Sie war mit einem Gefühl von Endgültigkeit in dieses Land gekommen, das sie erschreckte.
Es hatte schon auf der Überfahrt begonnen; eine lange, quälende Woche voller Seekrankheit und Gestank, die sie eingepfercht wie ein Tier in einer winzigen, fensterlosen Kabine unter Deck der Lady of the Mist verbracht und dabei abwechselnd gegen die Übelkeit oder die Langeweile gekämpft hatte. In den kostbaren Stunden, in denen ihre Eingeweide nicht versucht hatten, durch ihre Speiseröhre nach oben zu kriechen, hatte sie entweder mit dem Schicksal gehadert, das sich einen so üblen Scherz mit ihr erlaubt hatte, oder den Kapitän dieses Seelenverkäufers verflucht, der von der ersten Sekunde an keinen Hehl daraus gemacht hatte, was er von seiner Passagierin hielt. Die exorbitante Summe, die sie ihm für die Überfahrt bezahlt hatte, hatte ihn nicht daran gehindert, ihr einen Verschlag zuzuweisen, in den sie zu Hause nicht einmal einen Hund eingesperrt hätte.
Dabei war Kapitän Maistowe im Grunde kein schlechter Kerl, sondern ein eher gutmütiger Mensch, der seine Mannschaft gut behandelte und sogar einen gewissen Hang zur Großzügigkeit an den Tag legte. Er hatte - auch wenn er insgeheim und wahrscheinlich ohne es selbst zu wissen darunter litt - ein Problem mit ihrer Herkunft - und natürlich mit der Tatsache, dass sie eine Frau und obendrein nicht nur wohlhabend, sondern ihm auch in jeglicher Hinsicht überlegen war.
Und das hatte er sie spüren lassen, umso mehr, da er nicht dumm war und sich seinen Teil dazu gedacht haben musste, dass sie die anstrengende Überfahrt auf seinem heruntergekommenen Kahn einer bequemen Reise auf einem Luxusdampfer vorgezogen hatte, die sie sich problemlos hätte leisten können.
Aber nun war es vorbei. Vor wenigen Minuten erst hatte der Seelenverkäufer mit dem hochtrabenden Namen an der Kaimauer festgemacht, und Bast trat mit einem fast zeremoniell anmutenden Schritt von der schmierigen Planke herunter auf das kaum weniger glitschige Kopfsteinpflaster des Piers und sog die kühle Nachmittagsluft in die Lungen. Sie roch eigentlich nicht besonders gut - nach Salzwasser und totem Fisch, und auch noch nach ein paar anderen, sehr viel unangenehmeren Dingen -, aber es war trotzdem ein Labsal gegen den Gestank, in dem sie die zurückliegenden Tage verbracht hatte.
Rings um sie herum bewegten sich Menschen, wurde gerufen und gearbeitet und gelaufen, rollten Fuhrwerke auf knarrenden, schlecht gefetteten Achsen vorbei und bellten Hunde, die sich um einen toten Fisch oder andere Abfälle balgten. Kinder spielten inmitten des Schmutzes, und in einiger Entfernung erscholl die keifende Stimme einer Frau in einer so schrillen, durchdringenden Tonlage, dass sie den versammelten Lärm mühelos zu übertönen schien. Und natürlich wurde sie selbst schon wieder angestarrt und weckte Neugier und deutlich mehr Aufmerksamkeit, als ihr lieb sein konnte.
Aber sie war endlich an Land. Unter ihren Füßen befand sich fester Boden, kein schwankendes Deck, über ihr spannte sich ein wolkenloser, wenngleich leicht eingetrübter Himmel, und rings um sie herum war unendlich viel freier Raum, nicht mehr die morschen Bretterwände eines kaum drei mal drei Schritte messenden Gefängnisses, das zu allem Überfluss auch noch ständig hin und her schwankte.
Bast hasste es, eingesperrt zu sein.
Fast so sehr, wie zur See zu fahren.
Außerdem war sie hungrig. So hungrig ...
Der schrille Schrei eines Vogels drang in ihre Gedanken und ließ sie erschrocken aufsehen. Ein Schatten huschte über den Himmel, und im gleichen Moment vernahm Bast erneut einen sonderbar hellen, durchdringenden Schrei, der nicht einmal im an- und abschwellenden Raunen und Murmeln der Menschenmenge unterging, was er eigentlich gemusst hätte, sondern sich irgendwie darunter hindurch mogelte und schon fast unangenehm schrill in ihren Ohren gellte.
Überrascht hob Bast die Hand über das Gesicht, presste die Augen gegen die Sonne zusammen, die plötzlich nicht mehr annähernd so blass und kraftlos schien wie noch vor einem Moment, sondern ganz im Gegenteil geradezu schmerzhaft in ihre Augen stach, und erblickte einen schlanken, pfeilflügeligen Schatten, der gerade seine letzte Umkreisung eines der Masten des Schiffes beendet hatte und nun, rasend schnell und immer noch schneller werdend, mit angelegten Flügeln nicht nur auf die Menschenmenge am Pier hinabstieß, sondern, wie es schien, sogar unmittelbar auf sie. Erst im allerletzten Moment warf er sich herum und fing seinen Sturzflug so dicht über den Köpfen der Menge ab, dass Bast sich ernsthaft einbildete, das Rauschen der wie matt poliertes grauschwarzes Metall schimmernden Federn zu hören. Das Kreischen wiederholte sich, lauter und ungleich aggressiver, und Bast hatte einen flüchtigen Eindruck von tückisch funkelnden Augen, schrecklichen Fängen und einem gekrümmten Schnabel, scharf wie eine Klinge. Dann war die unheimliche Erscheinung so schnell wieder verschwunden, wie sie aufgetaucht war.
Es war ein Falke gewesen, wenn auch der größte Falke, den man in diesen Breiten je zu Gesicht bekommen hatte: ein Koloss von der Spannweite eines kleinen Adlers und mit Fängen, die sein Beuteschema um ein gutes Stück über das normale Maß seiner Art hinaus erweiterten.
Ein Falke ...? Ihr Herz begann schneller zu schlagen, und nahezu im gleichen Moment hörte sie abermals einen schrillen, fast keifenden Schrei irgendwo über sich. Sie spürte, wie sich etwas in ihr anspannte.
Aber diesmal war es nur eine Möwe, eine von zahllosen, die über dem Hafen kreisten oder scheinbar schwerelos mit reglos ausgebreiteten Flügeln im Wind tanzten und nach Abfällen oder irgendetwas anderem Ausschau hielten, das sie stibitzen konnten.
Ein flüchtiges Lächeln erschien auf Basts Lippen und erlosch sofort wieder. Nur eine Möwe, sonst nichts. Mit ihren Nerven stand es anscheinend nicht mehr zum Besten. Aber das war auch kein Wunder, nach der Woche, die hinter ihr lag. Und so hungrig, wie sie war ...
Sie schüttelte auch diesen Gedanken ab und wollte gerade weitergehen, als hinter ihr Schritte erklangen, und dann eine wohl bekannte Stimme, von der sie eigentlich gehofft hatte, sie niemals wieder hören zu müssen.
»Mylady!«
Bast drehte sich betont langsam herum und zwang ein freundliches Lächeln auf ihre Züge, während sie Kapitän Maistowe entgegensah, der mit energischen, weit ausgreifenden Schritten die Planke herunter eilte. Er hatte sich umgezogen und trug nun seine Kapitänsuniform statt der groben Wollhosen und des einfachen Leinenhemds, die er während der Fahrt getragen hatte und in denen er sich praktisch nicht mehr von irgendeinem der Männer unterschied, die unter seinem Kommando dienten. Am Anfang hatte Bast dieses Zeichen scheinbarer Verbrüderung beeindruckt, aber mittlerweile war sie nicht mehr ganz sicher, ob es echt war. Die Uniform saß so perfekt, dass sie sich nicht einmal die Frage stellen musste, ob sie ihm auf den Leib geschneidert worden war - und das ganz gewiss nicht vom billigsten Schneider, den er hatte finden können - und war piek sauber. Trotzdem wirkte sie an ihm irgendwie ... unpassend.
»Kapitän?«
»Sie wollen uns schon verlassen, Mylady?« Maistowe war leicht außer Atem, als er neben ihr ankam und stehen blieb, ohne den letzten Schritt von der Planke herunter zu tun. Auf diese Weise konnte er ihr in die Augen sehen, ohne zu ihr aufblicken zu müssen; eine Vorstellung, die für einen Mann wie ihn geradezu unerträglich sein musste. Er war nicht nur außer Atem, sondern sah auch nicht besonders gut aus: Sein Gesicht war blass, und unter seinen Augen lagen deutlich sichtbare dunkle Ringe. Sein Blick war ein bisschen unstet. All das mochte daran liegen, dass er in den zurückliegenden vier Nächten nicht besonders ruhig geschlafen hatte, sondern von schlimmen Albträumen geplagt worden war. Wenigstens dafür hatte sie gesorgt.
Bast lächelte unverändert weiter, während sie demonstrativ den Kopf zuerst nach rechts und dann nach links drehte und ihren Blick über die im Grunde wenig einladende Szenerie schweifen ließ. »Wir sind angekommen«, sagte sie. »Das hier ist doch London, oder? Es sei denn, Sie haben versehentlich den falschen Hafen angelaufen, Kapitän.«
»Natürlich nicht.« Maistowe lächelte nervös. »Ich dachte nur, dass ...«
»Dann gibt es auch keinen Grund mehr, noch länger an Bord zu bleiben«, fiel ihm Bast ins Wort. Maistowe sah ein bisschen betroffen aus, fast schon verletzt, und ganz gegen das, was sie eigentlich beabsichtigt hatte, entschärfte sie ihre Worte im Nachhinein, indem sie hinzufügte: »Bitte verzeihen Sie, Kapitän. Das war nicht gegen Sie oder Ihr Schiff gerichtet. Ich bin einfach nicht für die Seefahrt geschaffen, fürchte ich.«
Es war nicht zu erkennen, ob Maistowe die Entschuldigung annahm oder ihr auch nur glaubte, aber so weit ging ihr schlechtes Gewissen nun auch wieder nicht, noch einmal nachzuhaken. Sie sah ihn nur auffordernd an.
»Nun ja ...« Maistowe wirkte für einen Moment noch hilfloser, fing sich aber sofort wieder. »Dann kann ich mich nur noch einmal bei Ihnen bedanken, dass Sie mit uns gefahren sind. Kann ich sonst noch irgendetwas für Sie tun?«
Bast schwieg beharrlich weiter, und Maistowes Lächeln wurde noch einmal um eine ganze Größenordnung nervöser. »Ich ... ähm ... habe einen meiner Männer losgeschickt, um einen Wagen für Sie zu rufen«, sagte er unsicher. »Er kümmert sich auch um Ihr Gepäck.«
»Das ist sehr freundlich von Ihnen, Kapitän.« Was, zum Teufel, wollte der Kerl noch von ihr?
»Wissen Sie schon, wo Sie absteigen werden?«, fragte er.
Und was ging ihn das an? »Nein«, antwortete sie hörbar kühler. »Aber ich nehme doch an, dass sich in einer Stadt wie London ein Hotel finden lässt.«
»Sicher«, sagte Maistowe hastig. »Es ist nur ... also nur für den Fall, dass Sie noch unschlüssig sein sollten, könnte ich Ihnen eine hübsche kleine Pension empfehlen. Es ist nichts Besonderes, aber es ist sauber, und die Preise sind moderat. Die Besitzerin ist eine gute Bekannte von mir, und ihr Etablissement ist sehr ... anständig.«
»Aha«, sagte Bast. Und?
»Verzeihung.« Maistowe räusperte sich unbehaglich. Jetzt tat er ihr beinahe leid. »Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten, Ma'am.«
»Das sind Sie auch nicht, Kapitän«, sagte sie lächelnd und fast selbst ein bisschen erstaunt über ihre eigenen Worte. »Schreiben Sie mir die Adresse einfach auf.«
Maistowes rechte Hand fuhr so schnell in seine Jackentasche, als trüge er ein Stück glühender Kohle darin, das sich allmählich durch den Stoff hindurch in sein Fleisch brannte, und förderte einen mehrfach zusammengefalteten Zettel zutage. Bast nahm ihn entgegen und steckte ihn ein, ohne einen Blick darauf geworfen zu haben.
»Danke.«
»Gern geschehen«, antwortete er nervös. Ganz offensichtlich wartete er darauf, dass sie noch etwas sagte. Doch sie hatte nicht die Absicht, ihm diesen Gefallen zu tun.
Maistowe druckste noch einen Moment herum und gab sich dann einen sichtbaren Ruck. »Wenn ich Ihnen noch einen Rat geben dürfte, Mylady.«
»Und welchen?«
»Ihr ... ähm ... Schmuckstück«, sagte Maistowe. Sein Blick glitt kurz und nervös über den schweren goldenen Skarabäus, den sie an einer ebenfalls massiven Goldkette um den Hals trug. »Es ist mir schon aufgefallen, als Sie an Bord gegangen sind. Ich habe nichts gesagt, weil das an Bord der Lady kein Problem war. Meine Mannschaft ist vertrauenswürdig. Aber es muss sehr wertvoll sein.«
Wertvoller, als du dir auch nur vorstellen kannst. »Das ist wahr«, sagte sie ruhig.
»Das hier ist London, Mylady«, fuhr Maistowe fort, immer noch nervös, aber zugleich auch hörbar ernster. »Vielleicht sollten Sie es nicht ganz so offen tragen, jedenfalls nicht in dieser Gegend.«
»Ist sie etwa gefährlich?«, fragte Bast mit gespieltem Erstaunen.
»Nicht gefährlicher als jede andere Stadt«, versicherte er hastig. »Aber Sie sollten auch nicht zu leichtsinnig sein. Schlechte Menschen gibt es überall, und man muss sie ja schließlich nicht unnötig provozieren.«
Bast legte ganz automatisch die flache Hand über den auffälligen Anhänger und zog sie gleich darauf beinahe schuldbewusst wieder zurück. Sie trug dieses Amulett nun schon seit so vielen Jahren, dass sie sich kaum noch erinnern konnte, wann sie es das letzte Mal abgenommen hatte. Sie würde es ganz gewiss auch jetzt nicht tun.
»Ich kann schon auf mich achtgeben«, sagte sie. »Aber trotzdem danke für die Warnung.«
»Gern geschehen.« Maistowes Verlegenheit war nun beim besten Willen nicht mehr zu übersehen, und die Tatsache, dass ihm noch irgendetwas auf der Seele lag, stand wie mit leuchtenden Buchstaben auf seiner Stirn geschrieben. Bast hätte ohne Mühe nachsehen können, was es war, aber zum einen konnte sie es sich ohnehin denken, und zum anderen interessierte es sie nicht.
»Also dann, noch einmal vielen Dank und ... ähm ... einen angenehmen Aufenthalt in London. Vielleicht sehen wir uns ja irgendwann einmal wieder.«
Bast ergriff seine ausgestreckte Hand und drückte sie gerade fest genug, um ihn ihre wahre Kraft spüren zu lassen, ohne ihm tatsächlich weh zu tun.
Maistowe trat hastig einen halben Schritt zurück. »Dann also ... viel Glück«, stotterte er.
»Leben Sie wohl, Kapitän«, antwortete Bast. »Und wenn Sie umgekehrt auch einen guten Rat von mir annehmen ... schlafen Sie erst einmal richtig aus. Vielleicht hören die Albträume ja auf, jetzt, wo Sie an Land sind.«
Maistowe sah sie einen Moment lang fassungslos an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und lief so schnell die Planke wieder hinauf, dass es schon fast wie eine Flucht aussah.
Bast sah ihm mit einer Mischung aus noch immer anhaltender Verwirrung und leiser Amüsiertheit nach, erteilte sich selbst in Gedanken aber auch zugleich einen sanften Tadel. Solche kleinen Triumphe wie dieser waren nicht nur billig, sondern nur allzu oft schädlich oder gar gefährlich. Aber sie hatte der Verlockung einfach nicht widerstehen können ... und der Ausdruck von Schrecken und Hilflosigkeit auf Maistowes Gesicht gerade entschädigte sie zwar nicht für alles, was sie auf dieser Reise erlitten hatte, aber für vieles.
Sie wartete noch einen Moment, bis Maistowe aus ihrem Sichtfeld verschwunden war, bevor sie sich umdrehte, um nach den Männern mit ihrem Gepäck Ausschau zu halten, von denen der Kapitän gesprochen hatte.
Fast zu ihrer Überraschung entdeckte sie sie sofort. Am anderen Ende des Schiffes war eine zweite, breitere Planke zum Pier heruntergelassen worden, die auf einer Seite so etwas wie ein Geländer aus grobem Tauwerk hatte und auf der sich eine kleine Karawane von gleich vier Matrosen bewegte, die mit ihrem Gepäck beladen waren - ein Koffer pro Mann, was Bast einigermaßen lächerlich vorkam, denn so voluminös oder schwer waren ihre Gepäckstücke nun wirklich nicht. Ein fünfter Mann mit vollkommen leeren Händen, dafür aber umso wichtigerem Gebaren, eilte ihnen voraus und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in der wuselnden Menge, die den Pier bevölkerte.
Bast runzelte die Stirn, konnte aber zugleich ein amüsiertes Lächeln nicht ganz unterdrücken. Vielleicht hatte Maistowe ja - wenn auch ein bisschen zu spät - eingesehen, dass er es ein wenig übertrieben hatte, und meinte nun, irgendetwas wiedergutmachen zu müssen. Ihr sollte es recht sein. Je eher sie von hier wegkam, desto besser.
Sie folgte der kleinen Gruppe, während sie sich ihren Weg durch die Menschenmenge bahnte, die das angelandete Schiff nahezu ebenso aufgeregt und lärmend belagerte wie die Möwen oben in der Luft - und vermutlich aus ganz ähnlichen Beweggründen -, und griff gleichzeitig zum Ausschnitt ihres Kleides, um den Anhänger zu verbergen. Allerdings führte sie die Bewegung nicht zu Ende. Maistowe hatte zweifellos recht, aber es gab da ein paar Dinge über sie, die er ebenso zweifellos nicht wissen konnte. Sollte ihr auffälliger Schmuck tatsächlich jemanden dazu provozieren, ihr aufzulauern und sie zu überfallen ... nun, umso besser.
Sie ließ die Hand wieder sinken und beschleunigte ihre Schritte und hätte die Männer binnen weniger Augenblicke eingeholt, hätte sie in diesem Moment nicht zum dritten Mal jenes schrille, unheimliche Kreischen gehört. Unschlüssig und ebenso davon überzeugt, auch jetzt wieder dem Kreischen einer Möwe aufgesessen zu sein, wie wenig geneigt, sich vor sich selbst zum Narren zu machen, verhielt sie im ersten Moment nicht einmal im Schritt und setzte im Gegenteil sogar dazu an, trotzig schneller zu gehen. Aber irgendetwas ... änderte sich. Sie konnte nicht wirklich sagen, was. Vielleicht ein Wandel im Muster der nur scheinbar willkürlichen Bewegung auf dem Pier ringsum, die in Wahrheit einem wohl geordneten Ablauf folgte, ohne dass sich einer der daran Beteiligten seiner auch nur bewusst war, vielleicht ein erschrockenes Zusammenzucken, das sie aus den Augenwinkeln heraus wahrnahm, das fragende Hochziehen einer Augenbraue, ein überraschter Blick oder auch nur ein vages Gefühl von Erstaunen, das sie auffing.
Was immer es war, es ließ sie herumfahren, in einer so blitzartigen, schnellen Bewegung, wie sie noch keiner der Menschen auf dem Pier ringsum je gesehen hatte, geschweige denn nachvollziehen konnte.
Und dennoch war sie nicht schnell genug.
Es war tatsächlich der Schrei einer Möwe gewesen, der in diesem Moment hoch über ihr am Himmel ein weiteres Mal erklang; vielleicht nichts als ein purer Zufall, vielleicht tatsächlich eine Warnung, von wem auch immer geschickt. Der Falke selbst griff vollkommen lautlos an, eine schwarze Pfeilspitze, die direkt aus der Sonne heraus auf sie zielte.
Bast duckte sich im allerletzten Moment und entging so den schrecklichen Raubvogelkrallen, die nach ihren Augen hackten, nicht aber dem Schlag der schwarzen Schwingen, die wie eine gleichermaßen weiche wie unvorstellbar starke Hand in ihr Gesicht klatschten und sie rückwärtstaumeln ließen. Statt ihr die Augen auszukratzen und ihr Gesicht zu zerfetzen, zerrten ihr die Krallen nur die Kapuze vom Kopf, sodass ihr rotes Haar wie in einer lautlosen Explosion um ihre Schultern und den Rücken hinabfloss. Wenn es noch irgendjemanden auf diesem Pier gegeben hatte, der nicht auf sie aufmerksam geworden war, dann hatte sich das wohl spätestens in diesem Augenblick geändert.
Bast ließ sich von der Wucht des Anpralls ganz bewusst mitreißen und herumwirbeln und schlug aus der Drehung heraus zu - nicht so hart, wie sie es sich gewünscht hätte, und nicht einmal annähernd so zielsicher, aber sie traf. Federn stoben in einer lautlosen schwarzen Explosion in alle Richtungen, und sie konnte spüren, wie die empfindlichen Knochen der Flügel unter der Wucht ihres Hiebes brachen. Jetzt schrie der Vogel, nicht vor Zorn oder Angriffslust, sondern vor Schmerz.
Hinter ihr erscholl ein anderes, viel lauteres Kreischen, und sie sah eine verschwommene Bewegung aus den Augenwinkeln. Ein Kind schrie, und irgendetwas zerbrach polternd, aber Bast achtete auf nichts von alledem, sondern führte die Bewegung nicht nur mit grimmiger Entschlossenheit zu Ende, sondern schlug zugleich ihren Mantel zurück und zog ihr Schwert, während sie dem davon torkelnden Vogel nachsprang. Die fast armlange Klinge blitzte im Sonnenlicht.
Wieder kreischte ein Pferd, und diesmal begann die Bewegung nur in ihren Augenwinkeln und bäumte sich dann riesig und drohend neben und über ihr auf. Tödliche Hufe wirbelten nur wenige Zoll neben ihr durch die Luft, als sich das Pferd in schierer Panik aufbäumte und dann endgültig durchging.
Alles schien sich im Bruchteil eines einzigen Atemzuges abzuspielen, und trotzdem gefror die Zeit im gleichen Moment. Das Pferd bäumte sich mit solch ungeheurer Gewalt auf, dass sein Zaumzeug riss und der jämmerliche Karren wie von einem Hammerschlag getroffen in Stücke sprang. Sie sah den Falken, der verzweifelt mit dem gebrochenen Flügel schlagend an Höhe zu gewinnen versuchte und doch weiter dem Boden entgegen trudelte, und die blitzende Klinge in ihrer Hand, das heilige Schwert ihrer Vorfahren, das sie mit in dieses kalte Land am Ende der Welt gebracht hatte, damit es ihr im vielleicht schwersten Kampf ihres Lebens beistehen konnte.
Und plötzlich begriff sie, dass es vorbei war.
Ihr Widersacher hatte alles riskiert, um es hier und sofort zu Ende zu bringen, im selben Moment, in dem sie den Fuß auf den Boden dieses Landes setzte, und er hatte verloren. Der Vogel war verletzt, nicht tödlich, aber schlimm genug, um ihr die Zeit zu verschaffen, die sie brauchte, um ihn einzuholen und ihr Schwert in sein Blut zu tauchen, und das war es dann. Die große Schlacht würde nicht stattfinden.
Aber sie sah auch das Pferd, das blind vor Panik an ihr vorbeistürmte, und das Kind auf dem Pflaster; ein vielleicht sechs oder sieben Jahre altes Mädchen mit verschmiertem Gesicht, schmutzstarrendem Haar und noch schmutzigeren Kleidern, das wie gelähmt dastand und dem heranrasenden Pferd entgegen starrte. Es hatte keine Chance.
Die Zeit kehrte wieder zu ihrem gewohnten Ablauf zurück, und Bast registrierte zu ihrer eigenen Überraschung, wie sie herumfuhr und das Schwert fallen ließ. Statt sich auf den todgeweihten Vogel zu stürzen, war sie mit zwei, drei gewaltigen Sätzen neben dem durchgehenden Hengst, packte mit der linken Hand das zerrissene Zaumzeug und krallte die Finger der anderen in seine Mähne. Die Zeit reichte nicht, es abzulenken oder gar zum Anhalten zu zwingen; noch ein, zwei rasende Schritte, und die wirbelnden Hufe würden das Kind zermalmen. Also tat sie das Einzige, was sie noch konnte: Sie legte ihre ganze übermenschliche Kraft in einen gewaltigen Ruck, mit dem sie den Kopf des Pferdes zurück- und zur Seite riss.
Das Tier schrie, zuerst vor Schrecken und Furcht, und dann noch einmal und ungleich lauter und schriller und in schierer Agonie, als sie es zu Boden schmetterte, aber das Kreischen ging fast in dem schrecklichen Geräusch unter, mit dem seine Vorderläufe brachen. Bast warf sich mit einer hastigen Bewegung zurück und rollte noch hastiger ein Stück davon, um nicht ein paar Finger oder mehr einzubüßen, als das verletzte Pferd um sich zu beißen begann, sprang auf die Füße und war mit einem einzigen Satz neben dem Mädchen, das noch immer wie erstarrt dastand, um es aus der Reichweite der wild zuckenden Pferdehufe zu ziehen.
Erst dann eß sie sich vor ihm in die Hocke sinken, legte ihm beruhigend die linke Hand auf die Schulter und zwang es mit der anderen, ihr ins Gesicht zu sehen.
»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.
Das Mädchen starrte sie einen weiteren, endlosen Atemzug lang aus weit aufgerissenen Augen an, in denen nichts als Angst geschrieben stand, aber dann nickte es. Erst jetzt ging Bast auf, dass sie in ihrer Erregung in ihrer Muttersprache geredet hatte, aber das Kind schien die Frage trotzdem verstanden zu haben.
Behutsam griff sie nach den Gedanken des Mädchens, nahm ihr die schlimmste Furcht und richtete sich dann hastig wieder auf. Ihr erster Blick galt dem Falken, aber sie war nicht einmal wirklich überrascht, ihn genau in diesem Moment torkelnd wieder an Höhe gewinnen zu sehen. Sie machte sich nicht einmal die Mühe, ihn zu verfolgen. Sie hatte ihre Chance gehabt und vertan.
Menschen rannten kopflos durcheinander, Schreie gellten, Schritte, Panik und reine chaotische Bewegung rasten wie eine Explosion über das Pier, und Leute rannten auf sie zu, allen voran eine schmuddelige dicke Frau mit totenbleichem Gesicht; wahrscheinlich die Mutter des Mädchens. Bast ignorierte sowohl sie als auch alle anderen, holte ihr Schwert und erlöste das sterbende Pferd von seinen Qualen.
Als sie die blutige Klinge am Fell des Tieres abwischte, drang ein schriller Schrei an ihr Ohr. Sie sah auf und beschattete die Augen mit der Hand, um den Himmel abzusuchen. Der Falke verschwand so, wie er aufgetaucht war, unmittelbar in die Sonne hinein, die seine Silhouette in gleißendem Licht aufzulösen begann. Bast sah dem davonfliegenden Vogel nach, bis das Feuer des Sonnengottes ihn endgültig verzehrt hatte, dann schob sie mit einer müden Bewegung das Schwert wieder unter ihren Gürtel und schlug die Kapuze ihres schwarzen Mantels hoch, bevor sie sich wieder herumdrehte.
Hinter ihr war endgültig Panik ausgebrochen. Mindestens ein Dutzend Menschen drängten sich um das gestürzte Pferd oder versuchten sich um das Mädchen zu kümmern, allen voran seine Mutter, die so hysterisch schrie und kreischte, als hätten die wirbelnden Pferdehufe tatsächlich sie getroffen, statt nur das Mädchen zu bedrohen. Bast spürte, wie sich die Aufmerksamkeit der Menge nun allmählich auf sie zu richten begann. Bisher war alles einfach viel zu schnell gegangen, und sie bezweifelte außerdem, dass die meisten hier überhaupt wirklich gesehen hatten, was geschehen war. Aber das spielte keine Rolle. Sie hatten etwas gesehen, und im Grunde war es vollkommen egal, was. Sie wusste nur zu gut, wie es weitergehen würde.
Einen Moment erwog sie ernsthaft, die Erinnerung an ihre Person aus dem Gedächtnis aller zu löschen, aber sie wusste auch, dass ihre Kräfte dazu nicht einmal ansatzweise ausreichten; so wenig wie die Zeit, die wenigen Zeugen ausfindig zu machen, die wirklich etwas gesehen hatten, und sich ihrer Erinnerungen anzunehmen.
Es gab nur noch eines, was sie vernünftigerweise tun konnte. Sie schloss ihren Mantel, wandte sich um und ging davon, so schnell sie es gerade noch wagte, um es nicht nach einer Flucht aussehen zu lassen.
Die Matrosen, die ihr Gepäck trugen, waren inzwischen in einer Seitenstraße verschwunden, und Bast beeilte sich, zu ihnen aufzuschließen. Keiner der Männer drehte sich zu ihr um oder warf auch nur einen Blick in ihre Richtung. Ob sie etwas von dem Vorfall am Kai mitbekommen hatten, ließ sich nicht sagen, aber Bast spürte ihre Nervosität und konnte sie auch durchaus verstehen. Während der gesamten Überfahrt hatte sie ihre Kabine kaum ein halbes Dutzend Mal verlassen und war noch seltener an Deck gegangen. Kaum einer der Männer hatte sie wirklich zu Gesicht bekommen, und so war es kein Wunder, dass sie vermutlich inzwischen ein Nimbus des Geheimnisvollen und vielleicht auch ein wenig Unheimlichen umgab.
Auch das war ihr gleich. Auf das Geschwätz einiger vermutlich betrunkener Matrosen und des üblichen Hafengesindels würde hier so wenig jemand etwas geben wie in Kairo oder irgendeiner anderen Hafenstadt der Welt. Sie hatte die Reise nach London unerkannt zurücklegen wollen, und wie es aussah, war ihr das auch mehr oder weniger gelungen ... bis vor ein paar Augenblicken. Aber sie konnte schließlich keine Wunder erwarten.
Erstaunlich schnell durchquerten ihre Führer das Hafengelände und bogen schließlich in eine schmale, nach Schmutz und Verfall riechende Gasse ein, in der sich selbst Bast unwohl gefühlt hätte, wäre sie allein gewesen. An ihrem Ende schimmerte ein schmaler Streifen aus goldfarbenem Licht, in dem der Staub des Nachmittages tanzte wie eine Vision aus einer fremden, unendlich fernen Welt, und vielleicht war es genau dieser sonderbare, friedfertige Anblick, der in ihr abermals dasselbe Gefühl wachrief, mit dem sie von der Planke heruntergetreten war: ein Gefühl der Endgültigkeit, das beinahe schon sichere Wissen, dass etwas geschehen würde, etwas Großes und Schreckliches, nach dem ihr Leben nicht mehr so sein würde wie zuvor.
Vielleicht würde hinterher gar nichts mehr so sein, wie es einmal gewesen war.
Bast schüttelte auch diesen Gedanken ab und rief sich selbst - nicht zum ersten Mal an diesem Tag - zur Ordnung. Sie war nervös, und das war verständlich, denn sie hatte Isis nun seit etlichen Jahren nicht mehr gesehen und keine Ahnung, wie diese auf ihr unerwartetes Auftauchen reagieren würde. Und vermutlich litt sie schlichtweg noch unter den Nachwirkungen der Seekrankheit. Es war nicht weiter erstaunlich, wenn sie sich selbst in eine Weltuntergangsstimmung hineinsteigerte.
Aber gefährlich, wenn sie nicht achtgab.
Eine zweispännige Droschke rollte auf knarrenden Rädern vor das Ende der Gasse, und Bast blieb stehen und wartete in einiger Entfernung, bis die Männer ihr Gepäck verladen hatten und sich schon fast überhastet zurückzogen. Keiner machte auch nur Anstalten, auf dem gleichen Weg zurückzugehen, auf dem sie gekommen waren, denn dazu hätten sie sich in der schmalen Gasse dicht genug an ihr vorbeiquetschen müssen, um sie nahezu zu berühren, und diesen Mut brachte sichtlich keiner von ihnen auf.
Bast bedauerte es inzwischen bereits, nicht mit einer ihrer eigenen eisernen Regeln gebrochen und tiefer in Maistowe hineingesehen zu haben, denn sie fragte sich allmählich wirklich, was er seinen Männern über sie erzählt hatte. Was immer es auch gewesen sein mochte, es machte ihnen ganz offensichtlich genug Angst, sie nicht nur vor ihrer Nähe, sondern selbst vor dem bloßen Augenkontakt mit ihr zurückschrecken zu lassen; als hätten sie ernsthafte Angst, sie hätte den bösen Blick.
Was tatsächlich der Fall war, aber das konnten sie schließlich nicht wissen.
Der Gedanke ließ Bast abermals lächeln, aber nur für einen Moment, dann trat sie sogar wieder einen Schritt in den Halbschatten der Gasse zurück, während sie darauf wartete, dass die Männer mit dem Verladen ihrer Gepäckstücke fertig waren und sich trollten. Die leise mahnende Stimme in ihren Gedanken hatte recht: Seeleute waren ein abergläubisches Volk, und Geschichten wie diese neigten nur zu oft dazu, umso größer und dramatischer zu werden, je weiter sie die Runde machten. Es wäre nicht das erste Mal, dass sie so etwas erlebte.
Der letzte Mann verschwand, indem er den weiteren Weg außen um den ganzen Komplex aus Lagerhäusern, Schuppen und Kontoren einschlug, und Bast trat mit gesenktem Blick aus der Gasse heraus. Der Kutscher vorne auf seinem freien Bock verrenkte sich fast den Hals in dem vergeblichen Bemühen, einen Blick in die Schwärze unter ihrer Kapuze zu erhaschen, und Bast ging ein wenig schneller, schlüpfte in wenig damenhafter Hast in den Wagen und zog die Tür hinter sich zu. Erst dann fiel ihr ein, dass sie dem Fahrer gar kein Ziel genannt hatte, doch noch bevor sie diesen Fehler berichtigen konnte, drang das Knallen der Peitsche von draußen herein, und der Zweispänner setzte sich mit einem plötzlichen Ruck in Bewegung.