»Uns geht es gut, während andere Städte den Bach runtergehen – das ist in dieser wirtschaftlich schwierigen Lage schon eine Leistung. Wir haben in letzter Zeit großes Glück gehabt.« Er drehte sich zu Mary um und reichte ihr ein Blatt Papier. »Mary, könntest du bitte nach dieser Nummer sehen? Ich erwarte eine dringende Lieferung. Mrs. Crommers Wehen könnten jetzt jeden Tag einsetzen.«

»Das hatte ich ganz vergessen«, erwiderte Mary und suchte in einem Regal voller Schachteln, aus dem sie dann eine hervorholte. »Ist das ihr Zehntes?«

»Nein, ihr Elftes«, antwortete der Arzt. Er sah mich an. »Die Zukunft sichern, wie es der Präsident nennt.«

»Äh, ja. Das ist richtig«, stammelte ich beinahe schon. Was sollte ich von dieser Information halten? Eine Frau, die ihr elftes Kind erwartete? Und so weit hatte ich einige werdende Mütter gesehen. Olmstead ist auf jeden Fall eine fruchtbare Stadt.

Mary stellte die Schachtel auf den Tresen und öffnete sie, sodass Dr. Anstruther den Inhalt herausholen konnte: vier sicher verpackte Fläschchen aus braunem Glas. Auf jedem stand deutlich zu lesen: CHLOROFORM.

»Es gibt kein besseres Anästhetikum für schwierige Geburten«, meinte Anstruther.

»Die Medizin scheint in Amerika größere Fortschritte zu machen als jemals zuvor«, meinte ich. »Ich habe gelesen, dass es bald schon ein Heilmittel gegen Schizophrenie geben soll, das auf Elektrizität basiert.«

»Nicht zu vergessen die Knochenmarktransplantation bei Patienten mit Blutproblemen und die bevorstehenden Durchbrüche im Kampf gegen die Kinderlähmung. Amerika ist der Welt weit voraus. Doch angesichts des globalen politischen Klimas befürchte ich, dass wir unseren Wissenszuwachs und unsere Industrie demnächst eher auf den Krieg denn auf den Frieden konzentrieren werden.«

»Beten wir, dass es nicht so kommt«, erwiderte ich. »Dieser Hitler schien sein Versprechen, nach der Annexion von Österreich aufhören zu wollen, ziemlich erst zu nehmen. Und er hat einen Pakt mit den Sowjets geschlossen.«

»Die Zeit wird es zeigen, Mr. Foster. Und nun muss ich gehen.« Er schüttelte mir erneut die Hand. »Ich hoffe, wir sehen uns bald wieder.«

»Guten Tag, Doktor …«

»Ein so guter Kleinstadtarzt, wie man ihn sich nur wünschen kann«, lobte ihn Mary, nachdem er gegangen war. »Anscheinend hat er neuerdings jedoch nichts weiter zu tun, als Kindern auf die Welt zu helfen. Er hatte auch alle meine Babys geholt.«

Ich hoffte, die Nachfrage wäre nicht zu unhöflich, aber ich konnte dem Drang einfach nicht widerstehen. »Mit wie vielen Kindern hat Gott Sie gesegnet, Mary?«

»Mit neun …« Sie tätschelte abwesend ihren Bauch, »… dieses hier mitgerechnet.«

Neun Kinder und keinen Ehemann, um die Verantwortung zu teilen, dachte ich mitleidig. Sie war wahrlich eine starke Frau. »Es muss sehr schwer für Sie sein, das so ganz alleine zu bewältigen.«

»Oh, mein Stiefvater hilft mir sehr. Es ist nur so, dass er jetzt langsam zu alt wird. Und Paul … nun ja …«

Auf einmal war ein Poltern im Hinterzimmer zu hören, begleitet von etwas, das ich als gedämpftes Stöhnen eines Menschen interpretierte. »Was hat er jetzt wieder gemacht?«, meinte Mary und seufzte. »Ich bin gleich wieder da.« Sie hastete durch die Tür hinter dem Tresen.

Ich konnte nicht anders, als das Gespräch mit anzuhören:

»Kannst du nicht warten?«, beschwerte sich Marys Stimme gedämpft.

»Nein, nicht mehr lange zumindest.« Eine männliche Stimme, die bedrückt klang.

»Aber da draußen ist ein netter Mann, und er hat mich zum Essen eingeladen! Jetzt …« Eine Pause, dann hörte es sich an, als würde sie aufstöhnen, »… setz dich wieder auf deinen Stuhl! Du musst noch ein bisschen warten! Es wird nicht mehr lange dauern …«

»Ich versuch’s …«

Mary kehrte mit einem verlegenen Lächeln im Gesicht zurück, beugte sich zu mir herüber und flüsterte: »Das war Paul, der versucht hat, meine Aufmerksamkeit zu erregen.« Sie schien, den Zorn, den sie verspürte, zu unterdrücken. »Der Grund dafür, dass Sie ihn nicht sehen können, sind seine Verletzungen. Er ist deswegen sehr gehemmt, seit er vor einigen Jahren diesen schweren Unfall hatte.«

Es war egoistisch, aber innerlich zuckte ich zusammen, als ich erkannte, dass sich das lebende Vorbild für Lovecrafts »Ladenmitarbeiter« gleich auf der anderen Seite dieser Tür aufhielt und für mich doch unerreichbar war. Und was hatte er für Verletzungen? Mir fiel jedoch kein Weg ein, mich auf höfliche Art und Weise danach zu erkundigen.

»Er darf sich hinten aufhalten, während ich arbeite, damit er sich nicht so einsam fühlt. Manchmal schläft er sogar hier, wenn ihn niemand nach Hause fahren kann.«

»Oh, verstehe. Es ist, ähm, schön, dass Ihnen das möglich ist«, war alles, was ich dazu herausbrachte, aber was konnte sie mit Setz dich wieder auf deinen Stuhl sonst gemeint haben? Und diese Bemerkung, dass ihn jemand nach Hause fahren müsse?

Es konnte nur bedeuten, dass er im Rollstuhl saß.

Die Situation hatte ihre vorherige Leichtigkeit verloren, aber mein Egoismus zwang mich dazu, noch einmal auf das Thema zurückzukommen. »Bevor ich gehe, würde ich Sie gern noch etwas fragen.«

Sie beugte sich vor, stützte beide Ellenbogen auf den Tresen, legte das Kinn auf die Fäuste und lächelte mich fast schon verträumt an, auch wenn ich mir nicht vorstellen konnte, dass meine Anwesenheit der Grund dafür sein sollte. »Sie können mich fragen, was Sie wollen, Foster. Sie sind ein sehr interessanter Mann.«

Hatte ich gerade hörbar geschluckt? Hoffentlich nicht. »Ich habe beschlossen, mir draußen einen ruhigen Ort zum Lesen zu suchen«, bei diesen Worten hielt ich mein Buch in die Luft. »Es muss faszinierend sein, die Geschichte zu lesen, deren Schauplatz Lovecraft unter dem Einfluss der direkten Eindrücke dieser Stadt geschaffen hat. Das ist meine Lieblingsgeschichte, und ich werde sie in einem völlig neuen Licht sehen, wenn ich sie hier erneut lese.«

»Ich glaube, ich verstehe, was Sie meinen«, erwiderte sie. »Aber das Olmstead, das Sie heute sehen, hat nichts mehr mit dem zu tun, das Mr. Lovecraft vor so vielen Jahren vor Augen hatte.«

»Genau das denke ich auch!«, rief ich aus. »Hätten Sie zufällig eine Fotografie von Olmstead vor dem Wiederaufbau? Ich würde sie gern mit Lovecrafts Beschreibungen in dem Buch vergleichen.«

»Wir hatten nie eine Kamera, aber …« Sie hielt einen Finger hoch. »Es gibt da einen Mann, mit dem Sie reden könnten. Nun, vielleicht ist das aber doch keine so gute Idee.«

Wollte sie mich jetzt zappeln lassen? Ich jaulte beinahe schon: »Mary, bitte, ich flehe Sie an …«

»Einer der Einwohner war früher Fotograf, er wurde sogar in New York ausgebildet und hat für Zeitungen Fotos gemacht. Soweit ich weiß, hat er sogar Mr. Lovecraft neben der New Church Green zusammen mit Paul fotografiert. Man kann im Hintergrund das Meer sehen, den Hafen und den Leuchtturm, die alte Larsh-Raffinerie und den Ankerplatz, der damals noch Innswich Point genannt wurde.«

Bei diesen neuen Parallelen wäre ich beinahe in Ohnmacht gefallen! Innswich: offensichtlich eine Variation von Innsmouth. Der ungenutzte Leuchtturm, der über dem berüchtigten Teufelsriff thronte, von wo aus auch die froschartigen Tiefen Wesen entsprungen waren. Und die Larsh-Raffinerie: In Lovecrafts großartiger Geschichte gab es die Marsh-Raffinerie, wo die Geschenke aus goldenen Schmuckstücken von den menschlichen Anbetern der Tiefen Wesen eingeschmolzen und auf dem Markt verkauft wurden. Ich MUSS dieses Bild sehen!, beschloss ich.

»Bitte, Mary. Wie kann ich diesen Fotografen finden? Das ist wirklich sehr wichtig für mich …«

Sie drückte ihr Kinn gegen die Handflächen. »Wie kann ich Ihnen etwas abschlagen? Ich denke nur, dass es keine gute Idee ist. Sein Name lautet Cyrus Zalen. Er muss etwa vierzig sein, sieht aber wie sechzig aus, und Sie können ihn gar nicht verfehlen. Er trägt immer denselben verschmierten schwarzen Regenmantel. Er riecht furchtbar und … nun ja, er ist nicht nett. Er lebt im Armenhaus hinter der neuen Feuerwehr.«

Cyrus Zalen. Vermutlich ein Sozialfall oder, um Lovecrafts Ausdruck zu benutzen, ein »Faulenzer«. In Providence nannte man sie »Penner« oder »Trinker«. »Ein unglückliches Schicksal für einen Zeitungsfotografen«, merkte ich an.

»Er war ein guter Fotograf … bevor er mit dem Heroin in Kontakt kam. In New York traf er sich mit Ex-Soldaten, die bei ihrem Aufenthalt in Frankreich süchtig geworden waren, in einer Stadt namens … Marcy? Ich erinnere mich nicht mehr.«

»Marseilles«, korrigierte ich sie. Ich hatte von diesen Orten gelesen, die sie Heroinlabore nannten und an denen das Harz aus den Schlafmohnblumen in diese verheerende neue Droge verwandelt wurde. »Dennoch muss ich Mr. Zalen finden.«

Das schien ihr Sorgen zu bereiten. »Bitte, tun Sie das nicht, Foster. Er ist kein netter Mann. Er wird versuchen, Ihnen Geld abzuluchsen, vielleicht bestiehlt er Sie sogar. Er ist bekannt dafür, … unmoralische Dinge zu tun, aber es wäre sehr undamenhaft von mir, das näher auszuführen. Und es ist schon so viele Jahre her, zehn wenigstens. Er wird das Foto bestimmt gar nicht mehr haben. Bitte, Foster, gehen Sie nicht dorthin.« Sie beugte sich noch etwas weiter vor. »Er lebt an einem schmutzigen Ort, an dem es vermutlich von Krankheiten wimmelt. Eine Frau ist dort vor Jahren an Typhus gestorben.«

Ich nahm ihre Warnung durchaus ernst und fühlte mich ein wenig geschmeichelt, dass sie sich derart um mein Wohlergehen sorgte. Aber wenn Mr. Zalen Geld für seine alten Bilder haben wollte, dann sollte er es bekommen. Meine Geldbörse war gut gefüllt.

»Sie müssen sich keine Sorgen machen, Mary. Ich bin zäher, als ich aussehe. Ich habe die Ausbrüche 1919 und 1923 überlebt und bin in meinem ganzen Leben noch nicht einen Tag krank gewesen. Ich werde mich sehr vorsehen, wenn ich mit Mr. Zalen spreche, und ich kann Ihnen gar nicht genug für Ihre Ratschläge danken.«

Sie packte meinen Unterarm mit großer Entschlossenheit. »Versprechen Sie mir etwas, Foster. Ich glaube, Paul hat noch einen Abzug des Bildes irgendwo. Falls dem so ist, dann werde ich es für Sie besorgen, wenn Sie mir versprechen, nicht zu Cyrus Zalen zu gehen.«

Ich war berührt und fast schon amüsiert über den Eifer, mit dem sie darauf bestand, dass ich nicht zu diesem Mann gehen sollte. »In Ordnung, Mary. Ich verspreche es.«

Sie strahlte mich an und umarmte mich dann so plötzlich, dass ich beinahe zurückschreckte. Der viel zu kurze Kontakt sorgte dafür, dass sich unsere Wangen berührten. Ihr Haar duftete wunderbar.

»Und ich kann Ihnen gar nicht genug dafür danken«, fuhr ich fort, »dass sie meine Einladung zum Mittagessen für morgen annehmen. Oh, und hier, für das wunderbare Eis.« Ich legte fünf Dollar auf den Tresen.

»Aber es kostet nur fünf Cent …«

»Behalten Sie den Rest, bitte. Sie können dafür etwas für Ihren Stiefvater und Ihre Kinder kaufen.«

Der Moment zog sich in die Länge. Ihr Blick hielt den meinen fest. »Sie sind sehr nett, Foster«, brach es aus ihr heraus. »Vielen Dank …«

»Dann bis morgen!«, rief ich und ging hinaus.

Ich ging in freudiger Eile davon, nicht nur angetan von der engelhaften und liebenswerten Frau, sondern auch von diesem neuen und überraschenden Aufflammen meiner Obsession.

Mir war sofort klar, dass ich das Versprechen brechen musste, dass ich ihr gemacht hatte. Ihre Sorge war ganz offensichtlich übertrieben, und ich konnte ihren Bruder wohl kaum eines Fotos berauben, das ihm sehr viel bedeuten musste. Das Armenhaus hinter der neuen Feuerwehr!, rief ich mir ins Gedächtnis, und – da! Auf einem Schild direkt vor mir stand FEUERWEHR, und ein Pfeil zeigte nach Westen. Ein lautes Geräusch erschreckte mich, als weitere mit Fisch beladene Lieferwagen über die Kopfsteinpflasterstraße auf mich zukamen, und als sie vorbeifuhren, bemerkte ich, dass die westlichste Straße abgesperrt war – dort wurden anscheinend gerade Rohre verlegt –, daher zog ich es vor, um den Gebäudeblock herumzugehen, in dem sich Baxters Gemischtwarenladen, Wraxell’s Eatery und die anderen Geschäfte befanden. Die Gasse war breit, und ich stellte erfreut fest, dass sie sauber sowie frei von Unrat, Gestank und Ungeziefer war. Als ich sie zur Hälfte durchquert hatte, hörte ich eine so leise Stimme, dass ich erst glaubte, sie mir einzubilden.

Ich blieb stehen und lauschte …

»Mist! Das hast du mit Absicht gemacht. Ich weiß, dass es so ist. Du willst mir wieder alles vermasseln!«

Gut, die Stimme war leise, aber sie gehörte zweifellos Mary, und als ich mich umdrehte, sah ich ein schmales Fenster, das einen Spaltbreit offen stand.

Es war eigentlich ganz und gar nicht meine Art – bitte glauben Sie mir –, aber irgendetwas in meinem Kopf zwang meine Augen, durch diesen Spalt zu blicken …

Die Zeit schien stillzustehen, als mein Gehirn die makabre Szene vor meinen Augen richtig registriert hatte. Ein dünner, ausgezehrter Mann saß gebeugt in einem Rollstuhl – zweifellos Paul. Tiefe Falten des Alters oder der Verzweiflung hatten sein Gesicht gezeichnet, und sein Haar war völlig durcheinander. Doch sein schlechter körperlicher Zustand ließ das mitgenommene Erscheinungsbild und die Unreinlichkeit verblassen.

Ich fühlte mich schrecklich, als ich ihn musterte.

Seine Beine endeten an den Knien, von denen nur noch leerer Stoff herabbaumelte.

Seine Arme endeten an den Ellenbogen.

Mein Gott, dachte ich. Ich hatte nicht im Traum gedacht, dass der Unfall, den Mary erwähnt hatte, so schwerwiegend gewesen war. Mein Verstand wollte nicht glauben, dass dieser zerstörte Überrest eines menschlichen Körpers vor mehr als einem Jahrzehnt der energische siebzehnjährige »Ladenmitarbeiter« gewesen war, der Lovecraft/Robert Olmstead netterweise mit einer handgezeichneten Skizze der Stadt versorgt hatte.

Und was sich dort jetzt abspielte, war wahrhaft ein mitleiderregend Anblick.

Marys Bauch erschwerte es ihr, sich vorzubeugen, doch genau das tat sie, um an Pauls Hose herumzufingern. Mir war nun klar, welches Problem er zuvor gehabt hatte. Ein Eimer in der Ecke des Büros sagte mir, dass er diesen hatte erreichen wollen, als er aus dem Stuhl gefallen war, um zu urinieren, was angesichts seiner Behinderung keine einfache Aufgabe war. Ich konnte nur vermuten, dass seine Hose zu diesem Zweck jederzeit offen stand.

Mit offensichtlicher Abscheu auf dem Gesicht hielt Mary eine Blechdose zwischen die Beine des armen Mannes, in die er jetzt seine Blase entleerte.

Ihr Unbehagen schien immer größer zu werden. »Großer Gott, Paul! In dir ist ja mehr als in einem Pferd! Beeil dich!«

Eine weitere Minute verging, bis er endlich fertig war und Mary die Dose angewidert in einem kleinen Waschbecken ausgoss. »Du jammerst immer genau dann um Aufmerksamkeit, wenn ich auch mal welche bekomme.«

»Tue ich nicht«, jammerte er. »Ich musste mal, und du warst nicht da.«

Sie setzte sich mit einiger Mühe auf einen Klappstuhl und umfing ihren geschwollenen Bauch mit den Armen. »Ich mache das alles nur für dich und Stiefvater, weißt du. Ich habe zwei Jobs und bekomme noch ein Baby. Ich bin es so leid, dass du mich als selbstverständlich ansiehst. Du hast Glück, dass du noch am Leben bist, und das wärst du nicht, wenn ich nicht gewesen wäre, Paul.«

Paul tobte und wackelte mit den Armstümpfen. »Oh ja, ich habe so ein Glück, noch am Leben zu sein! Vielen Dank auch!«

»Sag nicht so was«, erwiderte sie mit sanfterer und irgendwie unheilvollerer Stimme. »Es hätte sehr viel schlimmer kommen können. Für uns beide.«

»Er wollte mit mir reden, nicht mit dir«, fauchte Paul mit Spucke auf den Lippen und Tränen in den Augen. »Ich kannte Lovecraft besser als du, und nur weil …«

»Das reicht«, fiel sie ihm wütend ins Wort. Dann stand sie auf und wollte den Raum verlassen.

»Mary, warte! Bitte!«, flehte sie der Invalide an.

»Was?«, erwiderte fast schon knurrend.

»Ich möchte, dass du …«

»Du möchtest, dass ich was tue?«

Jetzt war seine Stimme nur noch ein erbärmliches Piepen. »Du weißt schon … Mit deiner Hand …«

Ihr Gesicht lief rot an. »Nein! Das ist dreckig und eine Sünde! Es ist widerlich!«

Ich zog die Augenbrauen in die Höhe.

Pauls verzweifeltes Wimmern ging weiter. »Aber es fällt mir so schwer, es selbst zu tun. Ich bin hier hinten immer so einsam und …«

»Nein!«

»Wenigstens … darf ich gucken? Ich habe doch sonst nichts mehr, Mary. Bitte, lass es mich sehen, nur für eine Sekunde …«

Marys hübsches Gesicht war jetzt von Abscheu verzerrt. »Nein! Ich bin deine Schwester, um Gottes willen!« Dann rannte sie aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu.

Zuerst der furchtbare Anblick und nun diese Andeutungen. Ich stand völlig verwirrt am Fenster. Dann wanderte mein Blick zurück zum unglücklichen Paul, und ich spürte, wie sich meine Seele zusammenkrampfte …

Er saß jetzt zusammengesunken und verzweifelt da, mit dem Rücken zu mir, und seine Schulter zuckten, während sein verlorenes Wimmern weiterging. Ich musste ihn nicht sehen, um zu wissen, dass er versuchte, mit den Stümpfen seiner Ellenbogen zu masturbieren.

Was für eine Tragödie, dachte ich.

Dann zog ich mich zurück. Auch wenn mich die Situation mitgenommen hatte, urteilte ich doch nicht über die beiden, sondern dachte nur, dass viele Menschen ein schlimmes Schicksal erleiden mussten. Das arme Mädchen, schwanger und muss doch doppelt arbeiten, um den invaliden Bruder und vermutlich einen ebenfalls invaliden Stiefvater durchzubringen. Während der arme Bruder nur … das als einziges Mittel hatte, um etwas Vergnügen zu empfinden. Die traurige Realität ließ mich meine eigene Person nur in einem noch schlechteren Licht sehen. Ich war der zügellose dreckige Reiche, der nie in seinem Leben hatte arbeiten müssen, während diese Leute …

Mir wurde klar, dass ich etwas sehr Großzügiges für diese verzweifelte Familie tun würde, bevor ich die Stadt wieder verließ.

Die Gasse führte auf eine Kreuzung, an der ich in Richtung Westen ging und dem Schild folgte. Saubere Blockhäuser auf der einen Straßenseite und ein dichter Baumbestand auf der anderen. Ich vergaß meine stille Verzweiflung und beschloss, mich erneut meiner Aufgabe zu widmen.

Ich MUSS diesen Cyrus Zalen finden …

Das Sonnenlicht drang durch die Äste, während eine sanfte Brise aus dem Osten meine Ohren streichelte. Ich fragte mich, ob Lovecraft je über diese Straße gegangen war, und hoffte, dass es so war. Ich wusste, dass ich sah, was er gesehen hatte, während sein Geist bereits mit Schatten über Innsmouth beschäftigt war.

Ein Knacken zu meiner Linken ließ mich innehalten. Ich drehte mich und schaute zu den Bäumen, konnte aber niemanden sehen, obwohl ich sicher war, dass jemand da sein musste. Das Geräusch, das ich gehört hatte, war eindeutig gewesen: ein trockener Ast, der unter einem Fuß zertreten worden war.

Nachdem ich noch einige Schritte gegangen war, erklang das Knacken erneut.

»Hallo da drüben!«, rief ich und sah eine Gestalt zwischen den Bäumen herschlurfen. Eine Gestalt in einem langen, zerfetzten schwarzen Regenmantel. »Mr. Zalen! Bitte! Ich muss dringend mit Ihnen sprechen!«

Die Gestalt verschwand so schnell, als wäre sie vom Wald verschluckt worden. Ich fragte mich, wie debil Mr. Zalen durch die Unbill von Opiumabhängigkeit und Verarmung geworden war. In späteren Stadien waren die Opfer dieser Ursachen oftmals durcheinander oder schlichtweg verrückt. Sollte das bei Zalen ebenfalls der Fall sein, so würde sich mein Ausflug als sinnlos erweisen.

Nach einem zehnminütigen Spaziergang stand ich vor der neuen Feuerwache, wo mehrere Männer sich freundlich unterhielten, während sie das große, neue Löschfahrzeug wuschen und polierten. Keinen halben Block weiter fand ich, was nur das Armenhaus sein konnte.

Das eingeschossige Gebäude mit kleinen Wohnungen wirkte, als wäre es durch die Not zusammengepresst worden, als gehörte die Seelenlosigkeit ebenso wie die abbröckelnde Farbe und die mit Teppichen verhängten zuerbrochenen Fensterfronten dazu. Der Geruch von Urin und verdorbenem Essen drang daraus hervor. Ein ältlicher Mann mit einem Glasauge saß zusammengesunken vor einem Raum mit einer schäbigen Tür, und ich glaubte schon, er wäre nicht mehr am Leben, bis er einmal zitterte und hustete. Eine fettleibige blinde Frau mit einem weißen Stock hockte ebenso abwesend vor der nächsten Wohneinheit. Sie schaute blicklos auf, als sie ohne Zweifel mein Vorbeigehen gehört hatte, dann stand sie von der Milchkiste auf, auf der sie gesessen hatte, schlich zur Tür und ging hinein. Die Tür knallte zu.

Die letzte Wohnung erschien mir dunkler als der Rest, obwohl das Sonnenlicht hier ebenso wie bei allen andern Apartments hereinschien. Ein Briefkasten ohne Tür ließ keine Rückschlüsse auf den Namen des Bewohners zu, und mir fiel eine mit Fett befleckte Mülltüte am Straßenrand auf, die voller heruntergebrannter Kerzenstummel, alter Glühbirnen und leerer Lebensmitteldosen, in denen Fliegen herumkrochen, war. Der aufgerissene Gehweg führte weiter, und ich blieb vor einem merkwürdigen Türklopfer stehen, der in der Mitte der lädierten Tür hing: ein einfaches Oval aus fleckiger Bronze, das ein mürrisches, halb ausgebildetes Gesicht darstellte. Nur zwei Augen, weder Mund noch Nase, keine weiteren Gesichtszüge.

Widerstrebend fasste ich den Türklopfer an und starrte unsicher auf das Namensschild, das direkt darüber befestigt war: C. ZALEN.

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