ERSTES Kapitel

Wenn sie bedachte, wie schwerfällig und plump das zweispännige Gefährt ausgesehen hatte, dann legte es ein ganz erstaunliches Tempo vor. Die heruntergekommenen Fassaden der Häuser und die kaum weniger abgerissenen Passanten jagten nur so vorüber, und wenn sie um eine Ecke bogen oder die Straße abknickte, was nur zu oft und manchmal in jähem Winkel der Fall war, schaukelte die ganze Droschke so wild, dass sie nicht weiter erstaunt gewesen wäre, wäre sie einfach umgekippt. Der Fahrer musste es ziemlich eilig haben, sein Ziel zu erreichen. Oder von hier wegzukommen.

Sie hätte eine Menge tun können, um diese sonderbare und auch ein bisschen beunruhigende Situation zu ändern, aber sie beließ es dabei, sich auf der harten Bank zurückzulehnen und abzuwarten. Es gab die eine oder andere wenig erfreuliche Erklärung für das seltsame Verhalten des Kutschers, und Bast erwog und verwarf sie eine nach der anderen. Sie traute Maistowe eine Menge Bosheiten zu, allerdings nicht, sie in einen Hinterhalt locken zu lassen; schon weil es einfach dumm gewesen wäre. Hätte er tatsächlich vorgehabt, ihr etwas anzutun, hätte er während der langen Überfahrt mehr als genug Gelegenheit dazu gehabt; und mit deutlich geringerem Risiko.

Nun, und sollte er wirklich eine böse Überraschung für sie vorbereitet haben ... Bast lächelte flüchtig. Jemand würde eine Überraschung erleben. Aber nicht sie.

Bast zog auch den Vorhang auf der anderen Seite des Wagens auf und vertrieb sich die Zeit damit, die vorbeihuschende Stadt zu betrachten. Sie war nicht zum ersten Mal in London, aber es war lange her, und die Stadt hatte sich verändert, und das nicht unbedingt zu ihrem Vorteil. Sie befanden sich noch immer im Hafengebiet, auch wenn der Kutscher sein Gefährt mit solchem Tempo über die schlecht gepflasterten Straßen jagte, als wäre der Teufel persönlich hinter ihm her, und die Hafenviertel gehörten in keiner Stadt der Welt zu den vornehmeren Gegenden, sondern lockten traditionell nicht nur Abenteurer und Händler an, sondern auch allerlei zwielichtiges Gesindel und die, die vielleicht nicht von Natur aus schlecht, aber ganz unten angekommen waren und nichts mehr zu verlieren hatten. Es war hier nicht anders, und sie hatte auch nichts anderes erwartet.

Dennoch: Die finsteren Gassen, durch die der Zweispänner so schnell jagte, dass Bast mehr als einmal Zeugin wurde, wie sich ein Passant nur noch mit einem beherzten Sprung in Sicherheit bringen konnte, und ihnen ein ganzer Chor von Flüchen und wüsten Beschimpfungen folgte wie eine akustische Kielspur, waren deutlich schmutziger und verfallener, als sie sie in Erinnerung hatte, und dasselbe galt auch für die meisten Menschen, die sie sah. Eine Stimmung von Gereiztheit und Misstrauen schien in der Luft zu hängen, und Bast konnte die allgemeine Gewaltbereitschaft nahezu mit Händen greifen. Es war, als wäre dieser Teil der Stadt ... aufgegeben worden, dachte sie verwundert. Nicht nur äußerlich, sodass die Häuser nicht mehr gepflegt und dringende Reparaturen nicht mehr ausgeführt worden waren, sondern auch innerlich und von seinen Bewohnern. Zwei- oder dreimal fuhren sie - obwohl heller Tag herrschte - durch eine plötzlich auftauchende Nebelbank, ohne dass der Kutscher sein halsbrecherisches Tempo auch nur um einen Deut verlangsamte.

Bast musste über ihre eigenen Gedanken lächeln, doch hätte sie in diesem Moment ihr eigenes Gesicht sehen können, so wäre ihr vermutlich selbst aufgefallen, dass dieses Lächeln nicht echt wirkte. Etwas blieb, ein Schatten jenes grundlosen Zweifels, den sie die ganze Zeit über verspürt hatte, und der irgendwo am Rande ihres Bewusstseins nagte, fast unbemerkt, und doch stark genug, dass er sich nicht ignorieren ließ - wie ein winziger Dorn oder der Stachel einer Kaktee, den man sich eingerissen hatte und der dicht unter der Haut abgebrochen war.

Aber vielleicht war es ja auch andersherum, überlegte sie. Vielleicht kam ihr hier nur alles so schäbig und angstvoll geduckt vor, weil sie mit diesem verstörenden Gefühl an Land gegangen war.

Irgendwie gelang es ihr, diesen Gedanken abzuschütteln und sich wieder auf die Fahrt zu konzentrieren, die im Übrigen bald schon nicht mehr ganz so deprimierend verlief wie am Anfang. Es wurde heller, je weiter sie sich vom Hafen entfernten, fast als wäre das Tageslicht tatsächlich vor den heruntergekommenen Gassen und ihren Bewohnern zurückgeschreckt. Sie fuhren noch immer nicht an Gebäuden vorbei, die sie mit der Hauptstadt des britischen Empire assoziiert hätte, aber bald säumten doch ansehnlichere Häuser die Straßen, welche nun auch breiter und sorgfältiger gepflastert waren. Die Menschen waren ordentlicher gekleidet und nicht mehr so aggressiv und misstrauisch ... und es war ganz eindeutig nicht der Weg in die City.

Bast überlegte einen Moment, ob ihr Fahrer seinem vermeintlich fremden und ortsunkundigen Gast vielleicht eine ungewünschte Stadtrundfahrt bieten und sich damit ein höheres Entgelt ergaunern wollte, konnte sich das aber eigentlich nicht so recht vorstellen; zumal sie ja noch nicht einmal wusste, wohin sie überhaupt fuhren.

Sie klopfte energisch mit den Fingerknöcheln gegen das schmale Fenster, hinter dem sie Schultern und Hinterkopf des Mannes erkennen konnte, und bekam eine Antwort, noch bevor sie die entsprechende Frage überhaupt stellen konnte.

»Wir sind gleich da, Miss«, sagte er, ohne sich zu ihr herumzudrehen. »Noch ein paar Minuten Geduld, bitte.«

Da?, dachte Bast. Wo, da? Sie sparte es sich, die Frage laut auszusprechen, sah aber nun sehr viel aufmerksamer aus dem Fenster und korrigierte ihre Einschätzung dieser Gegend ein wenig nach unten. Eine halbwegs saubere, noch nicht ganz gutbürgerliche Straße, nicht mehr ausschließlich ein Arbeiterviertel, aber auch ganz gewiss keine bessere Gegend. Wo, zum Teufel, fuhr der Kerl hin?

Sie bekam die Antwort auf ihre Frage nach kaum mehr als einer weiteren Minute. Sie bogen noch einmal ab, und die Hufe der beiden Pferde klapperten plötzlich auf gröberem und weniger sorgsam verlegtem Pflaster, bevor der Wagen endgültig zum Stehen kam und der Fahrer mit unerwarteter Behändigkeit vom Bock kletterte, um den Gentleman zu spielen und ihr den Wagenschlag aufzureißen.

Bast tat ihm den Gefallen, sich zu gedulden und erst auszusteigen, nachdem er es getan hatte, und sie griff sogar nach seinem galant ausgestreckten Arm. Sie berührten sich für kaum einen Atemzug, aber lange genug, um Basts ohnehin nur schwaches Misstrauen endgültig zu zerstreuen. Der Mann musste an die sechzig sein, hatte ein gutmütiges Gesicht, das allenfalls vom lebenslangen Genuss von zu viel Branntwein gezeichnet war, und kaum noch Haare, dafür aber umso gewaltigere Koteletten, und sie las nicht die geringste Spur von Falschheit oder Heimtücke in ihm. Er hatte nur getan, was man ihm aufgetragen hatte, und seine an Panik grenzende Hast, das Hafenviertel zu verlassen, resultierte aus der simplen Tatsache, dass er dort schon einmal überfallen worden war und sich demzufolge nicht besonders wohl in dieser Umgebung fühlte.

»Vielen Dank, Arthur«, sagte Bast und weidete sich einen halben Atemzug lang an seiner Verblüffung, sie seinen Namen aussprechen zu hören, den er weder ihr noch irgendeinem der Matrosen genannt hatte. »Und wo sind wir hier?«

»Ähm ... nun ja ... hier«, antwortete er verdattert und machte zugleich eine Handbewegung auf das Gebäude, vor dem sie angehalten hatten: ein hübsches, einigermaßen gepflegtes zweieinhalbgeschossiges Haus hinter einem geschmiedeten Zaun mit goldbronzierten Spitzen. Neben der Tür hing ein kleines, sorgsam poliertes Messingschildchen.

»Pension Westminster?«, las sie stirnrunzelnd vor. Der bedauernswerte Arthur riss die Augen noch weiter auf. Das Schild war kaum so groß wie zwei nebeneinandergelegte Hände und die Schrift entsprechend winzig. Selbst als er noch jung und seine Augen schärfer gewesen waren, hätte er vermutlich Mühe gehabt, zu erkennen, dass dort überhaupt etwas stand, geschweige denn es lesen können.

»Äh ... ja, Miss«, murmelte er verwirrt. »Stimmt was nicht? Ich meine, das ist die Adresse, die mir die Männer genannt haben.«

»Die Matrosen?«, vergewisserte sich Bast.

»Ja. Es ist auch schon alles bezahlt. Soll ich ... ich meine: Ich bringe Ihr Gepäck hinein, wenn das in Ordnung ist.«

Bast ließ ihren Blick ein zweites Mal und aufmerksamer über die Fassade des georgianischen Gebäudes streifen. Einen Moment lang war sie unschlüssig. Sie hatte nicht vorgehabt, im Regency oder Palace Hotel abzusteigen, aber ganz gewiss auch nicht in einem Etablissement, das sich Pension Westminster nannte ... aber auf der anderen Seite machte das Haus einen zwar einfachen, aber gepflegten und sauberen Eindruck, und sie war mit einem Male nahezu sicher, dass ein gewisser Kapitän in nicht allzu ferner Zukunft hier auftauchen und sehr überrascht sein würde, sie ganz zufällig hier anzutreffen. Vielleicht war es an der Zeit, ein klärendes Gespräch mit Kapitän Maistowe zu führen ...

»Das wäre sehr freundlich«, sagte sie. »Ich gehe schon einmal hinein und sehe, ob es jemanden gibt, der Ihnen hilft. Sie sollten mit ihrem Rücken nicht so schwer tragen.«

Arthurs Unterkiefer klappte herunter, während er sie nunmehr vollkommen fassungslos anstarrte, und Bast ging weiter, ignorierte die Türglocke und trat ein, ohne ihr Kommen in irgendeiner Form angekündigt zu haben.

Der Raum, den sie betrat, war unerwartet groß und mit einer Anzahl kleiner runder Tische und dazu passender Stühle eingerichtet. Außerdem gab es einen kleinen Kamin mit einer Couch und zwei wuchtige Ohrensessel vor einem leer geräumten Schachtisch und eine mannshohe Standuhr, aber keine Rezeption; nicht einmal so etwas wie einen Schreibtisch. In einem Winkel welkte ein Blumenstrauß in einer kristallenen Vase unter einem hölzernen Kruzifix - ein Symbol, das Bast immer als etwas befremdlich für eine Religion empfunden hatte, welche die Liebe zum Nächsten predigte. Es war nicht sehr hell, obwohl draußen noch Tag herrschte, denn vor den Fenstern hingen schwere dunkelblaue Vorhänge aus falschem Samt, die bis auf einen schmalen Spalt zugezogen waren. Und es war sehr still. Wenn das hier wirklich eine Pension war, dann hatte sie im Augenblick anscheinend nicht sehr viele Gäste.

»Ja, bitte?«

Bast fuhr leicht erschrocken zusammen. Sie hatte weder gehört, dass sich hinter ihr eine schmale Tür geöffnet hatte, noch die Schritte der kleinwüchsigen, schwarz gekleideten älteren Frau, die nun darunter erschienen war. Natürlich ließ sie sich ihre Überraschung nicht anmerken, mahnte sich selbst aber in Gedanken zur Vorsicht. Anscheinend war sie in noch schlechterer Verfassung, als sie ohnehin angenommen hatte.

»Guten Tag«, sagte sie lächelnd. »Ich hätte gerne ein Zimmer - falls Sie noch etwas frei haben.«

»Ein Zimmer?« Die Frau schloss sorgfältig die Tür hinter sich, bevor sie mit gemessenen Schritten näher kam und Bast dabei ganz unverblümt musterte. Ebenso wenig Hehl machte sie aus ihrem Erstaunen, als ihr Blick in die Dunkelheit unter ihrer immer noch hochgeschlagenen Kapuze fiel, aber das überraschte Bast weder, noch nahm sie es ihrem Gegenüber irgendwie übel. Sie war solcherlei Reaktion gewöhnt und hatte sie erwartet, ganz besonders in diesem Teil der Welt.

»Das kommt ganz darauf an«, fuhr die Zimmerwirtin fort. »Wie lange möchten Sie bleiben, und welche Art von Zimmer schwebt Ihnen vor? Einen großen Service kann ich Ihnen nicht bieten, falls Sie das erwarten.« Sie lächelte beinahe entschuldigend. »Das hier ist eine Frühstückspension. Es gibt Bed and Breakfast, und sonst allenfalls eine Tasse Tee am Abend.«

»Das ist vollkommen in Ordnung«, antwortete Bast. »Ich bin nicht anspruchsvoll. Ein sauberes Zimmer und ein wenig Diskretion sind alles, was ich erwarte.«

»Diskretion?« Auf dem Gesicht der Pensionswirtin erschien ein Ausdruck von unübersehbarem Misstrauen, als hätte sie etwas Ungehöriges gesagt. Ihre Augen blickten plötzlich härter, und rings um ihren Mund erschien ein Netz winziger verkniffener Fältchen, die zuvor noch nicht da gewesen waren. Wie es aussah, dachte Bast, hatte sie genau den falschen Ton gewählt. Aber das war ein Fehler, der sich leicht korrigieren ließ.

Noch während sie in die Tasche griff, um den zusammengefalteten Zettel hervorzuziehen, den Maistowe ihr gegeben hatte, wurde die Tür aufgestoßen, und der Kutscher kam herein, unter der Last von gleich drei ihrer Koffer wankend. Die Zimmerwirtin runzelte die Stirn und setzte zu einer nun sichtlich verärgerten Bemerkung an, und Bast reichte ihr rasch den Zettel. »Ich bin auf Empfehlung hier«, sagte sie. »Kapitän Maistowe von der Lady of the Mist war der Meinung, dass ich hier eine angenehme Unterkunft finden würde.«

Die Besitzerin des Westminster wirkte keineswegs beruhigt, aber immerhin nahm sie den Zettel entgegen, faltete ihn auseinander und knibbelte heftig mit den Augen, während sie die winzige Schrift in der schwachen Beleuchtung zu entziffern versuchte. Dann hellten sich ihre Züge auf. »Tatsächlich, das ist Jacobs Handschrift«, sagte sie. »Auch wenn ich sie nur entziffern kann, weil ich ohnehin weiß, was er geschrieben hat.«

Sie gab ihr den Zettel zurück und wandte sich aus der gleichen Bewegung heraus an den Kutscher. »Bringen Sie das Gepäck der Lady auf Zimmer eins«, sagte sie. »Gleich oben das erste neben der Treppe.«

Arthur setzte sich schnaubend und unter dem Gewicht seiner Last mit deutlicher Schlagseite in Bewegung, und sie wandte sich wieder an Bast und streckte ihr die Hand entgegen. »Bitte verzeihen Sie, meine Liebe«, sagte sie, mit einem Male lächelnd und herzlich; scheinbar eine ganz andere Person. »Ich bin Gloria Walsh, die Besitzerin der Pension Westminster.«

»Bast«, sagte Bast, während sie Mrs Walshs Hand schüttelte.

»Einfach nur Bast?«

»Einfach nur Bast«, bestätigte Bast. »In meiner Heimat haben die meisten Menschen nur einen Namen - oder entsetzlich viele. Gottlob bin ich nicht so einmalig, dass man mir ein ganzes Dutzend Namen gegeben hat. Höchstens zwei, und der andere tut nichts zur Sache.«

Gloria sah sie einen Moment einfach nur verwirrt an, dann blinzelte sie erneut. »Bitte verzeihen Sie, Miss Bast«, sagte sie dann. »Hätte ich gleich gewusst, dass Kapitän Maistowe Sie schickt, dann wäre ich vielleicht nicht ganz so abweisend gewesen. Aber man muss vorsichtig sein, vor allem, wenn man als Frau ganz allein eine Pension leitet.«

»Das verstehe ich«, antwortete Bast. »Da, wo ich herkomme, ist es nicht anders.«

Mrs Walsh warf einen weiteren und noch viel unverhohlen neugierigeren Blick in Basts Gesicht hinauf, aber sie fragte nicht, wo dieses »wo ich herkomme« sein mochte. »Ja, das ist wahrscheinlich auf der ganzen Welt so«, seufzte sie. »Wissen Sie schon, wie lange Sie bleiben werden, meine Liebe?«

»Nur ein paar Tage, fürchte ich«, antwortete Bast. »Vielleicht eine Woche ... auf keinen Fall mehr als zwei.« Sie hatte nicht vor, so lange in diesem Land zu bleiben, aber die Dinge entwickelten sich oft anders, als man es erwartete. Bisher wusste sie nicht einmal, wo Isis wirklich war. Zwar standen ihr gewisse Möglichkeiten zur Verfügung, aber London war eine große Stadt.

»Nun, wie auch immer«, fuhr Mrs Walsh fort. »Bleiben Sie ruhig so lange, wie es Ihnen genehm ist. Sagen Sie nur einen Tag zuvor Bescheid, wenn Sie ausziehen wollen. Sie sind eine Freundin von Kapitän Maistowe?«

»Nicht ... direkt«, antwortete Bast zögernd. »Ich bin als Passagier auf seinem Schiff hierhergekommen. Als ich an Land gegangen bin, hat er mir Ihre Adresse gegeben.«

»Und während der gesamten Überfahrt hat er so gut wie kein Wort mit Ihnen gesprochen und Sie behandelt, als wären Sie Luft«, vermutete Mrs Walsh.

»Woher wissen Sie das?«

»Weil Jacob Maistowe ein Mann von Ehre ist«, antwortete Mrs Walsh in einem Tonfall, als rede sie über ein schrulliges Kind mit einigen noch schrulligeren Angewohnheiten. »Seiner Meinung nach sind Passagiere an Bord tabu, für seine Mannschaft, und für ihn erst recht.« Sie blinzelte ihr zu. »Und daher behandelt er sie umso schlechter, je sympathischer sie ihm eigentlich sind. Aus Angst, seinen Männern ein schlechtes Beispiel zu bieten oder vielleicht etwas zu sagen, was ihm hinterher peinlich sein könnte.«

»Das ... klingt ein bisschen sonderbar«, sagte Bast zögernd. Aber es passte zu dem, was sie erlebt hatte. So hatte sie die Sache noch gar nicht gesehen.

»Es klingt ein bisschen verrückt«, verbesserte Mrs Walsh sie. »Aber so ist er nun mal.« Sie blinzelte Bast noch einmal und nun geradezu verschwörerisch zu. »Wenn er Sie wirklich so schlecht behandelt hat, dann können Sie sich etwas darauf einbilden.«

Bast war nicht sicher, dass sie das wollte, doch in diesem Moment tauchte der Kutscher wieder auf und polterte so lautstark durch das Zimmer, als wäre er noch immer genauso schwer beladen wie auf dem Hinweg und ersparte ihr die Peinlichkeit, antworten zu müssen.

»Sobald Ihr Gepäck im Zimmer ist, richte ich alles her«, sagte Mrs Walsh. »Möchten Sie in der Zwischenzeit hier Platz nehmen? Ich kann Ihnen einen heißen Tee anbieten, wenn Sie es wünschen. Nach der anstrengenden Reise können Sie ihn sicher gebrauchen.«

Tatsächlich war die Aussicht auf einen heißen Tee überaus verlockend für Bast, aber sie schüttelte trotzdem den Kopf. »Machen Sie sich keine Mühe«, sagte sie. »Und das Zimmer können Sie auch später in aller Ruhe herrichten. Ich fürchte, mir bleibt im Moment gerade nur die Zeit, mich umzuziehen und ein wenig frisch zu machen, bevor ich weitermuss.«

»Sie sind in Eile?«, erkundigte sich Mrs Walsh.

»Nicht direkt in Eile«, antwortete Bast. »Ich bin gekommen, um eine Freundin zu besuchen, müssen Sie wissen. Wir haben uns schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen.«

»Eine Freundin«, sagte Mrs Walsh. »So, so. Haben Sie die Adresse ihrer Bekannten?«

»Nur eine Straße«, antwortete Bast. »Sie arbeitet dort ... wie man mir gesagt hat.« Sie zog den reich bestickten Lederbeutel auf, den sie anstelle einer Tasche bei sich trug, kramte eine Weile darin herum und gab ihr schließlich den Zettel, auf dem sie den Namen der Straße notiert hatte. Mrs Walsh nahm ihn entgegen und sah darauf. Sehr lange.

»Stimmt irgendetwas nicht?«, fragte Bast.

Mrs Walshs Blick ... veränderte sich. »Nein«, sagte sie hastig. »Und das ist wirklich die richtige Straße?«

»So hat man es mir gesagt«, antworte Bast. »Warum? Was ist damit?«

»Nichts«, sagte Mrs Walsh noch einmal, und nicht minder hastig. Sie lächelte noch immer, aber nun wirkte es nervös und irgendwie unangenehm berührt. Schließlich gab sie sich einen spürbaren Ruck. »Nein«, sagte sie. »Es tut mir leid. Ich kenne diese Adresse nicht. London ist groß.«

Bast hatte das Gefühl, dass das nicht die Wahrheit war, aber sie sagte nichts dazu, sondern nahm den Zettel zurück und geduldete sich schweigend, bis der Kutscher auch den Rest ihrer Gepäckstücke nach oben gebracht hatte. Er hatte ihr zwar gesagt, dass die Fahrt bereits im Voraus bezahlt war, aber sie gab ihm dennoch ein großzügiges Trinkgeld.

»Sind Sie heute Abend frei, Arthur?«, fragte sie.

»Ja.«

»Wunderbar«, antwortete Bast. »Dann holen Sie mich doch bitte in zwei Stunden hier wieder ab. Ich muss noch ein paar Dinge erledigen, und ich fürchte, ich kenne mich in dieser Stadt überhaupt nicht aus.«

»In zwei Stunden? Sehr gerne.« Arthur strahlte über das ganze faltige Gesicht und wäre in seiner Hast, rückwärts aus der Tür zu gehen, beinahe über seine eigenen Füße gestolpert.

Bast wartete, bis er die Tür hinter sich geschlossen hatte, erst dann drehte sie sich wieder zu Mrs Walsh um.

Die Pensionswirtin hatte sie die ganze Zeit über angestarrt. Ihr Gesichtsausdruck hatte sich jedoch abermals verändert. Etwas Nachdenkliches und Abschätzendes lag jetzt darin. Es erlosch sofort wieder und machte einem Lächeln Platz, als sie ihrem Blick begegnete.

»Also ... Sie möchten wirklich keinen Tee?«

»Liebend gern, später«, antwortete Bast. »Ich muss aus diesen Kleidern heraus und mich waschen. Ich habe sie die letzten Tage an Bord getragen und fühle mich, als würde ich stinken wie ein Fisch.«

»Das kann ich verstehen«, antwortete Mrs Walsh lächelnd. »Dann bringe ich Ihnen eine Schüssel mit heißem Wasser und saubere Tücher.«

»Das wäre wunderbar«, antwortete Bast, während sie sich bereits herumdrehte und die Treppe am anderen Ende des Zimmers ansteuerte. »Und ... hätten Sie vielleicht auch ein Rasiermesser, das Sie mir leihen könnten?«



Mrs Walsh hatte ihr nicht nur das versprochene heiße Wasser gebracht, sondern außerdem auch noch eine Kanne Tee und einen Teller mit Gebäck. Bast hatte eigentlich nur anstandshalber davon probieren wollen, aber beides erwies sich als so köstlich, dass sie sich geradezu mit Heißhunger darauf gestürzt und binnen weniger Augenblicke alles restlos verzehrt hatte. Erst danach hatte sie sich ihrer schmutzigen Kleider entledigt, die tatsächlich stanken, als hätte sie eine Woche lang auf einem Fischkutter gearbeitet, um sich gründlich und sehr ausgiebig zu waschen.

Danach war sie, nackt bis auf die Kette mit dem goldenen Skarabäus um ihren Hals, vor den Spiegel getreten. Der Spiegel war alt, stand nicht ganz gerade und war an einigen Stellen schon fleckig geworden, und doch zeigte er ihr nichts anderes als das Abbild einer Göttin.

Einer schwarzen Göttin. Nicht braun, nicht dunkel, sondern so schwarz wie die Nacht, die sich draußen allmählich über die Stadt zu senken begann.

Bast war größer als die meisten Männer, denen sie zeit ihres Lebens begegnet war, und von schlankem, athletischem Wuchs. Wie ihre Gesichtszüge ähnelte auch ihr Körperbau viel mehr dem eines Europäers als derjenigen Völker, die ihren Heimatkontinent bewohnten, und ihre Haut war selbst für eine Nubierin ungewöhnlich dunkel; sicherlich einer der Gründe, aus denen der Anblick ihres Gesichts allein ausreichte, um beinahe jeden Mann nervös zu machen, und obwohl es keine sehr junge Frau mehr war, die ihr aus dem Spiegel entgegenblickte, konnte sie doch stolz auf ihren Körper sein. Sie war sicherlich nicht die schönste Frau in dieser Stadt - nach gängigen Maßstäben -, aber allen anderen und jüngeren und möglicherweise sogar schöneren Frauen gegenüber, die je vor diesem Spiegel gestanden haben mochten, hatte sie einen gewaltigen Vorteil. Sie war eine Göttin. Sie stand eine geraume Weile einfach da und sah sich selbst und vor allem ihr langes, in unmöglich zu bändigenden feuerfarbenen Locken fallendes Haar, das ebenso auffallend und für eine Frau ihrer Herkunft ungewöhnlich war wie ihre Größe, und die eine oder andere Kleinigkeit, die sich auf den ersten Blick vielleicht nicht sofort offenbarte.

Lange Zeit stand sie einfach so da, dann trat sie wieder an das kleine Tischchen heran, auf dem die Porzellanschüssel mit heißem Wasser stand und nahm das Rasiermesser zur Hand, das die Pensionswirtin ihr gebracht hatte. Es besaß einen Griff aus altgelbem Elfenbein und war nicht mehr so scharf, wie es sein sollte, reichte für ihre Zwecke aber aus. Mit einem Gefühl tiefen Bedauerns - es würde Jahre dauern, bis es nachgewachsen war - schnitt sie ihr Haar zuerst kleinfingerkurz und rasierte sich anschließend den Schädel vollkommen kahl. Sorgsam hob sie die abgeschnittenen Haare bis auf das allerletzte auf und verstaute sie in ihrem Beutel, bevor sie einen ihrer Koffer öffnete und ein einfaches, lang fallendes Kleid und dazu passende Sandalen wählte. Das Kleid war hochgeschlossen, sodass sie die Kette mit ihrem wertvollen Anhänger darunter verbergen konnte, und die Sandalen waren für die Jahreszeit - vor allem in diesem Land - zwar viel zu dünn, für ihre Zwecke jedoch eindeutig besser geeignet als die hochhackigen Stiefel, die im Moment bei den Frauen hier in Mode waren.

Bevor sie das Zimmer verließ, verbarg sie ihren nunmehr kahlen Schädel unter einem kunstvoll gewickelten Turban von dunkelroter Farbe und nahm noch ihren Reservemantel aus dem Koffer, den sie sich allerdings nur lose über den linken Arm hängte. Ganz kurz überlegte sie, eine Waffe mitzunehmen, entschied sich aber dann dagegen. Sie wollte schließlich nicht in den Krieg ziehen, sondern nur nach Isis suchen.

Auch wenn ihr Mrs Walshs Reaktion auf die Adresse vielleicht Anlass zu der einen oder anderen Überlegung gegeben hatte.

Sie hatte noch Zeit, bis ihr Fahrer kam, verspürte aber wenig Lust, allein in ihrem Zimmer zu bleiben und ging wieder nach unten. Das Haus war noch immer so still wie bei ihrer Ankunft.

Sie war im Moment entweder tatsächlich der einzige Gast, oder die übrigen Pensionsgäste waren noch in ihren Angelegenheiten unterwegs und kamen später. Ihr sollte es recht sein.

Im Kamin prasselte ein behagliches Feuer, und sie hörte die Zimmerwirtin im hinteren Teil des Hauses hantieren, ging aber nicht sofort zu ihr, sondern suchte zuvor die Latrine auf, die sich in einem Holzverschlag im Innenhof der Pension befand. Sie musste nicht danach fragen - der Gestank wies ihr den Weg. Er war erbärmlich, und er wurde noch schlimmer, als sie die Tür öffnete und in den winzigen Verschlag trat.

Heftig schluckend, um die Übelkeit niederzukämpfen, die aus ihrem Magen emporsteigen wollte, warf sie ihr abgeschnittenes Haar in den kreisrunden Ausschnitt in der hölzernen Sitzfläche und fragte sich nicht zum ersten Mal, wieso sich die Abendländer eigentlich für die überlegene Kultur hielten oder jemals hatten halten können, wo sie doch offensichtlich nicht einmal wussten, dass eine Handvoll Kalk ausreichte, unangenehme Gerüche zu binden.

Als sie ins Haus zurückkehrte, prasselte das Feuer im Kamin höher, und Mrs Walsh hatte zwei winzige Tässchen und eine Kanne mit frisch aufgebrühtem Tee auf den Schachtisch gestellt und wartete offenbar bereits auf sie.

Bast sah flüchtig auf die große Standuhr. Sie hatte noch etwas Zeit, bis die bestellte Droschke kam, und nichts dagegen, noch ein wenig zu plaudern. Noch bevor Mrs Walsh ihr einladend zuwinken konnte, nahm sie von sich aus Platz und legte den Mantel neben sich auf den Boden.

»Ich hoffe, ich wirke nicht allzu aufdringlich«, sagte Mrs Walsh, während sie Tee in eine der zierlichen Tassen goss und sie dann über den Tisch hinweg in ihre Richtung schob. »Aber ich kam nicht umhin, die Zeit zu erfahren, zu der Sie den Wagen bestellt haben, und als ich gerade gehört habe, dass Sie die Treppe herunterkommen ...«

»Schon gut«, unterbrach Bast sie. »Ich bin völlig fremd in dieser Stadt und ganz froh, überhaupt mit jemandem reden zu können.«

»Sie sind das erste Mal in England?«, fragte Mrs Walsh. Bast nickte, und sie nippte an ihrem Tee und fuhr fort: »Dafür sprechen Sie unsere Sprache ganz ausgezeichnet, wenn ich das sagen darf.«

»Danke.« Bast lächelte über dieses Kompliment, von dem sie spürte, dass es ehrlich gemeint war. Aber natürlich verstand sie auch die Frage, die sich dahinter verbarg. »Es befinden sich genügend Mitglieder des britischen Empire in meiner Heimat«, sagte sie. »Außerdem ist ihre Sprache recht einfach zu lernen. Ganz im Gegensatz zu manchen Dialekten meiner Heimat.«

»Erzählen Sie das den Kindern in unseren Schulen!«, erwiderte Mrs Walsh amüsiert. »Ich bin sicher, sie teilen Ihre Meinung nicht unbedingt.« Sie nippte an ihrem Tee, während sie das sagte, aber Bast entging natürlich nicht, dass sie sie dabei über den Rand ihrer zierlichen Tasse weiter sehr aufmerksam musterte.

»Immerhin gibt es hier nur eine Sprache«, antwortete Bast, »nicht gleich ein ganzes Dutzend, wie in manchen Regionen meiner Heimat.«

Diesmal klang Mrs Walshs Lachen noch amüsierter. »Oh, was das angeht, befinden Sie sich im Irrtum, meine Liebe«, behauptete sie. »Gehen Sie nur ein paar Straßen weiter, und Sie können durchaus das Gefühl haben, auf einem anderen Kontinent zu sein. Das reinste babylonische Sprachgewirr.« Sie nahm einen weiteren winzigen Schluck aus ihrer Tasse, stellte sie behutsam auf den Tisch zurück und fragte dann, immer noch lächelnd, zugleich aber auch in beinahe besorgtem Ton: »Ich hoffe doch, Sie hatten keinen Ärger mit diesen ›Mitgliedern des britischen Empire‹, von denen Sie gerade gesprochen haben.«

»Nicht im Geringsten«, versicherte Bast. »Im Gegenteil. Wir sind Kaufleute. Schon in der ...«, sie tat so, als müsse sie einen Moment angestrengt überlegen und lachte dann leise, »... ich glaube, hundertsten Generation oder so. Meine Familie lebt vom Handel mit Gewürzen und anderen Dingen, so lange unsere Familiengeschichte zurückreicht. Ein gutes Verhältnis zu Fremden ist sozusagen unser Betriebskapital. Deshalb bin ich auch hier.«

»Ich dachte, um Ihre Freundin zu suchen?«, erkundigte sich Mrs Walsh in harmlos klingendem Ton, der alles war, nur nicht das. Ihr Blick tastete aufmerksam über Basts Gesicht, und für die Dauer eines Herzschlages erschien ein Ausdruck von Irritationen in ihren Augen, während er an dem kunstvoll gewickelten Turban hängen blieb. Vorhin, überlegte Bast, als sie hereingekommen war, hatte sie die Kapuze ihres Mantels so weit nach vorne getragen, dass von ihrem Gesicht darunter nicht allzu viel zu erkennen gewesen sein konnte. Aber vermutlich hatte sie dennoch einen Schimmer ihres auffälligen Haares gesehen und fragte sich nun, ob sie sich getäuscht und in Wahrheit vielleicht das rote Tuch wahrgenommen hatte - dessen Farbe Bast im Übrigen aus keinem anderen Grund gewählt hatte.

»Nun, das eine schließt das andere nicht aus, nicht wahr?«, gab sie zurück, schüttelte aber zugleich auch den Kopf und nippte wieder an ihrem Tee, um Zeit zu gewinnen. »Meine Schwester Isis - ich nenne sie so, obwohl sie nicht wirklich meine Schwester ist; unsere Verwandtschaftsverhältnisse sind ziemlich kompliziert - ist nicht nur eine gute Freundin, sondern arbeitet auch in unserem Geschäft. Meine Familie hat sie hierher geschickt, um sich um unsere Angelegenheiten in England zu kümmern.«

»Und seither haben Sie nichts mehr von ihr gehört«, vermutete Mrs Walsh.

»Wie kommen Sie darauf?«, erwiderte Bast, leicht überrascht. Das kam der Wahrheit ziemlich nahe.

»Ich schließe es aus der Tatsache, dass Sie hier sind, meine Liebe«, antwortete Mrs Walsh. »Es ist nicht gerade ein Sonntagsausflug von Afrika nach London, nicht wahr? Außerdem - wenn Sie mir meine Offenheit verzeihen - schwingt ein gewisser Unterton von Besorgnis in Ihrer Stimme mit, immer, wenn Sie über Ihre ... Schwester reden.«

Bast sagte nicht gleich etwas dazu, sondern sah Mrs Walsh etliche Sekunden lang abschätzend an. Für jeden anderen an ihrer Stelle wäre diese Antwort vielleicht genug gewesen, aber Bast hatte schon vor sehr langer Zeit lernen müssen, sich selbst und ihre Gefühle gut genug in der Gewalt zu haben, um niemandem einen Blick hinter die Maske zu gestatten.

Gleich darauf bewies Mrs Walsh jedoch, was für eine hervorragende Beobachterin sie war, denn sie lächelte ein kurzes, ein wenig verlegenes Lächeln, wie ein Kind, das man bei einer kleinen Verfehlung ertappt hat, das aber auch weiß, dass es nicht mit einer harten Bestrafung rechnen muss, und fuhr fort: »Nun ja, und die Adresse, die Sie mir gezeigt haben ...«

»Was ist damit?«, fragte Bast.

Mrs Walsh druckste einen Moment herum. »Sagen wir es so: Es ist vielleicht nicht die vornehmste Gegend. Zumindest keine, in der ich die Räumlichkeiten eines Gewürzhändlers erwarten würde.«

»Wir handeln nicht nur mit Gewürzen«, gab Bast zurück, vielleicht eine Winzigkeit schärfer, als sie es eigentlich gewollt hatte.

Mrs Walsh lächelte weiter, aber Bast spürte trotzdem, dass sie bereits bedauerte, sich überhaupt so weit vorgewagt zu haben. »Schließlich geht es mich auch nichts an«, sagte sie. Bast sah, wie sie innerlich mit sich kämpfte, zu einem Entschluss kam und ihr dann so fest es in die Augen blickte, wie sie es nur konnte. »Darf ich Ihnen trotzdem einen Rat geben, mein Kind?«

»Sicher«, antwortete Bast.

»Wie gesagt, es geht mich nichts an, und Sie müssen auch nicht auf mich hören, aber wenn Sie es trotzdem wollen, dann nehmen Sie den guten Rat einer alten Frau an und fangen erst morgen mit der Suche nach Ihrer Freundin an.«

»Warum?«

»Weil diese Straße in einem Viertel liegt, in dem sich eine anständige Frau nicht nach Dunkelwerden zeigen sollte«, antwortete Mrs Walsh. Wie bei ihrer Begrüßung trat bei dem Wort »anständig« ein verkniffener Zug in ihr Gesicht, und die Falten um ihre Mundwinkel wirkten härter.

Bast erschrak innerlich, wenn auch aus einem anderen Grund, als Mrs Walsh dies annehmen mochte. Konnte es sein, dass Isis ...?

Nein, das war unmöglich.

»Wer sagt Ihnen denn, dass ich eine anständige Frau bin?«, fragte sie lächelnd.

»Meine Augen, mein Kind«, sagte Mrs Walsh mit einem neuerlichen, diesmal sehr gutmütigen Lächeln. »Und die Erfahrung eines langen Lebens.« Sie hob abwehrend die Hand, als Bast etwas sagen wollte. »Aber Sie sind nun einmal auch eine Frau von einem ... exotischen Äußeren, und das könnte nur zu leicht dazu führen, dass gewisse Männer ...« Jetzt spiegelte sich deutliche Verlegenheit auf ihrem Gesicht. Sie wusste ganz offensichtlich nicht, wie sie fortfahren sollte, ohne dabei Worte zu benutzen, die sich für eine anständige Frau nicht geziemten.

»... falsche Rückschlüsse ziehen?«, half Bast lächelnd aus.

»Ja«, sagte Mrs Walsh ernst. »Zumindest in dieser Gegend, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Bast verstand nur zu gut. Und sie erschrak erneut und noch mehr. Isis war schon immer die Klügere und Überlegenere von ihnen beiden gewesen, zugleich aber auch die, die sich in gewissen Situationen nicht so gut in der Gewalt hatte, wie es manchmal angezeigt gewesen wäre. Sie zerbrach sich den Kopf über eine entsprechende Antwort, die sowohl Mrs Walsh als auch sie selbst beruhigt hätte, doch ihre Wirtin nahm ihr die Mühe ab, indem sie eine angedeutete, aber eindeutig wegwerfende Handbewegung machte, mit der sie das Thema offensichtlich für abgeschlossen erklärte.

»Verzeihen Sie einer neugierigen alten Frau, wenn sie eine Frage stellt?«, fragte sie.

»Ich weiß nicht, wen Sie mit ›alt‹ meinen«, antwortete Bast lächelnd, »aber bitte.«

Mrs Walsh überging die Bemerkung. »Woher kommen Sie, meine Liebe? Ich meine: Jacob hat zuletzt Kairo angelaufen, wenn ich richtig informiert bin, aber Sie sehen nicht aus wie eine ...«

»... Ägypterin?« Bast lächelte unerschütterlich weiter. »Weil ich schwarz bin.« Bast lachte, aber Mrs Walsh nickte nur und schüttelte gleich darauf den Kopf.

»Ja. Nein ... ich meine: Ja, Sie ... sind schwarz, aber Sie sehen irgendwie nicht so aus wie ...« Sie brach ab - nun doch sichtlich verlegen - und wusste für den Moment nicht mehr, wohin mit ihrem Blick.

»... wie eine Negerin?«, half Bast aus. »Breite Nüstern, dicke Lippen und einen goldenen Ring durch die Nase?« Sie schüttelte mit einem leisen Lachen den Kopf. »Stimmt. Ich bin Nubierin.«

»Aha«, sagte Mrs Walsh. Es klang genau wie »nie gehört«.

»Unsere Vorfahren haben nilaufwärts gelebt, aber das ist schon lange her. Zur Zeit der Pharaonen. Seither gehören wir offiziell zu den Ägyptern.«

»Aha«, sagte Mrs Walsh noch einmal.

»Jedenfalls haben Sie recht«, fuhr Bast fort. »Nubier sehen nicht aus wie Schwarzafrikaner, sondern eher wie Europäer. Nur dass sie schwarz sind. Was sie übrigens auch von den meisten zentralafrikanischen Völkern unterscheidet.«

»Wieso?«

»Sehen Sie mich an, und Sie wissen die Antwort«, sagte sie. »Die meisten Schwarzen sind nicht schwarz, sondern dunkelbraun.«

»Sie sind schwarz«, beharrte Mrs Walsh. Inzwischen war nicht mehr zu übersehen, wie unangenehm ihr das Thema geworden war. Wahrscheinlich bedauerte sie längst, es überhaupt angesprochen zu haben.

»Ich bin ja auch eine Nubierin«, antwortete Bast lächelnd. Sie nippte an ihrem Tee. Er war brühheiß und schmeckte köstlich. Mrs Walsh hatte irgendein Gewürz hineingegeben, das sie nicht genau erkannte, dem Getränk aber einen ganz wunderbaren Beigeschmack verlieh. »Ich kenne mich in dieser Hinsicht nicht so aus, wie ich es vielleicht sollte, muss ich gestehen. Aber es ist so, dass mein Volk zwar schwarze Haut, aber eindeutig europäische Wurzeln zu haben scheint. Sie sind nicht die Erste, die mit ... sagen wir, Verwunderung darauf reagiert.«

Mrs Walsh nickte ein bisschen nervös und suchte sichtlich nach irgendetwas, womit sie unverfänglich auf ein anderes Thema überleiten konnte. In diesem Moment erklang hinter ihr das leise Tappen weicher Pfoten, gefolgt von einem fast kläglichen Maunzen. Mrs Walsh runzelte die Stirn und beugte sich in ihrem Sessel zur Seite, um an ihr vorbeisehen zu können, und Bast drehte sich halb herum und blickte in die entsprechende Richtung, obwohl es nicht nötig gewesen wäre.

Mrs Walsh hatte die Tür zur Küche nicht ganz geschlossen, als sie hereingekommen war, und eine schlanke, pechschwarze Katze war durch den schmalen Spalt hereingeschlüpft und auf halber Strecke zum Kamin stehen geblieben. Es war ein sehr schönes Tier, klein, aber von kräftigem Wuchs und mit einem prachtvollen, dichten Fell, dessen matter Glanz seine Gesundheit und Kraft verriet. Seine bernsteingelben Augen blickten sehr aufmerksam in Basts Richtung. Es maunzte noch einmal in vollkommen anderer Tonlage, bevor es mit wiegenden Schritten und steil erhobenem Schwanz langsam näher kam.

»Cleopatra, was tust du hier?«, wunderte sich Mrs Walsh. »Du weißt doch, dass du im Salon nichts zu suchen hast.«

»Cleopatra?«, wiederholte Bast.

»Ich fand den Namen passend, als ich sie damals aufgenommen habe«, antwortete Mrs Walsh. »Das heißt: Eigentlich habe ich sie gar nicht aufgenommen. Sie ist eine kleine Streunerin, wissen Sie? Eines Tages stand sie einfach vor der Tür und hat so laut gemaunzt, bis ich sie hereingelassen habe, und seither scheint sie einen Narren an mir gefressen zu haben.« Sie lächelte flüchtig. »Oder vielleicht auch nur an meinen Küchenabfällen.«

»Ich verstehe«, sagte Bast. »Sie glauben, Kleopatra wäre eine Streunerin gewesen?« Gleichzeitig beugte sie sich leicht in ihrem Sessel vor und streckte die Hand aus. Die schwarze Katze hielt für einen Moment inne, sah sie wieder auf diese sonderbare Art aus ihren großen, leuchtend gelben Augen an und kam dann mit gesenktem Kopf und laut schnurrend näher. Ein Ausdruck von Erstaunen erschien auf Mrs Walshs Gesicht.

»Nein«, sagte sie, ohne die näher kommende Katze dabei aus den Augen zu lassen. Sie wirkte ehrlich verblüfft. »Aber heißt es nicht, dass Katzen im alten Ägypten heilige Tiere gewesen sind?«

»Das ist wahr«, antwortete Bast, während sie leicht die Finger rieb, um das Tier weiter anzulocken. Aber Kleopatra hat Katzen gehasst. Sie hatte schon Erstickungsanfälle bekommen, wenn sich ihr ein solches Tier auch nur auf zwanzig Schritte Entfernung genähert hatte. Sie hielt die Hand jetzt still, um der Katze Gelegenheit zu geben, vorsichtig an ihren Fingern zu schnuppern, was diese auch etliche Momente lang ausgiebig tat. Dann maunzte sie hörbar, ließ sich auf den Rücken fallen und wälzte sich genießerisch auf Basts Mantel, den sie neben sich auf den Boden gelegt hatte, während sie selbst ihr behutsam Bauch und Hals kraulte.

»Sie wird Ihnen den ganzen Mantel mit ihren Haaren vollfusseln«, murmelte Mrs Walsh. Der Blick, mit dem sie die Katze jetzt maß, war eindeutig fassungslos.

»Das macht nichts«, antwortete Bast. »Ich liebe Katzen, müssen Sie wissen.«

»Trotzdem.« Mrs Walsh gab sich einen sichtbaren Ruck, und ihr Blick war nun eindeutig tadelnd. »Das reicht jetzt, Cleopatra! Du hast hier nichts zu suchen. Geh in die Küche oder nach draußen.«

Die Katze rollte sich lauthals schnurrend und mit genießerisch geschlossenen Augen weiter über Basts Mantel und begann schließlich spielerisch an ihrem Finger zu knabbern, als sie für einen Moment mit Kraulen innehielt. Sie ignorierte Mrs Walshs Worte vollkommen.

»Cleopatra!«, sagte Mrs Walsh noch einmal, jetzt in hörbar schärferem Ton. »Was ist denn in dich gefahren? Seit wann hörst du nicht mehr, wenn ich etwas sage?«

Ungefähr seit jetzt, dachte Bast amüsiert, zog aber nach einem weiteren Moment auch die Hand zurück und schüttelte leicht den Kopf, als die Katze die Augen öffnete und sie vorwurfsvoll ansah. »Hör auf sie und geh«, sagte Bast. Vielleicht habe ich später ein bisschen Zeit für dich, Kleines.

Mrs Walshs Augen quollen vor Unglauben schier aus den Höhlen, als Cleopatra ihren Gast zwar noch einen Moment lang vorwurfsvoll und enttäuscht ansah, sich dann aber wieder auf die Füße rollte und mit raschen Schritten verschwand. »Es ist ganz und gar erstaunlich«, murmelte sie. »Sie kommt normalerweise niemals hier herein. Und sie lässt sich schon gar nicht von Fremden anfassen.« Ihr Blick löste sich fast widerwillig von der offen stehenden Tür, hinter der die Katze verschwunden war, und suchte den Basts. »Sie können wirklich gut mit Tieren umgehen.«

»Katzen spüren es, wenn man sie mag«, meinte Bast nur.

»Ja, ich weiß«, sagte Mrs Walsh. Sie wirkte immer noch ein bisschen verwirrt. »Manchmal glaube ich sogar, dass sie über eine bessere Menschenkenntnis verfügen als die meisten Menschen. Besitzen sie zu Hause eine Katze?«

»Besitzen?« Bast verzog die Lippen, als wäre ihr die Bedeutung dieses Wortes nicht endgültig klar. »In unserem Haus in Kairo lebt eine ganze Anzahl Katzen, wenn Sie das meinen. Aber niemand kann eine Katze besitzen. Sie können sie einsperren und versklaven, aber ihre Zuneigung werden Sie auf diese Weise niemals gewinnen. Sie bekommen sie geschenkt oder gar nicht.«

Das schien Mrs Walsh nun endgültig zu verwirren. Sie sagte eine ganze Weile gar nichts, dann aber erschien ein leises Lächeln in ihren Augen. »Ich glaube, wir werden noch eine Menge interessanter Gespräche miteinander führen, meine Liebe«, sagte sie und fügte vielleicht eine Spur hastiger hinzu: »Wenn Sie es wünschen, heißt das.«

»Natürlich«, antwortete Bast. »Ich freue mich darauf. Und ich bin froh, hergekommen zu sein.«

Mrs Walsh blickte fragend.

»Um ehrlich zu sein«, erklärte Bast, »war ich am Anfang nicht ganz sicher, ob ich überhaupt herkommen sollte.«

»Weil Ihnen Jacob diese Pension empfohlen hat«, vermutete Mrs Walsh. Nein, es war keine Vermutung. Es war eine Feststellung.

»Ja«, gestand Bast unumwunden. »Nach dem, was Sie mir über Kapitän Maistowe erzählt haben, habe ich ihm vielleicht unrecht getan, aber ...«

Mrs Walsh unterbrach sie mit einer entsprechenden Geste. »Dafür müssen Sie sich nicht entschuldigen. Ich kenne den guten Jacob nun schon so lange, und selbst mir fällt es bei ihm manchmal schwer, Haltung zu bewahren. Er hat ein großes Herz und kann der charmanteste Mensch sein, den Sie sich nur vorstellen können - aber er ist auch ein wahrer Meister darin, das zu verbergen.«

»Und woher kennen Sie sich?«, fragte Bast und trank wieder von ihrem Tee.

»Er wohnt hier«, antwortete Mrs Walsh, wobei Bast nicht entging, wie aufmerksam sie sie dabei ansah. Aber sie war nicht überrascht. Eigentlich hatte sie nichts anderes erwartet.

»Hier?«, vergewisserte sie sich dennoch.

»Die meiste Zeit des Jahres ist er auf See«, antwortete die Zimmerwirtin. »Früher hatte er ein kleines Haus hier in London, aber das musste er verkaufen, als die Geschäfte einmal schlecht gingen. Daraufhin hat er sich hier eingemietet. Anfangs sollte es nur für wenige Tage sein, aber es hat sich schnell erwiesen, dass dieses Arrangement für beide Seiten von Vorteil ist.«

Bast sagte zwar nichts, musterte Mrs Walsh aber auf eine ganz bestimmte Art und Weise, die sie leicht erröten und eindeutig hastig den Kopf schütteln ließ. »Nein, nicht was Sie jetzt vielleicht annehmen, meine Liebe. Jacob und ich sind zu verschieden, um mehr als gute Freunde zu sein.«

»Dann ist das hier sozusagen sein Heimathafen?«, fragte Bast.

Diesmal lachte Mrs Walsh leise. »Wenn Sie so wollen, ja. Jacob hat keine Familie und auch keine Freunde hier in London. Dazu ist er zu selten hier. Und es lohnt nicht, ein eigenes Haus zu unterhalten, wenn man den allergrößten Teil des Jahres auf See ist. Die wenigen Wochen zwischen seinen Reisen wohnt er hier. Und manchmal«, fügte sie mit einem fast verschwörerischen Augenzwinkern hinzu, »schickt er mir auch einen Gast. Ich glaube, er betrachtet es als seine Pflicht, um mich irgendwie dafür zu entschädigen, dass ich sein Zimmer während des ganzen Jahres für ihn freihalte ... nicht dass es mich wirklich etwas kosten würde. Die meisten Zimmer stehen ohnehin leer.«

»Das Geschäft geht nicht gut?«, vermutete Bast.

»Es könnte besser gehen ... wenn ich es wollte«, antwortete Mrs Walsh. »Aber es ist nicht nötig. Ich habe eine kleine Erbschaft von der Schlachterei meines verstorbenen Mannes, von der ich einigermaßen bequem leben kann. Diese Pension ist mehr eine Art ... Liebhaberei von mir, wenn Sie so wollen. Irgendetwas muss man tun.«

Von draußen war das Klappern von Pferdehufen und das Knarren von Rädern zu hören. Bast warf einen Blick auf das Ziffernblatt der Standuhr mit seinen verschnörkelten Zeigern. Arthur kam auf die Sekunde pünktlich. Wahrscheinlich hatte er in einer Seitenstraße gewartet, um nicht zu früh zu erscheinen. Möglicherweise sogar die ganzen zwei Stunden.

Sie stand auf, bückte sich nach ihrem Mantel und schlüpfte hinein. Ein seltsames Gefühl überkam sie, noch bevor sie die Bewegung ganz zu Ende geführt und sich gleichzeitig zum Ausgang gedreht hatte. Sie hatte nicht vergessen, was Mrs Walsh über ihr Ziel erzählt hatte, und auch nicht ihre Überlegungen, was Isis anging. Und dennoch spürte sie plötzlich eine leise, kribbelnde Erregung, etwas, das ganz tief in ihr zu erwachen begann und von dem sie nur zu gut wusste, dass es stärker werden würde, ganz egal, wie sehr sie auch versuchte, es zu unterdrücken.

»Sie wollen also nicht auf mich hören«, stellte Mrs Walsh fest. Sie klang nicht einmal enttäuscht. Augenscheinlich hatte sie genau diese Reaktion erwartet.

»Ich fürchte, das kann ich nicht«, antwortete Bast in bedauerndem Ton. »Es ist leider richtig, dass ich meine Freundin so schnell wie möglich finden muss. Aber ich danke Ihnen trotzdem für Ihre Warnung. Keine Sorge. Ich kann auf mich aufpassen.«

Mrs Walsh sagte nichts mehr dazu. »Möchten Sie, dass ich Ihnen später noch ein Abendessen zubereite oder Ihnen eine Kanne Tee aufs Zimmer stelle?«, erkundigte sie sich.

»Sagten Sie nicht, es gibt hier nur Frühstück?«

Mrs Walsh lächelte. »Für eine gute Freundin von Jacob mache ich schon mal eine Ausnahme.« Ihr Lächeln wurde eine Spur breiter. »Außerdem muss ich schließlich auch selbst dann und wann etwas essen. Ob ich nun nur für mich koche oder für zwei, macht keinen Unterschied.«

Einen Moment lang wusste Bast nicht, was sie von diesen Worten halten sollte. Mrs Walsh sagte die Wahrheit, das spürte sie - es gab nur sehr wenige Menschen, denen es gelungen wäre, sie zu belügen -, und doch hatte sie das Gefühl, dass da noch mehr war. Als ob sie ihr etwas verheimlichte.

Unsinn! Bast schob den Gedanken fast ärgerlich von sich. Sie war erschöpft und hungrig und müde von der anstrengenden Reise, und die Andeutungen, die Mrs Walsh über Isis und deren Aufenthaltsort gemacht hatte, beunruhigten sie anscheinend mehr, als sie zugeben wollte.

»Das ist sehr freundlich von Ihnen«, antwortete sie, »und ich werde sicher morgen oder an einem der nächsten Tage auf Ihr Angebot zurückkommen. Aber ich muss zuerst ... ein paar Dinge in Erfahrung bringen. Sie brauchen nicht auf mich zu warten.«

»Die Tür ist immer offen«, antwortete Mrs Walsh. Anscheinend war das Thema damit für sie erledigt. »Dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Suche.«

»Und ich werde vorsichtig sein«, fügte Bast hinzu. »Das verspreche ich.«

Damit ging sie, noch bevor die Pensionswirtin Gelegenheit zu einer weiteren Erwiderung fand.

Die Droschke wartete exakt an derselben Stelle vor dem Haus, an der Bast zuvor ausgestiegen war. Arthur hatte bereits die Tür geöffnet und stand lächelnd daneben, und sie ergriff auch jetzt wieder seinen galant ausgestreckten Arm, ließ sich von ihm beim Einsteigen helfen - obwohl er sie im Grunde genommen eher behinderte - und nahm Platz, bevor sie ihm den Zettel reichte, den sie vorhin schon Mrs Walsh gezeigt hatte. Sie war nicht überrascht, einen mindestens ebenso erschrockenen und zweifelnden Ausdruck auf seinem Gesicht zu gewahren, als er die Adresse im schwachen Licht der Gaslaternen entzifferte, doch er sagte nichts, sondern nickte nur, gab ihr den Zettel zurück und schloss die Tür.

Während er nach vorn ging und seine müden Glieder zwang, den Kutschbock zu ersteigen, lehnte sich Bast auf der Bank zurück und warf einen langen, nachdenklichen Blick aus dem Fenster. Das Gefühl einer leisen, erwachenden Erregung tief in ihrer Seele war immer noch da. Einen Moment lang kämpfte sie noch aus reiner Gewohnheit dagegen an, aber sie wusste auch, wie sinnlos dieses Bemühen war.

Und warum eigentlich?

Der Wagen setzte sich knarrend in Bewegung, und Arthur wendete das sperrige Gefährt mit erstaunlichem Geschick auf der schmalen Straße. Bast lauschte in sich hinein und versuchte wider besseres Wissen ein allerletztes Mal, die Vernunft über die Instinkte siegen zu lassen. Aber es war ein halbherziger Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war, und sie hatte ihn im Grunde nur unternommen, weil sie aus irgendeinem absurden Bedürfnis heraus das Gefühl gehabt hatte, ihn sich schuldig zu sein.

Der Wagen rollte auf die breitere, besser gepflasterte Hauptstraße hinaus und wandte sich in östliche Richtung. Basts Blick ging erneut durch das Fenster, strich über die jetzt zum größten Teil dunkel daliegenden Gebäude und den Himmel, der von einer sonderbaren Klarheit war, aber auch so finster, wie man es selten erlebte, selbst in einer so großen Stadt wie London.

Sie ließ sich zurücksinken, schloss die Augen und atmete die kalte, klare Nachtluft ein. Das Tasten und Regen tief in ihrem Inneren wurde stärker, und während Arthur seine Peitsche knallen ließ und das Tempo der Kutsche steigerte, begann sich ein sachtes, erwartungsvolles Lächeln auf ihren Lippen breitzumachen, ohne dass sie selbst es auch nur spürte.

Das Raubtier war erwacht.

Und vor ihm wartete eine ganze Stadt voller Beute.



Die Fahrt dauerte nicht so lange, wie sie erwartet hatte. Bast hatte die Gardinen vor den schmalen Fenstern schließlich wieder geschlossen und sich zurückgelehnt und ihre Gedanken treiben lassen, aber ihr war natürlich dennoch nicht entgangen, dass die Fahrt - wenn auch in scharfem Tempo - nicht sehr viel länger als zehn Minuten gedauert hatte, bevor der Wagen wieder langsamer wurde, und sie ahnte bereits, in welchem Maße sich ihre Umgebung verändert hatte, noch bevor sie sich wieder aufrichtete und die Gardine zurückzog.

Sie erlebte trotzdem eine Überraschung. Der Wagen wurde immer langsamer, was auch daran lag, dass die Straße voller Menschen war, sodass Arthur sein Gefährt nur noch im Schritttempo durch die Menge bugsieren konnte. Zum Teil lag dies in der Enge der Straße begründet: Die schmalbrüstigen und in den seltensten Fällen mehr als zweigeschossigen Häuser standen sich nahe genug gegenüber, dass ihr Fahrer wohl ein Problem bekommen hätte, wäre ihm auch nur ein zweites gleichartiges Gefährt entgegengekommen. Außerdem war es dunkler, als sie erwartet hatte, denn von den in regelmäßigen Abständen angebrachten Gaslaternen brannte nur jede dritte oder vierte. Doch trotzdem und ungeachtet der bereits fortgeschrittenen Stunde war die Straße noch voller Menschen; zum Großteil Paare, die Hand in Hand oder auch in sittsamem Abstand nebeneinander flanierten oder einfach auf dem Gehsteig vor den Häusern standen und redeten. Manche drückten sich auch in einem Hauseingang herum oder gegen eine Mauer gelehnt, küssten sich oder zeigten sich noch weniger zurückhaltend, und aus etlichen offen stehenden Türen drangen Gelächter und schrille, viel zu laute und zumindest in Basts Ohren nur zu oft misstönende Musik.

Die Kutsche kam mit einem sanften Ruck endgültig zum Stehen, und Bast stieg rasch aus und ging nach vorne, um Arthur die Mühe zu ersparen, eigens vom Wagen heruntersteigen zu müssen. Er war sicher schon den ganzen Tag auf den Beinen, und vermutlich tat ihm jeder Knochen im Leib weh, vor allem, seit er ihr Gepäck in die Pension und die Treppe hinaufgetragen hatte, was ihr im Nachhinein beinahe ein schlechtes Gewissen bereitete.

»Das hier ist die richtige Straße?«, vergewisserte sie sich. Ihre Stimme klang selbst in ihren eigenen Ohren zweifelnd.

»Die Adresse, die auf Ihrem Zettel gestanden hat, Miss«, antwortete er. Es war nicht zu übersehen, dass er sich nicht wohl fühlte; nicht in dieser Gegend und auch nicht dabei, sie allein hier abzusetzen. Aber er besaß auch nicht den Mut, ihr seine Begleitung anzubieten - auch wenn es ohnehin nicht mehr als eine Geste gewesen wäre. »Whitechapel.«

Bast konnte nirgendwo eine Kirche entdecken, weder in weiß noch in irgendeiner anderen Farbe, aber sie konnte ohnehin nur ein kurzes Stück der Straße unmittelbar vor ihr ausmachen; vielleicht ein halbes Dutzend Gaststätten und einschlägiger Häuser, die sich unmittelbar vor ihnen erhoben und mit ihrem Lärm und dem aufdringlichen Licht den Eindruck erweckten, viel zahlreicher zu sein. Alles was dahinter lag, war in nahezu vollkommene Dunkelheit gehüllt, doch Basts scharfe Sinne verrieten ihr trotzdem, dass es dort vielleicht dunkel, aber keineswegs still oder gar verlassen war.

Und nicht nur ihre Sinne. Etwas in ihr spürte das Leben und das aufgepeitschte Miasma entfesselter Sinneslust und purer animalischer Gier in dieser Dunkelheit und reagierte mit einer eigenen, unendlich viel düstereren Gier darauf, die sie kaum noch zu beherrschen vermochte.

»Ist alles in Ordnung. Miss?«, fragte Arthur.

»Ja, natürlich«, versicherte Bast hastig. Sah man es ihr so deutlich an? »Ich ... war nur ein wenig überrascht, das ist alles.«

»Das ist das East End, Miss«, antwortete er. »Keine besonders gute Gegend.«

»Geht es hier immer so zu?«, fragte Bast, eigentlich aus keinem anderen Grund als dem, überhaupt etwas zu sagen und das Ungeheuer in ihrem Inneren zu besänftigen. Reden half. Nicht viel, aber es half.

»Heute ist Freitag, Miss«, antwortete er. »Da gibt es Lohn. Aber es ist auch sonst keine besonders gute Gegend. Keine, in die ich meine Tochter gehen lassen würde, wenn Sie verstehen, was ich meine.«

Er hatte keine Tochter, wie Bast sehr wohl wusste, aber das sagte sie nicht laut, sondern machte stattdessen nur ein verstehendes Gesicht und gab sich gleichzeitig Mühe, ein ganz kleines bisschen verlegen auszusehen. Es war völlig absurd - aber mit einem Male war es ihr wichtig, was Arthur von ihr dachte.

»Soll ich hier auf Sie warten, Miss?«, fragte der Kutscher, als sich das Schweigen unbehaglich in die Länge zu ziehen begann. »Oder Sie später wieder abholen?«

»Das ist freundlich von Ihnen, Arthur«, antwortete sie. »Aber ich muss ... gewisse Erkundigungen einziehen. Mit einigen Leuten reden ... vielleicht einer Spur nachgehen ...« Sie hob bedauernd die Schultern. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert.«

Arthur war unübersehbar erleichtert, dass sie sein Angebot ausgeschlagen hatte, fühlte sich aber auch ebenso offensichtlich unwohl dabei, sie allein hier zurückzulassen.

»Sind Sie für morgen schon bestellt?«, fragte Bast.

Erwartungsgemäß schüttelte er den Kopf. »Ich bin niemals fest gebucht, Miss«, antwortete er. »Ich fahre meine Plätze ab und warte darauf, dass mich jemand braucht.«

Und das nur zu oft ohne Erfolg, dachte Bast bedauernd. Sie lächelte. »Dann kommen Sie doch morgen gegen Mittag zur Pension«, sagte sie. »Ich bin das erste Mal in London, und ich kenne hier niemanden, also werde ich Sie sicher brauchen. Wenn wir uns auf einen angemessenen Preis einigen, kann ich Sie vielleicht für die ganze Zeit meines Aufenthalts hier mieten. Eine Woche, vielleicht sogar zwei.«

»Das wird sicher gehen«, antwortete er überrascht - und fast ein bisschen ungläubig.

Bast öffnete ihren Beutel, um ihn für die Fahrt hierher zu entlohnen, aber er schüttelte rasch den Kopf und hob zusätzlich abwehrend die Hand.

»Das ist nicht nötig, Miss. Ich meine: Wir können das morgen erledigen.«

»Wie Sie wünschen.«

Arthur griff mit beiden Händen nach den Zügeln, knallte aber noch nicht damit, sondern wandte sich noch einmal an sie und machte zugleich eine Kopfbewegung auf das nächstgelegene Lokal, einen winzigen Pub auf der anderen Straßenseite, durch dessen offen stehende Tür rotes Licht auf den Gehsteig fiel. »Wenn Sie schon hier Ihre Erkundigungen einholen müssen, Miss, gehen Sie dorthin«, sagte er. »Das ist zwar auch kein anständiges Lokal, aber am ehesten noch das, in das eine Lady allein gehen kann.« Sein Tonfall machte mehr als klar, dass eine Lady seiner Meinung nach in kein Lokal allein gehen konnte - wenigstens nicht, wenn sie wirklich eine Lady war -, aber Bast spürte die gute Absicht dahinter und schenkte ihm nur noch ein dankbares Lächeln, und endlich griff er wirklich nach seinen Zügeln und fuhr davon.

Sie sah ihm nach, bis der Wagen am Ende der Straße angelangt und verschwunden war. Beiläufig registrierte sie, dass sie anscheinend die Einzige war, die darauf achtete. Die Straße erweckte zwar nicht den Eindruck, aber der Anblick einer Mietdroschke, aus der ein nobel gekleideter Fahrgast stieg, schien hier absolut nichts Besonderes zu sein.

Dafür gewahrte sie nach einem Moment etwas, womit sie hier zuallerletzt gerechnet hatte: einen leibhaftigen englischen Bobby in seinem schwarzen Rock mit den schimmernden Messingknöpfen, dem hohen Hut und einer Trillerpfeife, die an einer weißen Kordel um seinen Hals hing. Bast hatte schon viel von diesen Polizisten gehört und sah ihn ganz unverhohlen neugierig an. Der Mann schlenderte fast gemächlich in ihre Richtung, wobei sein Blick unentwegt, aber offenbar ohne allzu großes Interesse über die Türen der Lokale und die Menschen davor glitt. Er schien weder an der lauten Musik noch an den Betrunkenen oder den in eindeutiger Absicht dastehenden Frauen Anstoß zu nehmen.

Dennoch war Bast nicht wirklich überrascht, als der Polizist mit einem plötzlichen Stirnrunzeln die Richtung änderte und geradewegs auf sie zusteuerte. Flüchtig fragte er sich, wozu er überhaupt hier war und wen er eigentlich vor wem beschützen sollte, verzichtete aber darauf, diesen Gedanken bis zu seinem konsequenten Ende zu verfolgen. Der Bobby war längst nicht der Einzige, der sie ganz unverhohlen anstarrte. Aber was hatte sie erwartet? In ihrer nachtschwarzen Kleidung, dem roten Turban und mit ihrer außergewöhnlichen Größe stach sie hier hervor wie der sprichwörtliche bunte Hund - oder der wehe Daumen, wie die Engländer sagten. Seltsamerweise kamen die negativsten Schwingungen, die sie auffing, ausnahmslos von Frauen.

Sie widerstand nur mit Mühe der Versuchung, einigen von ihnen zu demonstrieren, wie man sich fühlte, wenn man wirklich vom bösen Blick getroffen wurde und geduldete sich, bis der Bobby näher kam und unmittelbar vor ihr stehen blieb. Die Art, auf die er sie maß, gefiel ihr noch sehr viel weniger als seine bisherige Interesselosigkeit, aber sie schluckte auch dazu jede Bemerkung herunter. Sie war nicht hier, um sich mit der Obrigkeit anzulegen.

»Guten Abend, Miss«, sagte er.

Bast nickte schweigend und sah ihn scheinbar verständnislos an. Sollte er ruhig erst einmal glauben, dass sie seiner Sprache nicht mächtig war.

»Sprechen Sie unsere Sprache?«, fuhr er auch prompt fort.

»Ja«, antwortete sie. Etwas in ihr ... regte sich. Stärker als bisher. Bast lauschte in sich hinein und stellte ohne die mindeste Überraschung fest, dass es der Bobby war, auf den sie so heftig reagierte. So lange, wie sie diesen niemals endenden Kampf nun schon führte, erkannte das Ungeheuer in ihr die Art von Beute, auf die sie es manchmal loslassen musste, mittlerweile sicherer als sie selbst und zerrte nun an seinen Ketten, um seine Gier zu stillen. Es kostete sie immer größere Mühe, es zu bändigen.

»Das macht die Sache einfacher«, fuhr der Polizist fort. Sein Blick irrte noch einmal leicht irritiert über ihr Gesicht, das sich nahezu eine Handspanne über dem seinigen befand, und glitt dann nach unten, um für einen eindeutig zu langen Moment dort hängen zu bleiben, wo sich ihr Kleid über ihren Brüsten spannte.

Schließlich räusperte er sich. »Würden Sie mir bitte Ihren Ausweis zeigen, Miss?«

»Wozu?«, erkundigte sich Bast.

Sein Blick wurde um etliche Grade kühler. »Weil ich es Ihnen sage«, antwortete er scharf. »Also zeigen Sie mir jetzt Ihre Papiere - falls Sie welche besitzen -, bevor Sie wirklich Ärger bekommen!«

»Nein«, antwortete Bast. »Die gehen Sie nichts an.«

Zorn flackerte für einen Moment in seinem Blick auf und erlosch wieder. »Ganz wie Sie meinen«, sagte er in leicht verwundertem Ton, als wäre er sich selbst nicht ganz darüber im Klaren, warum er das überhaupt sagte. Was der Wahrheit ziemlich nahekam.

Basts Mitleid mit ihm hielt sich in Grenzen, und erst jetzt, wo sie sich unmittelbar gegenüberstanden, sah sie auch, dass er tatsächlich keine Waffe trug, ganz wie man es ihr erzählt hatte; nicht einmal einen Schlagstock. Obwohl sie es gewusst hatte, kam ihr diese Tatsache mehr als seltsam vor - dass ausgerechnet eine Nation, die ihren gewaltigen Militärapparat rücksichtslos einsetzte, um ein weltweites Imperium zu errichten, so stolz darauf war, dass die Polizeibeamten in ihrem Heimatland unbewaffnet waren.

Der Bobby sah sie immer noch mit einer Mischung aus Verwirrung und allmählich aufkeimender Panik an, und Bast sah endlich ein, wie albern das war, was sie tat, und gab seinen Willen behutsam wieder frei. Er atmete hörbar auf und machte ganz instinktiv einen Schritt zurück.

»Aber wenn Sie schon einmal da sind, Konstabler«, fuhr sie fort, als wäre in der Zwischenzeit rein gar nichts geschehen, »können Sie mir vielleicht helfen. Ich bin fremd in dieser Stadt und suche eine bestimmte Adresse.« Sie zwang ein angedeutetes Lächeln auf ihre Lippen und versuchte die Blicke zu ignorieren, die sie mittlerweile aus allen Richtungen trafen. »Der Kutscher war so freundlich, mich in die richtige Straße zu fahren, aber bei der Hausnummer musste er passen.«

»Die Häuser hier haben keine Nummern«, antwortete er lahm. »Jedenfalls sind sie nicht angeschlagen. Was suchen Sie denn?«

»Nummer neunzehn«, antwortete Bast, ohne dass sie den Zettel zu Hilfe nehmen musste, den sie vorhin Arthur gezeigt hatte, und der überraschte Ausdruck auf dem Gesicht des Konstablers erklärte ihr, dass ihm diese Nummer nicht nur durchaus etwas sagte, sondern es sich auch nicht unbedingt um ein ganz gewöhnliches Haus zu handeln schien.

»Nummer neunzehn?«, vergewisserte er sich. »In dieser Straße? Sind Sie sicher?«

»Ja«, antwortete Bast. »Wieso?«

Der Mann setzte zu einer Antwort an, beließ es aber dann bei einem fast verächtlichen Verziehen der Lippen. Sein Blick saugte sich erneut und dieses Mal ganz unverhohlen an ihrem Kleid fest, als er mit einer Kopfbewegung hinter sich wies. »Das ist gleich dort hinten. Aber Sie sollten nicht allein dorthin gehen.«

»Dann begleiten Sie mich doch«, schlug Bast vor.

»Das ist eigentlich nicht mein ...« Er brach ab, räusperte sich und sah plötzlich aus, als wäre ihm etwas eingefallen. »Selbstverständlich, Miss.«

Als sie losgingen, hielt er ihr sogar den Arm hin, aber Bast schlug das Angebot mit einem wortlosen Kopfschütteln aus. Das Wühlen und Reißen in ihrem Inneren hatte sich ein wenig beruhigt, aber sie wusste nicht, was passieren würde, wenn sie ihn wirklich berührte.

Sie passierten die Pubs und Lokale in raschem Tempo, und Bast ließ ihre Sinne vorsichtig schweifen. Wie sie erwartet hatte, spürte sie rein gar nichts von Isis' Nähe, was bedeutete, dass sie entweder nicht hier war oder sich überaus sorgsam abschirmte - das eine wäre ärgerlich, die zweite Möglichkeit höchst sonderbar und vielleicht sogar ein bisschen beunruhigend -, aber ihr allererster Eindruck von diesem Ort bestätigte sich noch. Auch wenn sie sich normalerweise hütete, solche Begriffe vorschnell zu benutzen: Dies hier war ein Sündenpfuhl, die britische Variante von Sodom und Gomorrha, und je länger sie lauschte, desto mehr stieß es sie innerlich ab. Bast war nicht prüde, und Lust oder auch nur Genüsslichkeit war ihr keineswegs fremd, ganz im Gegenteil. Aber das, was sie nun fühlte war ... anders. Dumpf, wie ein Geräusch, das man unter Wasser hörte und dem jede Höhe und jegliche Klarheit fehlte. Ihr war, als bewegte sie sich durch einen Sumpf, aus dem ein unsichtbares fauliges Gas sickerte, welches ganz langsam ihre Sinne zu verwirren begann.

Der Bobby blieb stehen. »Da wären wir.«

Mittlerweile hatten sie den hell erleuchteten Bereich der Straße hinter sich gelassen, und Bast sah erst jetzt, dass es auch hier Licht gab, auch wenn hier nur jede fünfte Laterne brannte ... und zwar genau jede fünfte, nicht ungefähr - was ganz gewiss kein Zufall war, sondern wohl eher eine Sparmaßnahme der Stadt, der die Sicherheit der Menschen in diesem Viertel nicht übermäßig am Herzen zu liegen schien.

Es war dennoch weder vollkommen dunkel noch gänzlich einsam. Hinter dem einen oder anderen Fenster brannte Licht, und obwohl sich Bast nun wohlweislich auf ihre - wenngleich sehr scharfen - rein menschlichen Sinne beschränkte, sah sie hier und da schattenhafte Bewegung, eine Gestalt in der Dunkelheit oder ein Huschen am Rande der dunstigen Lichthöfe, die die wenigen Straßenlaternen erzeugten, oder hörte Geräusche, die zumeist sehr eindeutig waren.

Sie befanden sich in der dunkleren und eindeutig billigeren Verlängerung der Straße, in der Arthur sie abgesetzt hatte, und das Haus mit der Nummer neunzehn - die im Übrigen tatsächlich nirgendwo zu lesen war - passte zu dieser Beschreibung: ein heruntergekommener unverputzter Ziegelsteinbau mit halb eingesunkenem Dach und Wänden, in denen sich längst der Schwamm eingenistet hatte. Die Fensterläden waren ausnahmslos geschlossen, ließen aber, so verrottet, wie sie waren, trotzdem das unstete rote Licht hindurch, das im oberen Geschoss des Hauses brannte. Das untere Stockwerk des Hauses war dunkel, und die wenigen Fenster waren roh mit Brettern vernagelt, und das allem Anschein nach schon seit Jahren. Eine schmale hölzerne Treppe mit einem Geländer, das ganz so aussah, als ob man es besser nicht als Stütze nehmen sollte, führte in halsbrecherischem Winkel nach oben und mündete vor einer Tür, die von zwei trübe glimmenden Gaslaternen flankiert und von einem vierschrötigen Kerl bewacht wurde, der selbst in der Dunkelheit und als bloßer Schatten beeindruckend wirkte.

»Was genau suchen Sie hier, Ma'am?«, erkundigte sich ihr unfreiwilliger Führer.

»Es ist gut, Konstabler«, antwortete sie. »Danke, dass Sie mich begleitet haben. Von hier aus komme ich allein zurecht.«

»Sind Sie sicher, dass ...«

»Ja, ich bin sicher«, unterbrach ihn Bast eine Spur schärfer. »Gehen Sie nach Hause und kümmern Sie sich um Ihre Frau und Ihre Kinder.«

Der Bobby sah sie noch einen halben Atemzug lang hoffnungslos verstört an und hatte es dann plötzlich sehr eilig, ihrem Befehl Folge zu leisten - denn um nichts anderes hatte es sich gehandelt. Wahrscheinlich würde er sich in den nächsten Tagen über sein eigenes Verhalten wundern. Aber er würde vermutlich auch nie begreifen, was für ein Glück er trotz allem gehabt hatte. Sie hätte ebenso gut auch dafür sorgen können, dass er plötzlich sein Interesse an dem einen oder anderen hübschen Knaben oder jungen Mann hier im East End entdeckte ...

Bast sah ihm nach, bis er aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, und gönnte sich für die gleiche Zeit den kleinen Luxus, weiter in bizarren Rachevorstellungen zu schwelgen. Das war zwar albern und tatsächlich nichts anderes als kindisch, aber es half, auch wenn sie solcherlei Vergeltungsfantasien nie nachgab ...

Nun ja. Höchst selten.

Wirklich nicht oft.

Bast lächelte noch einen Moment still in sich hinein, dann schüttelte sie die kindischen Gedanken endgültig ab und ging weiter.

Der Schatten oben am Ende der Treppe erwachte raschelnd aus seinem Dösen, als er ihr Nahen bemerkte, und Bast spürte, wie aufmerksam und bereit er plötzlich war; alles andere als der lustlos herumlungernde Türsteher, der nur die Minuten zählte, die er noch ausharren musste. Aber für ihn war sie schließlich auch nicht mehr als ein - beunruhigend großer - Schatten, der sich aus der Dunkelheit heraus auf ihn zubewegte.

Als sie die Treppe auf halbe Höhe erklommen hatte, trat er ihr bis an den Rand des kleinen Absatzes oben entgegen, und sie spürte, wie seine Aufmerksamkeit deutlicher Anspannung wich. »Kann ich etwas für Sie tun, Sir ...«, fragte er, stockte für einen Moment und verbesserte sich dann gleichermaßen irritiert wie überrascht, als ihr Gesicht in den Lichtschein der beiden kleinen Gaslaternen hinter ihm geriet: »... Ma'am?«

Bast setzte ihren Weg unbeeindruckt und ohne etwas zu sagen fort, und ganz wie sie erwartet hatte, blieb er nicht einfach stehen, bis er eine zufrieden stellende Antwort bekommen hatte, wie er es zweifellos bei jedem anderen getan hätte, sondern wich instinktiv zwei oder drei Schritte zurück, sodass sie sich auf gleicher Höhe gegenüberstanden, als auch Bast endlich stehen blieb. Wortwörtlich. Er war einer der wenigen Männer, die nicht nur ebenso groß waren wie sie selbst, sondern sie tatsächlich noch eine Winzigkeit überragte. Und er war unglaublich massig. Das allermeiste davon war Fett, und Bast hätte kein zweites Mal hinsehen müssen, um zu erkennen, dass der Bursche alles andere als gut in Form oder auch nur gesund war. Trotzdem war er ein Koloss, dessen bloßer Anblick sicherlich ausreichte, um die meisten zu beeindrucken.

»Ich bin auf der Suche nach jemandem«, antwortete Bast mit einiger Verzögerung. Sie lächelte, so freundlich sie nur konnte, was die Verwirrung ihres Gegenübers nicht unbedingt zu mindern schien. Er bewegte sich wieder einen halben Schritt auf sie zu oder versuchte es zumindest, hielt aber genauso schnell wieder inne und schien für einen Moment einfach nicht zu wissen, wie er reagieren sollte. Schließlich fuhr er sich mit dem Handrücken über das stoppelbärtige Doppelkinn und sagte: »Hier? Ich meine ... wissen Sie, wo Sie hier sind, Ma'am?«

Besonders das letzte Wort kam ihm sichtlich schwer über die Lippen, und obwohl Bast es schon unzählige Male erlebt hatte, amüsierte sie sich doch für einen Moment über den Ausdruck von Hilflosigkeit und Verwirrung auf seinen Zügen, die sicherlich noch ungleich größer gewesen wäre, hätte sein Stolz es zugelassen. Im allerersten Moment war er offensichtlich nicht ganz sicher gewesen, doch mittlerweile musste er nicht nur an ihrem Kleid und den Konturen darunter erkannt haben, dass er einer Frau gegenüberstand, wenn auch vielleicht der ungewöhnlichsten, die ihm je begegnet war. Es war nicht nur der Umstand, dass sie fast so groß war wie er und ihr Gesicht schwärzer als die Nacht, aus der sie aufgetaucht war, oder ihre ungewöhnliche Kleidung und ihre stolze Haltung. Tief in sich waren sie Seelenverwandte, das spürte Bast. Mochten sie auch äußerlich so gut wie nichts gemeinsam haben, so zählten sie doch beide nicht zu der Beute, sondern zu den Jägern, und er musste das ebenso deutlich spüren wie sie, auch wenn er mit diesem Gefühl zweifellos nichts anfangen konnte.

»Es ist ein wenig kompliziert zu erklären«, sagte sie, immer noch lächelnd, aber ohne seinen Blick dabei loszulassen. »Wenn Sie mich einfach einlassen, schaue ich mich selbst um.«

Sie wollte weitergehen, doch der Riese vertrat ihr - auch wenn es ihn sichtliche Überwindung kostete, aber sie war schon erstaunt, dass er sie überhaupt aufbrachte - mit einem automatischen Schritt den Weg und schüttelte unsicher den Kopf. »Das ... ist leider nicht möglich, Ma'am«, sagte er. »Ich meine ... es ist ... leider so, dass Frauen hier ...« Seine Verwirrung war jetzt offensichtlich vollkommen, denn er brach hilflos ab und fuhr sich nervös mit der Zungenspitze über die Lippen.

»... keinen Zutritt haben?«, half Bast aus. Die Antwort bestand aus einem hilflosen Achselzucken, doch er rührte sich keinen Zoll von der Stelle.

Aber Basts Geduld war am Ende. »Das gilt nicht für mich«, sagte sie. »Lassen Sie mich vorbei!«

Aus dem Ausdruck von Verwirrung und Unschlüssigkeit in seinen Augen wurde abgrundtiefes und mit Schrecken gemischtes Erstaunen, als er mit einem hastigen Schritt beiseitetrat und den Weg freigab.

Rotes Licht und ein Durcheinander aus Geräuschen und zum größten Teil unangenehmen, ausnahmslos aber aufdringlichen Gerüchen schlugen ihr entgegen, als sie durch die Tür trat. Der Raum dahinter war unerwartet groß und hell erleuchtet, wenn auch von einem roten, flackernden Licht, das mehr Schatten als wirkliche Helligkeit schuf und es trotz allem schwer machte, überhaupt etwas zu erkennen. Die Wände verbargen sich hinter zerschlissenen Vorhängen aus falschem Samt und Streifen von besticktem Brokat, die nicht zusammenpassten, und eine Anzahl nicht minder zerschlissener und bunt zusammengewürfelter Sofas und Tischchen war wahllos im Raum verteilt. Überall brannten Kerzen und auch die eine oder andere Petroleumlampe - natürlich mit einem roten Schirm -, sodass es Bast schon fast wie ein kleines Wunder vorkam, dass das ganze Gebäude nicht längst in Flammen aufgegangen war, und inmitten der das Auge beleidigenden Unordnung an den Wänden gewahrte sie etliche amateurhaft gemalte Bilder eindeutigen Inhaltes. Gleich gegenüber dem Eingang saßen drei junge Frauen auf einer schmuddeligen Chaiselongue, alle drei aufdringlich geschminkt und mit wenig mehr als ihrer Unterwäsche bekleidet. Eine davon war fast noch ein Kind. Nein! Bast sah noch einmal hin und verbesserte sich: Sie war noch ein Kind. Und nur ein kleines Stück daneben stand ein zerschrammter Sekretär, hinter dem die fetteste alte Frau hockte, die Bast seit langer Zeit zu Gesicht bekommen hatte. Nebenbei bemerkt, auch so ziemlich die hässlichste.

Bast schätzte sie auf mindestens dreihundert Pfund, wenn nicht mehr. Das Haar hing ihr wirr in die Stirn, und ihr Gesicht war von einem Leben gezeichnet, in dem es nur Alkohol und andere, schädlichere Freuden und viel zu viele Jahre gegeben hatte, in denen sie ihren Körper und irgendwann, vermutlich ohne es selbst zu bemerken, auch ihre Seele verkauft hatte. Ihre Augen starrten Bast mit einem Misstrauen an, das schon so sehr Teil ihrer selbst geworden war, dass sie es selbst nicht mehr bemerkte, und für einen ganz kurzen Moment erschien ein Ausdruck von Überraschung und Erstaunen darin, dann wechselte er zu Zorn, als ihr Blick Basts Gesicht losließ und das des Türstehers hinter ihr fixierte.

»Was fällt dir ein, Ben ...?«, begann sie, während sie bereits mit einem Ruck aufstand und mit kleinen, stampfenden Schritten und hörbar ächzend vor Anstrengung unter ihrem eigenen Gewicht um den Sekretär herumkam.

Bast brachte sie mit einer beiläufig wirkenden Geste zum Schweigen. »Das ist in Ordnung«, sagte sie. »Ich habe ihn gebeten, mich einzulassen.«

Das flächige, nur aus Falten bestehende Gesicht der Alten zeigte einen verwirrten, beinahe schon bestürzten Ausdruck, aber natürlich widersprach sie nicht, und nach einem weiteren Atemzug hörte Bast, wie die Tür hinter ihr ins Schloss gedrückt wurde. Sie hatte kein gutes Gefühl, zumal die drei Frauen auf der Couch plötzlich nicht nur überrascht, sondern geradezu fassungslos dreinblickten, aber sie hatte auch keine Zeit und erst recht keine Lust, sich mit der Alten herumzustreiten. So freundlich, wie sie nur konnte - was bedeutete, dass ihr Lächeln nicht halb so herzlich war wie das, welches sie gerade dem Kerl auf der Treppe geschenkt hatte -, sagte sie: »Bitte verzeihen Sie den Überfall. Ich bin auf der Suche nach einer Freundin, und man hat mir gesagt, dass ich sie vielleicht hier finden könnte.«

Sie wusste, dass Isis nicht hier war. Ganz gleich, wie gut sie sich auch zu verstecken versuchte, hätte sie sich in diesem Gebäude oder auch nur in der Nähe aufgehalten, hätte sie es gespürt. Aber irgendwo musste sie ja schließlich mit ihrer Suche anfangen. Behutsam lockerte sie den Griff um den Willen der abenteuerlichen Empfangsdame, wenn auch nicht weit genug, um irgendein Risiko einzugehen. Die beiden älteren Frauen auf der Couch starrten sie weiter fassungslos und mit offenem Mund an, während das Mädchen zwischen ihnen aus blicklosen Augen ins Leere starrte.

Aber Bast verbot es sich, irgendetwas zu sagen. Später. Vielleicht.

»Eine Freundin?«, vergewisserte sich die Alte mit leicht schleppender Stimme. Ihr Blick flackerte, und ihre Hände begannen kleine, unbewusste Bewegungen zu vollführen, mit denen sie am Stoff ihres schäbigen Kleides zupfte. »Hier?«

»So hat man es mir gesagt«, antwortete Bast. Sie bemühte sich, ihr Lächeln ein bisschen herzlicher wirken zu lassen, wenn auch ohne großen Erfolg. »Eigentlich müssten Sie sich an sie erinnern. Sie sieht mir ein wenig ähnlich.«

»Hier ist niemand, der aussieht wie du, Schätzchen«, antwortete die Alte verächtlich. Vielleicht ließ Bast ihr etwas zu viel Freiheit, denn obwohl sie noch immer eine große Verwirrung und noch eine Spur von Angst in ihren Augen las, erschien nun auch zugleich etwas wie Gier darin, eine anzügliche, begehrliche Gier, die eine kurze, aber heiß lodernde Flamme von Zorn in ihr aufflackern ließ. Aber sie beherrschte sich weiter.

»Wahrscheinlich trägt sie andere Kleidung und vermutlich auch eine andere Haartracht«, fuhr sie mit unveränderter Stimme fort und maß die beiden Frauen neben ihr zugleich mit einem fragend-auffordernden Blick. Die ältere von ihnen reagierte gar nicht, während die andere ganz sacht den Kopf schüttelte. Bast war verwirrt. Weder die Alte noch diese beiden hatten gelogen - das hätten sie gar nicht gekonnt in diesem Moment -, doch je aufmerksamer sie zugleich auch ihre anderen Sinne umhertasten ließ, desto deutlicher spürte sie, dass Isis tatsächlich hier gewesen war. Vor nicht allzu langer Zeit. Ihre Gegenwart hing wie ein schwacher, betörender Duft in der Luft, der vergebens den Gestank nach Gewalt und Leid und tierischer Lust zu durchdringen versuchte, der diesen grauenhaften Ort beherrschte. Was um alles in der Welt hatte Isis nur an einem Ort wie diesem gesucht?

»Wie heißt denn deine Freundin, Schätzchen?«, fragte die Alte. Sie schnaubte immer noch, als hätte sie soeben einen langen anstrengenden Fußmarsch hinter sich gebracht, und nicht die wenigen Schritte um den Sekretär herum. »Und wer hat dir erzählt, dass du sie hier bei uns findest?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Bast.

»Du weißt nich', wie deine Freundin heißt?«

»Sie wird sicher nicht unter ihrem richtigen Namen hier leben«, antwortete Bast.

»Weil sie Dreck am Stecken hat«, vermutete die Alte, und Bast schüttelte noch einmal und jetzt spürbar verärgert den Kopf. Bevor sie antwortete, ging sie die wenigen Schritte zur Chaiselongue hin und ließ sich vor dem jungen Mädchen in die Hocke sinken, um ihr direkt ins Gesicht sehen zu können. Das Kind reagierte nicht auf ihre Annäherung. Sein Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen.

»Der Name, den sie in ihrer Heimat trägt, wäre hier sehr ... ungewöhnlich. Deshalb nehme ich an, dass sie sich einen Namen zugelegt hat, der einem Abendländer ein wenig leichter über die Zunge geht.«

»Der 'nem Abendländer ein wenig leichter über de Zunge jeht«, wiederholte die Alte, wobei sie in einen noch breiteren, fast schon ordinären Slang verfiel. »Na dann pass mal auf, dass du nich' über deine eigene stolperst, Schätzchen. Ei'm Abendländer! Sprecht ihr bei euch alle so jestelzt?« Sie lachte meckernd und schüttelte so heftig den Kopf, dass Bast die Bewegung spürte, obwohl sie nicht einmal in ihre Richtung sah. »Nee, so eine war nich' hier. An jemand, der so 'ne jequirlte Kacke redet, würd ich mich bestimmt erinnern.«

Bast erwiderte nichts darauf, sondern berührte das Mädchen behutsam an der Wange und versuchte seinen Blick einzufangen, aber es gelang ihr nicht. Die Augen der Kleinen waren so leer wie ihr Gesicht, das ausgesprochen hübsch gewesen wäre, wäre darin auch nur die Spur irgendeines Gefühls gewesen. Und auch das, was sie fühlte, als Bast in sie hineinzulauschen versuchte, war kaum weniger beunruhigend. Nur ein Gemisch aus dumpfer Furcht und Resignation.

»Was habt ihr mit ihr gemacht?«, fragte sie.

Die Frage galt den beiden Frauen vor ihr, aber es war die Alte, die antwortete. »Niemand hat was mit der Kleinen gemacht, Schätzchen«, sagte sie scharf. »Sie is' 'n bisschen müde, das ist alles. Hat sich wohl zu viel zugemutet, die Kleine. Schließlich is' sie ja noch 'n halbes Kind.«

Bast konnte nicht sagen, was sie im ersten Moment wütender machte: das, was die Alte und ihre Handlanger diesem unschuldigen Kind angetan hatten, oder die Kaltschnäuzigkeit, mit der sie über sie sprach, als wäre sie kein Mensch, sondern ein Ding, über das sie nach Belieben verfügen konnte. Sie beherrschte sich, aber es kostete sie fast alle Kraft, die sie aufbringen konnte. So sehr der Anblick des dunkelhaarigen blassen Mädchens auch ihr Herz anrührte - sie war nicht deswegen hier.

»Also, deine Freundin is' nich' hier«, fuhr die Alte hinter ihr fort. Ihre Stimme war um einen Hauch schärfer geworden. »Niemand hat sie gesehen, und niemand kennt sie. Wenn deine Fragen damit beantwortet sind, kannst du wieder gehen.«

»Ist es Ihnen unangenehm, über sie zu sprechen?« Bast stand auf, drehte sich betont langsam zu ihr herum und sah so kalt und abschätzig auf sie herab, wie sie nur konnte. Es zeigte nicht die geringste Wirkung. Offensichtlich gehörte die Puffmutter nicht zu den Menschen, die sich einschüchtern ließen und war innerlich genauso robust, wie ihr Äußeres vermuten ließ. Und mindestens ebenso verkommen.

»Noch was?«, fragte sie in plötzlich fast drohendem Ton. »Zu viele Fragen zu stellen is' nich' gut fürs Geschäft, weißt du? Muss ich erst Ben rufen, damit er dir beim Rausgehen hilft?«

Bast hatte nicht übel Lust, es darauf ankommen zu lassen, und sei es nur, um die Reaktion der Alten zu sehen, wenn sie ihren Muskelberg wirklich hereinrief und er ihr nicht nur galant die Hand küsste, sondern auch alle ihre Fragen brav und bis ins Detail beantwortete. Aber sie mahnte sich zur Ruhe. Dafür, dass sie nur ein paar diskrete Erkundigungen hatte einziehen wollen, hatte sie schon viel zu viel Aufsehen erregt.

»Sind Sie ganz sicher, dass Sie sie nicht gesehen haben?«, fragte Bast ruhig. »Es ist sehr wichtig für mich, müssen Sie wissen. Überlegen Sie bitte noch einmal. Sie ist etwas kleiner als ich und hat langes schwarzes Haar, das sie gerne zu einer Frisur bindet, die man hier ... einen Pferdeschwanz nennt, glaube ich. Sie muss vor ungefähr zwei Jahren gekommen sein.«

»Nie jesehen«, beharrte die Alte. Und sie sagte die Wahrheit. Bast hatte ihre Frage nicht nur auf der Ebene des Hörbaren gestellt, und sie übte genug Druck aus, um sicher zu sein. Vielleicht mehr, als gut war.

Doch sie bekam Hilfe von unerwarteter Seite. »Das könnte Patsy sein«, sagte die jüngere der beiden Frauen.

Die Augen der Alten verengten sich zu zwei schmalen, ärgerlichen Schlitzen, die in der feisten Masse ihres Gesichtes beinahe verschwanden, und Bast drehte sich rasch wieder zu den beiden Frauen um, wobei sie es sorgsam vermied, das Mädchen zwischen ihnen auch nur anzusehen.

»Patsy?«

»Sie ist vor zwei Jahren aufgetaucht«, antwortete sie. »Ganz wie Sie es gesagt haben. Sie hat einen Job gesucht, aber sie war nicht lange hier. Nur ein paar Tage.«

»Einen Job?«, wiederholte Bast ungläubig. »Sie hat eine Arbeit gesucht? Hier?« Alles in ihr wollte die bloße Vorstellung empört von sich weisen.

Und doch ... es wäre möglich. Vollkommen absurd, aber möglich. Sie war schockiert.

»Ich hab sie rausgeschmissen«, bestätigte die Alte. »Hat genau so 'ne jequirlte Kacke geredet wie du und die Kunden dumm angequatscht. So was kann ich hier nich' gebrauchen.«

»Sie hat schwarzes Haar und sieht Ihnen tatsächlich eine bisschen ähnlich«, fuhr die andere fort.

»Nur, dass sie nicht schwarz ist«, sagte die Alte. Sie machte ein ordinäres Geräusch. »Und jetzt zieh endlich Leine, Schätzchen. Wenn du die Kleine willst, sie kostet zwei Pfund die Stunde. Wenn nicht, verschwinde von hier und halt uns nicht auf. Es sei denn, du willst in Wahrheit was ganz anderes.«

»Und was könnte das sein?«, fragte sie ruhig.

»Vielleicht suchst du ja auch Arbeit«, antwortete die Alte grinsend. Der Blick, mit dem sie Bast nun maß, wurde ... taxierend, auf eine anzügliche Art, die ihr umso schlimmer erschien, als er von einer Frau kam. »Du redest zwar einen gotteslästerlichen Unsinn, aber so wie du aussiehst ... Ich kenn da ein paar Gentlemen, die 'ne Menge Geld für ein Schäferstündchen mit dir springen lassen würden. Also wenn du interessiert bist, lass es mich wissen, Schätzchen. Ich bin sicher, wir werden uns schon einig.«

Bast beherrschte ihre schon wieder aufflackernde Wut mit immer mehr Mühe. Aber sie hielt sich im Zaum. Statt irgendetwas zu sagen, drehte sie sich wieder zu den beiden anderen Frauen um. Sie wollte es nicht, aber ihr Blick suchte wie von selbst den des Mädchens und fand auch diesmal nichts als Leere. Plötzlich spürte sie einen harten Kloß im Hals, der ihr fast schwer machte, zu atmen. Ein Leben, das zu Ende war, noch bevor es wirklich begonnen hatte. Sie hätte der Alten befehlen können, das Mädchen nicht nur gehen zu lassen, sondern ihr auch einen sicheren Platz zu suchen und sie außerdem mit einer großzügigen Entschädigung auszustatten, und sie hätte es ohne zu Zögern getan ... aber wozu? Schon bald wäre sie nicht mehr hier, um ihre schützende Hand über das Mädchen zu halten, und dann würde es nur umso mehr unter dem leiden, was sie getan hatte. Um noch einmal Isis' Lieblingssatz zu zitieren: Du kannst nicht die ganze Welt retten, Liebes.

»Wo finde ich diese Patsy?«

»Versuch's drüben im Ten Bells«, sagte die Alte, bevor eine der beiden anderen ihre Frage beantworten konnte. »Ich hab gehört, da is' sie manchmal. Is' aber schon eine Weile, dass sie das letzte Mal dort aufgetaucht is'.«

»Dafür, dass Sie nichts über sie wissen, wissen Sie eine Menge über sie, finde ich«, sagte Bast kühl.

»Ich weiß was über Patsy, nicht über deine Freundin«, erwiderte sie. »Das is' nich' die, nach der du suchst. Aber geh ruhig hin und bring dich in Schwierigkeiten, wenn du willst. Wird aber umsonst sein.«

Bast setzte zu einer scharfen Antwort an. Aber sie lauschte gleichzeitig auch noch einmal in ihr Gegenüber hinein und schrak diesmal sogar ganz körperlich ein kleines Stückchen vor ihr zurück. Da war etwas tief in ihr, etwas Dumpfes, Fauliges, das allmählich in ihr heranwuchs und sie verzehren würde. Sie würde sterben, und das sehr bald.

Das hatte keinen Sinn mehr. Bast hatte längst eingesehen, dass es ein Fehler gewesen war, überhaupt herzukommen. Sie verstand nicht mehr ganz, warum sie es überhaupt getan hatte. Sie begann Fehler zu machen.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich herum und verließ das zweifelhafte Etablissement.



Das Ten Bells, im Schatten von Christs Church gelegen, stellte sich als eines jener Lokale heraus, vor Jenen Arthur sie gewarnt hatte. Von außen winzig, ein schmalbrüstiges, hohes Haus mit vergitterten Fenstern, die eher an Schießscharten erinnerten und es irgendwann vor langer Zeit vielleicht sogar einmal gewesen sein mochten, entpuppte es sich als ein einzelner niedriger Raum, den man anscheinend gewonnen hatte, indem die Trennwände zu den benachbarten Gebäuden einfach herausgerissen worden waren. Schwere, grob gezimmerte Balken, von denen einige schon bedrohlich durchhingen, stützten die Decke, und die Luft war so verräuchert und dick, dass sie in der Kehle brannte und ihr die Tränen in die Augen trieb.

Bast hatte eine geraume Weile gezögert, das Lokal überhaupt zu betreten; nicht aus Furcht - dazu bestand nicht der geringste Grund -, sondern weil sie einfach völlig verwirrt und durcheinander war.

Es lag an dem Mädchen. Sie wurde die Erinnerung an das schmale Gesicht mit den so schrecklich leeren Augen einfach nicht los. Isis hatte zweifellos recht, zugleich aber auch so unrecht, wie es nur ging. Niemand konnte die ganze Welt retten, nicht einmal sie - aber vielleicht wog es manchmal ebenso viel, sich auch nur um ein einziges Leben zu sorgen.

Mindestens genauso aber schockierte sie die Welt, in der sie sich unversehens wiedergefunden hatte, als sie aus Arthurs Wagen gestiegen war. Selbstverständlich gab es Plätze wie diesen auch in ihrer Heimat, und Bast war in ihrem langen Leben schon an Orten gewesen und hatte Dinge erlebt, die selbst der alten Puffmutter die Schamesröte ins Gesicht getrieben hätten ... aber warum sollte Isis hierhergekommen sein? Gut, sie war gewissen Belangen des Lebens gegenüber schon immer weit offener gewesen als sie selbst, aber das hier war ... Schmutz, in jeglicher Hinsicht. Etwas, das sie einfach nicht nötig hatte, ganz gleich, wonach sie auch suchen mochte.

Und Isis war auch nicht im Ten Bells, wie Bast erkannte, als sie durch die Tür trat und einen ersten Blick in die Runde warf. Nicht einmal ihren scharfen Augen wäre es möglich gewesen, in dem großen, hoffnungslos überfüllten Raum mit seinem Durcheinander aus Tischen und Bänken und dicht an dicht dasitzenden Leibern auf Anhieb eine bestimmte Person auszumachen, aber sie hätte ihre Nähe ebenso zweifelsfrei gespürt, wie sie es gewusst hätte, wäre sie in einem der Zimmer am oberen Ende der Treppe gewesen.

»He, Süße, komm rein und mach die Tür zu, oder geh wieder und mach sie von draußen zu«, krähte eine betrunkene, aber halbwegs fröhliche Stimme irgendwo links von ihr.

Bast machte sich nicht einmal die Mühe, hinzusehen. Sie hatte schon viel eher damit gerechnet, angesprochen zu werden - und ein Teil von ihr, den sie immer mühsamer noch im Zaum halten konnte, gierte geradezu danach -, und immerhin hatte der Bursche zumindest den Mut aufgebracht, sie überhaupt anzusprechen, statt sie nur anzustarren, wie es im Augenblick praktisch jedermann tat, der in der Nähe des Eingangs saß. Sie schloss auch die Tür nicht hinter sich, sondern schlenderte langsam in Richtung der lang gestreckten Theke, die die gesamte rechte Seite des Raumes beherrschte. Das Interesse an ihrer Person schien hinter ihr ebenso schnell wieder zu erlöschen, wie es aufgeflammt war, und im Grunde, überlegte sie, hätte sie hier gar nicht auffallen dürfen, trotz ihres exotischen Äußeren. Das Ten Bells war ein Schmelztiegel der unterschiedlichsten Menschenrassen und -klassen. Bei den meisten handelte es sich um einfache Arbeiter und Tagelöhner, von denen in Anbetracht der fortgeschrittenen Stunde der Großteil bereits betrunken war, aber Bast gewahrte auch Männer - meist fortgeschrittenen Alters - in feineren Kleidern, Frack und Zylinder oder Gehrock, und zu ihrer nicht geringen Überraschung selbst einige Asiaten und zwei hochgewachsene Dunkelhäutige, von denen sie mindestens einer auf eine Art interessiert ansah, die ihr überhaupt nicht gefiel. Ganz kurz überlegte sie, sich an ihn zu wenden und ihn nach Isis zu fragen, entschied sich aber dann dagegen und setzte stattdessen ihren Weg zur Theke fort. Trotz des Gedränges fiel es ihr unerwartet leicht, denn wer immer sie sah, versuchte ihr ganz instinktiv Platz zu machen, nur dass es manchmal einfach nicht ging.

Ihre auffällige Erscheinung erwies sich ausnahmsweise einmal als Vorteil, denn obwohl an der Theke ein solches Gedränge herrschte, dass das Personal dahinter mit dem Ausschenken kaum nachkam, musste sie nur wenige Augenblicke warten, bis die Bedienung kam: ein kleinwüchsiger dürrer Kerl mit schmutzigen Händen und noch schmutzigeren roten Haaren, der auf den ersten Blick so aussah, als wäre er kaum alt genug, um das trinken zu dürfen, was er ausschenkte.

»Was darf's sein?«, fragte er, nicht nur nahezu akzentfrei, sondern auch mit einem vollkommen ehrlichen Lächeln, das das düstere Lokal ringsum ebenso aufzuhellen schien wie Basts Stimmung.

»Etwas zu trinken und eine Auskunft«, antwortete Bast, »wenn das möglich wäre.«

»Das Getränk auf jeden Fall«, antwortete der Rothaarige schmunzelnd und maß sie mit einem weiteren freundlichen, aber auch ganz unverhohlen neugierigen Blick. »Was wollen Sie denn trinken?«

»Das ist mir gleich. Beraten Sie mich.« Bast griff in ihren Beutel und zog zwei Sixpencestücke heraus, die schneller in seiner Rocktasche verschwanden, als ihre Blicke der Bewegung folgen konnten. Nahezu ebenso schnell verschwand er und kam gleich darauf mit einem Krug Bier zurück, und das eindeutig zu schnell, um es frisch gezapft zu haben. Bast probierte trotzdem davon und verzog anerkennend die Lippen, um ihr amüsiertes Lächeln zu kaschieren: Wie sie es erwartet hatte, war das Bier zu warm und auch nicht mehr ganz frisch. Aber er hatte etwas für sie ausgewählt, was er anscheinend für passend hielt: starkes, pechschwarzes Ale. Der Bursche gefiel ihr.

»Und was wollen Sie wissen?«, fragte er.

»Ich suche jemanden«, antwortete Bast, während sie einen zweiten, größeren Schluck nahm. Der Geschmack wurde dadurch nicht besser. »Eine Frau. Man hat mir gesagt, dass sie manchmal hier verkehrt. Ihr Name ist Patsy.«

»Patsy Kline?«, erwiderte er wie aus der Pistole geschossen. Klang er ein bisschen erschrocken? Sein Lächeln begann auf jeden Fall so schnell zu verblassen, dass man dabei zusehen konnte.

Bast hob die Schultern. »Ich kenne nur ihren Vornamen«, sagte sie. »Aber man hat mir versichert, dass sie häufiger hier verkehrt und dass man sie hier kennt.«

»Wissen Sie, wie viele hier ›häufig verkehren‹?« Der junge Bursche tat einen Moment lang so, als verstünde er gar nicht, wovon sie sprach, aber er war kein besonders guter Schauspieler, und nach einem kurzen Moment schien er das auch selbst einzusehen. »Sie ist manchmal hier«, sagte er. »Hab sie aber schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen. Und ich weiß nicht viel über sie. Was wollen Sie denn von ihr?«

Er log, das spürte Bast. Warum? »Und wer kann mir sagen, wo ich sie eventuell finde?«, fragte sie.

Von der Freundlichkeit des Rothaarigen war nicht mehr viel übrig, und Bast spürte, wie sich auch die Stimmung in ihrer unmittelbaren Umgebung veränderte. Es wurde stiller, als mehr als einer der Gäste seine Unterhaltung unterbrach und sie unauffällig zu belauschen versuchte oder sie auch ganz offen anstarrte. Wie es aussah, war der Name Patsy Kline hier nicht unbekannt.

»Fragen Sie die da hinten, am letzten Tisch am Fenster.«

Basts Blick folgte der Richtung, in die seine ausgestreckte Hand wies. Unter dem schmalen Fenster am anderen Ende des überfüllten Raumes standen gleich drei Tische, und alle waren voll besetzt. Irgendetwas musste sie wohl falsch gemacht haben, aber sie konnte sich jetzt weniger denn je vorstellen, dass sie tatsächlich über Isis sprachen. Sie sollte gehen und ihre Suche anderswo fortsetzen.

Aber es war bislang ihre einzige Spur. Also leerte sie ihren Krug mit wenigen, großen Schlucken, stellte ihn ein wenig heftiger als notwendig auf die Theke zurück und gab dem Rothaarigen mit einer Kopfbewegung zu verstehen, ihr einen zweiten an den Tisch zu bringen. Er schien widersprechen zu wollen - Bast hatte bisher keine einzige Bedienung hier drinnen gesehen, und anscheinend war es üblich, dass sich die Gäste ihre Getränke selbst holten, was auch das Gedränge an der Theke erklärte -, aber sie gab ihm gar nicht erst die Gelegenheit dazu, sondern wandte sich um und bahnte sich einen Weg durch das Gedränge.

Auch jetzt wurde ihr Platz gemacht, wo es nur ging, und auch jetzt spürte sie die gleichermaßen neugierigen wie misstrauischen Blicke, die ihr folgten, mit beinahe körperlicher Intensität. Und obgleich dies ein Gefühl war, das sie nun wahrlich kennen sollte, fiel es ihr zunehmend schwerer, es zu ignorieren. Bast versuchte vergebens, ihre eigenen Gefühle zu analysieren. Was war los mit ihr? Sie war als Jägerin hierhergekommen, aber sie fühlte sich in zunehmendem Maße verunsichert und ... belauert. Wie Beute.

Sie hatte die drei Tische erreicht, die der Rothaarige ihr gewiesen hatte. Die beiden vorderen waren mit den üblichen Zechern besetzt, ebenso einfachen wie groben Typen mit harten und zum Großteil von einem ausschweifenden Leben gezeichneten Gesichtern, die sie mit einer Mischung aus Erstaunen und anzüglicher Neugier anstarrten. Einer der Burschen machte eine Bemerkung, die zu verstehen Bast sich gar nicht erst die Mühe machte. An dem dritten Tisch, der ganz am Ende des Raumes an der Wand stand, saßen vier Frauen unterschiedlichen Aussehens, zugleich aber auch irgendwie ähnlicher Art. Drei von ihnen waren vielleicht in Basts Alter - zumindest in dem, nach dem sie aussah -, während die vierte deutlich jünger sein musste; vielleicht Anfang zwanzig, wenn nicht weniger. Alle vier waren auf ähnliche Weise gekleidet, und Bast war sicher, dass der einzige Grund, weshalb sie nicht nur in Mieder und Strumpfhaltern dasaßen, in der selbst für die Jahreszeit untypischen Kälte zu suchen war, die draußen herrschte. Auch hier bildete die Jüngere vielleicht die einzige Ausnahme, denn sie trug als Einzige nicht nur das Haar zu einem strengen Knoten gebunden, sondern auch ein hochgeschlossenes, einfaches Kleid, das nichts zeigte, trotzdem aber auf eine raffinierte Art aufreizend wirkte. Man sah ihm an, dass es einmal teuer gewesen sein musste, nun aber nicht nur seine besten Tage bereits hinter sich hatte, sondern ganz offensichtlich auch für eine andere Besitzerin geschneidert und später eher schlecht als recht umgeändert worden war.

»Ja?«, fragte einer der älteren Frauen. Sie versuchte Überraschung zu heucheln, was ihr aber nicht wirklich gelang. Sie und die anderen hatten Basts Annäherung natürlich bemerkt und sie schon auf halbem Wege neugierig in Augenschein genommen.

»Verzeihen Sie, wenn ich Ihre Unterhaltung störe«, antwortete Bast. »Aber die Bedienung an der Theke hat mir gesagt, dass Sie mir möglicherweise helfen könnten.«

Die Frau, die sie angesprochen hatte, sagte gar nichts dazu, sondern runzelte nur die Stirn und sah jetzt ein bisschen misstrauisch aus, während ihre Nachbarin ihr Glas zur Hand nahm und einen gehörigen Schluck daraus trank, bevor sie fragte: »Kommt drauf an, wobei.«

»Ich bin auf der Suche nach einer Freundin«, antwortete Bast. »Man hat mir gesagt, dass Sie sie kennen. Ihr Name ist Patsy. Patsy Kline.«

Jetzt starrten sie alle vier an. Vor allem die Jüngere sah plötzlich beinahe ein bisschen feindselig aus.

»Kommt darauf an, was du von ihr willst, Schätzchen«, sagte diejenige, die sie zuerst angesprochen hatte.

»Na, kannst du dir das nicht denken, Liz?«, mischte sich einer der Burschen vom Nebentisch ein. Er lachte, ein leises, unangenehmes Geräusch. »Schau sie dir an. Patsy ist doch dafür bekannt, dass sie ab und an auch nichts gegen ein hübsches Weibsstück einzuwenden hat.«

»Wenn der Preis stimmt«, fügte sein Tischnachbar hinzu.

Bast wandte langsam den Kopf und brachte ihn und seinen Kumpan mit einem eisigen Blick zum Verstummen. Woran sich nichts änderte, das war die anzügliche Art, auf die nicht nur die beiden sie musterten, sondern auch die zwei anderen Männer, die mit ihnen am Tisch saßen. Keiner von ihnen war deutlich älter als zwanzig, schätzte Bast, und keiner kleiner als sechs Fuß und damit genau in jener Verfassung, in der jugendliches Ungestüm und die Kraft und Statur eines Erwachsenen nur zu oft eine ganz besonders gefährliche Mischung ergaben. Den Rest hatte der Alkohol erledigt, dem sie in offensichtlich großem Maße zugesprochen hatten. Der Tisch vor ihnen war übersät mit leeren Bierkrügen und Gläsern, die weitaus stärkere Getränke enthalten hatten. Sie taxierte die vier nacheinander mit einem raschen, aber sehr aufmerksamen Blick, kam zu dem Schluss, dass sie keine wirkliche Gefahr darstellten, und wandte sich wieder den Frauen zu.

»Mein Name ist Bast«, sagte sie, während sie sich ungefragt einen freien Stuhl vom Nebentisch heranzog und darauf niederließ. »Vielleicht hat sie einmal von mir gesprochen.«

Alle vier sahen sie nur weiter auf eine Art an, die klarmachte, dass die Antwort auf diese Frage ein klares Nein war, und schließlich sagte die Jüngere: »Bast? Das ist ein seltsamer Name.«

»Auch nicht verrückter als Faye«, kicherte eine Stimme hinter ihr. »Oder Marie-Jeanette.«

Bast wusste, dass es der Mühe nicht wert war. Dennoch drehte sie sich abermals betont langsam auf ihrem Stuhl herum und maß den Burschen mit einem zweiten, diesmal völlig anderen Blick, der ihn nicht nur endgültig verstummen, sondern auch spürbar blass werden ließ. Mit einem Male hatte er es sehr eilig, wegzusehen und einen Punkt irgendwo unter der geschwärzten Decke anzustarren.

»Kennen Sie Patsy?«, fragte sie geradeheraus.

»Natürlich kennen wir Patsy, Schätzchen«, antwortete eine der Alteren. »Hier gibt's wohl keinen, der sie nicht kennt. Die Frage ist, ob sie dich kennt.«

Bast schwieg einen winzigen Moment. »Um ehrlich zu sein«, sagte sie schließlich, »ich bin nicht einmal ganz sicher.«

»Du bist nicht sicher, ob Patsy dich kennt?«, wiederholte Liz, mehr verwirrt als misstrauisch. Bast überlegte, ob Liz die Abkürzung ihres Vornamens war oder vielleicht für das englische Lizard stand, was so viel wie »Echse« bedeutete. Irgendwie hätte es gepasst. Diese Frau war ... kalt.

»Ich bin nicht sicher, ob sie wirklich die ist, nach der ich suche«, antwortete Bast. »Ich bin auf der Suche nach einer Freundin, das ist alles. Das Letzte, was ich von ihr weiß, ist eine Adresse hier in der Stadt. Ich habe dort nachgefragt, und man hat mir diesen Namen genannt und mich in dieses Lokal geschickt. Allerdings ...«, sie blickte sich demonstrativ um und gab sich Mühe, dabei möglichst zweifelnd auszusehen, »bin ich mittlerweile nicht mehr ganz sicher, ob man mir nicht einen Streich gespielt hat.«

»Wie ist denn die Adresse, bei der du gefragt hast?«, erkundigte sich Liz.

»Hier in dieser Straße«, antwortete Bast. »Haus Nummer neunzehn.«

Die vier Frauen sahen sich einen Moment lang überrascht und fragend an. Zumindest die Jüngste machte ein betroffenes Gesicht, während Liz eher noch misstrauischer zu werden schien. Was hatte sie jetzt schon wieder falsch gemacht?

»Hast du mit der fetten Maude gesprochen?«, fragte sie.

Bast hob die Schultern. »Sie hat mir ihren Namen nicht genannt, aber ...«, sie wiederholte ihr Achselzucken und lächelte zugleich knapp, »ja, die Beschreibung stimmt.«

»Dann hat sie dir einen Streich gespielt«, sagte Liz. »Maude hasst neugierige Fragen. Du kannst von Glück sagen, dass du so billig davongekommen bist und sie dir nicht ihren Schläger auf den Hals gehetzt hat.«

»Diesen ... Ben? Ich fand ihn eigentlich ganz nett.«

»Das ist er auch«, sagte die Jüngere - Faye - rasch, bevor Liz etwas darauf erwidern konnte. »Wenn man ihn ein bisschen besser kennt. Aber wie kommst du darauf, dass Patsy deine Freundin sein könnte?«

»Wo sie ihr doch so ähnlich sieht«, fügte Liz spöttisch hinzu.

Bast wollte antworten, doch in diesem Moment hörte sie ein Poltern hinter sich, und zwischen Liz' unsauber gezupften Augenbrauen erschien eine steile Falte. Bast hatte diesen Blick schon zu oft gesehen, um zu wissen, was er bedeutete: Ärger.

Aus ihrer Vermutung wurde Gewissheit, als sie sich herumdrehte.

Die vier Burschen am Nebentisch starrten sie grinsend an, jetzt aber auch zugleich mit einer gehörigen Portion Schadenfreude, und der Grund dafür ragte wie ein schmuddeliger Berg über ihr auf und funkelte sie aus Augen an, die vor Wut beinahe schwarz waren. Eigentlich starrte er auch nicht direkt sie an, sondern den Stuhl, auf dem sie saß. Bast wurde im Nachhinein klar, dass der freie Stuhl in einem so hoffnungslos überfüllten Lokal eigentlich ungewöhnlich war, und natürlich war er auch nicht wirklich frei gewesen. Sein Besitzer, der einen Gestank verströmte, als käme er gerade von einer mit Whisky und schalem Bier gefüllten Latrine zurück und hätte weder Papier noch Wasser benutzt, war jetzt zurück, und er machte ganz und gar nicht den Eindruck, als hätte er vor, den Rest des Abends stehend zuzubringen. Er war nicht sichtbar älter als die vier anderen, aber noch ein gutes Stück breitschultriger und größer; fast so groß wie sie selbst.

»Ja?«, fragte sie.

»Du sitzt auf meinem Stuhl, Schätzchen«, sagte er. Er lallte noch nicht wirklich, war aber allerhöchstens noch einen Krug Bier oder zwei Schnäpse davon entfernt.

»Er war frei, und mir ist kein Schild mit Ihrem Namen darauf aufgefallen, das an der Lehne gehangen hätte ... ganz davon abgesehen, dass ich ihn nicht kenne.«

Der Kerl machte große Augen und versuchte einem Moment lang tatsächlich, ihren Worten einen Sinn abzugewinnen, aber dann verdüsterte sich sein Gesicht noch mehr. »Wenn du mich auf den Arm nehmen willst, dann ...«

»Mach keinen Ärger, Roy«, sagte Liz ruhig. »Setz dich einfach woanders hin.«

»Halt's Maul.« Der Bursche zog lautstark die Nase hoch und machte Anstalten, ihr das Ergebnis seiner Bemühungen vor die Fuße zu spucken - vielleicht auch anderswohin -, und Bast stand auf und drehte sich in der gleichen, fließenden Bewegung ganz zu ihm um.

Es funktionierte nicht. Roy wich tatsächlich einen ganzen Schritt vor ihr zurück, aber in seinen Augen erschien allenfalls ein Ausdruck sanfter Überraschung, als er ihre Größe registrierte, keine Spur von Schrecken oder gar Unsicherheit. Er war vor ihr zurückgewichen, um die Hände freizuhaben, aus keinem anderen Grund.

»Wenn du glaubst, dass ich ...«

»Ich glaube nicht, dass es viel Sinn hat, diese Unterhaltung fortzusetzen«, unterbrach ihn Bast, schüttelte ansonsten nur den Kopf und sprach nichts von dem aus, was ihr noch auf der Zunge lag. Wie oft hatte sie Situationen wie diese schon erlebt? Sie wusste es längst nicht mehr. Aber dies war wieder einmal eine jener seltenen Gelegenheiten, bei denen sie sich beinahe wünschte, als Mann geboren zu sein.

Allerdings wirklich nur beinahe.

»He, wenn es dir hier nicht gefällt, dann lass uns doch woanders hingehen«, schlug der Kerl vor. »Ich kenne da ein nettes kleines Lokal gar nicht weit von hier, wo wir es uns gemütlich machen können. Da gibt's was Anständiges zu trinken. Und hinterher könnten wir vielleicht noch ein bisschen Spaß haben.«

Bast hatte zwar eine ungefähre Vorstellung davon, was er sich darunter vorstellte, aber sie klammerte sich trotzdem noch einen Moment lang wider besseres Wissen an die Hoffnung, dass der Bursche einfach aufgeben und gehen würde, wenn sie ihn nur beharrlich genug ignorierte.

Aber natürlich tat er das nicht, sondern fuhr ganz im Gegenteil fort: »Oder wir gehen erst mal irgendwo einen Happen essen, was hältst du davon?«

»Nichts«, antwortete Bast. »Ich bin nicht hungrig, danke.«

»Ich auch nicht, ehrlich gesagt«, antwortete er. »Aber ich hätte Appetit, wenn du verstehst, was ich meine.« Er tat wieder einen halben Schritt und legte ihr die Hand auf die Schulter. Da sie gewusst hatte, dass er ganz genau das tun würde, geschah darüber hinaus jedoch nichts. »Nun stell dich nicht so an, Süße«, sagte er. »Wir zwei passen doch wunderbar zusammen. Ein Prachtbursche wie ich und ein Rasseweib wie du ...«

»Es tut mir leid, aber ich möchte jetzt meine Unterhaltung weiterführen«, sagte Bast ruhig, griff nach seiner Hand und drückte seine Finger kurz, aber so kräftig zusammen, dass sie seine Gelenke knacken hören konnte. Aus der gleichen Bewegung heraus trat sie nun ihrerseits einen halben Schritt auf ihn zu, sodass er vor ihr zurückweichen musste, ob er wollte oder nicht. Vielleicht trug ja auch der Umstand dazu bei, dass sie seine Finger weiter mit der Kraft eines Schraubstockes zusammenquetschte. Ein wenig mehr, und sie würden brechen. Aber das wollte sie nicht. Noch nicht.

»Wie gesagt, ich habe etwas anderes vor«, sagte sie ruhig. »Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit, aber ich habe leider keine Zeit mehr.« Sie verstärkte den Druck auf seine Finger für eine halbe Sekunde noch um eine Winzigkeit - nicht genug, um ihn zu verletzen, aber ausreichend, um ihm wirklich weh zu tun, ließ los und lächelte knapp und so kühl, wie sie gerade noch konnte, ohne dass es albern wirkte.

Der Kerl prallte hastig einen Schritt zurück und umschloss seine gequetschten Finger mit der anderen Hand. Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen, aber das war nicht unbedingt ein Zeichen von Feigheit. Ganz im Gegenteil. Bast wusste, wie schmerzhaft ein solcher Griff war. Sie hatte schon weit kräftigere Männer dabei wimmend in die Knie brechen sehen. Und nur den Bruchteil einer Sekunde darauf verschwand der Ausdruck von Schmerz auch aus seinen Augen und machte brodelndem Zorn Platz. Er war nicht nur kein Feigling, dachte Bast, sondern offensichtlich auch hart im Nehmen. Gut zu wissen.

»Du verdammte blöde Kuh!«, zischte er. »Ich werd dir ...«

»Halt den Mund, Roy, und hör auf Liz und setz dich wieder hin«, sagte eine Stimme hinter ihm. Roy machte ein überraschtes Gesicht, drehte sich leicht schwankend herum und sah dann noch überraschter auf eine rothaarige Gestalt hinab, die ihm kaum bis zur Brust reichte und den Kopf in den Nacken legen musste, um ihm ins Gesicht zu sehen. Es war der Kellner von der Theke, der den Krug Bier brachte, den sie bestellt hatte. Er hatte Angst, das spürte Bast, aber er beherrschte sich ausgezeichnet. »Wir wollen keinen Ärger hier drin.«

»Die Schlampe sitzt auf meinem Stuhl«, beschwerte sich Roy. Er knetete seine gequetschten Finger noch immer mit der anderen Hand.

»Die Schlampe ist eine Lady, und im Moment steht sie neben deinem Stuhl«, antwortete der Rotschopf sanft. »Außerdem hat sie recht: Dein Name steht nicht drauf.«

»Er könnte ihn sowieso nicht lesen«, meinte Faye und kicherte. »Wenn er ihn überhaupt kennt.«

Der Rothaarige warf ihr einen zögerlichen Blick zu, knallte den Krug so fest auf den Tisch, dass es spritzte, und funkelte Roy warnend an. »Und jetzt spiel ausnahmsweise mal den Gentleman und überlass einer Dame deinen Platz.«

»Dame - ha!«, machte Roy. Aber der gefährliche Moment war vorbei. Er funkelte Bast noch einen Augenblick lang wütend und herablassend zugleich an - das war er sich selbst und seinem Ruf bei den anderen schuldig, vermutete sie -, aber schließlich wandte er sich mit einer Mischung aus einem Schnauben und einem blubbernden Rülpser ab und wankte um den Tisch herum, um sich zwischen die anderen auf die Bank zu quetschen.

»Und Sie sollten Ihr Bier austrinken und verschwinden«, fuhr der Rothaarige fort. »Wir brauchen hier keinen Ärger. Schon gar nicht mit Roy und seiner Bande.«

»Vielen Dank, trotzdem«, antwortete Bast. Sie bezahlte das Bier, gab ihm ein großzügiges Trinkgeld und schenkte ihm noch ein strahlendes Lächeln obendrauf, das allerdings an ihm abprallte. Sie setzte sich erst wieder, nachdem er gegangen war.

»Das war ziemlich mutig von dir«, sagte Faye und nickte anerkennend.

»Eher ziemlich dumm«, murrte Liz. »Mit denen solltest du dich lieber nicht anlegen.«

»Roy und seine Freunde?« Bast griff nach dem Bierkrug, trank aber nicht davon. Alkohol - egal in welchen Mengen - hatte keine Wirkung auf sie, aber das zweite Bier würde auch nicht besser schmecken als das erste. »Keine Sorge. Ich kenne solche Männer. Hunde, die bellen, beißen nicht ... so heißt es doch, oder?«

»Diese schon«, behauptete Liz. Sie versuchte unauffällig an ihr vorbeizulinsen, um Roy und seine vier Freunde im Auge zu behalten. »Das sind ganz üble Kerle. Hier bei uns ist keine, die sie noch nicht ...«

»Noch nicht was?«, fragte Bast, als sie nicht weitersprach, sondern nur die Lippen zu einem schmalen Strich zusammenpresste, blutleer und so gerade wie eine schlecht verheile alte Narbe. Als ob sie sich das nicht denken konnte.

»Ich nicht«, behauptete Faye. »Er hat's versucht, aber ich hab ihm in die Eier getreten, dass er gedacht hat, sie kommen ihm zu den Ohren wieder raus.«

»Ja, und danach haben sie dich so zusammengeschlagen, dass du zwei Wochen im Spital gelegen hast«, sagte eine der beiden anderen Frauen.

»Jedenfalls ist mir keiner von ihnen an die Wäsche gegangen«, antwortete Faye patzig. Dann lachte sie leise und trank den Rest aus ihrem Glas. »Jedenfalls nicht, ohne dafür zu bezahlen.«

Bast sah sie einen Moment lang mit gespielter Überraschung an, dann drehte sie sich auf ihrem Stuhl herum und sah durch den überfüllten Raum zur Theke hin. Trotz des Gedränges spürte der Rothaarige ihren Blick sofort - Bast hatte dafür gesorgt -, und sie hob die Hand und machte mit gespreizten Fingern auf die vier Frauen am Tisch aufmerksam. Der Rotschopf nickte widerwillig.

»Hast du die Spendierhosen an?«, erkundigte sich Liz. Sie klang weder überrascht noch in irgendeiner Art dankbar, aber Bast spürte auch, dass ihr Misstrauen nicht ihr persönlich galt, sondern der ganzen Welt. Wenn sie lange genug lebte, dachte sie, hatte sie gute Aussichten, ebenso verbittert und feindselig zu werden wie Maude; wenn auch vielleicht nicht so fett.

Der Gedanke führte zu einem anderen, den sie nicht haben wollte: der Erinnerung an ein bleiches Mädchengesicht, das sie aus leeren Augen vorwurfsvoll anzublicken schien. »Immerhin beantwortet ihr meine Fragen«, antwortete sie ungeschickt. »Und ihr habt mich vor diesen Kerlen gewarnt.«

»Was immer das helfen mag«, sagte Liz. »Ich bin Elizabeth, aber hier nennen mich alle nur Long Liz. Das da«, sie deutete nacheinander auf die anderen, »sind Kate, Marie-Jeanette und Faye. Du suchst also eine Freundin und meinst, es könnte Patsy sein.«

»Es wäre immerhin möglich«, antwortete Bast.

»Ist sie auch ...?«, begann Faye.

»Schwarz?«, half ihr Bast aus, als sie nicht weitersprach, sondern ganz im Gegenteil plötzlich ein bisschen verlegen aussah. Sie musste an das denken, was die Frau in Maudes zwielichtigem Etablissement über Patsy gesagt hatte, und schüttelte den Kopf. »Nein. Ich bezweifle sowieso, dass ich hier richtig bin. Aber ich hatte diese Adresse - Nummer neunzehn -, und eines von Maudes ... Mädchen hat mir gesagt, dass sie vor ungefähr zwei Jahren dort aufgetaucht sei. Das hätte gepasst ... und es ist die einzige Spur, die ich habe.«

»Dann hast du ein Problem«, sagte die Frau mit dem französisch klingenden Namen. In ihrer Stimme war nicht der leiseste Hauch eines entsprechenden Dialekts. »London ist groß. Wenn hier eine nicht gefunden werden will, dann wird sie auch nicht gefunden.«

»Ja, das habe ich befürchtet«, seufzte Bast. Sie spielte weiter mit ihrem Krug und setzte ihn dann hastig ab, als sie Liz' Stirnrunzeln bemerkte. Der Krug fasste nahezu eine halbe Gallone und musste an die fünf Pfund wiegen. Selbst die Kerle am Nebentisch hoben ihre Krüge mit beiden Händen an, wenn sie daraus tranken. »Wahrscheinlich war es dumm von mir. Immerhin war ich bei Maude und habe gesehen, welche Art von Geschäft sie betreibt.«

»Und jetzt bist du schockiert, dass sie sich mit solchen wie uns abgibt?«, fragte Liz.

»Keineswegs«, antwortete Bast ruhig. »Ich bin keine Moralistin. Was jemand tut oder nicht, ist ganz allein seine Entscheidung.« Vorausgesetzt, er ist alt genug, um diese Entscheidung zu treffen.



»Wie nobel«, sagte Liz.

»Aber es käme hin«, sagte Faye hastig und wenigstens zum Teil wohl auch, um Liz zum Schweigen zu bringen. Sie legte den Kopf schräg und sah Bast forschend an. »Wenn ich es genau bedenke, siehst du ihr sogar ein bisschen ähnlich.«

»Ha!«, machte Kate.

»Nein, im Ernst«, beharrte Faye. »Ich meine: Natürlich sieht sie ihr kein bisschen ähnlich, aber trotzdem ...« Sie lachte nervös. »Also wenn Patsy schwarz wäre, dann könnte man glauben, sie wären Schwestern.«

»Blödsinn«, schnaubte Liz, während Bast nun doch einen Schluck von ihrem warmen Ale nahm; wenn auch nur, um sich hinter dem wuchtigen Krug zu verstecken. Faye war eine ausgezeichnete Beobachterin. Tatsächlich sahen sich Isis und sie nicht im Geringsten ähnlich, aber da war noch eine andere, tiefer gehende Art der Verwandtschaft, die dem sehenden Auge verborgen blieb, welche die junge Frau aber ganz offensichtlich spürte.

Fast zu ihrer Erleichterung kam in diesem Moment der Rotschopf, um ihre Bestellung zu bringen; ein Tablett mit vier Gläsern, die billigen, dafür aber umso stärkeren Whisky enthielten.

»Das ist die letzte Runde, Ladys«, sagte er. »Gleich ist Sperrstunde.«

»Seit wann interessiert sich hier einer dafür?«, erkundigte sich Kate.

»Seit die Zeiten gefährlich geworden sind, Schätzchen«, antwortete er. »Vor allem für anständige Ladys wie euch.«

Bast bezahlte - als sie den Preis hörte und zugleich Kates überraschten Gesichtsausdruck bemerkte, verzichtete sie dieses Mal darauf, ihm ein Trinkgeld zu geben - und wartete, bis er wieder außer Hörweite war, dann hob sie ihren Krug und prostete den Frauen zu. Faye, Marie-Jeanette und nach kurzem Zögern auch Kate taten dasselbe und tranken. Liz rührte ihr Glas nicht an.

»Warum sagt ihr mir nicht einfach, wo ich diese Patsy finde?«, fragte sie. »Ein einziger Blick, und ich weiß, ob sie die ist, nach der ich suche.«

»Wer sagt dir denn, dass Patsy gefunden werden will?«, fragte Liz.

»Ich bin ihre Freundin«, sagte Bast. »Sie hat nicht den geringsten Grund, sich vor mir zu verstecken. Das ist wahr.« Zugleich sorgte sie dafür, dass Liz ihr glaubte. Trotzdem verschwand das Misstrauen nicht vollkommen aus ihrem Blick.

»Was genau willst du denn von ihr?«, fragte sie.

»Das ist ... eine Familienangelegenheit«, antwortete Bast ausweichend. »Rein privat. Aber es ist wichtig.«

»Und das sieht Patsy genauso?«, wollte Liz wissen.

»Ich glaube, sie ist gar nicht in der Stadt«, sagte Faye. »Jedenfalls habe ich sie schon lange nicht mehr gesehen. Bestimmt seit zwei Wochen.«

»Eher drei«, mischte sich Kate ein. »Seit das mit Dark Annie passiert ist.«

»Dark Annie?«, fragte Bast.

»Eine Freundin von uns«, sagte Liz. »Jedenfalls war sie das.«

»War?«

»Jemand hat sie umgebracht«, sagte Kate. »Hässliche Geschichte.«

»Jemand hat sie aufgeschlitzt wie ein Schwein und dann ausgeweidet«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie gehörte Roy, aber Bast machte sich weder die Mühe, sich zu ihm herumzudrehen, noch gar, darauf zu antworten. Roy? Warum eigentlich nicht? Aber nicht jetzt.

»Aber das hat nichts mit Patsy zu tun«, sagte Faye hastig. »Ist ganz normal, dass sie ab und zu einfach verschwindet. Manchmal für 'ne Woche oder zwei, manchmal auch länger. Einmal ist sie für geschlagene drei Monate verschwunden und dann ganz plötzlich wieder aufgetaucht. Sie hat uns nie gesagt, wo sie war.«

Und ihr habt auch ganz bestimmt nicht gefragt, dachte Bast. »Dann wisst ihr also nicht, wo ich sie finden könnte«, schloss sie. Sie machte keinen Hehl aus ihrer Enttäuschung. »Hat sie eine Adresse? Ich meine eine Wohnung, wo man mir vielleicht weiterhelfen kann?«

Faye hob die Schultern. »Sie wohnt irgendwo in Aldgate ... glaube ich.« Ein weiteres, noch unschlüssigeres Achselzucken. »Irgendwo im East End jedenfalls. Aber genau weiß ich es nicht.«

»Ihr stellt nicht sehr viele Fragen«, meinte Bast.

»Nicht so viele wie du«, sagte Liz.

Bast verstand. Sie verstand auch, dass sie gar nicht erst hätte herkommen sollen. Isis war entweder nicht hier, oder sie wollte nicht gefunden werden ... so oder so war das, was sie hier tat, pure Zeitverschwendung. Außer vielleicht, dass es noch zu einem kleinen Tête-à-Tête mit Roy und seinen Freunden kam ...

Als hätte sie ihre Gedanken gelesen, wurde Fayes Blick plötzlich ernster. »Die machen hier gleich dicht«, sagte sie.

»Und?«

»Whitechapel ist keine besonders gute Gegend«, sagte Faye. »Jedenfalls nicht für eine Frau, die allein unterwegs ist.« Sie warf einen verstohlenen, aber bedeutungsschweren Blick auf einen Punkt irgendwo hinter ihr, den Bast allerdings nur mit geschauspielerter Verständnislosigkeit quittierte. »Bevor sie hier Schluss machen, sollten wir vielleicht noch eine gewisse ... Örtlichkeit aufsuchen.« Faye verdrehte die Augen, um ihr irgendetwas zu signalisieren. »Ich meine: Es ist ein weiter Weg nach Hause, und draußen ist es verdammt kalt. Und wir Frauen haben es in gewisser Hinsicht nicht ganz so einfach wie Männer, denen ein Baum oder eine Mauer ausreicht.«

Bast tat beharrlich weiter so, als verstünde sie gar nicht. »Und?«, fragte sie nur noch einmal.

»Es gibt dort einen Hinterausgang«, sagte Kate leise. »Ich glaube, Faye wollte dir anbieten, ihn dir zu zeigen.«

»Das ist sehr freundlich«, antwortete Bast. »Aber ich muss nicht. Und ich habe es auch nicht sehr weit nach Hause. Vielleicht eine halbe Stunde. Ein kleiner Spaziergang tut mir wahrscheinlich gut.« Sie deutete mit einem gequälten Lächeln auf das Bier, das sie kaum angerührt hatte. »Ich fürchte, ich habe zu viel getrunken.«

Faye starrte sie ungläubig an, und Liz sagte kühl: »Du musst wissen, was du tust, Schätzchen.«

»Ja, ich denke, ich weiß es«, antwortete Bast. Sie stand auf. »Noch einmal vielen Dank für alles. Und ... wenn eine von euch etwas von Patsy hört, dann sagt ihr doch einfach, dass Bast nach ihr gefragt hat. Wenn sie die Richtige ist, dann weiß sie, wer ich bin.«

Und damit schob sie ihren Stuhl zurück und ging.

Roy und seine vier Kumpane starrten sie geradezu hasserfüllt an, als sie stolz erhobenen Hauptes an ihnen vorüberging, ohne sie auch nur eines Blickes zu würdigen, aber Bast griff in einer wie zufällig erscheinenden Geste in ihren Ausschnitt und sorgte dafür, dass sie den massiven goldenen Anhänger sahen, bevor sie das Ten Bells endgültig verließ.



Das Ungeheuer in ihr tobte. Bast hatte ihm Beute versprochen und dieses Versprechen bisher nicht eingelöst, und es war noch nie sehr geduldig gewesen. Jetzt schrie es vor Hunger und Gier, und es fiel ihr immer schwerer, es im Zaum zu halten.

Außerdem fror sie erbärmlich.

Sowohl ihr Kleid als auch der schwarze Kapuzenmantel, den sie darüber trug, waren aus einem schweren, dicht gewebten Stoff, der die Kälte eigentlich zuverlässig abhalten sollte. Sie hatte die Kleidungsstücke zu keinem anderen Zweck ausgewählt, als sie sich auf den Weg in dieses kalte, neblige Land gemacht hatte. Aber England hatte sie ein weiteres Mal überrascht. Es war Ende September, doch die Temperaturen entsprachen eher dem Jahreswechsel, und die Kälte war anders, als sie erwartet hatte.

Bast war niedrige Temperaturen gewöhnt. Auch in ihrer Heimat, die die meisten Europäer nur mit Sonnenglut und unerträglicher Hitze assoziierten, fielen die Temperaturen nachts manchmal weit unter den Gefrierpunkt, und sie war schon in Ländern gewesen, in denen der Schnee nie schmolz und sich die Sonne nur in der Hälfte des Jahres am Himmel zeigte. Aber diese Kälte hier war ... anders.

Es war nicht einmal wirklich kalt. Der feine Nieselregen - eigentlich eher eine Art feuchter Dunst -, der sie empfangen hatte, als sie das Ten Bells verließ, würde noch Wochen brauchen, bevor er sich in Schnee oder Hagel verwandelte, aber es war eine kriechende, heimtückisch feuchte Kälte, die ebenso beharrlich wie unaufhaltsam unter ihre Kleider geglitten war und sich längst darangemacht hatte, auch unter ihre Haut zu kriechen und nicht nur ihre Muskeln, sondern auch ihre Knochen ganz langsam zu einer porösen Masse erstarren zu lassen, die bei der geringsten unvorsichtigen Bewegung wie Glas zerspringen musste. Bast war an Orten gewesen, die hundertmal kälter waren als dieser, und trotzdem fragte sie sich zum ersten Mal in ihrem langen Leben ganz ernsthaft, ob jemand ihrer Art eigentlich erfrieren konnte.

Wahrscheinlich nicht, dachte sie missmutig. Wahrscheinlicher war eher, dass sie einfach steif umfiel und in einem oder zehn oder auch hundert Jahren von irgendjemandem gefunden und aufgetaut wurde, den anschließend der Schlag traf, wenn die vermeintliche Eismumie die Augen aufschlug und um einen heißen Tee bat.

Was für eine durch und durch dämliche Vorstellung!

Ein leises Poltern drang in ihre Gedanken und bewahrte sie davor, in womöglich noch kindischere Fantasien abzugleiten.

Bast ging raschen Schrittes, aber äußerlich vollkommen ruhig weiter. Sie blickte sich weder um, noch zeigte sie auch nur das mindeste Anzeichen von Nervosität; allenfalls, dass sie als Reaktion auf die beißende Kälte die Schultern ein wenig zusammengezogen hatte. All ihre Sinne waren jedoch plötzlich zum Zerreißen angespannt, und die Nacht schien von einem Atemzug auf den anderen voller Geräusche und Gerüche zu sein. Der Großteil der Häuser, die die schmale Straße flankierten, lag bereits im Dunkeln, nur hier und da brannte noch ein einzelnes Licht, das die wattige Schwärze jedoch nicht wirklich verscheuchen konnte, sondern die Szenerie ganz im Gegenteil eher noch gespenstischer erscheinen ließ. Die Straße glänzte nass wie ein welliger, in unzählige Splitter zerborstener Spiegel, und trotz der Kälte war jener leichte Nebel aufgekommen, für den diese Stadt berüchtigt war. Die Straßenlaternen und wenigen Fenster, hinter denen noch Licht brannte, hatten faserige Höfe, und alle Laute klangen gedämpft und auf eine Weise verzerrt, die es selbst ihren scharfen Ohren unmöglich machte, die genaue Richtung zu orten, aus der sie kamen. Irgendwo vor ihr, noch ein gutes Stück außerhalb ihrer Sichtweite, war ein Paar auf dem Heimweg, nervös und ein bisschen ängstlich, weil es die Zeit vergessen hatte und von der früh hereinbrechenden Dunkelheit in einer Gegend überrascht worden war, in die es sich selbst bei Tageslicht nur mit einem unguten Gefühl gewagt hätte, und Bast ging ein bisschen langsamer, um den Abstand zu ihnen zu wahren, denn sie wollte keine Unbeteiligten mit hineinziehen; nicht weil sie ein so großes Herz hatte, sondern aus rein pragmatischen Überlegungen heraus: Unbeteiligte Zuschauer waren zugleich auch Zeugen, die sie bei dem, was möglicherweise geschehen würde, nun wahrlich nicht gebrauchen konnte.

Auch hinter ihr waren Schritte, nahezu ebenso weit entfernt, aber der Nebel und die Erregung der Jagd verzerrten die Geräusche zu sehr, als dass sie sagen konnte, wie weit entfernt sie wirklich noch waren und wie viele.

Bast ging wieder etwas schneller, steuerte den Lichtschein einer der wenigen Gaslaternen an, die noch brannten, und blieb unmittelbar an seinem Rand stehen, sodass ihre Verfolger ihre Gestalt als deutlichen Umriss erkennen konnten, und sah sich mit kleinen, verwirrten Bewegungen um. Nicht weit vor ihr brannte noch Licht in einem Haus, und sie sah einen Moment lang konzentriert hin, als überlege sie, einfach dort zu klopfen und um Hilfe zu bitten, ging dann aber - nach einem nervösen Blick über die Schulter - weiter. An der nächsten Abzweigung angekommen, wandte sie sich nicht nach rechts, wie es richtig gewesen wäre, sondern nach links. Die Straße war hier schmaler, und es brannten nun überhaupt keine Laternen mehr. Auch die Häuser lagen so dunkel und still da, als wäre sämtliches Leben in diesem Teil der Stadt einfach erloschen. Sie ging schneller und war jetzt nur noch eine Winzigkeit davon entfernt, wirklich zu rennen. Dann hörte sie auch vor sich Schritte.

Bast blieb stehen und lauschte einen Moment lang konzentriert. In das Geräusch der Schritte mischte sich jetzt noch ein anderer Laut, ein sonderbares Wusch-Wusch, wie das Geräusch eines Dreschflegels, der durch die Luft fuhr, ohne jemals irgendetwas zu treffen. Bast runzelte verwirrt die Stirn - und stieß einen halblauten Fluch aus. Hastig fuhr sie herum, lief ein paar Schritte in die Richtung zurück, aus der sie gekommen war und glitt in eine schmale Lücke zwischen zwei heruntergekommenen Häusern, wo sie mit klopfendem Herzen wartete, während das Geräusch schwerer, nicht allzu eiliger Schritte langsam näher kam.

Es war eine Gestalt in einem dunklen, knielangen Gehrock, dessen Messingknöpfe in der Dunkelheit glänzten wie nasses Gold. Der schwarze Helm mit dem schimmernden Messingstern ließ sie größer erscheinen, als sie war, und im Gegensatz zu dem Konstabler, den sie vorhin getroffen hatte, war dieser Mann bewaffnet, wenn auch nur mit einem Schlagstock aus poliertem Holz, der mit einer Kordel an seinem rechten Handgelenk befestigt war, um das er ihn mit regelmäßigen Bewegungen kreisen ließ. Das war das seltsame Geräusch, das sie gehört hatte.

Bast spürte, dass er dazu ansetzte, einen Blick in die Lücke zu werfen, in die sie sich zurückgezogen hatte, überzeugte ihn hastig davon, dass es nicht nötig war, und wartete nun tatsächlich mit angehaltenem Atem, bis er vorbeigegangen war. Trotz allem erschien ein dünnes, flüchtiges Lächeln auf ihren Lippen. Anscheinend gab es tatsächlich ein in allen Kulturen und zu allen Zeiten gültiges Gesetz, nach dem sich die Obrigkeit niemals zeigte, wenn man sie wirklich brauchte, aber stets zur Stelle war, wenn man sie nun wirklich nicht gebrauchen konnte.

Sehr viel langsamer als Bast recht gewesen wäre, ging er an ihrem Versteck vorüber und hielt dann doch noch einmal inne. Er hörte damit auf, seinen Schlagstock kreisen zu lassen, und sah für die Dauer von zwei oder drei schweren Herzschlägen unschlüssig aus, als hätte er irgendetwas gehört oder gespürt, das ihn verunsicherte, setzte seinen Weg aber dann doch fort, ohne auch nur einen Blick in ihre Richtung geworfen zu haben, und auch das regelmäßige Wusch-Wusch seines Schlagstocks setzte wieder ein.

Bast atmete erleichtert auf. Sie hätte dafür sorgen können, dass der Mann sie nicht einmal wahrnahm, wenn er ihr direkt ins Gesicht gesehen hätte, aber zu diesem letzten Mittel nahm sie nur Zuflucht, wenn es gar nicht mehr anders ging. Eingriffe wie dieser hinterließen Spuren, und sei es auch nur ein Gefühl des Unbehagens, das den Betroffenen über Tage hinweg verfolgte, wenn er an jenen bestimmten Moment zurückdachte, und sie hatte im Laufe dieses Abends schon genug Fehler gemacht. So geduldete sie sich, bis sich die Schritte allmählich entfernten und der Mann die Abzweigung erreichte und seine Streife in die Richtung fortsetzte, aus der sie gerade gekommen war.

Erst dann wurde ihr klar, dass er auf diese Weise unweigerlich auf die Männer treffen musste, die sie verfolgten.

Ärger wallte in Bast auf; Ärger auf sich selbst, nicht sofort daran gedacht und ihn doch in die entgegengesetzte Richtung weggeschickt zu haben. Sie überlegte einen Moment lang ernsthaft, ihm zu folgen und ihr Versäumnis - falls noch möglich - nachzuholen, sah aber ein, dass es dazu jetzt ohnehin zu spät war. In den letzten Augenblicken, bevor sie sich so hastig hatte verstecken müssen, waren die Schritte ihrer Verfolger spürbar näher gekommen, und was geschehen würde, würde nun einmal geschehen.

Sie lauschte. Die Nacht war nach wie vor voller Geräusche, die das Ohr eines normalen Menschen nicht wahrgenommen hätte, aber das, worauf sie mit einem Gefühl banger Enttäuschung und noch immer bohrenden Ärgers über sich selbst wartete, geschah nicht. Kein überraschter Ausruf, keine Schreie oder rennende Schritte, und auch nicht die Geräusche eines Kampfes oder das Schrillen einer Trillerpfeife.

Bast atmete erleichtert auf. Offensichtlich hatten auch ihre Verfolger die Gefahr rechtzeitig erkannt und entsprechende Maßnahmen getroffen. Sie hoffte nur, dass sie diese unerwartete Begegnung nicht den Mut verlieren und auf den Gedanken kommen ließ, sich für den Rest der Nacht einem anderen Amüsement zuzuwenden.

Nur einen Moment später wurde ihre Frage beantwortet. Die Schritte waren wieder da und kamen jetzt sogar rascher näher, und auch Bast verließ ihr Versteck, wartete, bis die Schritte ihrer Verfolger hinter ihr um die Ecke bogen und sie sicher sein konnte, von ihnen auch gesehen zu werden und begann dann zu rennen; nicht annähernd so schnell, wie sie es gekonnt hätte, aber doch schnell genug, um es nach einer kopflosen Flucht aussehen zu lassen. Nach zwei oder drei Dutzend schneller, weit ausgreifender Schritte stürmte sie mit wehendem Mantel quer über die Straße, wechselte plötzlich die Richtung und tauchte schließlich in eine der zahllosen schmalen Gässchen ein, die diesen Teil der Stadt in ein wahres Labyrinth verwandelten, in dem schon so mancher verschwunden und nie wieder daraus aufgetaucht war.

Sie rannte noch ein knappes Dutzend Schritte weiter - und blieb dann wie angewurzelt stehen, als sie die beiden schattenhaften Gestalten gewahrte, die am anderen Ende der Gasse aufgetaucht waren. Hinter ihr kamen hastige, trappelnde Schritte näher und brachen dann ab.

»So spät noch unterwegs, und das in dieser Gegend?«, erklang eine hämische Stimme hinter ihr. »Das ist aber ziemlich leichtsinnig.«

Bast maß die beiden Schatten vor sich mit einem raschen, aufmerksamen Blick - sie waren noch gute zehn oder zwölf Meter entfernt und rührten sich nicht -, bevor sie sich mit einer ebenso langsamen wie mühsam beherrscht wirkenden Bewegung herumdrehte.

Auch hinter ihr waren zwei Männer aufgetaucht. Einer von ihnen war Roy, der andere der Bursche, der am Tisch unmittelbar neben ihm gesessen hatte.

»Was für eine Überraschung«, grinste Roy. »So sieht man sich wieder.«

Bast schwieg dazu. Es wäre auch vollkommen gleich, was sie gesagt hätte - die Kerle waren nicht gekommen, um zu reden.

Das Ungeheuer in ihr zerrte jetzt mit Macht an seinen Ketten, aber sie hielt es mit derselben Macht zurück. Sie musste sicher sein, auch wirklich den Richtigen gegenüberzustehen.

»Was ... wollt ihr?«, fragte sie, wenn auch jetzt mit jener leisen, aber festen Stimme und jener ganz bestimmten Art von trotzigem Mut, hinter dem Männer wie Roy instinktiv die schiere Todesangst erkannten.

»Oh, nichts.« Roys Grienen wurde noch breiter. »Wir wollten Sie nur sicher nach Hause begleiten, Lady. Ist keine gute Gegend hier. Hat man Sie denn nicht gewarnt, dass es für eine Frau gefährlich sein kann, hier allein unterwegs zu sein, und noch dazu nachts?«

»Ich ... kann schon auf mich aufpassen«, antwortete sie nervös. Ihr Blick tastete unstet an ihm vorbei und durch die Schatten und Winkel im vorderen Teil der Gasse; wie ein in die Enge getriebenes Tier auf der verzweifelten Suche nach einem Ausweg. »Aber trotzdem vielen Dank für die Warnung. Ich habe gar nicht gedacht, dass man heutzutage noch auf echte Gentlemen trifft.«

»Ist auch nicht so«, antwortete Roy fröhlich. Die Gestalt hinter ihm bewegte sich unruhig, und Bast hörte, wie auch die beiden Burschen hinter ihr näher kamen.

Sie fuhr sich nervös mir der Zungenspitze über die Lippen. »Ich ... danke Ihnen jedenfalls für Ihre Fürsorge. Aber ich habe es jetzt nicht mehr weit bis nach Hause. Die paar Schritte schaffe ich schon noch«, sagte sie und versuchte, einen Schritt an ihm vorbeizutun.

Natürlich blieb es bei dem Versuch. Roy machte keine Anstalten, sie anzufassen - noch nicht -, aber er streckte rasch den Am zur Seite und verwehrte ihr so den Weg. »Nicht so schnell, Süße«, sagte er. Sein Lächeln erlosch und machte etwas anderem Platz, wofür Bast keinen passenden Ausdruck kannte, obwohl sie es schon unzählige Male gesehen hatte. »Da ist noch eine Sache zwischen uns zu klären.«

Bast wich mit gespieltem Erschrecken einen Schritt vor ihm zurück - sehr viel weiter konnte sie nicht, ohne gegen einen der beiden anderen Kerle zu prallen, die inzwischen noch näher gekommen waren und sich vermutlich auch noch einbildeten, sie wären dabei besonders leise gewesen. »Sie ... meinen doch nicht etwa diese dumme Sache mit dem Stuhl«, sagte sie nervös. »Ich bitte Sie! Das war doch ... nur ein Missverständnis.«

»Für mich nicht«, antwortete er. »Ich kann's nun mal auf den Tod nich' ausstehn, wenn man mich vor meinen Freunden lächerlich macht.« Er zuckte die Achseln und machte einen einzelnen, wiegenden Schritt auf sie zu. »Außerdem war es mein Lieblingsstuhl. Ich bin da 'n bisschen eigen, weißt du?«

Bast verstand nicht ganz, warum er sich nicht längst einfach auf sie gestürzt hatte. Anscheinend fühlte er sich sehr sicher und wollte mit ihr spielen.

So oder so, Bast gemahnte sich auf jeden Fall in Gedanken zur Vorsicht. Roy war zwar nicht ganz so groß wie sie, aber ein gutes Stück schwerer, und auch die anderen waren alles andere als Schwächlinge. Bast bedauerte es inzwischen schon fast, keine Waffe mitgenommen zu haben. Immerhin waren sie zu viert.

»Also gut, es tut mir leid«, sagte sie. »Ich entschuldige mich bei Ihnen. Es kommt bestimmt nicht noch einmal vor.«

»Nein, ganz bestimmt nicht«, sagte Roy.

Bast sah die Bewegung kommen, tauchte im letzten Moment unter seiner zupackenden Hand weg und versetzte ihm gleichzeitig einen Stoß vor die Brust, der ihn mit einem überraschten Grunzen zurücktaumeln ließ. Gleichzeitig fuhr sie herum - und genau in die Arme eines der beiden Kerle, die sich von hinten an sie angeschlichen hatten.

Es war, als wäre sie unversehens mit dem Kopf in ein Jauchefass getaucht und hätte vergessen, Mund und Nase fest zu schließen. Gewalt, pure Lust am Quälen und dem Verbreiten von Furcht explodierte in ihren Gedanken, ein solcher Sumpf niedriger Begierden, dass der erschrockene Schrei, der über ihre Lippen kam, nicht einmal mehr vorgetäuscht war. Sie hatte genau das gewollt, diesen Blick in die tiefsten Abgründe seiner Seele, um auch ganz sicher zu sein, aber was sie nicht erwartet hatte, das war der Morast aus abgrundtiefer Verkommenheit, ein klebriger Sumpf, der sie um ein Haar mit sich in die Tiefe gerissen hätte und wie Säure an den Ketten fraß, die ihr eigenes Ungeheuer hielten. Um ein Haar hätte es sich losgerissen, aber irgendwie gelang es ihr, es noch einmal zu bändigen.

Sie fragte sich beinahe selbst, warum.

Aus ihrem Schrei wurde ein ersticktes Keuchen, als der Kerl sie mit solcher Wucht gegen die Mauer stieß, dass ihr Hinterkopf gegen den rauen Stein prallte und sie für einen Augenblick nichts als eine Explosion aus reinem weißem Schmerz sah.

Als das farbige Flimmern vor ihren Augen erlosch, war es wieder Roy, der vor ihr stand, nicht mehr der Bursche, der sie gestoßen hatte. Das Grinsen war wieder auf sein Gesicht zurückgekehrt, ohne jenen anderen, schlimmeren Ausdruck verscheucht zu haben.

»Wo wir gerade über meinen Stuhl sprechen«, griente er, »ich bin da wirklich sehr eigen. Ist 'ne richtige Marotte von mir. Aber wenn ich's mir genau überlege, fällt mir schon noch was anderes ein, wo ich mich draufsetzen könnte.«

Bast schwieg. Diesmal hatte sie sich sorgsam abgeschirmt, aber sie musste ihn auch nicht berühren, um in den Abgrund zu blicken, der sich hinter seinem brutalen Äußeren verbarg. Was sie fühlte, schnürte ihr buchstäblich die Kehle zu.

»Tja, Schätzchen, jetzt zeigen wir dir mal, was echte englische Gentlemen sind«, sagte Roy. Dann erlosch sein Lächeln, als er ihr direkt in die Augen sah und ihm ganz allmählich dämmerte, dass mit einem Male nicht mehr die kleinste Spur von Furcht darin zu erkennen war. Bast ließ ihm auch genug Zeit, um zu begreifen, dass hier irgendetwas nicht so lief, wie er es sich vorgestellt hatte, bevor sie sich mit einem sanften Lächeln von der Wand abstieß und ...

»Aufhören! Sofort!«

Die Stimme kam vom straßenwärtigen Rand der Gasse und war noch nicht einmal besonders laut, aber so befehlsgewohnt und scharf, dass Roy ganz instinktiv vor ihr zurückprallte und ganz eindeutig erschrocken aussah. Dann verzerrte sich sein Gesicht vor Wut zu einer Fratze, und er machte einen Schritt in Richtung des schlanken Schattens. Allerdings nur einen einzigen, denn der so plötzlich aufgetauchte Fremde hob den Arm, und selbst das schwache Licht, das hier in der Gasse herrschte, reichte aus, um die Waffe zu offenbaren, mit der er direkt auf Roys Gesicht zielte.

»Keinen Schritt weiter«, sagte er drohend. Sein Gesicht blieb weiter im Schatten, aber Bast hatte seine Stimme längst erkannt.

Sie war nicht einmal wirklich überrascht, sondern empfand eher so etwas wie eine sanfte Resignation, nicht auch das vorausgesehen zu haben.

»Was soll der Blödsinn?«, fauchte Roy. »Wer bist du? Was mischst du dich hier ein?«

Maistowe antwortete nicht darauf, sondern kam einen Schritt näher, sodass sein Gesicht nun doch wenigstens schemenhaft zu erkennen war, und fuchtelte drohend mit seinem Revolver. »Kommen Sie her, Bast«, sagte er. »Schnell! Und wenn sich einer von euch auch nur rührt, dann schieße ich.«

»Glaub ich nicht«, sagte Roy gelassen.

Bast versuchte nicht einmal, ihm eine Warnung zuzurufen. Sie wäre ohnehin zu spät gekommen.

Die Gestalt tauchte so lautlos und schnell hinter Maistowe auf wie ein Schatten, den die Nacht ausgespien hatte, und vermutlich spürte er nicht einmal, was ihn traf. Ein dumpfer, sonderbar trockener Schlag erscholl, und Maistowe ließ seine Waffe fallen und kippte ohne den geringsten Laut nach vorne. Das alles dauerte nicht einmal eine Sekunde, in der sich Bast einen weiteren, noch schärferen Tadel erteilte. Verdammt, sie hatte doch gewusst, dass die Kerle zu fünft waren!

Roy drehte sich mit einem breiten Grinsen zu ihr herum. »Was für ein Idiot«, sagte er. »Ein Freund von dir?«

»Nein«, seufzte sie. »Nur ein gutmütiger Amateur.«

»Ach - und was bist du?«, erkundigte sich Roy.

»Weder das eine noch das andere«, antwortete Bast lächelnd. »Du wirst es gleich erfahren.«

Roy sah sie verwirrt an. »Was soll denn das jetzt wie ...«

Bast stieß ihm beide Handballen mit solcher Wucht in den Leib, dass er quer durch die Gasse torkelte und an der gegenüber liegenden Wand landete, und noch bevor er nach Luft ringend zusammenbrach, war sie bereits herumgewirbelt und mit zwei, drei rasend schnellen Schritten neben Maistowe - genauer gesagt, neben dem so überraschend aufgetauchten Angreifer, der sich in diesem Moment nach dem Revolver bücken wollte, den Maistowe fallen gelassen hatte. Ihr Fuß stieß die Waffe davon, bewegte sich schneller weiter, als sein Blick ihm überhaupt folgen konnte und landete mit solcher Wucht in seinem Gesicht, dass sie hören konnte, wie seine Zähne splitterten. Noch immer aus der gleichen Bewegung heraus fuhr sie herum und nahm zugleich eine geduckte Abwehrhaltung ein, die Beine leicht gespreizt und in sicherem Stand, und die Arme mit nach außen gekreuzten Handflächen vor dem Leib.

Es war überflüssig, aber Bast sah trotzdem, dass ihre prinzipielle Vorsicht nur zu berechtigt gewesen war. Einer der Kerle war neben Roy auf die Knie gesunken und machte irgendwelche sehr hilflos wirkenden Gesten, als könnte er seinem Boss auf diese Weise das Atmen erleichtern, die beiden anderen jedoch bewegten sich bereits in ihre Richtung. Beide hatten Messer gezogen, und allein die Art, wie sie ihre Waffen hielten, machte ihr klar, dass sie auch damit umzugehen verstanden. Ihre Vorsicht war nur zu berechtigt gewesen, und sie sollte sich auch hüten, diesen Kampf unnötig in die Länge zu ziehen.

Sie hatte es auch nicht vor.

Bast wartete, bis einer der Kerle mit seinem Dolch nach ihr stieß, schlug seine Waffe mit der flachen Hand beiseite und stieß sich mit einem federnden Satz ab. Der grelle Schmerz, mit dem der rasiermesserscharfe Stahl in ihr Fleisch biss, entlockte ihr einen keuchenden Schrei, aber sie führte ihre Bewegung dennoch perfekt zu Ende, knickte mitten im Sprung in der Hüfte ein und schien für einen Sekundenbruchteil nahezu waagerecht in der Luft zu schweben, bevor sie mit dem rechten Bein zustieß und dem völlig überraschten Kerl neben sich den Schädel zertrümmerte. Gleichzeitig rammte sie den linken Ellbogen zur Seite, doch der pochende Schmerz in ihrer Hand und ihre eigene Hast beeinträchtigten ihre Zielsicherheit. Statt seines Kehlkopfes traf ihr Ellbogen nur sein Jochbein und brach es mit einem trockenen Knacken. Es reichte, dass der Kerl sein Springmesser fallen ließ und sich brüllend vor Schmerz am Boden wälzte, aber der Schlag ließ auch einen neuerlichen, noch heftigeren Schmerz durch ihren Arm zucken. Sie landete nicht halbwegs so elegant und fließend, wie sie es gewohnt war, sondern verlor das Gleichgewicht, glitt aus und fiel zu allem Überfluss nun auch noch auf das rechte Knie hinab.

Das Ergebnis war ein noch schlimmerer Schmerz, der ihr buchstäblich die Tränen in die Augen trieb.

Trotzdem stemmte sie sich unverzüglich wieder in die Höhe, machte einen humpelnden Schritt und wäre um ein Haar erneut gestürzt, als sich ihr geprelltes Knie mit einer wüsten Schmerzexplosion für die rücksichtslose Behandlung revanchierte.

Bast sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein und drängte den Schmerz mit einer bewussten Willensanstrengung zurück. Ihr Knie pochte noch immer, und sie würde in den nächsten Minuten sicher keine Luftsprünge vollführen können, aber es sah auch nicht so aus, als wäre das nötig. Einer der Kerle war mit Sicherheit tot, die beiden anderen wälzten sich wimmernd am Boden und pressten die Hände gegen das Gesicht, um es am Auseinanderfallen zu hindern, und Roy saß gegen die Wand gelehnt und mit aschfahlem Gesicht da und rang noch immer röchelnd nach Luft. Der Einzige, der noch stand, beziehungsweise neben Roy kniete, war der Kerl von vorhin, der den Streit im Ten Bells überhaupt erst angefangen hatte »Verschwinde«, sagte Bast ruhig. »Von dir will ich nichts. Aber ich warne dich auch nicht noch einmal.«

Der Kerl stand tatsächlich auf, aber er war entweder weitaus mutiger, als Bast ihn eingeschätzt hatte, oder noch dümmer - wahrscheinlich beides -, denn er wandte sich keineswegs um, um Fersengeld zugeben, wie es vermutlich jeder andere in seiner Lage jetzt getan hätte, sondern machte ganz im Gegenteil einen stampfenden Schritt auf sie zu und zog plötzlich ebenfalls eine Waffe unter seiner Jacke hervor - kein Stilett wie seine beiden Kumpane, sondern ein kurzstieliges Hackbeil, wie es Fleischer benutzten; eine gemeine Waffe, deren bloßer Anblick nicht von Tod, sondern von Schmerz und grausamen Verstümmelungen kündete, und ganz genau das sollte sie auch.

Bast hob bedauernd die Schultern. Sie hatte ihn schließlich gewarnt.

Als das Beil heruntersauste, täuschte sie eine Bewegung an, wie um ihm auszuweichen, und machte dann stattdessen einen raschen Schritt nach vorne. Die boshafte Waffe verfehlte ihr Gesicht knapp und zischte harmlos hinter ihr durch die Luft. Bast versetzte dem Burschen mit der rechten Hand eine schallende Ohrfeige, die seine Lippen aufplatzen und einen Strom von hellrotem Blut aus seiner Nase schießen ließ, griff mit der anderen Hand nach unten und zwischen seine Beine und schloss die Finger mit aller Gewalt zur Faust.

Sein Schrei hatte kaum noch etwas Menschliches. Aber er dauerte auch nicht sehr lange.

»Nein«, wimmerte Roy, als Bast mit einem weiten Schritt über den wimmernden Kerl hinwegstieg und sich bewusst langsam auf ihn zubewegte. Er versuchte, rücklings vor ihr davonzukriechen, aber seine gebrochenen Rippen machten ganz offensichtlich jede Bewegung zur Qual. Alles, was er erreichte, war, seinen Halt an der Wand zu verlieren und schwer auf den Hinterkopf zu fallen. Nicht dass es ihm irgendetwas genutzt hätte, wäre es anders gewesen.

»Nein!«, wimmerte er erneut. »Wer ... wer bist der? Was willst du von mir? Was bist du?«

Bast nahm mit gespreizten Beinen über ihm Aufstellung, lächelte fast sanft auf ihn hinab und ließ sich dann auf seinen Schoß sinken. »Welche Frage soll ich zuerst beantworten?«, fragte sie. »Obwohl ich glaube, dass du die Antwort auf mindestens eine davon schon kennst.«

Roy quietschte vor Schrecken, als Bast die Hand nach seinem Gesicht ausstreckte. Aber sie tat es nicht, um ihn zu verletzen oder ihm irgendetwas anzutun, sondern nur, um das Blut abzuwischen, das noch immer ihre Handfläche besudelte. Ihr eigenes Blut. Das Ungeheuer in ihr kreischte vor Gier, doch obwohl Bast seine Fesseln längst gelöst hatte, stürzte es sich noch nicht auf ihn. Jetzt, wo ihm seine Beute sicher war, genoss es die Vorfreude auf sein Mahl, als wäre es in dieser Hinsicht seinem Opfer ähnlich.

Was es auch war, wie Bast nur zu gut wusste.

Roy bäumte sich plötzlich unter ihr auf, und Bast schlug ihm so hart mit dem Handrücken ins Gesicht, dass er vor Schmerz keuchte.

»Keine Angst«, sagte sie sanft. »Ich tue dir nichts. Ich weiß doch, was eine Lady einem echten Gentleman schuldig ist.«

»Was ... was willst du?«, wimmerte er.

Bast schlug ihn noch einmal, und härter, sodass sich sein eigenes Blut zu den roten Schmieren hinzugesellte, die sie gerade auf seinem Gesicht hinterlassen hatte. Roy ächzte, und unter ihrem Schoß wurde es warm. Ein durchdringender Gestank stieg ihr in die Nase, und Bast harte Mühe, ihren Ekel zu unterdrücken. Der Kerl hatte sich vor Angst in die Hosen gepinkelt.

Nun, er hatte Grund dazu.

Trotzdem musste sich Bast beherrschen, um ihm nicht das Knie dorthin zu rammen, woher diese Wärme kam. Aber das verbot sich im Moment von selbst.

»Du ... du hast sie alle ... alle umgebracht«, wimmerte er. »Einfach so.«

»Nicht einfach so, und nicht alle«, antwortete Bast. »Jedenfalls noch nicht.«

»Bitte!«, winselte Roy. »Ich tue alles, was du ...«

Bast legte ihm den Zeigefinger über die Lippen. »Schschsch«, machte sie. »Ganz ruhig. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich werde dir nichts tun. Keine Angst.«

Roy wimmerte noch erbärmlicher, und für einen ganz kurzen Moment regte sich fast so etwas wie Mitleid in ihr. Vielleicht wäre es sogar zu echtem Mitleid geworden, wäre sie ihm nicht nahe genug gewesen, um trotz ihrer sorgfältigen Blockade zu spüren, wie oft er selbst schon dieses Wimmern gehört und dieselbe, bodenlose Angst in den Augen seiner Opfer gesehen hatte, ohne mehr als Verachtung und böse Freude dabei zu fühlen.

»Keine Angst«, sagte sie noch einmal. »Ich werde dich nicht töten.«

Etwas wie eine verzweifelte, wenngleich ungläubige Hoffnung loderte in seinen Augen auf. »Du ... du willst mich nicht ... töten?«, flüsterte er.

»Töten?« Basts Lächeln erlosch und machte einem Ausdruck Platz, der schlimmer war als das, was sie vorhin auf seinem Gesicht gesehen hatte. »Nein«, sagte sie. »Mit dir habe ich etwas Besseres vor.«

Roys Augen weiteten sich in schierem Entsetzen. Er versuchte noch einmal und mit überraschender Kraft, sie von sich herunterzustoßen, doch Bast stieß ihn mühelos mit der linken Hand zurück und griff mit der anderen nach unten. Sie machte sich nicht die Mühe, seinen Gürtel zu öffnen, sondern riss das nahezu handbreite Lederband ohne die geringste Mühe entzwei und ...

Hinter ihr ertönte ein Scharren, dann ein Stöhnen und hechelnde Atemzüge, und als Bast sich erschrocken herumdrehte, sah sie direkt in Maistowes vor Schmerz verschleierte Augen. Er war aufgewacht, obwohl das eigentlich unmöglich war. Sie hatte gehört, wie hart der Schlag gewesen war, der ihn getroffen hatte. Trotzdem stemmte er sich stöhnend auf Ellbogen und Knie hoch, und die Benommenheit wich zusehends aus seinem Blick. Sein Gesicht war blutüberströmt und so bleich wie das einer Wasserleiche. »Miss Bast?«, murmelte er verwirrt. »Was ... was tun Sie ... da?«

Bast starrte ihn geschlagene fünf Sekunden lang einfach nur fassungslos an, bevor sie sich wieder herumdrehte und auf Roy hinuntersah. »Weißt du was, Roy?«, seufzte sie. »Du wirst es wahrscheinlich nie begreifen, aber heute ist wirklich dein Glückstag.«

Und damit hämmerte sie Roy die Faust mit solcher Gewalt gegen die Schläfe, dass er auf der Stelle das Bewusstsein verlor.



»So, das wird Ihnen guttun. Trinken Sie!« Mrs Walsh setzte die Tasse aus hauchdünnem chinesischem Porzellan behutsam und mit beiden Händen an Maistowes Lippen, zugleich aber auch mit einem solchen Nachdruck, dass dieser nicht einmal auf die Idee zu kommen schien, sich ihr zu widersetzen, sondern den dampfend heißen Inhalt gehorsam hinunterschluckte; auch wenn er anschließend heftig die Lippen verzog.

»Danke«, murmelte er.

Mrs Walsh stellte die zerbrechliche Tasse behutsam auf den kaum weniger zerbrechlich aussehenden dreibeinigen Tisch neben der Couch, auf der Maistowe Platz genommen hatte - genau genommen war er eher darauf zusammengebrochen, kaum dass Bast ihn hereingebracht hatte -, und hob die Schultern.

»Ich weiß, er wird Ihnen vermutlich nicht besonders gut schmecken«, sagte sie, »aber er wird Ihnen ganz gewiss guttun. Ich habe einen gehörigen Schuss Ingwersirup hineingegeben, das wird Ihnen helfen.«

Maistowe reagierte nur mit einem weiteren, angestrengt wirkenden Verziehen der Lippen darauf, das Mrs Walsh ein wenig zu verstimmen schien, aber das wohl die einzige Reaktion war, zu der er sich im Moment noch aufraffen konnte. Bast war ebenso erstaunt wie überrascht, dass er den Weg hierher überhaupt noch aus eigener Kraft geschafft hatte ... nun ja, wenigstens zum größten Teil. Die letzte Dreiviertelmeile hatte sie ihn getragen, aber sie bezweifelte, dass er sich daran wirklich noch erinnerte. Maistowe war selbst jetzt eher ohnmächtig als bei vollem Bewusstsein und hielt sich nur noch mit letzter Kraft in einer halbwegs sitzenden Position aufrecht. Bast hätte gerne etwas für ihn getan, aber sie konnte es einfach nicht, jedenfalls nicht im Moment und nicht, solange Mrs Walsh in der Nähe war. Nehmen war leider umso vieles leichter als Geben.

»Ich ... danke Ihnen«, sagte Maistowe mühsam. Er fuhr sich mit einer fahrigen Handbewegung durch das Gesicht, blinzelte einen Moment lang verständnislos auf seinen eigenen Handrücken hinab, als würde er nicht wirklich begreifen, was er da sah, und schüttelte dann beinahe erschrocken den Kopf, als Mrs Walsh die Hand nach der Teetasse ausstreckte.

»Dann mache ich Ihnen jetzt eine Kleinigkeit zu essen«, erklärte Mrs Walsh. »Nach einer kräftigen Mahlzeit fühlen Sie sich bestimmt besser.«

Maistowe brauchte im Moment so ziemlich alles, nur nichts zu essen, aber er brachte augenscheinlich auch nicht die Kraft auf, um zu protestieren, sondern raffte sich nur zu einem matten Lächeln auf und etwas, das man als Kopfnicken deuten konnte, wenn man wollte. Mrs Walsh stand jedenfalls mit einem leisen Seufzen auf und wandte sich in Richtung Küche - allerdings nicht, ohne Bast im Vorübergehen einen vorwurfsvollen Blick zugeworfen zu haben.

»Danke«, murmelte Maistowe, nachdem sie die Tür hinter sich zugezogen hatte.

Bast sah ihn nur fragend an.

»Dass Sie nichts gesagt haben«, fuhr Maistowe erklärend fort. »Es wäre mir doch ... ein wenig peinlich gewesen, wenn Gloria erfahren hätte, dass Sie mich zurücktragen mussten.«

»Oh«, machte Bast überrascht. »Ich hätte nicht gedacht, dass Sie sich daran erinnern ... außerdem war es nur das letzte Stück.«

»Es ist mir ... sehr peinlich«, beharrte Maistowe.

»Ich werde niemandem etwas davon sagen«, antwortete Bast. »Von Rechts wegen hätte ich Sie ohnehin liegen lassen und einen Arzt rufen müssen. Der Kerl hätte Ihnen den Schädel zertrümmern können, wissen Sie das eigentlich?«

Maistowe zog erneut eine Grimasse, aber er gewann zuerst einmal Zeit, indem er abermals die Hand hob und mit spitzen Fingern über seinen Hinterkopf tastete. Das Ergebnis war ein schmerzerfülltes Zischen, mit dem er die Luft einsog, und eine nicht minder schmerzerfüllte Grimasse. Als er die Hand schließlich zurückzog und seine Fingerspitzen betrachtete, wirkte er regelrecht erstaunt, kein Blut darauf zu erblicken.

»Irgendwie werde ich das Gefühl nicht los, dass es ihm gelungen ist«, murmelte er.

»Viel hätte nicht gefehlt«, bestätigte Bast ernst. Sie hatte Maistowe untersucht, soweit sie es auf der dunkle Straße gekonnt und der Kapitän der Lady es zugelassen hatte, und war fast erstaunt gewesen, wie glimpflich er trotz allem davongekommen war. Vermutlich würde er in den nächsten Tagen heftige Kopfschmerzen haben, aber das war auch alles.

»Sie hätten ebenso gut tot sein können«, fügte sie hinzu.

Maistowe nickte, und das anscheinend ein wenig zu heftig, denn er verzog schon wieder das Gesicht und schwankte ganz leicht. »Sie aber auch, meine Liebe«, sagte er.

Bast tat ihm nicht den Gefallen, darauf zu antworten, und für eine Weile machte sich ein fast betretenes Schweigen zwischen ihnen breit, das Maistowe zwar schließlich selbst brach, dies aber auf eine Weise, die Bast beinahe ebenso unangenehm war. Sein Blick tastete noch einen Moment unstet über ihr Gesicht und ihre Gestalt und blieb schließlich an ihrer rechten Hand hängen. Seine Augen verengten sich überrascht. »Ihre Hand!«

»Was ist damit?« Bast unterdrückte gerade noch im letzten Moment den Impuls, die Finger der Rechten zur Faust zu ballen.

»Sie ...« Maistowe schüttelte verwirrt den Kopf, ohne dass sein Blick ihre Hand auch nur für einen Atemzug losgelassen hätte. »Sie waren verletzt!«

Bast ballte nun doch für einen ganz kurzen Moment die Faust, öffnete sie dann wieder und spielte mit den Fingern. Gleichzeitig sah sie Maistowe mit einem verzeihenden, aber auch ganz sacht spöttischen Lächeln an. »Sie müssen sich geirrt haben, Kapitän«, sagte sie. »Da ist nichts, sehen Sie?«

Maistowe starrte ihre Hand nur weiter an, und er zweifelte ganz offensichtlich einfach an dem, was er sah, nämlich nichts. Von dem tiefen Schnitt, den ihr die Klinge des Kerls zugefügt hatte, war nichts mehr zu sehen. »Aber da ... da war doch ...«, stammelte er. »Ich meine ... all das Blut, und ...«

»Das nicht das meine war«, unterbrach ihn Bast. »Sie haben sich getäuscht, Kapitän, aber das sollten Sie sich nicht selbst zum Vorwurf machen. Immerhin waren Sie halb bewusstlos, und es war dunkel in der Gasse, und alles ging sehr schnell.«

»Ja, so ... muss es wohl gewesen sein«, antwortete Maistowe schleppend. Aber er klang nicht überzeugt, und er war es ganz offensichtlich auch nicht, denn nach einer weiteren Sekunde ergriff er plötzlich Basts Hand und zog sie ein Stück zu sich heran. Seine Fingerspitzen fuhren über ihre schwarze, vollkommen unversehrte Haut.

Die Berührung ließ Bast erschauern, wenn auch auf eine vollkommen andere Art, als er auch nur ahnen konnte. Irgendwie war es ihr gelungen, die Bestie in ihrem Inneren noch einmal zu bändigen, aber sie hatte sich längst nicht wieder vollkommen beruhigt, und das würde sie auch nicht, bevor sie nicht bekommen hatte, was ihr zustand.

Hinter ihr schlug eine Tür, und als Bast sich herumdrehte, sah sie genau in Mrs Walshs Gesicht, die hereingekommen und überrascht stehen geblieben war. Sie sagte nichts, aber zwischen ihren Augen war eine dafür umso vielsagendere senkrechte Falte aufgetaucht, und der Ausdruck in ihren Augen schwankte zwischen Verblüffung und etwas, das vielleicht noch kein Ärger war, es aber sehr leicht werden konnte.

Maistowe ließ ihren Arm hastig los und straffte die Schultern. Auch er sah plötzlich unangenehm berührt aus.

»Ihre Besorgnis ehrt Sie, Kapitän«, sagte Bast, »aber sie ist unnötig. Wie Sie selbst sehen: Mir fehlt nichts.« Sie drehte sich ganz zu Mrs Walsh um und hob die Handfläche in ihre Richtung. »Der gute Kapitän war in Sorge, ich könnte verletzt worden sein, aber er muss sich geirrt haben - was ja auch nur zu verständlich ist bei all der Aufregung.«

In der ersten Sekunde änderte sich weder Mrs Walshs Blick noch der misstrauische Ausdruck auf ihrem Gesicht, während sie zuerst Basts Handfläche und dann einen Punkt hinter ihr ansah.

Bast drehte sich nicht herum, aber sie konnte regelrecht spüren, wie Maistowe errötete.

»Sie hätten beide verletzt werden können oder Schlimmeres«, sagte Mrs Walsh schließlich. Das Misstrauen wich endlich aus ihrem Blick, aber nicht, um dem gewohnten freundlichen Lächeln Platz zu machen. Sie sah jetzt eindeutig verärgert aus, und sie machte keinen Hehl aus ihren Gefühlen. »Ich dachte, ich hatte mich deutlich genug ausgedrückt, was diese Gegend angeht«, sagte sie. »Anscheinend haben Sie mir nicht richtig zugehört. Gibt es dort, wo Sie herkommen, keine schlechten Menschen?«

Mehr, als du dir vorstellen kannst. Und nicht nur Menschen. »Doch«, antwortete sie schuldbewusst. »Und Sie haben recht, Mrs Walsh. Sie haben mich gewarnt, und ich hätte auf Sie hören sollen. Aber ich habe nicht damit gerechnet, dass sie mir zu fünft auflauern würden.«

»Zu fünft?«, ächzte Mrs Walsh.

»Miss Bast hat sie ...«, begann Maistowe.

Bast fiel ihm eine Spur zu hastig ins Wort: »Ich fürchte, es war ganz allein meine Schuld. Ich habe wohl nicht begriffen, wie gefährlich diese Männer waren, und sie leichtfertig provoziert. Wenn Kapitän Maistowe nicht aufgetaucht wäre, dann hätte die Geschichte durchaus übel enden können.«

»Jacob?« Mrs Walsh wirkte ehrlich überrascht. Maistowe ebenso.

»Er war wirklich sehr tapfer«, bestätigte Bast, »wenn auch mit ein wenig ... Hilfe.« Während sie sprach, griff sie unter ihren Mantel und zog Maistowes Revolver heraus. »Nicht einmal dieser hinterhältige Schlag konnte ihn davon abhalten, diese Bande in die Flucht zu treiben.«

»Was wohl Ihr Glück war«, fügte Mrs Walsh hinzu. »Haben Sie eine Vorstellung davon, was diese Kerle Ihnen angetan hätten?«

»Ich fürchte, ja«, antwortete Bast. »Aber gottlob ist Kapitän Maistowe ja gerade noch rechtzeitig aufgetaucht.«

»Danken Sie dem Herrn dafür«, sagte Mrs Walsh ernst. »Das war mehr als leichtsinnig von Ihnen. Sie haben sich in große Gefahr gebracht.«

Und vor allem Jacob Maistowe. Mit einem Male war ihr klar, warum Mrs Walsh so zornig auf sie war. Es ging nicht darum, dass sie sich in Gefahr gebracht hatte, eine Fremde, mit der sie nichts verband außer einem kurzen Gespräch und einer Tasse Tee, die sie zusammen getrunken hatten. Sie hatte Maistowe in Gefahr gebracht, und das nahm sie ihr persönlich übel.

»So schlimm war es nun auch wieder nicht«, wiegelte Maistowe ab. »Sie wissen doch, wie diese Kerle sind. Eine große Klappe, aber in ihrem Herzen sind sie nichts anderes als erbärmliche Feiglinge.« Er wirkte noch immer vollkommen verstört. Er sprach zwar zu Mrs Walsh, sah Bast dabei aber unverwandt an, und Mrs Walsh hätte schon blind sein müssen, um nicht zu begreifen, dass da noch eine ganze Menge war, von dem sie nichts wusste und ganz offensichtlich auch nichts wissen sollte.

Einen kurzen Moment lang überlegte sie, die Erinnerung an die hässliche Szene aus Maistowes Gedächtnis zu tilgen und auch seine Zimmerwirtin zu besänftigen, entschied sich aber dann dagegen. Sie verabscheute es, den freien Willen eines Menschen so zu missachten, und sie war nicht einmal sicher, ob ihre Kräfte noch dazu ausgereicht hätten, erschöpft und hungrig, wie sie im Augenblick war. Möglicherweise wäre es sogar gefährlich, denn da war noch immer dieses Ding in ihrem Inneren, das nur darauf wartete, dass sie in ihrer Konzentration nachließ, es zu bändigen.

»Kann ich Ihnen in der Küche helfen, Mrs Walsh?«, fragte sie.

»Nein. Ich fürchte, ich kann Ihnen ohnehin nicht mehr anbieten als den aufgewärmten Rest meines eigenen Abendessens. Ich bin eigentlich nur gekommen, um zu fragen, ob Sie Tee oder Kaffee wünschen ...« Sie hob die Schultern. »In Ihrer Heimat bevorzugt man doch Kaffee, wenn ich richtig informiert bin, oder?«

»Nicht unbedingt«, antwortete Bast. »Außerdem ist Ihr Tee viel zu köstlich, als dass ich mir auch nur eine einzige Tasse davon entgehen lassen würde.«

Mrs Walshs Lächeln war ungefähr so herzlich wie das von Roy vorhin. Sie war nicht gekommen, um sich nach ihren Wünschen bezüglich Tee oder Kaffee zu erkundigen. Aber sie sagte auch nichts mehr, sondern beließ es bei einem abermaligen stummen Achselzucken und ging in die Küche zurück. Cleopatra, die schwarze Katze, nutzte die Gelegenheit, um durch die offene Tür hereinzuschlüpfen und sich laut schnurrend an Basts Bein zu reiben.

»Das tut mir leid«, sagte Maistowe.

»Was?«

»Gloria.« Maistowe machte ein verlegenes Gesicht. »Ich muss mich für sie entschuldigen.«

»Sie müssen sich ganz und gar nicht entschuldigen. Ganz im Gegenteil. Sie können sich glücklich schätzen, eine solche Freundin zu haben, Kapitän Maistowe.«

»Ja, da haben Sie vermutlich recht.« Maistowe lächelte schmerzlich. »Ach ja ... und ich muss mich bei Ihnen bedanken.«

»Wofür jetzt schon wieder?«

Maistowe machte eine Kopfbewegung auf die Tür, die sich hinter Mrs Walsh geschlossen hatte. »Dass Sie mir die Rolle des tapferen Helden zugedacht haben, der im letzten Moment auf einem strahlend weißen Pferd erscheint und den Drachen erschlägt.«

»Was Sie getan haben, war ziemlich tapfer«, sagte Bast.

»Eher ziemlich dumm«, sagte Maistowe, wartete eine geschlagene Sekunde lang vergebens darauf, dass Bast ihm widersprach, und fuhr dann mit einem leisen Seufzen und einem neuerlichen Kopfschütteln fort: »Ich bin kein tapferer Mann, fürchte ich. Und Gloria weiß das auch. Aber was Sie getan haben, war ganz und gar unglaublich. Ich habe ... so etwas noch nie erlebt. Um ehrlich zu sein, hätte ich es nicht einmal für möglich gehalten. Lernt man so etwas dort, wo Sie herkommen?«

»Ich musste früh lernen, mich meiner Haut zu wehren«, antwortete Bast ausweichend. »Und ich hatte Glück ... und ein wenig Hilfe.« Sie hob abwehrend beide Hände, als Maistowe widersprechen wollte, und Cleopatra protestierte, als sie dazu mit Kraulen innehielt. »Jetzt stellen Sie Ihr Licht nicht unter den Scheffel, Kapitän. Hätten Sie die Kerle nicht abgelenkt, wäre es vielleicht anders ausgegangen.«

Sie hielt Maistowe aufmerksam im Auge, während sie das sagte. Maistowe hielt ihrem Blick überraschend fest stand, und Bast fragte sich immer unbehaglicher, was er eigentlich gesehen hatte. Offenbar mehr, als ihr lieb sein konnte. Sie war bisher davon ausgegangen, dass er die ganze Zeit über bewusstlos gewesen war, aber das war ganz offensichtlich nicht der Fall gewesen. Möglicherweise hatte er zumindest einen Teil von dem gesehen, was geschehen war.

Sie war beinahe froh, als die Tür aufging und Mrs Walsh zurückkam, schwer beladen mit einem Tablett voller Geschirr und einer großen Porzellanschüssel, aus der ein verlockender Duft stieg. Maistowe wollte aufstehen, um ihr zu Hilfe zu eilen, doch Bast drückte ihn mit sanfter Gewalt wieder auf die Couch zurück und erhob sich ihrerseits, wenn auch zu langsam: Mrs Walsh hatte ihr Ziel bereits erreicht und lud ihr Tablett ebenso vorsichtig wie geschickt, aber mit einem hörbaren Klirren auf dem kleinen Schachtisch vor dem Kamin ab, an dem sie am Nachmittag Tee getrunken hatten. Bast musste sie nicht einmal fragen, um zu wissen, dass sie jedes Wort gehört hatte.

Als sie Mrs Walsh half, das Tablett abzuräumen, bemerkte sie, dass sich nur zwei Suppenteller nebst der dazugehörigen Löffel darauf befanden; dazu ein geflochtenes Körbchen mit köstlich duftendem frischem Brot, eine Kanne Tee und drei Tassen aus feinstem chinesischen Porzellan.

»Oh nein«, beantwortete Mrs Walsh eine Frage, die sie noch gar nicht gestellt hatte. »Ich habe bereits gegessen. Und in meinem Alter braucht man ohnehin nicht mehr so viel. Aber ich trinke gern noch eine Tasse Tee mit Ihnen, wenn Sie gestatten.«

»Selbstverständlich«, antwortete Bast. Eigentlich war ihr nicht nach Reden zumute, zumindest nicht über das, was Mrs Walsh vermutlich vorschwebte. Sie hatte Angst, noch mehr Fehler zu begehen, als ihr ohnehin schon unterlaufen waren. Sowohl Maistowe als auch Mrs Walsh wussten schon entschieden zu viel.

Und da war immer noch dieses Ding in ihr, das knurrend an seiner Kette zerrte.

Trotzdem nickte sie nach einem Augenblick.

Maistowe gesellte sich unsicheren Schrittes zu ihnen, ließ es sich aber dennoch nicht nehmen, einen der schweren Stühle zu ergreifen und herbeizutragen; und er setzte sich auch erst, nachdem Bast Platz genommen hatte. Was auch immer er sonst sein mochte, dachte sie spöttisch, er war ein Gentleman alter Schule.

Mrs Walsh schenkte ihnen Suppe ein und runzelte missbilligend die Stirn, als Cleopatra mit steil erhobenem Schwanz herangetigert kam und lautstark maunzend weitere Streicheleinheiten einforderte, enthielt sich zu Basts Erstaunen aber jeden Kommentars und setzte sich schließlich ebenfalls, um sich einen Tee einzugießen.

»Und vor dem Essen lassen Sie uns dem Herrn danken«, sagte sie streng, »der Sie auf so wunderbare Weise errettet hat. Wollen Sie ein Gebet sprechen?«, fragte sie, an Bast gewandt.

Basts Blick ging beinahe erschrocken zu dem Kruzifix im Winkel, aber sie wusste für einen Augenblick wirklich nicht, was sie sagen sollte. Etwa, dass sie noch nie in ihrem Leben ein Gebet gesprochen - oder dass früher einmal Menschen Gebete an sie gerichtet hatten?

Maistowe rettete sie aus der Verlegenheit. »Vielleicht wäre es besser, wenn jeder still für sich betet.«

Mrs Walsh runzelte die Stirn, aber sie sagte nichts. Sie aßen schweigend. Die Suppe war ebenso heiß wie köstlich, und wenn es sich tatsächlich nur um die Reste von Mrs Walshs Abendessen handelte, dann schien es wohl zu ihren Angewohnheiten zu gehören, für mindestens zwei oder drei Tage vorzukochen; denn obwohl Maistowe kräftig zulangte und sich auch Bast einen Nachschlag nahm, war die Terrine noch nicht einmal zur Hälfte geleert, als sie fertig war und Mrs Walshs fragend-auffordernden Blick mit einem stummen Kopfschütteln beantwortete.

Cleopatra wartete artig, bis sie sich in ihrem Sessel zurücklehnte, dann aber sprang sie blitzartig auf ihren Schoß, wo sie sich zu einem behaglich schnurrenden Ball zusammenrollte. Mrs Walshs Stirnrunzeln vertiefte sich noch mehr, aber sie hielt sich immer noch zurück.

»Das war köstlich, meine Liebe«, sagte Maistowe. Er warf Mrs Walsh einen fragenden Blick zu, wartete, bis sie mit einem kaum angedeuteten Kopfnicken darauf reagierte und klaubte dann einen Zigarillo aus seiner Brusttasche, den er sich mit einem brennenden Span aus dem Kamin anzündete. Cleopatra hob den Kopf und fauchte leise.

»Sie mag keinen Tabakqualm«, sagte Mrs Walsh. »Eine scheußliche Angewohnheit.« Und sie sagte es in einem Ton, der deutlich machte, dass dies wohl eher ihre Meinung zu diesem Thema darstellte.

Wovon sich Maistowe allerdings nicht im Geringsten beeindrucken ließ. Er lehnte sich ganz im Gegenteil in seinem Stuhl zurück, nahm einen zweiten, noch tieferen Zug und schloss genießerisch die Augen.

»Bitte verzeihen Sie, Gloria«, seufzte er. »Ich weiß, dass Sie es nicht mögen, wenn ich hier drinnen rauche, aber das musste ich jetzt einfach haben.«

»Das verstehe ich doch, Jacob«, antwortete Mrs Walsh »Schließlich geraten Sie ja nicht jeden Tag in eine solch haarsträubende Situation.«

»Gottlob nicht«, bestätigte Maistowe. Er lachte leise und nahm einen dritten, noch tieferen Zug »Abgesehen von Piraten, mit denen ich mich ständig herumschlagen muss, Seeschlangen und Walen und anderen, noch unerquicklicheren Gefahren, mit denen man sich auf hoher See konfrontiert sieht, versteht sich.«

»Versteht sich«, sagte Mrs Walsh.

Maistowe machte ein gewichtiges Gesicht, dann lachte er plötzlich und schnippte seinen Zigarillo zielsicher in den Kamin. Er wurde allerdings auch sofort wieder ernst.

»Nein«, sagte er. »Um der Wahrheit die Ehre zu geben - ich bin kein Kämpfer.«

»Obwohl Sie eine Waffe haben?«, fragte Bast.

»Eine Waffe zu haben und damit auf einen Menschen zu schießen sind zwei grundverschiedene Dinge«, antwortete er betrübt. »Ich besitze diesen Revolver nun schon seit sehr vielen Jahren, aber ich hätte mir nie träumen lassen, ihn eines Tages benutzen zu müssen. Ich war nicht einmal sicher, ob er noch funktioniert.«

»Und trotzdem hatten Sie ihn bei sich?«

»Jacob hat die Waffe eingesteckt, als ich ihm die Adresse genannt habe, zu der Sie unterwegs waren«, antwortete Mrs Walsh an Maistowes Stelle. Bast unterdrückte ein Lächeln. Cleopatra hörte plötzlich auf zu schnurren und hob abermals den Kopf.

»War Ihre Suche denn wenigstens erfolgreich?«, fragte Maistowe.

»Ich fürchte, nein«, antwortete Bast. »Ich habe einen Namen in Erfahrung gebracht, und eine Beschreibung, die ungefähr zutreffen könnte. Aber ich kann mir eigentlich nicht vorstellen, dass ...«

Sie brach ab und blickte ein wenig beunruhigt auf die schwarze Katze hinab, die plötzlich ein dunkles, tief aus ihrer Brust emporsteigendes Knurren ausstieß. Sie hatte die Ohren gespitzt und starrte sehr aufmerksam in Richtung des geschlossenen Fensters.

»... Ihre Schwester in einer solchen Gegend lebt«, beendete Mrs Walsh den Satz. Sie nickte. »Nun, offen gestanden konnte ich mir das auch nicht vorstellen, nachdem ich Sie kennen gelernt habe. Das East End ist wirklich eine üble Gegend, müssen Sie wissen.«

Cleopatras Knurren wurde lauter, und Bast spürte, wie sie sich auf ihrem Schoß spannte. Auch sie sah zum Fenster und lauschte gleichzeitig angespannt mit allen Sinnen. Irgendetwas ... war dort draußen. Aber sie konnte nicht sagen, was. »Ja, das ... habe ich gemerkt«, antwortete sie schleppend. Es fiel ihr schwer, sich auf Mrs Walshs Worte zu konzentrieren.

»Nicht nur wegen dieser Kerle«, sagte Mrs Walsh. »Erst vor Kurzem hat es dort zwei schreckliche Morde gegeben. Nicht, dass die Opfer es sich nicht selbst zuzuschreiben hätten. Leider Gottes ist es so, dass sich in diesem Viertel der Abschaum der Gesellschaft herumtreibt. Aber diese Morde waren ganz besonders grauenhaft, wie man hört.«

»Vielleicht waren es ja dieselben Burschen, die uns aufgelauert haben«, sagte Maistowe nachdenklich.

Das waren sie nicht, aber Bast kam nicht dazu, ihn auf seinen Irrtum hinzuweisen, denn in diesem Moment stieß Cleopatra ein wütendes Zischen aus, verwandelte sich in einen schwarzen Blitz aus Fell und Zähnen und stieß sich mit solcher Wucht von ihrem Schoß ab, dass sich die Krallen ihrer Hinterläufe schmerzhaft durch den Stoff in ihre Oberschenkel gruben. So schnell, dass sie sich für einen Moment tatsächlich in einen Schatten zu verwandeln schien, dem nicht einmal mehr Basts Blicke folgen konnten, schoss sie quer durch das Zimmer, stieß sich mit einem zweiten, noch kraftvolleren Sprung ab, landete auf dem kleinen Beistelltisch, auf dem Mrs Walsh vorhin Maistowes Tasse abgestellt hatte und flog von dort aus weiter zum Fenster. Die Tasse polterte zu Boden und zerschellte, und Mrs Walshs erschrockener Aufschrei vermischte sich mit dem Geräusch von zerreißendem Stoff, als sich Cleopatras Krallen in den falschen Samt der Vorhänge gruben.

Nicht nur der Samt der Vorhänge war falsch, auch die fingerdicke Eisenstange, an der sie aufgehängt waren, gaukelte eine Festigkeit vor, die sie ganz und gar nicht besaß. Die komplette Gardinenstange samt der Vorhänge und der daran hängenden schwarzen Katze fiel herunter. Cleopatras Fauchen und Spucken hörte sich mit einem Male viel mehr verdutzt und empört an als wütend, und Mrs Walsh stieß einen zweiten, diesmal eindeutig entsetzten Schrei aus, schlug die Hand vor den Mund und sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl um ein Haar umgefallen wäre.

Und vor dem Fenster ... verschwand ein Schatten.

Es ging so schnell, dass auch sie nicht mehr als einen flüchtigen Schemen sah; und vielleicht einen noch flüchtigen Eindruck von schlagendem schwarzem Gefieder und einem schrecklichen, gekrümmten Schnabel hatte.

Und trotzdem war sie diesmal vollkommen sicher, dass es ein Falke gewesen war.

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