III

Nachdem Waring gegangen war, dachte O’Mara über die Abtrennung der hudlarischen Unterkünfte nach. Mit Gravitationsgittern, die auf vier Ge eingestellt waren, und einigen anderen speziellen Einrichtungen, derer sie bedurften, hatten die FROBs bislang einen der wichtigsten Abschnitte bewohnt. Wenn es nun an der Zeit war, diesen an die Hauptsektion anzugliedern, dann konnte es bis zur Fertigstellung des gesamten Hospitalkomplexes nur noch fünf bis sechs Wochen dauern. Wie O’Mara wußte, würde die Schlußphase sehr aufregend sein: So bewegten Traktorstrahlentechniker bei ihren umsichtigen Manövern Lasten durchs All, die Tausende von Tonnen wogen, führten sie langsam zusammen — die Vertiefungen der Verbindungsstücke mußten genau aufeinander passen —, während Monteure die Ausrichtung kontrollierten, gegebenenfalls veränderten und die sich allmählich schließenden Stirnseiten für die Ankopplung vorbereiteten. Viele von ihnen würden die Warnleuchten bis zum letztmöglichen Moment nicht beachten und fast unvorstellbare, haarsträubende Risiken eingehen, nur um sich die Zeit und die Mühe zu ersparen, die Sektionen für ein erneutes Kopplungsmanöver noch einmal voneinander trennen zu müssen.

Natürlich hätte O’Mara viel lieber draußen im All an dieser Endmontage teilgenommen, anstatt hier drinnen als Babysitter Dienst tun zu müssen!

Der Gedanke an den Kleinen brachte all die Sorgen zurück, die er vor Waring so erfolgreich verheimlicht hatte. So lange wie jetzt hatte das Alienbaby zuvor noch nie geschlafen. Seit es eingeschlafen war — beziehungsweise von O’Mara mit Tritten in den Schlaf befördert worden war — mußten mittlerweile zwanzig Stunden vergangen sein. Sicher, FROBs waren widerstandsfähige Wesen, aber konnte es nicht durchaus möglich sein, daß der Kleine gar nicht schlief, sondern vielmehr bewußtlos war oder vielleicht sogar eine Gehirnerschütterung hatte.?

O’Mara nahm das Buch, das Pelling ihm hatte bringen lassen, und stöberte darin herum.

Es war zähflüssig geschrieben und schwer zu lesen, aber trotzdem wußte er nach zwei Stunden etwas mehr über die Pflege hudlarischer Babies, und dieses Wissen löste bei ihm Erleichterung und Verzweiflung zugleich aus. Offenbar waren sein Wutanfall und die darauffolgenden Hiebe und Tritte für das Baby genau das richtige gewesen — FROB-Babies bedurften steter Liebkosungen, und wenn man kurz hochrechnete, welche Kraft ein erwachsener Hudlarer aufwandte, um seinem Nachwuchs einen sanften Klaps zu verabreichen, wurde einem klar, daß O’Maras blindwütige Attacken tatsächlich nichts anderes als ein zärtliches Streicheln gewesen waren. Aber das Buch warnte auch vor den Gefahren des Überfütterns, und was diesen Punkt betraf, hatte er sich eindeutig falsch verhalten. Offenbar wäre es richtig gewesen, das Baby während der Wachphasen etwa alle fünf bis sechs Stunden zu füttern, und sobald es unruhig wurde oder immer noch hungrig war, es mit Streicheleinheiten — also mit ein paar kräftigen Tritten — zu besänftigen. Zudem schienen kleine FROBs recht häufig gebadet werden zu müssen.

Auf ihrem Heimatplaneten schloß dies eine ausgiebige Behandlung mit einer Art Sandstrahlgebläse ein, aber wie O’Mara annahm, lag das wahrscheinlich an dem dort herrschenden Druck und der stickigen Atmosphäre. Ein weiteres Problem, das er zu lösen hatte, war, wie er dem Baby einen Klaps verabreichen konnte, der kräftig genug war, ohne seine tröstende Wirkung zu verfehlen. Er zweifelte stark daran, sich jedesmal in einen Wutanfall hineinsteigern zu können, sobald das Baby quasi nach der mütterlichen Brust verlangte.

Aber wenigstens stand ihm genug Zeit zur Verfügung, sich etwas Passendes einfallen zu lassen, denn unter anderem hatte er herausgefunden, daß FROBs im Kindesalter zwei Tage am Stück wach zu sein pflegten, danach aber fünf Tage hintereinander schliefen.

Während der ersten fünftägigen Schlafphase gelang es O’Mara, sich Methoden auszudenken, wie er seinen Schützling streicheln und baden konnte. Er hatte sogar noch zwei freie Tage gehabt, um sich ausruhen und neue Kräfte für die auf ihn zukommenden zwei Tage Schwerstarbeit sammeln zu können, bevor der Kleine wieder aufgewacht war. Für einen durchschnittlich kräftigen Mann wäre es ein kaum zu bewältigendes Pensum gewesen, aber O’Mara hatte bereits nach den ersten beiden Wochen das Gefühl, sich seelisch wie körperlich auf diese Aufgabe richtig eingestellt zu haben. Am Ende der vierten Woche war sogar sein Bein schmerzfrei und nicht mehr steif, und was das Baby anging, lief alles wie geschmiert.

Draußen näherte sich das Projekt der Vollendung. Bis auf ein paar unwichtige Einzelstücke am Rand war das gigantische, dreidimensionale Puzzle komplett.

Ein Untersuchungsinspektor des Monitorkorps war eingetroffen, der anscheinend außer O’Mara jeden einzelnen einem Verhör unterzog.

O’Mara fragte sich immer wieder, ob Waring bereits ausgehorcht worden war und, wenn ja, was der Traktorstrahlentechniker gesagt hatte. Im Gegensatz zu anderen bereits am Projekt beschäftigten Angehörigen des Monitorkorps, die ausschließlich als Ingenieure ausgebildet waren, war dieser Inspektor ein Psychologe und sehr wahrscheinlich kein Fachidiot. O’Mara selbst hielt sich auch nicht gerade für einen Dummkopf; er hatte alles genau überdacht und hätte eigentlich vor dem Untersuchungsergebnis keine Angst zu haben brauchen. Nach Einschätzung der allgemeinen Lage und der Situation, in der sich die Leute hier befanden, schienen ihm zwar die Reaktionen jedes einzelnen voraussagbar zu sein, aber dennoch hing letztendlich alles davon ab, was Waring diesem Monitor erzählen würde.

Du bist ja ein richtiger Angsthase! dachte O’Mara voller Selbstverachtung. Kaum wird deine Lieblingstheorie auf die Probe gestellt, hast du schon Schiß, sie könnte nicht funktionieren, und willst am liebsten vor Waring auf die Knie fallen und ihm die Füße küssen!

Aber natürlich wußte er, daß auf diese Weise in eine ansonsten vorauszuberechnende Situation eine Unbekannte eingeführt werden würde, die alles über den Haufen werfen konnte. Doch nichtsdestotrotz war die Versuchung groß.

Als er am Anfang der sechsten Woche seiner aufgezwungenen Vormundschaft über den kleinen Hudrer gerade etwas über die seltsamen und wundersamen Krankheiten las, zu denen FROB-Babies neigten, kündigte ihm das Kontrollicht der Luftschleuse einen Besucher an. Er stand rasch von der Couch auf, sammelte sich und blickte gefaßt in Richtung der Schleuse, als könnte ihm nichts auf der Welt etwas anhaben.

Aber es war nur Caxton.

„Ehrlich gesagt, hab ich den Monitor erwartet“, sagte O’Mara.

Caxton schnaufte abfällig. „Sie haben ihn wohl noch nicht gesprochen, wie? Vielleicht empfindet er das nur als Zeitverschwendung. Nach allem, was er von uns gehört hat, hält er den Fall wahrscheinlich für abgeschlossen. Wenn er hier auftaucht, wird er mit Handschellen kommen.“

O’Mara sah Caxton nur an. Am liebsten hätte er ihn gefragt, ob das Korpsmitglied bereits Waring verhört hatte, besann sich aber eines Besseren.

„Ich bin gekommen, weil ich wissen will, was mit dem Wasser ist“, fuhr Caxton unwirsch fort. „Von der Magazinverwaltung hab ich gehört, daß Sie die dreifache Wassermenge angefordert haben, die Sie im Höchstfall verbrauchen können. Haben Sie hier ein Aquarium eröffnet oder so was?“

O’Mara gab absichtlich keine direkte Antwort und entgegnete nur: „Es ist übrigens der Zeit, das Baby zu baden. Haben Sie Lust zuzusehen?“

Er bückte sich, entfernte geschickt einige Platten aus dem Boden und griff hinein.

„Was machen Sie da?“ brüllte Caxton los. „Das sind die Schwerkraftgitter, da dürfen Sie nicht einfach ran.“

Plötzlich hatte der Boden dreißig Grad Schlagseite. Caxton taumelte gegen eine Wand und fluchte. O’Mara richtete sich wieder auf, öffnete die innere Luke der Luftschleuse und ging auf die Schlafkabine zu, wobei der Boden jetzt stark anstieg. Caxton, der noch immer lautstark darauf bestand, daß O’Mara weder die Erlaubnis noch die Qualifikation besäße, die Einstellung des künstlichen Schwerkraftfelds zu verändern, folgte ihm.

„Drinnen angelangt,“ sagte O’Mara. „Das hier ist die Reservespritzpistole.

Ich hab die Düse verengt, um so einen stärkeren Wasserstrahl zu erhalten.“ Er richtete das Gerät auf eine kleine Fläche der Haut des Alienbabys, um Caxton zu demonstrieren, wie es funktionierte. Der Hauptdarsteller dieser Vorführung beachtete die beiden nicht, denn er war gerade eifrig damit beschäftigt, die kärglichen Überreste eines von O’Maras Stühlen in noch unkenntlichere Formen zusammenzustauchen.

„Wie Sie sehen können, ist das Nahrungspräparat an einigen Stelle der Haut getrocknet. Diese Stellen müssen in gewissen Abständen gewaschen werden, weil sie sonst den Absorptionsmechanismus verstopfen. Kleine Hudlarer fühlen sich dann sehr unwohl, sie machen sich entsprechend laut bemerkbar und…“

O’Mara unterbrach sich. Er sah, daß Caxton das Alienbaby überhaupt nicht ansah, sondern nur auf das Wasser achtete, das von dessen Haut abprallte und entlang der jetzt schräg geneigten Tür der Schlafkabine quer durch den Wohnraum in die offene Luftschleuse floß. Daß Caxton abgelenkt war, war O’Mara nur recht, denn er hatte mit der Spritzpistole eine Hautstelle freigelegt, deren Struktur und Farbe er zuvor noch nie gesehen hatte, und selbst wenn dies kein Anlaß zur Sorge war, war es doch besser, wenn Caxton nichts davon bemerkte und keine Fragen stellte.

„Was ist denn das da oben?“ fragte Caxton, wobei er zur Decke deutete.

Um dem Baby, die notwendigen Streicheleinheiten zukommen lassen zu können, hatte O’Mara aus Hebeln, Rollen, Seilen und Gegengewichten eine Vorrichtung montiert und das komplette unförmige Gebilde an der Decke aufgehängt. Er war ziemlich stolz auf die Apparatur, die ihn in die Lage versetzte, dem Baby an jeder beliebigen Stelle der panzerähnlichen Haut einen anständigen, kräftigen Klaps zu verabreichen, der einen Menschen auf der Stelle getötet hätte. Trotzdem bezweifelte er, daß Caxton das Gerät richtig zu würdigen wußte. Wahrscheinlich würde der Sektionsleiter ihm vorwerfen, das Baby zu quälen, und den Einsatz des Geräts sogar verbieten.

O’Mara ging auf den Ausgang zu und sagte über die Schulter hinweg:

„Das ist nur ein Flaschenzug.“

Die nassen Stellen auf dem Boden wischte er mit einem Lappen auf, den er anschließend in die jetzt teilweise mit Wasser gefüllte Luftschleuse warf. Seine Sandalen und der Overall waren auch durchnäßt worden, und er schmiß sie hinterher, bevor er die innere Luke schloß und die äußere öffnete. Während das Wasser draußen im luftleeren Raum verdampfte, stellte er die Schwerkraftgitter zurück, so daß der Boden wieder eben und die Wände gerade waren. Dann holte er die Sandalen, den Overall und den Lappen aus der Luftschleuse, die nun knochentrocken waren.

„Sie scheinen ja alles gut organisiert zu haben“, sagte Caxton zähneknirschend, während er sich den Helm aufsetzte. „Wenigstens kümmern Sie sich um das Baby mehr als damals um seine Eltern. Sehen Sie zu, daß es so bleibt.“ Bevor er ging, fügte er hinzu: „Der Monitor wird Sie übrigens morgen früh gegen neun Uhr aufsuchen.“

O’Mara kehrte umgehend in die Schlafkabine zurück, um sich die verfärbte Stelle auf der Haut genauer anzusehen. Es war ein blaugrauer Fleck, und die sonst glatte, fast stahlharte Hautoberfläche des Hudlarers war an dieser Stelle spröde und rissig. O’Mara rieb leicht darüber, worauf der FROB zusammenzuckte und ein Geräusch von sich gab, das leicht fragend klang.

„Wir beide sind schon zwei.“, murmelte O’Mara geistesabwesend. Er konnte sich nicht daran erinnern, irgend etwas über ein solches Phänomen gelesen zu haben, andererseits hatte er das Buch noch nicht ganz durchgearbeitet, also war es an der Zeit, dies umgehend nachzuholen.

In erster Linie fand die Verständigung zwischen Angehörigen verschiedener Spezies mittels eines Translators statt, der automatisch sämtliche sinnvollen Laute sortierte und klassifizierte und sie dann in der Sprache des Anwenders wiedergab. Eine andere Methode war das System der Schulungsbänder, die angewandt wurde, wenn eine große Anzahl genauer Daten übermittelt werden mußte, die eher subjektiver Natur waren. Hierbei wurden alle Sinneseindrücke, das gesamte Wissen und die Persönlichkeit eines Wesens in das Gehirn eines anderen übertragen. Was die Beliebtheit und die Genauigkeit anging, so lag weit abgeschlagen an dritter Stelle die Schriftsprache, die etwas hochgestochen Universal genannt wurde.

Universal war nur solchen Wesen nützlich, deren Gehirne mit optischen Rezeptoren verbunden waren, die ihrerseits aus Zeichen auf einer ebenen Fläche — mittels bedruckter Seiten also — Wissen deuten und vermitteln konnten. Zwar besaßen viele Spezies diese Fähigkeit, doch auf Farben reagierten sie häufig völlig unterschiedlich. Was O’Mara wie ein blaugrauer Fleck vorkam, mochte einem anderen Geschöpf gelbgrau bis dunkellila erscheinen, und das Problem bestand nun darin, daß der Autor des Buches einer anderen Spezies angehören konnte.

In einem der Anhänge gab es zwar eine ungefähre Vergleichstabelle für Farben, aber dort nachzusehen, war eine mühselige und zeitaufwendige Arbeit, und O’Maras Universal-Sprachkenntnisse waren alles andere perfekt.

Fünf Stunden später hatte er bei der Diagnose der Krankheit noch immer keine Fortschritte erzielt, und die blaugraue Stelle auf der Haut des FROB war bereits fast ums Doppelte seiner ursprünglichen Größe angewachsen, und drei weitere Flecke hatten sich hinzugesellt. Er fütterte das Alienbaby, wobei er sich besorgt fragte, ob eine Nahrungsaufnahme in diesem Fall überhaupt richtig war, danach wandte er sich wieder umgehend seinen Studien zu.

Laut Handbuch gab es sage und schreibe Hunderte von leichten, kurzfristigen Krankheiten, von denen junge Hudlarer in der Regel befallen wurden. Dieses Alienbaby war allein deshalb davon verschont geblieben, weil es bislang mit einem in dichten Behältern gelagerten Nahrungspräparat gefüttert worden war und somit keinen durch die Luft übertragenen Bakterien ausgesetzt gewesen war, wie sie auf seinem Heimatplaneten sehr häufig vorkamen. Wahrscheinlich war diese Krankheit nicht schlimmer als Masern für Menschen, redete sich O’Mara immer wieder ein, aber es sah doch sehr ernst aus. Bei der nächsten Fütterung war die Zahl der Flecke bereits auf sieben angewachsen, und sie hatten mittlerweile ein dunkleres, bedrohlicheres Blau angenommen. Außerdem schlug sich das Baby andauernd mit seinen Tentakeln auf die wunden Stellen, die offensichtlich furchtbar juckten. Mit diesen neuen Erkenntnissen ausgestattet, widmete sich O’Mara wieder seinem Buch.

Und plötzlich fand er, wonach er suchte. Die Symptome wurden als rauhe, verfärbte Flecke auf der Haut geschildert, verbunden mit starkem Juckreiz, der durch nicht absorbierte Nahrungsreste hervorgerufen wurde. Die Behandlung bestand einzig und allein darin, die gereizten Stellen nach jedem Füttern zu reinigen, um so den Juckreiz zu beenden, und ansonsten den natürlichen Heilungsprozeß abzuwarten. Heutzutage war diese Krankheit auf Hudlar sehr selten. Ihre Symptome traten urplötzlich auf, um nach einer gewissen Zeit ebenso schnell wieder zu verschwinden, und laut Handbuch war die Krankheit bei gewöhnlicher Behandlung für den Patienten ungefährlich.

Als nächstes begann O’Mara, die Zahlenangaben in terrestrische Zeit— und Maßeinheiten umzurechnen. Nach seinen Berechnungen sollten die farbigen Flecke bis auf fast einen halben Meter im Durchmesser anwachsen, die erst wieder verschwinden würden, sobald etwa ein Dutzend davon aufgetreten waren. Ausgehend vom Zeitpunkt des Auftauchens des ersten Flecks, würde das in ungefähr sechs Stunden der Fall sein.

Eigentlich brauchte er sich also gar keine Sorgen zu machen.

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