Der Alien, der O’Maras Schlafkabine in Beschlag genommen hatte, wog ungefähr eine halbe Tonne, hatte sechs kurze, dicke Gliedmaßen, die gleichermaßen als Arme und Beine dienten, und eine Haut wie eine biegsame Panzerplatte. Da er von Hudlar stammte, einer Vier-Ge-Welt (Ge — Gravity earth: Erdbeschleunigung, Erdgravitation; G gilt als Abkürzung für Gravitation allgemein), auf der ein durchschnittlich fast siebenmal so starker atmosphärischer Druck wie auf der Erde herrschte, war ein solch robuster Körperbau zu erwarten. Doch wie O’Mara wußte, war das Wesen trotz seiner kräftigen Gestalt auf Hilfe angewiesen, denn es hatte im Alter von kaum sechs Monaten miterleben müssen, wie seine Eltern vor kurzem bei einem Montageunfall ums Leben gekommen waren. Und der Verstand des extraterrestrischen Babys war bereits so weit entwickelt, daß es durch dieses traumatische Erlebnis einen schweren Schock erlitten hatte.
„Ich ha-ha-hab den Kleinen hierhergebracht“, sagte Waring, einer der Traktorstrahlentechniker dieser Sektion. Er verabscheute O’Mara, und das aus gutem Grund, versuchte aber, seine Schadenfreude zu unterdrücken. „Ca-Ca-Caxton schickt mich. Er sagt, Sie seien wegen Ihres Beins für den normalen Dienst nicht einsatzfähig, und Sie sollen sich deshalb um den Kleinen kümmern, bis jemand von seinem Heimatplaneten eintrifft. Ca-Ca-Caxton kommt auch gleich rü-rü-rüber…“
Waring verstummte und überprüfte die Verschlüsse seines Raumanzugs; offensichtlich hatte er es eilig hinauszukommen, noch bevor O’Mara etwas zu dem Unfall sagen konnte, und er schloß rasch: „Ich hab für den Kleinen auch etwas zum Essen mitgebracht. Es steht in der Luftschleuse.“
O’Mara nickte, sagte aber nichts. Er war ein junger Mann, mit einer Statur, die ihn befähigte, aus jeder Schlägerei als Sieger hervorzugehen, und in letzter Zeit hatte es eine Menge davon gegeben. Sein grob geschnittener Vierkantschädel entsprach in vielerlei Hinsicht seinem muskelbepackten Körper — im wahrsten Sinne des Weltes ein Mann mit Ecken und Kanten.
Ihm war klar, daß Waring glauben müßte, er spiele nur Theater, wenn er jetzt zeigen würde, wie sehr ihm dieser Unfall an die Nieren gegangen war, denn er hatte schon frühzeitig entdecken müssen, daß von Männern seiner Konstitution keine emotionalen Regungen erwartet wurden.
Kaum war Waring verschwunden, begab sich O’Mara in die Luftschleuse, um die modifizierte Spritzpistole zu holen, mit der Hudlarer außerhalb ihres Heimatplaneten gefüttert wurden. Während er das Gerät und die dazugehörigen Essensbehälter überprüfte, versuchte er, sich die Geschichte zurechtzulegen, die er dem Sektionsleiter Caxton bei dessen Eintreffen würde auftischen müssen. In Gedanken versunken starrte er durch die Sichtluke der Luftschleuse auf die Einzelteile des gigantischen Puzzles, die sich draußen auf über hundert Kubikkilometern des Raums verteilten. Er versuchte nachzudenken, aber seine Gedanken wichen immer wieder vom Unfall ab und wurden auf Ereignisse gelenkt, die sowohl in der fernen Vergangenheit als auch in der nahen Zukunft lagen.
Die gewaltige Konstruktion, die allmählich im galaktischen Sektor zwölf Gestalt annahm und auf halber Strecke zwischen der Milchstraße und den dichtbevölkerten Sternsystemen der Großen Magellanschen Wolke lag, sollte ein Hospital werden — ein Hospital, wie es die Galaxis noch nicht gesehen hatte. Hunderte verschiedener Umweltbedingungen sollten hier genau simuliert werden können, was die Reproduktion von jedem erforderlichen Extrem an Hitze, Kälte, Druck, Schwerkraft, Strahlung oder Atmosphäre einschloß, das für den Patienten oder dessen Pflegepersonal erforderlich sein würde. Solch eine gewaltige und komplexe Konstruktion überstieg bei weitem die Mittel eines einzelnen Planeten, und deshalb hatten Hunderte von Welten jeweils einzelne Sektionen vorgefertigt und zum Montageplatz transportiert.
Aber dieses Puzzle zusammenzusetzen, war alles andere als leicht.
Zwar besaß jede der betreffenden Welten einen detaillierten Gesamtplan, aber trotzdem traten immer wieder Irrtümer auf — wahrscheinlich, weil die Pläne in so viele verschiedene Sprachen und Maßsysteme übersetzt werden mußten. Sektionen, die glatt zusammenpassen hätten sollen, mußten häufig modifiziert werden, damit sie miteinander richtig verbunden werden konnten. Dies wiederum machte es erforderlich, daß die Sektionen mehrere Male mit massierten Traktor— und Pressorstrahlen zusammengeschoben und wieder getrennt werden mußten. Für die Traktor— und Pressorstrahlentechniker war dies eine äußerst heikle Angelegenheit, denn obwohl das Gewicht der Bauteile im Raum gleich Null war, so waren deren Masse und Trägheit doch gewaltig.
Und hatte irgend jemand das Pech, während eines solchen Ankopplungsvorgangs zwischen die Verbindungsstücke zweier Sektionen zu geraten, so wurde er — völlig unabhängig von der Widerstandsfähigkeit seiner Spezies — zur fast perfekten Verkörperung einer zweidimensionalen Gestalt.
Die Wesen, die umgekommen waren, gehörten einer äußerst widerstandsfähigen Spezies an, genau gesagt, wurden sie physiologisch als FROB eingestuft. Erwachsene Hudlarer wogen ungefähr zwei Erdtonnen, hatten eine unglaublich harte, aber flexible Körperdecke, die sie einerseits vor dem Druck auf ihrem Heimatplaneten schützte und ihnen andererseits gestattete, in jeder beliebigen Atmosphäre mit geringerem Luftdruck bis hinab zum luftleeren Raum des Alls fast uneingeschränkt arbeiten zu können. Zudem besaßen sie eine der höchsten Strahlungstoleranzen, wodurch sie insbesondere bei der Montage von Kernreaktoren von unschätzbarem Wert waren.
Der Verlust zweier so wertvoller Kräfte seiner Sektion hätte Caxton ganz unabhängig von anderen Erwägungen sowieso in Rage gebracht. O’Mara seufzte schwer; er hatte das Gefühl, seine innere Anspannung bedurfte dringend positiver Befreiung, und fluchte schließlich laut vor sich hin. Dann nahm er den Fütterungsapparat und begab sich in die Schlafkabine zurück.
Normalerweise nahmen Hudlarer die Nahrung aus der dichten, waschküchenartigen Atmosphäre ihres Planeten direkt durch die Haut auf, aber auf einer anderen Welt oder im All mußte auf die Flüssigkeit absorbierende Körperdecke in bestimmten Zeitabständen ein konzentriertes Nahrungspräparat gespritzt werden. Auf der Haut des jungen Extraterrestriers waren große freie Flecken zu sehen, und an einigen Stellen war die alte Nahrungsschicht bereits hauchdünn geworden. O’Mara schloß daraus, daß das junge Geschöpf dringend gefüttert werden mußte, und begann es zu besprühen, wobei er den geringstmöglichen Sicherheitsabstand einhielt.
Die Methode, so mit Nahrung besprüht zu werden, schien für den jungen FROB angenehm zu sein. Er hörte auf, in der Ecke zu kauern, und begann aufgeregt in der kleinen Schlafkabine hin und her zu tappen. Für O’Mara ging es jetzt darum, ein sich rasch bewegendes Objekt zu treffen, während er gleichzeitig gewaltige Ausweichmanöver vornehmen mußte. Sein verletztes Bein schmerzte dadurch mehr als je zuvor, und selbst das Mobiliar wurde in Mitleidenschaft gezogen.
Als Caxton eintraf, war nicht nur der junge, mittlerweile wieder friedfertige Alien mit dem klebrigen, scharf riechenden Nahrungspräparat überzogen, sondern auch praktisch sämtliche Oberflächen der Kabine. „Was geht hier eigentlich vor?“ fragte der Sektionsleiter empört.
Weltraumkonstrukteure waren im allgemeinen unkomplizierte Charaktere mit relativ schlichtem Gemüt, deren Reaktionen leicht vorherzusagen waren. Caxton war einer von denen, die andauernd fragten: „Was geht hier eigentlich vor?“ — auch wenn er, wie jetzt, genau wußte, was vorging — am liebsten aber dann, wenn solche sinnlosen Fragen allein dazu dienen konnten, jemand anderen zu piesacken. Unter normalen Umständen mochte der Sektionsleiter durchaus ein ganz sympathischer Mensch sein, wie O’Mara meinte, aber bis zum heutigen Tag hatte sich zwischen ihm und Caxton noch kein normales Verhältnis entwickeln können.
Ohne seine Wut zu zeigen, beantwortete O’Mara die Frage und fügte hinzu: „Nach dem, was hier passiert ist, werde ich den Kleinen lieber im All aufbewahren und ihn dort auch füttern.“
„Das werden Sie nicht tun!“ fauchte Caxton ihn an. „Sie werden ihn hierbehalten, und zwar die ganze Zeit. Aber darüber reden wir später. Jetzt will ich erst einmal wissen, wie es denn Ihrer Ansicht nach zu diesem Unfall kommen konnte.“
Caxtons Gesichtsausdruck verriet, daß er O’Mara zwar zuhören wollte, aber bereits im voraus jedes Wort anzweifelte, das dieser von sich geben würde.
„Ehe Sie weitererzählen“, unterbrach ihn Caxton, nachdem O’Mara gerade zwei Sätze beendet hatte, „will ich Sie daran erinnern, daß das gesamte Projekt in den Zuständigkeitsbereich des Monitorkorps fällt. Gewöhnlich läßt uns das Korps auftretende Schwierigkeiten nach unserer eigenen Fasson regeln, aber in diesem Fall geht es um Extraterrestrier, und deshalb wird das Korps mit eingeschaltet werden wollen. Also wird es eine Untersuchung geben.“ Er klopfte auf das kleine flache Kästchen, das vor seiner Brust hing und schloß: „Fairerweise will ich Sie darauf hinweisen, daß ich alles, was Sie sagen, aufnehmen werde.“
O’Mara nickte und mit leiser, ausdrucksloser Stimme trug er seine Darstellung des Unfalls vor. Wie er wußte, war es eine sehr schwache Geschichte, die noch konstruierter klang, sobald er irgendwelche Nebenhandlungen hervorhob, die zu seinen Gunsten sprachen.
Etliche Male setzte Caxton zum Sprechen an, besann sich aber eines Besseren. Schließlich sagte er: „Ist denn irgend jemand Augenzeuge Ihrer Aktionen gewesen? Oder hat jemand beobachtet, wie sich die beiden ETs in die Gefahrenzone begeben haben, während die Warnleuchten blinkten? Sie haben sich da eine hübsche, kleine Geschichte zurechtgelegt, um dieses wahnwitzige Verhalten der Hudlarer zu erklären — was Sie ganz nebenbei zu einem Helden macht —, aber genausogut könnte es sein, daß Sie die Lampen erst nach dem Unfall eingeschaltet haben. In dem Fall wäre also Ihre Fahrlässigkeit in bezug auf die Warnleuchten die Unfallursache gewesen und die ganze Geschichte von dem herumstrolchenden Alienbaby nichts als eine Lüge, um sich den schwerwiegenden Anschuldigungen zu entziehen und.“
„Waring hat mich gesehen“, unterbrach ihn O’Mara gelassen.
Caxton starrte ihn durchdringend an, und sein anfangs von unterdrücktem Zorn geprägter Gesichtsausdruck erriet nun Ekel und unverhohlene Verachtung. O’Mara spürte, wie er unwillkürlich rot anlief „Ach, Waring also, ja?“ hakte der Sektionsleiter mit ausdrucksloser Stimme nach. „Wirklich, ein toller Einfall! Sie wissen genauso wie wir alle, daß Sie Waring andauernd schikaniert und gepiesackt haben, und so, wie Sie sich permanent über seine Unfähigkeit ausgelassen haben, muß er Sie einfach wie Gift verabscheuen. Selbst wenn er Sie gesehen haben sollte, müßte das Gericht davon ausgehen, daß er es nicht zugeben würde. Wenn er Sie aber nicht gesehen hat, würde man trotzdem annehmen, daß er Sie sehr wohl gesehen hat, dies aber für sich behält. Sie kotzen mich an, O’Mara!“
Caxton drehte sich rasch um und stapfte auf die Luftschleuse zu. Als er bereits mit einem Fuß die Einstiegsluke betreten hatte, wandte er sich noch einmal um.
„Sie sind nichts weiter als ein notorischer Querulant, O’Mara“, sagte er wütend. „Ein griesgrämiger, streitsüchtiger Haufen aus Knochen und Fleisch mit gerade ausreichend Verstand, sich möglichst unentbehrlich zu machen. Wahrscheinlich glauben Sie sogar, Sie haben es Ihrer technischen Begabung zu verdanken, dieses Quartier für sich allein zugeteilt bekommen zu haben. Das ist aber nicht der Fall — Sie sind zwar gut, aber so gut auch wieder nicht! Die Wahrheit ist, daß niemand aus meinem Abschnitt mit Ihnen gemeinsam untergebracht werden möchte.“
Der Sektionsleiter fuhr mit der Hand zum Schalter des Aufnahmegeräts, und seine abschließenden Worte klangen wie eine ernsthafte Drohung.
„…und sollten Sie diesem Kleinen hier irgendwelchen Schaden zufügen, O’Mara, oder sollte ihm überhaupt irgend etwas zustoßen, dann sorge ich dafür, daß das Monitorkorps nicht einmal mehr die Möglichkeit haben wird, Sie vor Gericht zu stellen!“
Als O’Mara vor sechs Monaten bei diesem Projekt angefangen hatte, erkannte er schnell, daß er wieder einmal zur Verrichtung einer Arbeit verdammt worden war, die zwar an sich wichtig war, ihn aber in keiner Weise befriedigte und weit unter seinen Fähigkeiten lag. Nach seinem Studium hatte er eine Aneinanderreihung solcher Enttäuschungen erleben müssen: Sämtliche Personalchefs wollten einfach nicht glauben, wie ein junger Mann mit einem solch häßlichen Quadratschädel und derart breiten Schultern, daß sein Kopf im Verhältnis dazu lächerlich klein wirkte, an so verzwickten Studienfächern wie Psychologie und Elektronik Gefallen gefunden haben konnte. Schließlich war er in den Weltraum gegangen, weil er hoffte, dort würde alles anders sein, um sich letztendlich doch eines Besseren belehren lassen zu müssen. Trotz seines steten Bemühens, während der Einstellungsgespräche durch sein beträchtliches Wissen Eindruck zu schinden, waren die Leute von seiner Muskelkraft zu sehr beeindruckt, um ihm wirklich zuzuhören. Deshalb waren seine Bewerbungen stets mit dem Stempel „Tauglich für langwierige, schwere körperliche Arbeit“ versehen worden.
Als er bei diesem Projekt angefangen hatte, wollte er aus dem, was wieder einmal ein langweiliger und frustrierender Job zu werden versprach, das Beste machen — und entschied sich dafür, sich einfach unbeliebt zu machen. Die Folge war, daß sein Leben seither alles andere als langweilig verlaufen war. Aber in diesem Augenblick wünschte er sich inständig, er hätte mit seinen Unausstehlichkeitsbemühungen weniger Erfolg gehabt.
Was er jetzt am meisten brauchte, waren Freunde, aber er hatte nicht einmal einen einzigen.
Durch den Geruch des scharfen, alles durchdringenden hudlarischen Nahrungspräparats wurden seine Gedanken wieder von der trostlosen Vergangenheit auf die noch weniger erquickliche Gegenwart gelenkt. Etwas mußte unternommen werden, und zwar sofort. Er stieg rasch in den hauchdünnen Raumanzug und ging durch die Schleuse.