Das Geräusch des Busses bot einen passenden auralen Hintergrund: Ich stellte mir vor, ich würde in der Haut des Meisters stecken und könnte sehen, was er auf der anderen Seite des trüben Fensters erblickt hätte. Und das wären keine gewöhnlichen Felder, unscheinbaren Baumreihen und auch nicht der typische Sommerhimmel Neuenglands gewesen, sondern etwas weitaus Finsteres. Verdorrte Heidepflanzen, die auf trockenen Auen und zwischen absterbendem Gras herumstanden, und ein Himmel, der bedrohlich auf alles herabsah. Und da – ja! –, über die verrosteten Überreste einer uralte Brücke hinweg, wurde mein Blick vom trägen Miskatonic angezogen, in dessen Tiefe Gott weiß was lauerte oder aufgebläht und tot oder in einem noch schlimmeren Zustand lag. Das prosaische Busfenster war nicht länger eine durchsichtige Scheibe, sondern ein obskures Prisma, ein Spiegel, durch den sich ein unheimlicher Anblick bot in unendlich tiefe Schluchten und Felsspalten, die Dimensionen voneinander trennten und unbeschreibliche Schrecken enthielten. Dann blinzelte ich …
… und musste grinsen. Unter mir toste lediglich der durch und durch weltliche Essex River, und an jeder Seite erhoben sich endlose Reihen aus Pinien und Eichen. Nein, auch wenn mich Gott mit einem unendlichen Wissensdurst ausgestattet hatte, war ich nicht derart besessen, dass ich auch nur einen winzigen Teil der Vorstellungskraft des Meisters übernommen hatte. Vermutlich gefielen mir seine Geschichten aus diesem Grund derart gut. Allerdings war Vorstellungskraft eine Gabe, die bei wahren Autoren des Fantastischen auch besser aufgehoben war.
Autoren wie Howard Phillips Lovecraft.
Mit mir im Bus saß etwa ein halbes Dutzend weiterer Fahrgäste, ihrem Aussehen nach alles hart arbeitende Männer, und ich fragte mich, ob Lovecraft selbst jemals in diesem Bus gesessen hatte. Falls dem so gewesen war: auf welchem Sitz? Durch welches Fenster hatte er geblickt, um sich zu beschäftigen? Meine Verehrung dieses Genres war schon eine seltsame Sache. So wie HPL von allem über den Kosmos bis hin zur Architektur der Kolonialzeit fasziniert gewesen war, scheint mich seine Arbeit zu fesseln.
Mein Name ist Foster Morley, ich bin dreiunddreißig Jahre alt und habe braune Haare und braune Augen. Ich schätze, dass mich Lovecraft als unscheinbar und unauffällig beschrieben hätte, doch eine ganz bestimmte Parallele hätte ihn gewiss amüsiert. Wie so viele seiner Charaktere entstamme ich ebenfalls einer englischen Oberschichtfamilie, die von Hause aus wohlhabend ist, und habe einen ungenutzten Abschluss der Brown University. Mein Wohnsitz ist ein 180 Jahre altes Herrenhaus im schönen Providence, in der Nähe des Athenaeums, das meine Vorfahren schon vor der Revolution bewohnt haben. Diese Familie ist jetzt verblichen, ich bin der einzige Nachfahre. Daher kann ich dank meines Schöpfers meine Zeit mit Träumereien verbringen, in denen es mir ebenfalls an nichts fehlt, und wenn ich mich nicht dem Philanthropendasein hingebe, dann … lese ich. Ich lese
Lovecraft, und zwar wieder und wieder, da es seinen zu Papier gebrachten Worten gelingt, mich in andere, deutlich interessantere Welten zu versetzen. Welten, die der unsren nicht gleichen, die von Finanzkrisen und unangenehmen Kriegen heimgesucht wird. Nein, stattdessen begebe ich mich in Welten voller schauriger Wunder und teuflischer Schrecken.
Seltsamerweise kannte ich Lovecraft gar nicht, bis ich vor etwa zwei Jahren, genauer gesagt im März 1937, einen Nachruf im Providence Evening Bulletin las, in dem über das Ableben des ansässigen Fantasten und dessen seltsame Karriere berichtet wurde. Da meine Neugier geweckt war, besorgte ich mir die Ausgabe des Magazins Weird Tales aus dem Juni 1936 und las Der Schatten aus der Zeit. Von diesem Augenblick an hatte er mich am Haken, und danach gab ich zwar geringe Summen aus, unternahm jedoch beachtliche Anstrengungen, um alles, was der Meister je geschrieben hat, in meine Bibliothek aufzunehmen. Meine Besessenheit war greifbar und mehr als das – vielleicht meine Rettung. Zwar wähnte ich mich in meiner Einsamkeit ohne jegliche Gefährten durchaus zufrieden, doch nun hatte ich etwas gefunden, das mir so lange Zeit gefehlt hatte: einen mentalen Rückhalt, eine Reise in die verlorenen Regionen, die ich nun jede Nacht unternahm, anstatt die qualvollen leeren Stunden zu zählen.
Dann las ich seine Werke noch einmal an seinem Grab auf dem Swan Point Cemetery, ich schlenderte jede Woche einmal an seinem Wohnhaus in der College Street vorbei und hielt stets inne, um hinauf zum Federal Hill zu sehen und einen Blick in die St. John’s Catholic Church zu werfen, die ein Vorbild für seine letzte ernsthafte Erzählung gewesen war, die brillante Story Der leuchtende Trapezoeder. Außerdem ging ich die Angell Street und die Benefit entlang in der Hoffnung, dass irgendein psychischer Rückstand meines Vorbilds zurückgeblieben wäre und mich beschleichen oder mir irgendwie einen makaberen, ätherischen Segen verpassen könnte. Einmal die Woche kaufte ich im Weybosset’s Store ein, wo auch er seine kargen Einnahmen regelmäßig für Lebensmittel ausgegeben hat. Und nicht nur einmal fuhr ich mit der Eisenbahn nach New York, um staunend das heruntergekommene Reihenhaus in Flatbush anzustarren, in dem der Meister hin und wieder mit seiner Frau gelebt hatte; und erst vor Kurzem habe ich eine Kerze in der St. Paul’s Chapel am Broadway angezündet, in der sie geheiratet haben. Ferner begann ich, seine Reiserouten nachzuvollziehen: von Marblehead im Bezirk Columbia nach New Orleans, von Wilbraham, Massachusetts, nach Dunedin, Florida – und alles ausschließlich per Dampfzug oder Autobus, da ich auf diese Weise dasselbe langwierige und knatternde Erlebnis hatte. Für mich war es ausgesprochen wichtig, dass ich dasselbe sehen konnte wie er und dass ich dieselben Orte aufsuchte. Einst stand ich vor Poes Grab in Baltimore, nur weil ich wusste, dass Lovecraft dort früher einmal ebenfalls gestanden hatte. Ich habe sogar versucht, das Giebelhaus in der Benefit Street 135 zu erwerben, doch die Besitzer wollten es nicht verkaufen, nicht einmal zu dem lächerlich hohen Preis, den ich ihnen angeboten hatte, schließlich handelte es sich dabei um das berüchtigte, von Flechten überzogene »geächtete« Haus.
Ob ich besessen bin? Zweifellos. Ein Psychiater würde mein Verhalten mit einem Begriff bezeichnen, der ziemlich medizinisch klingen würde, vermutlich analytisch und jungianisch. Dank
Lovecrafts Worten weiß ich, dass ich verzweifelt nach etwas suchte, und ich werde erst wissen, was das ist, wenn ich es endlich gefunden habe.
Äh, Verzeihung. Ich hätte sagen sollen, dass ich es bereits gefunden habe – und zwar in Innswich –, was mich vermutlich auf ewig heimsuchen wird.
Ich hatte den Bediensteten das Haus überlassen – sie waren schon daran gewöhnt, dass ich gelegentlich unerklärliche Reisen unternahm – und beschlossen, die fiktive Reise eines seiner Charaktere nachzuvollziehen, des ungenannten Protagonisten aus meiner Lieblingsgeschichte Schatten über Innsmouth. In Lovecrafts Notizen wurde dieser unglückliche fiktive Charakter laut seines Vertrauten August Derleth als Robert Olmstead bezeichnet, wenngleich der Name in der veröffentlichten Geschichte niemals auftaucht. Doch es ist leicht zu erkennen, dass diese Mr. Olmstead ein Spiegelbild von Lovecraft darstellt: Er ist ein Liebhaber des Altertümlichen und der Architektur und hat die Tiefen Neuenglands stets mit der preiswertesten Methode bereist, um seinen Leidenschaften nachzugehen.
Das sollte also mein Sommerurlaub sein. Robert Olmstead ist am 15. Juli 1927 von Newburysport nach Arkham aufgebrochen, um die Archive und die Architektur der Kolonialzeit dieser von Hexen geplagten Stadt er erkunden. Daher hatte ich den Wunsch, Olmsteads Reise so genau wie möglich nachzuvollziehen, um zu sehen, was Lovecraft gesehen hatte. Wie immer hielt ich mich exakt an die Einzelheiten und begann meine Reise am 15. Juli 1939. Ich verließ Newburysport an derselben Bushaltestelle vor dem sehr realen Hammond’s Drugstore in Richtung der Stadt Salem, die HPL als Vorlage für Arkham gedient hatte.
Ich hatte mich für den vordersten Sitz des Busses entschieden und hatte von dort einen hervorragenden Blick durch die Windschutzscheibe. Wir waren jetzt mehrere Meilen von Essex entfernt, und die Landschaft schien auf eine Weise finsterer zu werden, die man nicht vernünftig beschreiben konnte. Auf einmal wirkten die Wälder ausgelaugt, die Vegetation hatte ihren sommerlichen Glanz verloren, und sogar die Straße, deren einziges Pflaster aus zerstoßenen Austernschalen bestand, ließ sich nur noch als fahl bezeichnen, auch wenn dieses Wort lächerlich oberflächlich klingt. Doch da war etwas, das die seit einem Monat andauernde rekordverdächtige Dürreperiode überlagerte, eine unerklärliche Finsternis, die sich aus Gründen, die ich mir selbst nicht erklären kann, in meinem Geist breitmachte.
Zu guter Letzt bemerkte ich durch die Windschutzscheibe einen erfrischenden Hinweis auf Anzeichen von Menschlichkeit: eine heruntergekommene Holzhütte – die offensichtlich eine Behausung darstellte – neben einem Gebäude, das eine Räucherei zu sein schien. Ein Schweinepferch stach mir ebenfalls ins Auge, der mit einfachem Hühnerdraht errichtet worden war und nicht einmal ein halbes Dutzend Schweine beherbergte. Doch irgendetwas roch köstlich, und dieser Geruch konnte nur aus der Räucherei kommen. Schließlich kamen ein Schild und ein Verkaufsstand am Straßenrand in mein Blickfeld. Auf dem Schild stand: ONDERDONK & SOHN. RÄUCHEREI – MIT FISCH GEFÜTTERTE SCHWEINE. In dem Augenblick, in dem wir vorbeifuhren, schien der Fahrer zu grunzen.
»Mit Fisch gefütterte Schweine?«, fragte ich ihn. »Das habe ich ja noch nie gehört. Ist es Ihnen vielleicht einmal möglich gewesen, das Fleisch zu kosten?«
Das Gesicht des Fahrers blieb weiterhin nach vorn gerichtet, und erst glaubte ich schon, dass er mir gar nicht antworten wollte. »Das hab ich nich’ und werd ich auch nie. Das ganze Jahr hocken dieselben fünf Schweine in diesem Pferch. Wie ich die Onderdonks kenne, verkaufen die mit Fisch gefütterte Stinktiere. Der und seine Kinder, die sind anners. Ich mag sie nicht und sie mögen uns nicht.«
Ich musste kurz nachdenken, bevor ich anners als anders übersetzt hatte. Dann konnte ich mir die Nachfrage nicht verkneifen: »Und mit uns meinen Sie wen?«
»Ist doch egal!«, fuhr mich der Fahrer an. »Ich mach einfach nur meine Arbeit. Aber die Onderdonks wagen es nicht, an den Klüngel zu verkaufen.«
Bis dato hatte ich noch nicht die leiseste Ahnung, was die Unbill des Fahrers erregt hatte. »Den Klüngel?«, fragte ich, mehr an mich selbst gerichtet.
»Sie verkaufen den Fraß, den Sie Barbecue nennen, an Einwanderer und einfache Leute, die von New’bry nach Salem reisen, aber sie halten sich vom Klüngel in der Stadt fern.«
Meine Verwirrung wurde immer größer. Am liebsten hätte ich gar nicht weitergefragt, aber ich hatte im Kopf, dass auf der Karte zwischen Newburysport und Salem gar keine andere Stadt verzeichnet war. »Die Stadt? Sie meinen gewiss Salem, aber wir müssten doch noch wenigstens eine Stunde davon entfernt sein.«
»Nein«, knurrte er. Erst jetzt fielen mir die Gesichtszüge des Fahrers auf und ich erinnerte mich an Lovecrafts Geschichte und den Busfahrer namens Joe Sargent, der ebenso seltsam aussah wie viele andere aus Innsmouth: schmaler Kopf, flache Nase, eingeschrumpfter Hals, hervortretende Augen, die er niemals zuzumachen schien. Robert Olmstead entwickelte eine spontane Aversion gegen Sargent, als er ihn das erste Mal erblickte. Dieser Mann hier wirkte zwar durchaus mürrisch, schien jedoch nur ein gewöhnlicher Arbeiter zu sein.
»Olmstead«, erwiderte er, »und hier ist derzeit der Klüngel.« Er drehte am Lenkrad und steuerte den Wagen um eine Straßengabelung an einem Schild vorbei, auf dem stand: OLMSTEAD – 2 MEILEN – BEVÖLKERUNG 361. »Dies ist der einzige Bus, der dahin fährt, und wir halten auch nur fünfzehn Minuten.«
Mich irritierte nicht die Tatsache, dass wir auf einmal in Richtung einer Stadt fuhren, von der ich noch nie im Leben gehört hatte (und die nicht einmal auf einer Landkarte zu finden war), sondern die ganze Situation an sich. »Olmstead?« Ich betonte das Wort ganz besonders. »Wollen Sie mir damit sagen, dass es eine nicht verzeichnete Stadt gibt, die Olmstead genannt wird?«
Die Frage schien ihn zu irritieren. »Sie steht auf dem Busfahrplan. Wir hatten große Schwierigkeiten, den County davon zu überzeugen, da halten zu dürfen. Die haben uns eingemeindet, was immer das zu bedeuten hat, jedenfalls müssen wir jetzt Gebühren zahlen. Dasselbe war notwendig, um von der Post beliefert zu werden. Es ist nicht richtig, dass Olmsteader keine Gelegenheit haben sollen, die größeren Städte zu erreichen, erst recht nicht bei der jetzigen Wirtschaftslage.« Dann deutete er abrupt mit dem Daumen über die Schulter auf die anderen sechs Passagiere, die zusammen mit mir im Bus saßen. »Ohne die Fischerei wären wir erledigt«, fügte er hinzu,
Obwohl die anderen Männer den Fahrer gehört haben mussten, blieben ihre Gesichter ausdruckslos. Bei ihnen handelte es sich um ungehobelte, schäbig gekleidete Fischer, wie mir beim ersten Anblick klar geworden war, da jeder von ihnen einen Arm voller neuer Angelruten sowie mehrere aufgerollte Netze bei sich hatte. Dennoch reichte die Ablenkung durch diese rauen, aber einfachen Männer nicht aus, um meine Aufmerksamkeit komplett abzulenken …
Da ist noch etwas anderes. Eine geheimnisvolle Ahnung sagte mir, dass sich das Ganze nicht als bloßer Zufall abtun ließ. Eine Stadt – Olmstead –, die genauso hieß wie die Hauptfigur in Lovecrafts Schatten über Innsmouth …
Die Straße wurde schmaler und unebener, während mir meine olfaktorischen Sinne sagten, dass wir dem Wasser näher kamen. Auf einmal überwältigte mich die Aufregung und verdrängte alle anderen Gedanken. Lovecraft war sein ganzes Leben lang viel gereist, aber meines Wissens wurde in keinem seiner Bücher eine Stadt namens Olmstead erwähnt. Hatte diese Stadt Lovecraft auf die Idee gebracht, seinen Hauptcharakter nach ihr zu benennen? Ich hoffte es. Und falls dem so war, wie würde die Stadt aussehen?
Die Antwort sollte nicht lange auf sich warten lassen.