ACHTES Kapitel

Jemand hatte die Tür des Ten Bells repariert, aber die Arbeit hatte sich nicht gelohnt. Bast machte sich nicht die Mühe, nach der Klinke zu greifen, sondern schaffte das Hindernis kurzerhand mit einem Tritt aus dem Weg, zusammen mit dem vierschrötigen Kerl, der mit vor der Brust verschränkten Armen davor gestanden und versucht hatte, sie aufzuhalten. Vielleicht hatte er es auch gar nicht versucht, sondern nur im falschen Moment eine falsche Bewegung gemacht, und vielleicht nicht einmal das, sondern einfach das Pech gehabt, da zu sein ... Bast war es egal. Sie hatte keine Zeit für solche Spielereien. Die Tür flog nach innen, wo sie gegen die Wand krachte und zerbarst, und ihr unglückseliger Bewacher in die entgegengesetzte Richtung und gegen einen Tisch, den er zusammen mit den daran sitzenden Zechern zu Boden riss.

Bast sah nicht einmal hin, sondern war mit einem einzigen zornigen Schritt durch die Tür und steuerte den Tresen an. Das Lokal war bereits voll besetzt, obwohl es noch nicht einmal sieben war; und ihr rüdes Eintreten ließ ein Dutzend Gäste erschrocken von ihren Plätzen aufspringen, und noch mehr verdutzt in ihren Gesprächen innehalten und die Köpfe in ihre Richtung drehen. Bast hatte ihre Waffe nicht gezogen, aber ihr Mantel stand offen und flatterte wie ein Paar riesiger schwarzer Fledermausflügel hin und her; sodass jedermann das gut armlange Schwert sehen konnte, das an ihrem Gürtel hing - und wenn schon nicht das, so sorgte doch die beinahe sichtbare Woge von Zorn, die ihr vorauseilte dafür, dass sich ihr niemand in den Weg stellte. Den Einzigen, der mutig - oder betrunken - genug war, es dennoch zu versuchen, schmetterte sie mit einem Rückhandschlag aus dem Weg, der ihn vermutlich ein paar Zähne kostete, den sie selbst aber nicht einmal wirklich bemerkte.

Noch bevor er ganz zu Boden gestürzt war, hatte Bast die Theke erreicht. Wie sie erwartet hatte, stand Red dahinter und bediente die Gäste, und aus irgendeinem Grund schien er der Einzige im ganzen Ten Bells zu sein, dem ihr Eintreten nicht aufgefallen war. Er drehte sich zu ihr herum und setzte dazu an, sie nach ihren Wünschen zu fragen, und Bast ließ ihm nicht einmal Zeit, seine Verblüffung bei ihrem unerwarteten Anblick zu verarbeiten, sondern packte ihn mit beiden Händen an der Brust seines zerschlissenen Hemdes und zerrte ihn halbwegs über die Theke.

»Wo ist sie?«, fuhr sie ihn an. »Ist sie oben, in deinem Zimmer?«

Red begann in ihrem Griff zu zappeln und komische, keuchende Laute auszustoßen. Er hätte nicht einmal antworten können, wenn er es gewollt hätte, denn Basts Griff schnürte ihm die Luft ab. Aber sie hörte Geräusche hinter sich: Aus den ersten Schreckensrufen war inzwischen fast ein kleiner Tumult geworden. Stühle fielen um, ein Glas zerbrach klirrend, und Schritte näherten sich. Bast spürte plötzlich die Nähe eines Mannes und seine enorme Gewaltbereitschaft, trat nach hinten aus und wurde mit einem schmerzerfüllten Grunzen und dem befriedigenden Geräusch brechender Knochen belohnt.

Sie lockerte ihren Griff wenigstens weit genug, damit Red wieder atmen konnte. »Ich habe dich gefragt, wo sie ist«, zischte sie. »Antworte!«

Red brachte auch jetzt wieder nur ein halb ersticktes Krächzen über die Lippen, aber hinter ihr sagte eine fast amüsiert klingende Stimme: »Bring den armen Kerl doch nicht gleich um. Ich brauche ihn noch, weißt du?«

Bast ließ Red los - er rutschte von der Theke und stürzte auf der anderen Seite polternd zu Boden - und fuhr herum. Hinter ihr stand eine dunkelhaarige Schönheit mit schwarzen Augen und einem sinnlichen Mund. Sie hatte helle, fast weiße Haut und pralle Brüste, die sie nur unzureichend bedeckt hatte, und trug ein Kleid, das man wohl nur in einem Lokal wie diesem tragen konnte, ohne auf der Stelle eingebuchtet zu werden. Trotzdem erkannte Bast sie sofort.

»Isis!«

»Nicht doch«, antwortete die Dunkelhaarige. »Patsy. Du wirst doch deine alte Freundin Patsy Kline wiedererkennen - wo dir doch offensichtlich so viel daran gelegen ist, mich zu finden.«

»Wo ist er?«, zischte Bast.

»Wer?«

»Du weißt genau, von wem ich spreche! Horus! Wo ist er? Du wirst mir sagen, wo er sich versteckt!«

»Ach?«, fragte Isis amüsiert. »Werde ich das?«

Bast musste sich beherrschen, um sie nicht einfach zu packen und so lange zu schütteln, bis sie antwortete. Und vielleicht hätte sie es sogar getan, aber die Situation hatte sich ... verändert. Neben ihr krümmte sich ein schwarzhaariger Bursche auf dem Boden und spuckte blutigen Schaum, und der andere kroch immer noch auf Händen und Knien über die schmierigen Bretter und suchte seine Schneidezähne, aber mittlerweile scharten sich mehr und mehr Männer hinter ihr zusammen. Mindestens ein Dutzend, wenn nicht mehr, und mehr als einer hielt ein Messer oder eine andere Waffe in der Hand. Bast hatte ihr Schwert, und sie war noch immer unbeschreiblich wütend und ganz gewiss nicht feige. Aber sie war keine Selbstmörderin. Sie hätte sich sogar zugetraut, mit diesem Dutzend Raufbolden fertig zu werden - aber da war immer noch Isis.

»Gut, dass du vernünftig bist«, sagte Isis, als sie sah, wie die Entschlossenheit in ihrem Blick ins Wanken geriet. »Ich habe eine Menge Freunde hier, weißt du? Und ich würde es wirklich nicht gerne sehen, wenn ihnen etwas zustieße.«

Sie wartete vergeblich darauf, dass Bast irgendwie auf diesen lahmen Scherz reagierte, und wandte sich schließlich mit erhobener Stimme an die Umstehenden. »Es ist alles in Ordnung. Nur ein Missverständnis. Das ist eine gute alte Freundin von mir.« Sie blinzelte Bast zu. »Ich hoffe doch, du nimmst mir das alles nicht übel.« Bast starrte sie an, aber Isis' Worte erzielten auch Wirkung: Die Männer wandten sich rasch wieder um und gingen zu ihren Tischen zurück, wie sie aufgesprungen waren. Gewalttätigkeiten schienen hier nichts Besonderes zu sein.

»Komm«, sagte Isis. »Setzen wir uns und trinken etwas. Dabei redet es sich besser.«

»Ich will nichts trinken«, sagte Bast eisig. »Ich will wissen, wo er sich verkrochen hat!«

»Dann setz dich eben einfach so zu mir«, sagte Isis. »Wir erregen Aufsehen. Das willst du doch nicht, oder?«

Sie wartete Basts Antwort nicht ab, sondern ging zu einem Tisch ganz in der Nähe, und Bast folgte ihr widerwillig. Die beiden Männer, die bisher offensichtlich zusammen mit ihr daran gesessen hatten, standen auf und zogen sich hastig zurück, als Bast näher kam.

Sie nahm widerstrebend Platz. Isis hob - wahrscheinlich aus keinem anderen Grund, als sie zu ärgern - ihren Krug und machte ein fragendes Gesicht, und Bast musste sich mit aller Gewalt beherrschen, um es bei einem bloßen wütenden Kopfschütteln zu belassen.

»Wie du willst.« Isis prostete ihr zu, nahm einen gewaltigen Schluck und wischte sich mit dem Handrücken den Schaum von der Oberlippe.

»Warum tust du dir das an?«, fragte Bast. »Das ist widerlich, und Alkohol wirkt nicht auf uns.«

»Vielleicht weil es mir schmeckt?«, sagte Isis.

»Kaum.«

»Dann vielleicht, um mich anzupassen. Hier erwartet man von einer Dame, dass sie einen guten Tropfen zu schätzen weiß.« Sie nahm einen weiteren Schluck, bevor sie den Krug mit einem Knall auf den Tisch zurückstellte und Bast nachdenklich ansah.

»Du willst also wissen, wo Horus ist. Warum?«

»Um ihn zu töten«, antwortete Bast.

»Ihn töten?« Isis sah sie ungläubig an, aber ihr Lächeln erstarb zusehends. »Du meinst das ernst, habe ich recht?«

»Ich habe noch nie zuvor irgendetwas so ernst gemeint«, antwortete Bast. »Wirst du mir sagen, wo er ist?«

»Und wenn ich es nicht tue?«, fragte Isis. »Tötest du mich dann auch?«

»Nein«, antwortete Bast. »Aber wie war das gestern: Ich würde nicht zögern, dir sehr wehzutun.«

Isis sah sie durchdringend an.

»Ja«, sagte sie schließlich. »Ich glaube, das würdest du tun ... Du willst ihn wirklich töten? Du willst das älteste Gesetz brechen und einen von uns töten, ganz bewusst?«

»Ja«, sagte Bast.

»Warum?«

Eigentlich wollte Bast nicht darauf antworten. Sie hatte Angst, dass die Worte den Schmerz wecken könnten, auf den sie bisher vergeblich gewartet hatte. Sie verspürte noch immer nichts als diese schreckliche Kälte und Entschlossenheit. Schließlich antwortete sie doch. »Er hat jemanden ermordet.«

»Das habe ich auch schon«, sagte Isis. »Du übrigens auch.«

»Jemand, der mir nahegestanden hat.«

»Dieses Mädchen?« Sie wirkte ehrlich überrascht. »Marie-Jeanette? Aber du hast sie doch kaum gekannt, eigentlich gar nicht.«

»Nicht sie«, antwortete Bast. »Jemand anderen. Es geht dich nichts an, wen. Wo ist er?«

»Ich habe dir gestern schon gesagt, dass ich es nicht weiß«, antwortete Isis.

»Und ich habe dir gestern schon nicht geglaubt.«

Isis seufzte. »Du bist verrückt, wenn du glaubst, dass ich dir helfe, dich selbst umzubringen«, sagte Isis ernst. »Horus wird dich töten, wenn ...«

»Das ist mein Problem. Ich werde schon mit ihm fertig.«

»Nicht allein,« antwortete Isis überzeugt.

»Wer sagt, dass ich allein bin?«

Einen Moment lang wirkte Isis einfach nur verdutzt, aber dann lachte sie und schüttelte nur noch heftiger den Kopf. »Und du bist noch verrückter, wenn du glaubst, dass ich dir ...« Sie brach ab, und ihre Augen weiteten sich. »Nein«, hauchte sie. »Das nicht.«

Bast schwieg.

»Du bist verrückt«, murmelte Isis. »Du gibst alles auf, dein ganzes Leben, all diese Jahre des Kampfes. All deinen Widerstand und alles, was du auf dich genommen hast, nur weil du ... Rache willst? Für den Tod einer Sterblichen?«

»Auch das ist mein Problem, meinst du nicht?«, fragte Bast kalt.

»Nein, das meine ich sogar ganz bestimmt nicht«, antwortete Isis heftig. »Einmal ganz davon abgesehen, dass Horus wahrscheinlich nicht begeistert sein wird, wenn ich sein Versteck verrate ...«

»Du weißt also, wo er ist.«

»... bedeutest du mir etwas, Bastet«, fuhr Isis zornig fort. »Du erwartest allen Ernstes von mir, dass ich zusehe, wie du dich umbringst? Dass ich dir auch noch dabei helfe? Du musst verrückt sein!« Sie beugte sich erregt vor. »Ich verstehe dich ja, Bastet. Du bist wütend. Er hat dir wehgetan, um dich wütend zu machen, und wie es aussieht, hat er sein Ziel erreicht ... aber dein Schmerz wird vergehen. Sehr bald schon. Im Augenblick tut es nur weh, aber verdammt noch mal, das haben wir doch alle schon einmal erlebt. Schon viele Male! Menschen sterben. Es spielt keine Rolle, ob nach zwanzig Jahren oder sechzig. Sie leben ihr lächerlich kurzes Leben und sterben.«

»Du wirst mir sagen, wo er ist!«

»Ganz bestimmt nicht!«, erwiderte Isis heftig. »Ich werde ...« Sie brach ab. Ihre Miene erstarrte und sie wurde blass ... und dann noch blasser, als Bast das Schwert, das sie unter dem Tisch gezogen hatte, tief genug in ihren Oberschenkel stieß, um einen einzelnen Blutstropfen an ihrem Bein herunterrinnen zu lassen.

»Es liegt ganz bei dir«, sagte Bast ruhig. »Ich kann ein bisschen an dir herumschnitzen oder dich auch gleich aufspießen, das ist deine Entscheidung ... keine Sorge. Du wirst es überleben, aber es wird vermutlich sehr wehtun.«

»Das ... wagst du ... nicht«, sagte Isis gepresst. Aber ganz überzeugt klang es nicht.

»Lass es auf einen Versuch ankommen«, sagte Bast. »Und ich verspreche dir noch etwas: Wenn du mich zwingst, Gewalt anzuwenden, dann werde ich noch deinen kleinen Freund töten, bevor ich gehe. Du hast es ja gerade selbst gesagt: Er stirbt sowieso. Es spielt keine Rolle, ob jetzt oder in ein paar Jahren.«

»Verdammt, hör auf!«, keuchte Isis. »Allmählich glaube ich wirklich, dass du Sachmet bist.«

»Ich habe nie etwas anderes behauptet«, sagte Bast. Sie bewegte das Schwert; nur um eine Winzigkeit, aber der Blutstrom nahm noch einmal zu. »Du hast die wahre Tiefe meines Wesens nie erkannt. Bastet und Sachmet, wir beide sind eins.«

»St. Paul's«, ächzte Isis. »Mehr weiß ich nicht.«

»St. Paul's? Was soll das sein?«

»Eine Kirche, mitten in der Stadt!« Isis funkelte sie fast hasserfüllt an.

»Und dort versteckt er sich? Wo genau?«

»Ich habe keine Ahnung!«, antwortete Isis. Schweiß perlte auf ihrer Stirn, und ihre Stimme zitterte ein wenig. Bastet hätte spätestens jetzt den Druck auf die Schwertklinge ein wenig gemindert, um ihr nicht mehr Schmerzen zuzufügen als nötig, aber Sachmet tat das nicht.

»Ich weiß wirklich nicht mehr!«, ächzte Isis. »Ich habe nur einmal gehört, wie sie darüber gesprochen haben. Ich bin nicht einmal sicher, dass er wirklich noch dort ist, aber das ist alles, was ich dir sagen kann!«

Bast ließ die Schwertklinge noch einige weitere Augenblicke dort, wo sie war, dann aber zog sie die Waffe mit einem Ruck zurück und stand auf. »Gut«, sagte sie. »Ich glaube dir. Aber wenn du mich belogen hast oder wenn du versuchst, mich zu hintergehen oder Horus zu warnen, dann komme ich zurück und besuche zuerst dich und dann Red. Grüß ihn von mir.«

»Ganz bestimmt nicht«, fauchte Isis. »Aber weißt du was? Ich hoffe trotzdem, dass du es überlebst. Und sei es nur, damit du Gelegenheit hast, dich bei mir zu entschuldigen.«

»Sicher«, sagte Bast. »Gleich nachdem sich Horus bei mir entschuldigt hat.« Als sie losgehen wollte, scharrten hinter ihr Stühle, und zwei, dann drei kräftige Burschen stellten sich ihr in den Weg. Bast hielt ihr Schwert noch immer in der Hand, aber sie war ziemlich sicher, dass der Grund, aus dem sie sich nach einem kurzen Moment wieder zurückzogen und sie gehen ließen, ein anderer war. Wahrscheinlich hatte Isis ihnen befohlen, sie unbehelligt ziehen zu lassen.

Kurz bevor sie das Ten Bells verließ, drehte sie sich noch einmal um. Isis betrachtete missmutig ihre Hand, die rot von ihrem eigenen Blut war, sah aber dann doch noch einmal in ihre Richtung, und ein angedeutetes Lächeln erschien in ihren Augen. Viel Glück, Schwester!

Bast wandte sich mit einem Ruck um und ging endgültig.

Als sie durch die Tür trat, sagte eine Stimme hinter ihr: »St. Paul's Cathedral ist ziemlich weit entfernt von hier. Möchten Sie zu Fuß gehen, oder darf ich Ihnen vielleicht ein bequemeres Fortbewegungsmittel anbieten?«

Bast fuhr wütend herum und funkelte Abberline an. »Wo, zum Teufel, kommen Sie denn her?«

»Wie gesagt: die Segnungen der modernen Zeiten.« Abberline wies lächelnd auf die zweispännige schwarze Kutsche, mit der sie vorhin schon den Weg zur Pension zurückgelegt hatten. »Ich gebe ja gerne zu, dass ich noch nie einen Menschen gesehen habe, der so schnell laufen kann wie Sie, aber eine Kutsche ist allemal schneller, fürchte ich.«

»Ich hatte Sie gebeten, sich um Mrs Walsh und Jacob zu ...«

»Dafür ist Sorge getragen«, unterbrach sie Abberline. »Ich habe zwei zuverlässige Männer dort gelassen, keine Angst. Sie sind verschwiegen.«

»Sie spionieren mir hinterher?« Basts Hand schloss sich so fest um den Schwertgriff an ihrem Gürtel, dass es wehtat. Sie musste aufpassen, dass sie ihren Zorn nicht an Abberline ausließ.

Wenn er ihren Ärger spürte, dann lieft er ihn an sich abprallen. »Es ist wirklich ein schönes Stück bis St. Paul's Cathedral«, sagte er. »Mit dem Wagen wären Sie schneller dort. Sehr viel schneller.«

Bast war nahe daran, schon aus purem Trotz nein zu sagen - aber das wäre albern gewesen, und jetzt war nicht der Moment für Albernheiten. Noch immer verärgert, fuhr sie auf dem Absatz herum und ging zum Wagen. Abberline folgte ihr und wechselte ein paar halblaute Worte mit dem Fahrer, bevor auch er einstieg. Die zweispännige Droschke setzte sich in Bewegung, noch bevor er richtig Platz genommen hatte, und gewann rasch an Tempo.

»Ich muss gestehen, dass ich in den letzten Augenblicken ein wenig hin- und hergerissen war«, sagte Abberline. »Als Vertreter der Obrigkeit und Polizeibeamter hätte ich eigentlich einschreiten müssen, aber ein Teil von mir hätte sich fast gewünscht, dass Sie den Laden ganz auseinandernehmen.«

»Mir ist nicht nach Konversation, Inspektor«, sagte Bast grob.

»Wie Sie meinen.« Abberline zuckte betont gelassen die Schultern. »Dann lassen Sie uns über Fakten sprechen. Sie kennen St. Paul's Cathedral?«

»Sollte ich?«



»Es wäre vielleicht von Vorteil, wenn Sie Ihren Freund tatsächlich dort vermuten«, antwortete Abberline. »Umso mehr, falls er sich wirklich dort versteckt.«

»Wieso?«

Abberline lachte. »Ich sehe, Sie haben wirklich keine Ahnung. St. Paul's ist nicht einfach eine Kirche. Es ist eine Kathedrale. Die größte Kirche des Landes, und eines der größten Gebäude der Stadt. Ich wünsche Ihnen viel Vergnügen, dort nach einem Mann zu suchen, der nicht gefunden werden will. Wenn Sie mich fragen, sollten wir eine Hundertschaft Männer für die Suche anfordern, oder besser gleich zwei. Und selbst dann ...«

»Das wird nicht nötig sein«, unterbrach ihn Bast. »Ich habe meine eigenen Möglichkeiten.«

»Das glaube ich Ihnen«, antwortete Abberline. »Was mir Sorgen bereitet, ist der Gedanke, dass Horus über dieselben Möglichkeiten verfügt.«

»Zerbrechen Sie sich nicht meinen Kopf, Inspektor«, sagte Bast unfreundlich. »Vielleicht bringen wir uns ja gegenseitig um, und Sie sind aller Sorgen ledig.«

Abberline seufzte. »Ich dachte, Sie hätten inzwischen begriffen, dass ich auf Ihrer Seite stehe, Bastet ... oder bestehen Sie immer noch darauf, Sachmet genannt zu werden?«

Bast schwieg.

»Ich habe mich ein wenig informiert«, sagte Abberline. »Am Anfang gab es nur Bastet, die Göttin der Fruchtbarkeit und Liebe. Später gesellte sich Sachmet dazu, ihre - wie soll ich sagen - dunkle Schwester? Sie stand für alles, was Bastet nicht war. Hass. Gewalt, Unglück. Waren es wirklich zwei?«

»Nein«, antwortete Bast. »Das ist nur eine Legende. Sie sollten nicht alles glauben, was in Büchern steht, Inspektor.«

»Ich glaube schon seit langer Zeit nur noch das, was ich sehe«, antwortete Abberline. Er lächelte weiter, aber sein Blick wurde plötzlich sehr ernst. »Lassen Sie nicht zu, dass Sie ganz zu Sachmet werden, Bast. Das ist es nicht wert.«

»Halten Sie den Mund, Inspektor«, fauchte Bast. Sie machte eine ärgerliche Geste. »Wenn Sie mir ihre sogenannte Hilfe unbedingt aufdrängen müssen, dann erzählen Sie mir etwas über diese Kathedrale.«

»Dazu würde ich länger brauchen, als wir dorthin unterwegs sind«, antwortete Abberline. »Sie ist groß. Sehr groß. Das ist alles, was Sie wissen müssen. Aber ich habe eine Frage.«

»Und welche?«

»Wie kann man ihn töten?«

»Horus?« Bast schüttelte mit einem abfälligen Lachen den Kopf. »Gar nicht. Jedenfalls nicht ...«, sie deutete auf die Stelle, an der Abberline den Revolver unter seinem Rock trug, »... damit.«

»Sollte ich mir Silberkugeln besorgen?«, fragte Abberline. »Oder wäre ein Holzpflock ins Herz angebracht?«

»Wir sind keine Vampyre, Inspektor«, antwortete Bast ärgerlich. »Und das hier ist keine Gruselgeschichte, wie man sie in billigen Zeitschriften liest. Es ist bitterer Ernst! Wenn Sie sich einmischen, werden Sie sterben. Sie haben gesehen, wozu sie fähig sind!«

»Und ich habe gesehen, dass man sie verletzen kann«, beharrte Abberline. »Und alles, was verletzt werden kann, kann auch getötet werden. Geben Sie mir eine Chance, Bastet - oder möchten Sie, dass ich ihm vollkommen wehrlos gegenübertrete?«

Bast zögerte einen Moment. Ihre Logik sagte ihr, dass es nur eines gab, was sie vernünftigerweise für Abberline tun konnte - nämlich ihn niederschlagen und fesseln und dafür sorgen, dass ihn der Kutscher ans andere Ende der Stadt verfrachtete. Abberline konnte Horus nicht töten. Er würde wahrscheinlich nicht einmal merken, dass er in der Nähe war, bevor er starb. Horus war kein Mann, der vergab.

Doch dann schlug sie ihren Mantel zurück und schlug mit der flachen Hand auf die Schwertklinge. »Damit«, sagte sie.

Abberline schien nicht im Geringsten überrascht. »Man muss sie enthaupten.«

»Das ist eine Möglichkeit«, sagte Bast. »Oder ihm das Herz herausschneiden. Es nur zu durchbohren würde nicht viel bringen. Allerdings würde es Ihnen vielleicht die Zeit verschaffen, um weit genug wegzulaufen. Wenn Sie Glück haben. So, und jetzt wissen Sie nicht nur, wie man Horus töten kann, sondern auch mich.«

»Sie wollen mich verletzen«, konstatierte Abberline. »Sie wollen mich wütend machen, damit ich zu dem Schluss komme, dass es Ihnen ganz recht geschieht und Sie allein auf dieses Ungeheuer loslasse. Aber das funktioniert so nicht.«

»Ich will Ihnen das Leben retten, Sie Narr!«, sagte Bast heftig. »Verstehen Sie denn nicht? Ich kann Sie nicht beschützen und Sie mich noch weniger.«

»Jetzt unterschätzen Sie mich, Bastet«, sagte Abberline lächelnd.

Bast resignierte. Abberline hatte sich allem Anschein nach vorgenommen, sich durch nichts und niemanden von seinem hirnverbrannten Entschluss abbringen zu lassen, den Helden zu spielen. Also gut, dann eben anders.

»Ich mache Ihnen einen Vorschlag, Inspektor«, sagte sie. »Meine Vernunft und der mir selbst rätselhafte Umstand, dass ich Sie irgendwie sympathisch finde, raten mir, Sie zu einem Paket zu verschnüren und Ihrem Kutscher den Befehl zu erteilen, Sie nach Schottland zu fahren, ohne unterwegs auch nur einmal anzuhalten. Ich bin versucht, diesem Einfall nachzugeben, aber ich verzichte darauf, wenn Sie mir Ihr Ehrenwort geben, diesen Wagen nicht zu verlassen. Sie fahren mich zu dieser Kathedrale und warten hier drinnen auf mich, ganz gleich, was passiert! Habe ich Ihr Wort?«

Abberline sah sie eine ganze Weile nachdenklich an, aber schließlich ließ er ein resignierendes Seufzen hören und nickte.

Bast bedauerte nicht zum ersten Mal, dass er zu jener kleinen Gruppe von Menschen gehörte, deren Gedanken sie nicht lesen konnte. Aber eigentlich musste sie das auch nicht, um zu wissen, dass er log.

Abberline hatte nicht übertrieben, als er die St. Paul's Cathedral als groß beschrieben hatte. Sie war gigantisch. In der Dunkelheit waren ihre wahren Dimensionen mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen, aber Bast schätzte allein die Länge des eigentlichen Kirchenschiffes auf mindestens fünfhundert Fuß, wenn nicht mehr, und die gigantische weiße Kuppel, die sie krönte, schien sich trotzig dem Nachthimmel entgegenzurecken und ihn herauszufordern. Trotz der fortgeschrittenen Stunde - sie hatten tatsächlich so lange gebraucht, wie Abberline prophezeit hatte, und Bast war im Nachhinein sehr froh gewesen, sein Angebot angenommen zu haben - war das gesamte riesige Gebäude taghell erleuchtet, und sie spürte die Anwesenheit zahlreicher Menschen. Aber was hatte sie erwartet? Unter anderem war dieses in Stein gemeißelte Monument des Größenwahns, das sich ihrer Meinung nach durchaus mit der großen Pyramide von Gizeh oder der Tempelanlage von Abu Simbel messen konnte, auch noch ein Gotteshaus, in dem sich die Menschen zusammenfanden, um zu beten und ihrem Gott zu huldigen - und das bedeutete wohl, dass sie sich inmitten zahlreicher Gläubigen wiederfinden würde, sobald sie eintrat. Ein besseres Versteck hätte sich Horus nicht suchen können!

»Und Sie sind ganz sicher, dass ich Sie nicht begleiten soll?«, fragte Abberline.

»So sicher, wie ich bin, dass Sie nicht nach Schottland wollen, Frederick«, antwortete sie.

Abberline zog eine Grimasse. »Also gut, dann tun Sie mir wenigstens einen Gefallen und nehmen Sie das hier mit.« Er griff unter seine Jacke, zog den Revolver hervor und reichte ihn ihr mit dem Griff voran. »Ich weiß, dass er wahrscheinlich nicht viel nutzt - aber nicht viel ist immer noch besser als gar nichts.«

Zögernd nahm Bast die Waffe entgegen und steckte sie ein. Ihrer Meinung nach nutzte der Revolver gar nichts, aber wenn sie ihn an sich nahm, würde Abberline möglicherweise eher darauf verzichten, ihr zu folgen. Nicht einmal er wäre so verrückt, Horus waffenlos gegenüberzutreten.

»Und denken Sie daran, was ich Ihnen über St. Paul's erzählt habe«, sagte Abberline.

»Wie könnte ich das vergessen?«, seufzte Bast. Tatsächlich hatte Abberline die letzte halbe Stunde nichts anderes getan, als sie mit Informationen über die Kirche voll zu stopfen, die er anscheinend in- und auswendig kannte. Ihr schwirrte der Kopf, und dazu kam, dass ihr vermutlich nichts davon helfen würde. Horus brauchte kein steinernes Labyrinth, um sich zu verstecken.

Sie stieg aus, gab dem Kutscher eine stumme Anweisung, darauf zu achten, dass sein Passagier auf gar keinen Fall ausstieg, und lief mit schnellen Schritten die Stufen der gewaltigen Freitreppe hinauf, die zum nicht minder beeindruckenden Portal der Kirche führte. Ein ganzer Strom von Menschen unterschiedlichster Art kam ihr entgegen, doch niemand nahm Notiz von ihr - was ihr einigermaßen seltsam vorkam, denn sie hatte nicht einmal daran gedacht, in eine andere Gestalt zu schlüpfen oder sich auf andere Weise zu tarnen.

Kurz bevor sie die Tür erreichte, blieb sie stehen und sah sich gleichermaßen irritiert wie beunruhigt um.

Noch immer sah niemand in ihre Richtung, aber nun gewahrte sie auf dem einen oder anderen Gesicht einen Ausdruck, der ihre Beunruhigung noch schürte: eine Mischung aus Verwirrung und vager Furcht. Und ganz plötzlich begriff sie, was sie sah. Kein einziger dieser Menschen verließ das Gotteshaus freiwillig. Etwas hatte sie herausgetrieben, eine gestaltlose Furcht, die in ihre Seelen gekrochen war und es ihnen unmöglich machte, länger an diesem Ort zu verweilen.

Als einer der Letzten verließ ein grauhaariger Mann in schwarzer Priesterrobe die Kathedrale. Dann war niemand mehr da.

»Also gut«, sagte Bast leise. »Du weißt also, dass ich komme.« Sie schüttelte stirnrunzelnd den Kopf, nicht ganz sicher, ob sie abfällig die Lippen verziehen oder aus ihrer Sorge doch lieber etwas anderes machen sollte. Die Bühne für die große Schlussszene war also vorbereitet ... aber Horus hatte ja schon immer einen übertriebenen Sinn für Theatralik gehabt.

Sie ließ noch eine weitere Minute verstreichen, bis sie sicher war, dass ihr niemand mehr entgegenkommen würde, dann zog sie ihr Schwert und trat ein.

Schon nach dem ersten Schritt blieb sie wieder stehen. Sie hatte Gewaltiges erwartet, nach dem, was sie von außen gesehen, und allem, was ihr Abberline erzählt hatte, und dennoch erschlug sie der Anblick im allerersten Moment fast. Die Kirche war gigantisch. Sie hatte das Gefühl, sich in einem Gebäude zu befinden, in dem sämtliche Gesetze der Natur außer Kraft gesetzt worden waren, sodass sein Inneres ungleich größer war als seine äußeren Abmessungen, aber das war längst nicht alles. Was sie schier erschlug, das war die ungeheure Pracht, die sie umgab. Wohin sie auch sah, erblickte sie wertvolle Schnitzereien, vergoldeten Stuck und kostbare Bilder, uralte Skulpturen und sakrale Schätze, deren Wert ihre Vorstellungskraft schlichtweg sprengte.

Und eine Menge Baugerüste. Neben allem anderen war diese Kirche auch die größte Baustelle, die sie seit langer Zeit gesehen hatte.

»Beeindruckend, nicht wahr?«

Bast wirbelte einmal um ihre Achse, das Schwert zum Zuschlagen bereit erhoben.

Aber es gab nichts, wonach sie schlagen konnte. Sie war allein.

»Ja, ja, genau so ist es mir beim ersten Mal auch ergangen«, fuhr Horus' Stimme fort, amüsiert und anscheinend immer noch direkt in ihrer Nähe. »Es ist verwirrend, aber letztendlich doch nur ein billiger Trick, um kleine Geister zu beeindrucken.«

Endlich gelang es ihr, die Richtung zu bestimmen, aus der die Worte kamen. Sie wandte sich dorthin, presste die Augen zusammen und erkannte eine hochgewachsene, nachtschwarze Gestalt, die auf einer reich mit vergoldeten Schnitzereien verzierten Kanzel nahe am anderen Ende des Kirchenschiffes stand. Trotz der Entfernung war seine Stimme so deutlich und klar zu verstehen, als stünde er unmittelbar vor ihr. Horus hatte recht: Es war ein beeindruckender Trick, um dem Wort Gottes gebührenden Respekt zu verleihen. Aber mehr auch nicht. Sie senkte ihr Schwert und ging los.

»Ich nehme an, mein über alles geliebtes Weib hat dir verraten, wo du mich findest«, fuhr Horus fort. »Ich hätte mir eigentlich denken können, dass sie mich bei der ersten Gelegenheit hintergeht.«

Bast schwieg. Sie war nicht hierhergekommen, um zu reden.

Horus anscheinend schon, denn er fuhr in fast fröhlichem Ton fort: »Ich nehme an, du bist hier, um dich für das zu entschuldigen, was du Sobek angetan hast. Und mir. Nicht, dass das bei mir nötig wäre - du weißt doch, dass ich dir nichts wirklich übelnehmen kann.« Er breitete die Hände aus, wie der Priester, dessen Platz auf der Kanzel er einnahm, um seine Gemeinde zu segnen. Bast beschleunigte ihre Schritte. »Bei Sobek sieht es leider ein wenig anders aus. Du weißt ja, wie er ist ... oder genauer gesagt: war. Aber wir haben ja eigentlich immer gewusst, dass es irgendwann ein böses Ende mit ihm nehmen wird.«

»So wie mit dir«, sagte Bast, obwohl sie sich fest vorgenommen hatte, zu schweigen. Im Gegensatz zu Horus musste sie beinahe schreien, um sich verständlich zu machen. Der akustische Trick funktionierte offensichtlich nur in eine Richtung.

Sie begann zu rennen. Horus verschwendete noch eine geschlagene kostbare Sekunde darauf, sie weiter fassungslos anzustarren - hatte er tatsächlich geglaubt, sie wäre hierhergekommen, um mit ihm zu reden, oder sich gar auf seinen grotesken Vorschlag einzulassen? Aber dann reagierte er so schnell und präzise, wie sie es gewohnt war: Ohne auch nur noch einen Sekundenbruchteil zu zögern, flankte er über den goldverzierten Rand der Kanzel, landete nach einem Dreißig-Fuß-Satz nahezu mühelos auf den Füßen und stürmte ihr entgegen, seltsamerweise, ohne seine Waffe zu ziehen. Natürlich konnte er das auch im allerletzten Moment noch tun. Aber wenn er tatsächlich so dumm war, es mit bloßen Händen mit ihr aufnehmen zu wollen, oder gar noch immer nicht verstanden hatte, wie bitterernst sie es meinte ... ihr sollte es recht sein.

Bast beschleunigte ihre Schritte noch einmal. Der Schnittpunkt von Längs- und Querhalle war ein riesiger runder Raum, über dem sich eine noch sehr viel gewaltigere Halbkugel spannte - vermutlich die riesige weiße Kuppel, die sie von außen gesehen hatte -, und sie würden ziemlich genau im Zentrum dieses Kreises zusammentreffen, wenn Horus sein Tempo beibehielt. Vermutlich war nicht einmal das Zufall. Horus hatte sich das perfekte Amphitheater für ihren Kampf ausgesucht.

Oder auch nicht. Gerade, als er in den Bereich unter der Kuppel zu stürmen schien, schwenkte er blitzschnell nach links und war plötzlich zwischen den Marmorsäulen und Bögen verschwunden.

Viel wütender auf sich selbst als auf Horus - hatte sie wirklich geglaubt, er würde sich zu einem fairen Kampf stellen? Sie kannte ihn doch nun wirklich gut genug -, erreichte Bast die Stelle, an der er verschwunden war, und stürmte zwischen den beiden mannsdicken Säulen hindurch. Keine Spur von Horus, weder vor ihr noch rechts oder links. Sie sah nur endlose, geschnitzte Reihen von Gebetsstühlen und Bänken, zwischen denen Horus sich zwar verstecken konnte, aber das war nun wirklich nicht seine Art. Er würde jede Möglichkeit ausnutzen, alle Vorteile auf seiner Seite zu haben, aber ein heimtückischer Hinterhalt? Kaum. Horus war schlichtweg zu arrogant, um ihr anders als offen entgegenzutreten. Aber wo war er dann?

Bast sah sich immer nervöser um, bis ihr Blick an einer schmalen steinernen Treppe hängen blieb, die am Rand des Kirchenschiffes in die Höhe führte. Als ihr Blick ihr folgte, wurde ihr für einen Moment fast schwindelig.

Sie hatte die Kuppel von außen gesehen und gewusst, dass sie riesig war, aber wenn man darunter stand, wirkte sie gigantisch. Die Treppe führte zu einer Galerie hinauf, die sich um den gesamten Raum zog, und darüber erst begann die eigentliche Kuppel.

Bast kannte weder Schwindel noch Höhenangst, aber bei dem Gedanken, dort hinaufzugehen, war ihr alles andere als wohl.

Dennoch stürmte sie ohne das geringste Zögern los und die steinernen Treppenstufen hinauf. Von Horus war nichts mehr zu sehen. Sie hatte viel zu lange gezögert - aber sie spürte, dass er dort oben war und vermutlich auf sie wartete. Ihr war klar, dass sie sich alles andere als klug verhielt, sehenden Auges in eine Falle zu laufen, aber sie musste sorgsame Planung und geschicktes Taktieren eben ausnahmsweise durch Ungestüm und Wut wettmachen. Sie sah immer noch Cindys Augen vor sich, und den blutigen Schnitt an ihrem Hals. Vielleicht würde sie dieses Bild nie wieder loswerden.

Sie beschleunigte ihre Schritte noch einmal und nahm jetzt immer drei Stufen gleichzeitig. Was sich als weiterer Fehler erwies. Vielleicht hatte noch nie jemand so schnell wie sie in diesem Augenblick diese Treppe überwunden - zumindest nicht in dieser Richtung -, aber selbst sie war außer Atem, als sie oben ankam, und das ganze gewaltige Kirchenschiff drehte sich um sie, sodass sie sich gegen die Wand lehnen musste, um nicht zu stürzen. Hätte Horus sie in diesem Moment angegriffen, wäre es um sie geschehen gewesen.

Horus griff sie nicht an.

Horus war nicht einmal da.

Bast fand sich allein auf der gewaltigsten umlaufenden Galerie, die sie jemals gesehen hatte. Der bemalte steinerne Himmel der Kuppel spannte sich immer noch schier unendlich hoch über ihr, aber auch der Mosaikboden der Kirche lag nicht unbedingt zum Greifen nahe: Bast beugte sich behutsam vor und hielt sich instinktiv an der steinernen Balustrade fest. Hundert Fuß, schätzte sie, wenn nicht mehr. Horus hatte sich wahrlich ein luftiges Versteck ausgesucht.

Und ein ziemlich dummes dazu. Soweit sie es erkennen konnte, gab es nur diese eine Treppe, die nach oben führte, und damit auch nach unten. Der einzige Weg, den es gab, führte weiter hinauf. Was wollte er hier?

»Du kannst dich nicht vor mir verstecken!«, schrie sie, so laut sie konnte. »Du sitzt in der Falle!«

»Es ist absolut nicht nötig zu schreien, Geliebte«, sagte Horus unmittelbar hinter ihr.



Bast fuhr herum - und riss erstaunt Mund und Augen auf. Horus stand nicht hinter ihr, sondern auf der anderen Seite der Galerie, mehr als hundert Fuß entfernt, aber seine Stimme war so klar und verständlich, als wäre er nur eine Armeslänge entfernt.

»Das ist wirklich bewunderungswürdig, nicht wahr?«, fuhr er fast im Plauderton fort - und nachdem er sich eine Weile gebührend über ihren erstaunten Gesichtsausdruck amüsiert hatte. »Man mag es kaum glauben, dass ein so unzivilisiertes Volk zu solchen Meisterleistungen fähig sein soll.«

Bast kramte einen Moment in ihrem Gedächtnis und den Informationen, die Abberline ihr über dieses Gebäude gegeben hatte. Das hier war also die berühmte Whispering Gallery, eine architektonische und akustische Meisterleistung, so gebaut, dass die gebogenen Wände den Schall immer weiter reflektierten, sodass selbst ein geflüstertes Wort überall in dem gesamten steinernen Rund zu hören war. Und er hatte ihr auch noch etwas erzählt ...

»Aber ich habe dich nicht hierher gebeten, um mit dir über die Feinheiten des englischen Kirchenbaus zu diskutieren«, fuhr Horus fort. »Ich frage dich noch einmal: Hast du es dir überlegt und kommst mit mir? Es gibt keinen Grund mehr für dich zu bleiben. Ich habe mit Isis gesprochen.«

»Und wenn ich nicht mitkomme?«, fragte Bast. »Was tust du dann? Bringst du weiter Leute um? Nur zu - es ist niemand mehr übrig, dessen Tod mich noch treffen würde.« Sie sprach nur mit Horus, um ihn abzulenken, während ihr Blick verstohlen über die Galerie neben ihm tastete. Es gab eine zweite Treppe, das hatte Abberline ihr erzählt, aber sie befand sich nicht spiegelbildlich gegenüber ihrer Position, wohin sich Horus vorsichtshalber zurückgezogen hatte. Pech für ihn.

»Da wäre ich nicht so sicher«, antwortete Horus. »Wenn ich das sagen würde, vielleicht ... aber du? Wo dir doch so viel an deinem lebendigen Spielzeug liegt?«

Sie hatte die Treppe entdeckt, eine viel schmalere, steile Stiege, die vielleicht auf halbem Wege zwischen ihr und Horus lag. Vielleicht nahe genug, um ihm den Weg abzuschneiden, vielleicht auch nicht. Horus war schnell - aber er hatte einen schweren Fehler gemacht. Sie gedachte nicht, ihm diesen Fehler durchgehen zu lassen. Sie griff unter ihren Mantel, zog den Revolver, den Abberline ihr gegeben hatte und schoss.

Bast verabscheute Schusswaffen aus tiefstem Herzen. Ihrer Meinung nach gehörten sie mit zu dem Unehrenhaftesten, was es gab, denn sie ermöglichten es jedem Dummkopf und Feigling, zu töten. Aber das bedeutete nicht, dass sie nicht damit umgehen konnte.

Der Schuss hallte laut wie ein Kanonenschlag in der Kuppel wider, ein nicht enden wollendes, tausendfach gebrochenes Echo, das sogar lauter zu werden schien, statt zu verebben. Horus prallte zurück und starrte sie aus fassungslos aufgerissenen Augen an - dem einen, das noch sehen konnte, hieß das. Bast hatte ihn nicht perfekt getroffen. Die Kugel hatte sein linkes Auge, den Knochen daneben und einen Teil des Schläfenknochens weggerissen, bevor sie ein gut faustgroßes Loch in die Wand hinter ihm gestanzt hatte. Er stand einfach da und starrte sie an, als könne er immer noch nicht glauben, was geschehen war. Wahrscheinlich konnte er es auch nicht.

Bast hob den Revolver und zielte sorgfältiger, aber sie drückte nicht ab, denn Horus brach plötzlich wie vom Blitz getroffen zusammen, und sie stürmte los. Horus war nicht tot, ganz gewiss nicht. Sie hatte ihn übel erwischt, und wenn sie Glück hatte, dann war er lange genug außer Gefecht gesetzt, bis sie bei ihm war und es zu Ende bringen konnte.

Sie hatte kein Glück. Ein schmieriger Blutfleck auf dem Boden und eine davon ausgehende unterbrochene Blutspur wiesen ihr die Richtung, in die sich Horus davongeschleppt hatte, von ihm selbst aber war nichts zu sehen. Bast hielt nur einen Moment inne, um ihrer Enttäuschung mit einem Faustschlag gegen die Wand Luft zu machen, dann setzte sie ihre Verfolgung fort. Horus war ein harter Brocken, selbst für einen ihrer Art, aber sie hatte ihm in den Kopf geschossen, und das würde selbst ihn eine Weile beschäftigen. Er war nicht tot, aber schwer genug verletzt. Er würde Stunden brauchen, um sich so weit zu erholen, dass er wieder eine Gefahr für sie darstellte.

Wäre er in Richtung der Treppe gelaufen, dann wäre er ihr entgegengekommen, und in der entgegengesetzten Richtung hätte er die Galerie praktisch einmal ganz umrunden müssen, was in seinem Zustand schlichtweg unmöglich war ... aber er konnte sich schließlich auch nicht in Luft aufgelöst haben.

Sie fand die Lösung dieses Rätsels nach einem knappen Dutzend weiterer Schritte. Die Blutspur endete vor einer geschlossenen Tür, und sie war bereits sichtbar dünner geworden. Möglicherweise hatte sie Horus doch nicht so schwer verletzt, wie sie es gehofft hatte. Aber immer noch schlimm genug. Horus war ihr auch unter normalen Umständen nicht gewachsen, und heute waren die Umstände ganz eindeutig nicht normal.

Trotzdem öffnete sie die Tür mit äußerster Vorsicht und nur einen Spalt breit und lauschte einen Moment lang angestrengt. Sie hörte nichts. Zumindest lauerte Horus nicht auf der anderen Seite der Tür.

Dafür erwartete sie eine weitere, noch steilere Treppe. Eine frische Blutspur wies ihr den Weg, den Horus genommen hatte, und jetzt hörte sie auch Schritte, die vielfach gebrochen von der verwirrenden Akustik dieses Ortes an ihr Ohr drangen. Er bewegte sich schnell, aber seine Schritte waren schleppend und unregelmäßig. Bast konnte spüren, dass er Schmerzen litt, und offenbar blutete er immer noch stark, obwohl seine Spur immer dünner wurde. Aber Bast brauchte auch keine sichtbare Spur, um ihm zu folgen. Sie konnte ihn wittern. Er hatte Angst. Vermutlich eine ganz neue Erfahrung für ihn.

Sie folgte ihm, nun wieder das Schwert statt des Revolvers in der Hand, schnell, aber nicht so schnell, wie sie gekonnt hätte. Horus war verletzt, aber immer noch für eine Überraschung gut. Und verletzt war er möglicherweise noch gefährlicher, ganz wie ein verwundetes Raubtier, das in die Enge getrieben wurde.

»Warum bleibst du nicht stehen und stellst dich zum Kampf?«, rief sie. »Dieses Weglaufen passt nicht zu dir! Du warst doch nie ein Feigling! Bleib stehen, und wir bringen es hinter uns!«

Sie rechnete nicht mit einer Antwort, und sie bekam auch keine, aber das Echo ihrer eigenen Stimme verriet ihr alles, was sie wissen musste: Die Treppe folgte offenbar der inneren Krümmung der Kuppel und schien sich über ihr weit höher zu erheben als die, die sie zur Galerie hinaufgeführt hatte, vielleicht tatsächlich bis unter den Scheitelpunkt der Kuppel. Wo, zum Teufel, wollte er eigentlich hin?

Die Blutspur wurde immer dünner und hörte schließlich ganz auf, und die Treppe schien kein Ende zu nehmen, während sie sich wie ein steinernes Schneckenhaus weiter und weiter in die Höhe wand. Sie spürte, dass sie Horus näher kam, wenn auch nicht annähernd so schnell, wie sie es gehofft hatte.

Und schließlich endete die Spur, und nur einen Moment später erlosch auch seine Witterung.

Bast blieb stehen. Natürlich war ihr klar, dass Horus noch immer dort oben war, aber es ärgerte sie ungemein, dass er offensichtlich nicht nur imstande war, seine Gedanken vollkommen vor ihr abzublocken, sondern auch alle ihre anderen Sinne zu narren. Sie hätte ihn zumindest hören müssen!

Falls er noch am Leben war, hieß das.

Bast erwog diesen Gedanken einen Moment lang, verwarf ihn aber auch gleich darauf wieder. Horus war zweifellos schwer verletzt, aber alles, was ihn nicht sofort umbrachte, brachte ihn gar nicht um. So einfach war das.

Hundert mühsame steile Stufen später fand sie eine mögliche Antwort auf ihre Fragen: Der Treppenschacht mündete auf einem schmalen Absatz, dessen gegenüber liegende Seite von einer - verschlossenen - Tür begrenzt wurde, aber zur Rechten gab es einen schmalen Durchgang, der auf eine weitere, außen liegende Galerie führte. Eisige Luft, die nach Schnee roch, wehte ihr entgegen. Wenn Horus dort draußen war, dann musste sie sich nicht wundern, dass sie seine Witterung verloren hatte.

Sie hatte schon wieder ein Problem: Möglicherweise war Horus dort draußen, möglicherweise auch nicht. Von Abberline wusste sie, dass sich hinter dieser Tür eine Treppe befand, die noch weiter nach oben und zu einer zweiten, außen an der Kuppel verlaufenden Galerie führte. Horus konnte ebenso gut dort oben wie auf der Galerie sein. Was immer sie tat, sie harte eine Eins-zu-eins-Chance, dass es das Falsche war und Horus ihr entkam, während sie der falschen Spur nachjagte.

Bast überlegte einen Moment angestrengt, was sie tun würde, wäre die Situation umgekehrt und sie das Wild und Horus der Jäger, kam zu einem Ergebnis und tat dann das genaue Gegenteil: Sie ignorierte die Galerie, ging weiter und öffnete die Tür, auch dieses Mal wieder sehr vorsichtig.

Was sie nicht vor dem Schwerthieb bewahrte, mit dem Horus sie empfing.

Sie war nicht gänzlich unvorbereitet, und Horus nicht im Vollbesitz seiner Kräfte, sodass es ihr gelang, ihre Waffe im letzten Moment hochzureißen und den Hieb abzufangen, aber er hatte alle Kraft, die er noch besaß, in diesen einen Angriff gelegt, und seine schiere Wucht reichte, ihr das Schwert aus der Hand zu prellen und sie hilflos nach hinten stolpern zu lassen. Mit verzweifelt rudernden Armen kämpfte sie um ihr Gleichgewicht, und Horus setzte ihr nach und versetzte ihr einen Tritt, der sie noch weiter nach hinten stolpern ließ, bis ihr Fuß plötzlich ins Leere stieß. Mit einem erschrockenen Keuchen kippte sie nach hinten, stürzte rücklings die Treppe hinunter und schlug mit so grausamer Wucht auf den steinernen Stufen auf, dass ihr übel wurde.

Trotzdem verlor sie nicht das Bewusstsein. Alles drehte sich um sie, und plötzlich war der Geschmack ihre eigenen Blutes in ihrem Mund, aber sie sah dennoch, wie Horus ihr abermals nachsetzte und das Schwert mit beiden Händen hoch über den Kopf riss.

Verzweifelt warf sie sich herum, zerrte Abberlines Revolver unter dem Mantel hervor und schoss.

Die erste Kugel verfehlte Horus und grub eine armlange Narbe in den Verputz der Wand, die zweite traf seine Schulter und riss ihn wie ein Faustschlag herum. Horus keuchte vor Schmerz, torkelte zurück und fiel seinerseits auf den Rücken, halb auf dem Treppenabsatz, halb auf den Stufen liegend.

Bast kämpfte mir aller Willenskraft gegen den hämmernden Schmerz in ihrem Schädel und die roten Schlieren vor ihren Augen, die die Welt verschlingen wollten. Den Kampf gegen die blutigen Nebel gewann sie, den gegen das Hämmern in ihrem Hinterkopf nicht, aber das spielte keine Rolle. Mühsam und ununterbrochen blinzelnd wälzte sie sich herum, verlor den Halt und schlitterte ein weiteres halbes Dutzend Stufen die Treppe hinab, bis es ihr gelang, ihren Sturz abzufangen und so zum Liegen zu kommen, dass sich ihre Füße nicht mehr oberhalb ihres Kopfes befanden. Sie fuchtelte noch immer wild mit dem Revolver herum, ohne sich ernsthaft einzubilden, irgendetwas treffen zu können.

Nicht, dass es noch irgendetwas zu treffen gegeben hätte. Horus war offenbar vor ihr wieder auf die Füße gekommen, aber er hatte die Gelegenheit nicht genutzt, um sie abermals anzugreifen, sondern die Flucht anzutreten. Bast registrierte verschwommen, wie die Tür über ihr ins Schloss fiel, rappelte sich mit zusammengebissenen Zähnen hoch und musste sich mit der freien Hand an der Wand abstützen, um nicht gleich wieder zu fallen. In ihrem ganzen Körper schien kein einziger Muskel zu sein, der nicht auf die eine oder andere Weise wehtat.

Aber sie war nicht wirklich verletzt. Sie spürte keine Knochenbrüche oder Schlimmeres. Ein paar Augenblicke Ruhe, und sie konnte ihre Verfolgung fortsetzen.

Sie gönnte sie sich; nicht nur ein paar Augenblicke, sondern geschlagene fünf Minuten, in denen sie mit geschlossenen Augen an die Wand gelehnt dastand, an nichts zu denken versuchte und ihrem Körper Gelegenheit gab, sich zu regenerieren. Natürlich würde auch Horus diese Zeit nutzen, um wieder zu Kräften zu kommen und seine Flucht fortzusetzen - aber wohin wollte er schon gehen? Über ihnen waren nur noch zahllose Stufen und eine weitere Galerie, und dann der Himmel. Wenn Horus nicht mittlerweile gelernt hatte, ebenso wie sein Wappentier zu fliegen, dann saß er in der Falle.

Sie überprüfte die Trommel ihres Revolvers - noch drei Kugeln, und vielleicht sollte sie bei passender Gelegenheit einmal darüber nachdenken, ihre Einstellung Schusswaffen gegenüber zu überdenken -, schob ihn unter den Gürtel und ging mit schleppenden Schritten die Stufen hoch, um ihr Schwert aufzuheben. Das Gewicht der Waffe schien sich mindestens verzehnfacht zu haben, und es kostete sie schon Mühe, die Tür zu öffnen, die Horus hinter sich zugeschlagen hatte. Sie konnte nur hoffen, dass es Horus genau so erging.

Zumindest lauerte er diesmal nicht mehr auf der anderen Seite. Bast erblickte nichts als die Fortsetzung der Treppe, auch wenn sie jetzt wesentlich steiler zu sein schien und der Treppenschacht enger und in weitaus schlechterem Zustand. Von Abberline wusste sie, dass die Kuppel von St. Paul's weit über dreihundert Fuß hoch war - dreihundertfünfundsechzig, um genau zu sein, einen für jeden Tag des Jahres, wie er ihr voller Stolz verkündet hatte -, und das bedeutete, dass es gut und gerne fünfhundert Stufen waren, wenn Horus bis ganz nach oben floh ...

Sie würde ihn für jede einzelne Stufe bezahlen lassen, das nahm sie sich fest vor.

Um nicht ganz die Orientierung zu verlieren, zählte sie die Stufen, kam aber bald durcheinander und gab dieses ohnehin sinnlose Vorhaben gleich wieder auf. Und wie sich zeigte, musste sie auch nicht bis ganz nach oben. Nach weiteren hundert Stufen verspürte sie einen neuerlichen, kühlen Luftzug und stand schließlich vor einer schmalen Tür, die auf eine weitere, diesmal außen gelegene Galerie hinausführte. Sie war so ratlos wie vorhin - Horus konnte dort draußen sein und hoffen, dass sie an seinem Versteck vorbeilief, oder auch nur ein Dutzend Stufen über ihr auf der Treppe, gerade außerhalb ihrer Sichtweite. Noch eine Eins-zu-eins-Chance. Diesmal wählte sie die andere Option und trat auf die Galerie hinaus.

Der Anblick traf sie so unerwartet, dass sie im ersten Moment wankte und ganz instinktiv nach dem Geländer vor sich griff. Die Galerie war gut acht Fuß breit und wurde von einem massiven schmiedeeisernen Gitter begrenzt, über das man allerhöchstens dann versehentlich stürzen konnte, wenn man mindestens drei Meter groß war, aber die Architekten hatten ein weiteres, diesmal optisches Wunder vollbracht: Sobald man aus der Tür trat, hatte man das Gefühl, vollkommen frei hoch über den Dächern der Stadt in der Luft zu schweben. Es gab, wenigstens auf dieser Seite der Kuppel, kein Gebäude und keinen Kirchturm, der sie überragt oder ihre Höhe auch nur annähernd erreicht hätte, sodass sie praktisch ganz London überblicken konnte, einen gewaltigen Ozean aus Schatten und schimmernden weißen und gelben Lichtern, über dem ein feiner Dunst zu liegen schien, der dem Bild etwas noch Unwirklicheres und fast schon Gespenstisches gab.

Etwas berührte sie eisig und unendlich sanft im Gesicht, und Bast begriff, dass der Dunst in Wahrheit pulverfeiner Schnee war, den der Wind vor sich her trieb. Als sie sich bewegte, knirschte es unter ihren Füßen. Und als sie sich herumdrehte, sah sie Horus.

Überrascht zog sie die Brauen zusammen. Sie hatte damit gerechnet, dass er sich längst auf den Weg zur anderen Seite der Kuppel gemacht und einfach darauf gesetzt hätte, dass er schneller war oder in die falsche Richtung lief, aber er hatte sich nur wenige Schritte weit entfernt und saß mit dem Rücken gegen den weißen Stein der Kuppel gelehnt und angezogenen Knien da. Die kaum fingerdicke Schneedecke, auf der er saß, war dunkel verklumpt von seinem Blut, und sein Gesicht - oder was noch davon übrig war - bot einen grauenerregenden Anblick. Die Kugel hatte nicht nur sein Auge ausgelöscht, sondern ihm auch die halbe Schläfe weggerissen. Das zerstörte Gewebe begann sich schon wieder zu regenerieren, und es sah aus, als begänne sein Fleisch zu kochen und Blasen zu werfen. Trotzdem würde es noch Stunden dauern, bis sein Gesicht auch nur halbwegs geheilt sein würde, und vielleicht Tage, bevor sein Auge wieder sehen könnte. Noch vor wenigen Stunden hätte Bast bei diesem Anblick nichts als Schmerz und Mitleid empfunden. Jetzt empfand sie ... nichts.

»Du hast dich also endlich daran erinnert, dass du einmal ein Mann warst«, sagte Bast, »und rennst nicht mehr davon.«

Horus hob mühsam den Kopf und sah sie aus seinem verbliebenen Auge an. Bast musste fast all ihre Kraft aufwenden, um dem schrecklichen Anblick standzuhalten. Trotzdem lachte er; oder gab immerhin ein Geräusch von sich, das er für ein Lachen hielt. »Ich dachte, du wüsstest ziemlich gut, dass ich ein Mann bin.«

Bast machte eine Bewegung mit ihrem Schwert. »Kannst du aufstehen?«

»Warum?«

»Weil ich ungern jemanden töte, der vor mir auf dem Boden liegt«, antwortete Bast.

Einen Moment lang wirkte Horus wirklich erschrocken, aber dann erschien wieder dieses grässlich verstümmelte Lächeln auf seinem Gesicht. Er glaubte es immer noch nicht, dachte Bast. Und wie konnte er auch?

Sie stieß ihm das Schwert in den linken Arm. Nicht besonders tief, kaum, dass sie seine Haut ritzte, aber es sollte reichen, um ihm klar zu machen, dass sie es ernst meinte.

Oder auch nicht. Horus sog schmerzerfüllt die Luft zwischen den Zähnen ein, und sein Lächeln geriet endgültig zur Grimasse. Trotzdem lachte er noch einmal krächzend. »Also gut, ich gebe auf«, keuchte er. »Du hast gewonnen. Ich gebe zu, dass du mich geschlagen hast - wenn du willst, auch vor allen anderen.«

»Das wirst du nicht können«, sagte Bast ruhig. »Du wirst die anderen nicht wiedersehen, Horus. Ich werde dich töten.«

»Und warum?« Horus grinste weiter, aber es wirkte jetzt ein ganz kleines bisschen unsicher. Vielleicht begann er allmählich zu ahnen, was geschah. »Sag nicht, wegen dieser Sterblichen. Bei Ra, Bastet, sie sind doch nur Tiere!«

»Auch wir waren einmal Sterbliche, Horus«, antwortete Bast. »Es ist lange her, aber ich erinnere mich noch. Du auch?«

»Bastet, es reicht«, sagte Horus scharf - oder versuchte es wenigstens. »Du hast deinen Spaß gehabt, aber jetzt übertreibst du es.«

Bast beugte sich vor, zog mit der linken Hand das Schwert aus seinem Gürtel und trat einen halben Schritt zurück, bevor sie ihm die Waffe mit dem Griff voran hinhielt.

»Ich töte dich auch, wenn du dich nicht wehrst«, sagte sie ernst. »Aber es wäre mir lieber, wenn du dich verteidigen würdest.«

»Dann sollte ich eigentlich liegen bleiben, nur um dir den Spaß zu verderben«, krächzte Horus. Er rappelte sich trotzdem auf, nahm erst dann das Schwert entgegen und ließ es demonstrativ wieder sinken, als Bast ihre eigene Waffe hob und in Grundstellung ging.

»Wenn du so viel Wert auf einen fairen Kampf legst«, sagte er, »dann sollten wir ihn um einen Tag verschieben. Nebenbei bemerkt war es auch nicht unbedingt fair, auf mich zu schießen.« Er wies demonstrativ auf sein zerstörtes Gesicht, und Bast musste ihm widerstrebend recht geben.

Sie steckte ihr Schwert ein. »Du hast recht«, sagte sie. »Ist dir das Ausgleich genug? Du dein Schwert, und ich nur ...« Sie hob ihre leeren Hände. »... die? Oder bestehst du darauf, mir die Arme auf den Rücken zu fesseln?«

Horus machte ein trotziges Geräusch, zuckte mit den Achseln und führte einen blitzartigen heimtückischen Stich gegen ihren Unterleib, der sie um ein Haar aufgespießt hätte, obwohl sie darauf vorbereitet gewesen war. Er war trotz allem noch immer schnell. Verdammt schnell.

Bast sprang einen hastigen Schritt zurück und wäre um ein Haar ausgeglitten - unter der dünnen Schneedecke war der Stein der Balustrade spiegelglatt gefroren. Horus nutzte natürlich auch diesen winzigen Vorteil aus und führte einen weiteren Hieb gegen ihre Schulter, der sie zwar knapp verfehlte, aber ihren Mantel und den Stoff ihres Kleides darunter aufschlitzte.

Bast tänzelte rasch ein weiteres halbes Dutzend Schritte zurück, täuschte einen Tritt gegen sein linkes Knie an, und als er darauf tatsächlich sein Schwert senkte, erwischte sie ihn mit einem wuchtigen Faustschlag an der unverletzten Schläfe. Horus taumelte zurück und fiel unsanft auf den Hosenboden, als Bast ihm nun doch den Tritt versetzte, den sie ihm gerade schuldig geblieben war. Sie verzichtete darauf, ihm nachzusetzen und sich dabei womöglich selbst an seinem Schwert aufzuspießen.

»Das war ... nicht schlecht«, ächzte er. »Dürfte ich vielleicht auf deinen Vorschlag mit den gefesselten Händen zurückkommen?«

»Kaum«, sagte Bast kalt. »Steh auf.«

»Frauen«, grollte Horus. »Man kann so alt werden, wie man will, aber man wird trotzdem nie schlau aus ihnen.«

Diesmal war Bast besser vorbereitet und wich dem Schwertstreich mit einem raschen Schritt aus, mit dem er nach ihren Knöcheln zielte - wuchtig genug, um ihr einen Fuß abzutrennen, wenn nicht gar beide. Horus war auf den Beinen, noch bevor sie ihr Gleichgewicht endgültig wiedergefunden hatte, stieß ihr die linke Faust vor die Brust und führte mit der anderen einen gewaltigen Schwerthieb nach ihrer Schulter. Ebenso gut - sogar bequemer und weitaus schneller, hätte er nach ihrem Hals zielen und sie enthaupten können, aber aus irgendeinem Grund wollte er sie immer noch nicht töten.

Sein Pech.

Bast wich dem Hieb aus, und die Klinge prallte funkensprühend gegen das Geländer und wäre ihm fast aus der Hand geprellt worden. Bast half der Entwicklung noch ein bisschen nach, indem sie ihm die versteiften Finger der Linken gegen den Adamsapfel rammte, nach seinem Handgelenk griff und es mit einem harten Ruck brach. Horus krümmte sich nach Luft japsend und ließ das Schwert fallen, und Bast fing es auf und sprang hastig einen Schritt zurück.

Horus sank kraftlos auf die Knie, klammerte sich am Geländer fest, um nicht endgültig zu Boden zu gehen und kämpfte sekundenlang verzweifelt darum, nicht das Bewusstsein zu verlieren. Er gewann diesen Kampf, aber nur mühsam, und er brauchte all seine Kraft, um sich wieder in die Höhe zu ziehen.

»Also gut, ich gebe mich geschlagen«, stöhnte er. »Du bist die Bessere, ich gebe es zu. Du hattest auch recht: Ich hätte das nicht tun sollen. Es tut mir leid. Aber jetzt lass es gut sein. Ich finde, dass du es allmählich wirklich übertreibst.«

Bast schlug ihm den Handrücken ins Gesicht; nicht einmal besonders hart - aber Horus reagierte genau so, wie sie erwartet hatte, und versuchte ihre Hand zu packen und festzuhalten. Bast verdrehte ihm umgekehrt blitzschnell den Arm, ergriff ihn an Hose und Kragen und stemmte ihn mit einer einzigen Anstrengung hoch über den Kopf.

Horus keuchte. »Bastet!«, brüllte er. »Was soll das? Das ist jetzt aber mehr ...«

Bast schleuderte ihn über das Geländer in die Tiefe.

Horus' Schrei war noch für einen Moment zu hören, selbst als sein schwarzer Umriss schon längst von der Nacht verschlungen worden war, aber dann verklang auch er. Bast beugte sich vor und lauschte einen Moment angestrengt auf das Geräusch des Aufpralls, aber alles, was sie hörte, war das monotone Geräusch der Stadt und das leise Wimmern des Windes.

Sonst war nichts mehr.

Sie hatte nicht erwartet, so etwas wie Triumph zu empfinden oder auch nur Erleichterung. Vor nicht einmal einem Tag hatte sie schon einmal geglaubt, er wäre gestorben, und da hatte ihr dieser Gedanke zu schaffen gemacht, ganz gleich, was er ihr auch zuvor angetan hatte. Aber da war sie ja auch noch Bastet gewesen, nicht Sachmet.

Sie blieb so lange mit den Unterarmen auf das geschmiedete Geländer gestützt stehen und starrte in die Tiefe, bis die Kälte sie zurück in die Kuppel trieb. Horus' Schwert ließ sie liegen. Irgendwann morgen früh würde ein ziemlich verdutzter Tourist hier heraufkommen und die Waffe finden und abliefern, und Abberlines Kollegen, die bis dahin sicher längst damit beschäftigt waren, Horus' Überreste vom Straßenpflaster unterhalb des Domes zu kratzen, würden sich möglicherweise einen Reim darauf machen, oder auch nicht.

Es war ihr vollkommen egal. Morgen um diese Zeit war sie längst woanders.

Auch im Inneren des gemauerten Gewölbes war es kalt, aber sie war wenigstens aus dem eisigen Wind heraus, und das Leben begann kribbelnd in ihre Finger und Zehen zurückzukehren, während sie langsam die ausgetretenen Stufen hinunterschritt. Sie hatte es nicht eilig und nahm sogar noch einen gehörigen Umweg in Kauf, indem sie auf die untere Galerie hinaustrat und sie einmal komplett absuchte; nur um sicherzugehen, dass Horus nicht etwa dort aufgeschlagen und gerade damit beschäftigt war, seine Knochen zu sortieren und neue Kräfte zu sammeln, um ihr im schlechtestmöglichen Moment in den Rücken zu fallen.

Aber Horus war nicht da, und als sie ihre geistigen Fühler ausstreckte, konnte sie ihn auch nirgends entdecken.

Sie beschleunigte ihre Schritte. Die Treppe nahm kein Ende, als hätte Horus seinen letzten Atemzug auf einen bösen Fluch verschwendet, der sie für immer in diesem feindseligen, kalten Gotteshaus gefangen halten würde, aber endlich trat sie wieder auf die Whispering Gallery hinaus ...

... und erstarrte.

Sie hatte sich getäuscht. Horus war nicht tot. Er war auch nicht irgendwo, er stand direkt unter ihr. Und er war nicht allein.

Gleich neben ihm stand eine zweite, deutlich kleinere, aber ebenfalls ganz in Schwarz gekleidete Gestalt, die aber anders als er keinen knöchellangen Mantel und Turban trug, sondern ein elegantes Cape und ein weißes Rüschenhemd mit dazu passender Fliege.

Es war, als hätte jemand ohne die geringste Vorwarnung einen Kübel Eiswasser über ihr ausgegossen.

Sie hatte nicht wirklich geglaubt, dass Abberline im Wagen bleiben und in aller Seelenruhe auf ihre Rückkehr warten würde, aber er hatte sich wirklich den allerschlechtesten aller nur denkbaren Augenblicke ausgesucht, um ihr zu Hilfe zu eilen. Er stand fast direkt unter ihr, und er war in einer irgendwie unnatürlich oder doch zumindest verkrampft wirkenden Haltung scheinbar mitten in der Bewegung erstarrt - was allerdings auch an dem gekrümmten Dolch liegen mochte, den Horus ihm gegen die Kehle presste.

Ihre Gedanken überschlugen sich, aber irgendwie schienen sie keine Zeit zu beanspruchen, und Bast setzte sich in Bewegung, noch während sie verzweifelt die Möglichkeiten erwog, die ihr blieben: Sie war schnell, aber nicht einmal annähernd schnell genug, um die Treppe hinabzustürmen und sich ernsthaft einzubilden, Abberline noch retten zu können, und sie hatte auch noch Abberlines Revolver, aber der Schusswinkel war ungünstig, und das Risiko, Abberline zu treffen statt Horus, einfach zu groß.

Also gut. Zeit, grob zu werden.

Sie sprang.

Mit einer einzigen, kraftvollen Bewegung flankte sie über die gemauerte Brüstung, zog noch im Sturz das Schwert und streckte die Beine gerade nach unten.

Sie hatte absolut kein Geräusch verursacht, allenfalls, dass er das Flattern ihres Mantels hören konnte, doch Horus schien im allerletzten Moment die Gefahr zu spüren, die auf ihn herabstürzte, denn er fuhr zusammen und warf mit einem Ruck den Kopf in den Nacken, und Bast sah nicht nur das pure Entsetzen in seinen Augen aufblitzen, sondern auch, wie sich die rasiermesserscharfe Klinge seines Dolches in Abberlines Kehle grub und hellrotes Blut über seinen Hals floss - dann prallten ihre Füße mit grauenhafter Wucht auf Horus' Schultern, und die Welt explodierte in einer weißen Lohe aus purer Agonie.

Ihre Beine brachen, nahezu explosionsartig und jedes an mehreren Stellen zugleich, und irgendetwas in ihrem Inneren zerriss mit einem noch viel schlimmeren, gleißenden Schmerz, aber sie konnte auch hören, wie Horus' Rückgrat nicht nur brach, sondern regelrecht pulverisiert wurde, und trotz der feurigen Lohe, die sie einhüllte und jede einzelne Zelle ihres Körpers in Brand zu setzen schien, registrierte sie, wie Horus mit einem sonderbar erstickten Laut und in einem noch viel sonderbareren und eigentlich vollkommen unmöglichen Winkel nach hinten kippte. Der Dolch flog aus seiner Hand und schlitterte klirrend davon, allerdings nicht, ohne sich zuvor tief in Abberlines Kehle gegraben und aus dem roten Strom einen sprudelnden Geysir gemacht zu haben. Dann schlug auch ihr eigenes Schwert - weit entfernt - auf dem Boden auf, und nur den Bruchteil eines Atemzuges später sie selbst, und wenn sie gedacht hatte, das bisher Erlebte wäre schlimm, so sah sie sich eines Besseren belehrt.

Alles wurde ... weiß.

Es war nicht so, dass sie das Bewusstsein verlor - obwohl sie es sich gewünscht hätte - oder nichts mehr sah, aber alles, was sie für endlose Sekunden wahrnahm, waren weiße Gespenster auf weißem Grund, kaum mehr als zuckende Umrisse, die einen grotesken lautlosen Tanz aufzuführen schienen. Und was sie sah, das war noch viel unglaublicher.

Horus war neben ihr zusammengebrochen, ein wimmerndes Bündel aus purer Pein, aber auch unbeschreiblicher Wut, das in einer vollkommen unmöglich verkrampften Haltung dalag und blindlings über den Boden tastete, aber da war auch Abberline, der trotz seiner durchschnittenen Kehle nicht nur immer noch auf den Beinen war, sondern sich suchend umsah, schließlich nach dem Schwert bückte, das Bast fallen gelassen hatte ...

Und Horus mit einem einzigen, gewaltigen Schwerthieb enthauptete!

Bast rechnete fest damit, allerspätestens jetzt das Bewusstsein zu verlieren, aber das genaue Gegenteil geschah: Ihre Gedanken klärten sich, und Farbe und Tiefe kehrten in das Bild vor ihren Augen zurück. Was ihr wie eine vollkommen absurde Vision vorgekommen war, entpuppte sich als Wirklichkeit: Sie lag noch immer auf dem Rücken, hilflos und gelähmt und mit zertrümmerten Beinen und etwas, das wie ein weiß glühendes Messer in ihren Eingeweiden wühlte, und Horus' kopfloser Leichnam lag so dicht neben ihr, dass sie ihn mit dem ausgestreckten Arm hätte berühren können. Wäre sie imstande gewesen, den Arm auszustrecken. Abberline stand noch immer breitbeinig über ihm, das Schwert in beiden Händen, und hellrotes Blut sprudelte in Strömen aus seinem Hals. Eigentlich musste er tot sein, aber das schien er nicht zu wissen. Vielleicht war er auch einfach nur zu stur, um es zuzugeben. Zuzutrauen wäre es ihm.

Bast blinzelte, versuchte sich hochzustemmen und bedauerte diesen Einfall sofort wieder, und mit einem gellenden Schrei. Wo ihre Beine sein sollten, war nur loderndes Feuer.

Etwas klirrte. Bast zwang sich, sich zu konzentrieren, blendete den Schmerz mit aller Willenskraft aus und öffnete nach einigen Sekunden und sehr viel langsamer noch einmal die Augen. Abberline hatte das Schwert fallen gelassen und war endlich auf die Knie hinabgesunken. Er hatte beide Hände gegen den Hals geschlagen und versuchte vergebens, den Blutstrom einzudämmen, der noch immer aus seiner durchschnittenen Kehle sprudelte. Aber er lebte immer noch. Er war zu stur, um zu sterben, dachte Bast hysterisch.

Und als wäre das noch nicht genug, löste er eine zitternde, mit hellrotem Blut besudelte Hand von seiner durchschnittenen Kehle und streckte sie nach ihr aus, obwohl er viel zu weit entfernt war, um sie zu berühren.

»Ist ... alles in Ordnung mit Ihnen?«, würgte er hervor.

Wahrscheinlich mehr als mit ihm, dachte sie verwirrt - aber trotzdem war sie es, die es eindeutig mehr Mühe kostete als ihn, zu sprechen.

»Nicht unbedingt, Inspektor«, krächzte sie. »Aber ich lebe noch.« Auch wenn sie sich beinahe wünschte, es wäre nicht so. Sie konnte sich nicht erinnern, jemals etwas so Schlimmes erlebt zu haben ... aber eigentlich konnte sie sich auch nicht erinnern, jemals etwas so Dummes getan zu haben. Dass sie überhaupt noch lebte, glich einem Wunder.

Abberlines Gedanken mussten sich wohl auf ganz ähnlichen Pfaden bewegen, denn er hob mühsam den Kopf und blinzelte zu der Galerie hinauf. Bast erwartete, dass die Wunde an seiner Kehle weiter auseinanderklaffte und er endlich begriff, dass er eigentlich tot zu sein hatte, aber das genaue Gegenteil war der Fall: Die Wunde hintere schon nicht mehr so heftig wie bisher, und Rast sah, dass der Schnitt tatsächlich nur oberflächlich gewesen war; tief genug, um heftig zu bluten, aber nicht tief genug, um ihn umzubringen. Er hatte unglaubliches Glück gehabt, und wahrscheinlich würde er niemals begreifen, wie viel Glück.

»Unglaublich«, murmelte Abberline. Sein Blick irrte ununterbrochen zwischen Bast und der Galerie hin und her, ohne an einem von beidem wirklich Halt zu finden. »Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, aber es fällt mir schwer, es zu glauben. So einen Sprung ...«

»Da geht es mir ganz genauso«, antwortete Bast. Sie versuchte noch einmal, sich aufzurichten. Solange sie ihre Beine dabei nicht belastete, ging es. »Sie haben Horus getötet. Einen von uns.«

»Zieht das jetzt die Blutrache der ganzen Familie nach sich?«, fragte Abberline.

Bast begriff zwar, dass er sich in schwarze Ironie rettete, um irgendwie mit dem unerträglichen Druck fertig zu werden, der auf ihm lastete, aber sie fand die Bemerkung trotzdem unpassend und ignorierte sie. »Sie sind der erste Sterbliche, dem das gelungen ist«, sagte sie ernst. »Jedenfalls seit sehr langer Zeit.«

»Ich hatte ein wenig Hilfe«, antwortete Abberline. Er hustete, verzog das Gesicht und griff sich an den Hals und zog eine noch heftigere Grimasse. »Sie haben mir das Leben gerettet, Bast. Eine Sekunde später ...«

»Bilden Sie sich nur nicht zu viel ein«, sagte Bast grimmig. »Es war die einzige Chance, die ich hatte, um ihn zu besiegen. Wäre ich ihm in einem fairen Kampf gegenübergetreten, hätte er mich in Stücke geschnitten.«

Abberline sah sie zweifelnd an, und auch Bast war nicht ganz sicher, ob ihre Worte tatsächlich der Wahrheit entsprachen. Was das in Stücke schneiden anging sicher - aber sie hatte gar nicht darüber nachgedacht, sondern einfach nur begriffen, dass Abberline in einer tödlichen Gefahr schwebte und ganz instinktiv gehandelt.

Bast drehte sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Seite, um Horus' Leichnam zu begutachten; etwas, das sie bisher fast krampfhaft vermieden hatte; als fürchte ein Teil von ihr immer noch, dass sich Horus plötzlich neben ihr aufrichten und nach seinem Schwert greifen könnte.

Aber Horus war tot, tatsächlich und unwiderruflich. Sein kopfloser Torso lag in einer sich ausbreitenden Blutlache. Sein Schädel lag gute zehn Fuß entfernt, aber ein gnädiges Schicksal wollte es, dass sich sein Turban halb gelöst und der schwarze Stoff wie ein barmherziger Schleier über sein Gesicht ausgebreitet hatte. Dennoch jagte ihr der Anblick einen eisigen Schauer über den Rücken. Abberline hatte vollkommen recht: Vielleicht hatte er das Schwert geführt, das Horus enthauptete, aber letzten Endes hatte er nur zu Ende gebracht, was sie angefangen hatte. Streng genommen hatte sie Horus getötet, und sie sollte irgendetwas empfinden; zumindest einen Hauch von Schuld.

Aber der Anblick ließ sie vollkommen kalt. Es war vorbei, so einfach war das.

»Herzlichen Glückwunsch, Inspektor«, sagte sie matt. Abberline blickte fragend, und Bast fuhr mit einer deutenden Geste auf Horus' Körper fort: »Sie sollten hier vielleicht ein bisschen aufräumen, und wie Sie es Ihren Vorgesetzten erklären, überlasse ich Ihrer Fantasie ... aber wie es aussieht, haben Sie Jack the Ripper erwischt.«

Abberline sah sie auf eine Weise an, die ihr nicht gefiel.

»Auf jeden Fall hört es jetzt auf«, fügte sie hinzu.

»Ich fürchte, es ist noch nicht vorbei«, antwortete Abberline ernst. »Glauben Sie, dass Sie aufstehen können?«

»Warum?«, fragte Bast alarmiert.

Abberline deutete auf Horus hinunter. »Er hätte mir die Kehle durchgeschnitten, wenn Sie nicht im letzten Moment aufgetaucht wären. Aber zuvor hat er mir noch etwas ins Ohr geflüstert. Er hat gesagt, dass alles umsonst war und er sich darauf freut, Ihnen das zu sagen, bevor er Sie tötet.«

»Das was umsonst war?«

»Das Mädchen«, antwortete Abberline. »Faye. Er hat mir gesagt, dass sie in diesem Moment unterwegs sei, um Faye zu töten.«



Der Wagen schoss so schnell über die nächtlichen Straßen, dass die Lichter der Stadt nur so vorüberzufliegen schienen, aber davon nahm Bast kaum etwas wahr. Sie war noch immer wie vor den Kopf geschlagen, und trotz der Zeit, die inzwischen vergangen war, weigerte sie sich einfach, zu glauben, was sie gehört hatte. Sie? Isis? Das war vollkommen unmöglich! Es konnte nicht sein, ganz einfach, weil es nicht sein durfte! Nicht Isis!

Und doch ergab alles einen schrecklichen Sinn - oder hätte ihn ergeben, wäre sie bereit gewesen, es zuzugeben. Sowohl Horus als erst recht Sobek hätten nicht die geringsten Hemmungen gehabt, Menschen einfach nur so zu töten, aus einem beliebigen oder auch gar keinem Grund, aber warum hätten sie Kate und Liz töten sollen? Für sie wären dies nur zwei zufällige Morde gewesen, an zwei Menschen, die ein gemeinsames Schicksal verband. Nein, es musste jemand gewesen sein, der die beiden Frauen gekannt hatte, der sie getötet hatte aufgrund dessen, wer sie waren. Was sie waren. Wie hatte sie das nur übersehen können? Wie hatte sie auch nur eine Sekunde lang so dumm sein können?

Und doch weigerte sie sich immer noch, es zu glauben.

Nicht Isis.

Nicht Isis!

»Wir sind gleich da«, drang Abberlines Stimme in ihre Gedanken. »Noch eine Minute, oder zwei.«

Bast streifte ihn mit einem flüchtigen Blick und zwang sich dann, noch einmal aus dem Fenster zu sehen, um sich zu orientieren. Sie hatten Whitehall bereits erreicht, und der Wagen schoss regelrecht seinem Ziel entgegen.

Bast spürte jeden einzelnen Hufschlag der beiden Pferde, die der Kutscher unbarmherzig mit seiner Peitsche antrieb; und jedes einzelne Schlagloch, durch das der Wagen sprang. Als sie das erste Mal hier gewesen war, war ihr die Straße glatt und in perfektem Zustand erschienen, jetzt hatte sie das Gefühl, über den Hang eines noch nicht erloschenen Vulkans zu stolpern, der mit weiß glühenden Rasierklingen gespickt war. Jede einzelne Erschütterung jagte rote Schmerzpfeile durch ihre Unterschenkel, und sie schmeckte schon wieder ihr eigenes Blut, weil sie sich ein paar Mal heftig auf die Zunge gebissen hatte, um einen Schmerzlaut zu unterdrücken. Sie konnte den verbissenen Kampf fühlen, der in ihrem Inneren tobte. Ihr Körper versuchte mit aller Macht, die Verletzungen zu heilen, die er erlitten hatte, als spüre er selbst, wie furchtbar wenig Zeit ihr noch blieb; aber selbst ihr phantastischer Metabolismus benötigte Zeit, um zertrümmerte Knochen und zerrissene Muskelstränge und Sehnen zu heilen ... und Zeit war genau das, was sie nicht hatte. Abberline hatte sie aus der Kathedrale getragen, da sie aus eigener Kraft nicht mehr dazu imstande gewesen war zu gehen, und seither waren erst wenige Minuten vergangen. Hätte sie auch nur eine Stunde gehabt ...

Aber die hatte sie nicht.

»Glauben Sie, dass Sie laufen können?«, fragte Abberline.

Bast setzte dazu an, zu nicken, schon weil sie auf derartige Fragen immer mit einem Nicken antwortete, aber dann beließ sie es bei einem zaghaften Heben der Schultern. Sie würde vermutlich laufen können, wenn auch nur vorsichtig und unter Schmerzen, aber das allein nutzte ihr überhaupt nichts. Wenn Isis tatsächlich auf dem Weg zum Yard oder bereits da war, hatte sie keine Chance, sie aufzuhalten. Nicht in ihrem Zustand.

Isis.

Allein der bloße Gedanke, Isis mit dem Schwert in der Hand gegenübertreten zu sollen, war absurd. Es war unmöglich!

Und doch war es so.

Es war die ganze Zeit über so gewesen.

»Ich kann ein paar Männer rufen, die Ihnen helfen«, schlug Abberline vor. Anscheinend hatte ihn ihre Antwort nicht unbedingt überzeugt.

Bast zwang sich, wenigstens für einen Moment nicht an Isis zu denken und sah ihn an. Bei dem Anblick, den Abberline bot, konnte er vermutlich froh sein, wenn man ihn in den Yard ließ, statt ihn auf der Stelle zu verhaften oder ins Irrenhaus zu stecken. Sein Gesicht war nicht mehr blass, sondern grau, seine Haare verschwitzt und mit eingetrocknetem Blut verkrustet, und in seinen Augen flackerte etwas, das ihn fast wie einen Wahnsinnigen aussehen ließ. Er hatte einen Streifen aus seinem Hemd gerissen und einen schmalen Verband um seinen Hals damit improvisiert. Die Tatsache, dass er noch nahezu weiß war, bewies, dass die Wunde aufgehört hatte zu bluten, aber sein Hemd war nass und dunkelrot, und auch seine Hände waren blutbesudelt.

»Machen Sie sich keine Sorgen«, fuhr er fort, als er auch jetzt keine Antwort bekam. »Monro ist vielleicht ein skrupelloses Schwein, aber er ist kein Narr. Er wird Faye wie seinen Augapfel bewachen. Ihre Schwester wird ihr nicht einmal nahe kommen. Sie wird verhaftet, sobald sie den Yard auch nur betritt.«

Wenn sie es in ihrer eigenen Gestalt tut, vermutlich, dachte Bast bitter. Aber das wird sie nicht. Laut sagte sie: »Beten Sie, dass das nicht geschieht, Inspektor, denn dann werden Sie ein Haus voller Leichen vorfinden.«

Abberline setzte dazu an, zu widersprechen ... aber dann machte er nur ein betroffenes Gesicht. Wahrscheinlich erinnerte er sich wieder daran, was er gerade mit eigenen Augen gesehen hatte.

Sie waren da. Der Wagen kam mit einem Ruck zum Stehen, der Bast nicht nur abermals die Tränen in die Augen trieb, sondern ihr auch klarmachte, wie lächerlich schon der bloße Gedanke war, Isis aufhalten zu wollen. Abberline sprang aus der Tür und drehte sich in der gleichen Bewegung herum, um ihr die Hand entgegenzustrecken. Ganz gegen ihre normale Gewohnheit nahm Bast das Angebot nicht nur an, sondern stützte sich auch schwer auf seinen Arm und trat äußerst vorsichtig aus dem Wagen. Es ging besser, als sie gedacht hatte, aber besser als gedacht bedeutete keineswegs gut.

Mit zusammengebissenen Zähnen und schwer auf die Schulter eines Mannes gestützt, der ganz so aussah, als könne er sich selbst kaum mehr auf den Beinen halten, humpelte sie auf den Eingang zu. Einer der beiden Bobbys, die bisher mit versteinerten Gesichtern davor Wache gehalten hatten, wollte ihnen den Weg vertreten und eine Frage stellen, doch Abberline fuhr ihn so wütend an, dass er fast schon entsetzt zurückprallte und den Weg freigab - was aber ganz offensichtlich nicht in Abberlines Sinn war. »Kommen Sie her!«, befahl er barsch. »Beide! Helfen Sie ihr!«

Bast wollte sich ganz instinktiv sträuben, doch die beiden Männer waren viel zu perplex, um irgendetwas anderes zu tun, als Abberlines Befehl ganz automatisch Folge zu leisten, viel zu schnell, als dass Bast auch nur ein Wort des Protestes herausbekommen hätte, ergriffen sie bei den Armen und führten sie die kurze Treppe hinauf. Abberline eilte voraus, aber nur, um die Tür aufzureißen und ihnen aufzuhalten.

Der Eingangsbereich des Yard schien sich nicht im Geringsten verändert zu haben, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Selbst die Beamten an ihren Schreibtischen und Pulten schienen nicht nur dieselben zu sein, sondern in exakt derselben Position dazusitzen und herumzustehen.

Aber diese Ähnlichkeit hörte schlagartig auf, als Bast und ihre Begleiter eintraten und Abberline sich herumdrehte, sodass jedermann sehen konnte, in welchem Zustand er war. Fast ein halbes Dutzend Männer sprangen gleichzeitig auf die Füße oder gleich in Abberlines Richtung, als befürchteten sie ernsthaft, dass er im nächsten Augenblick zusammenbrechen würde. Stimmen riefen erschrocken durcheinander, bis Abberline mit einem laut gebrüllten »Ruhe!« für Stille sorgte. Der Tumult legte sich genau so schnell, wie er entstanden war. Beinahe jedenfalls.

»Jetzt nicht«, fügte Abberline etwas leiser hinzu. »Für Erklärungen ist keine Zeit. Ist Mr Monro im Hause?«

Die Ratlosigkeit auf den meisten Gesichtern nahm eher noch zu, aber die Männer bewiesen auch, dass sie ihr Handwerk verstanden. Niemand stellte auch nur eine einzige Frage, und der Abberline am nächsten stehende Mann trat vor und sagte knapp: »Oben, Sir.«

»Dann kommen Sie mit!« Abberline deutete auf den Mann neben sich. »Und Sie auch! Der Rest bleibt hier! Lassen Sie Waffen ausgeben! Hier kommt niemand rein, haben Sie das verstanden? Niemand, und wenn es die Königin persönlich sein sollte! Und keine Fragen!«

Der Schock hätte kaum größer sein können, hätte er seine Waffe gezogen und ohne Vorwarnung auf den nächstbesten Mann geschossen. Aber auch diesmal protestierte keiner der Männer oder versuchte gar, ihn aufzuhalten, als er zusammen mit den beiden Beamten, immer zwei Stufen auf einmal nehmend, die Treppe hinaufstürmte. Bast sah ihm mit einer Mischung aus Neid und stiller Resignation nach. Ihr war nicht wohl dabei, Abberline allein zu lassen, aber im Augenblick konnte sie sein Tempo einfach nicht mithalten.

Zwei Männer verschwanden durch eine schmale Seitentür - Bast vermutete, um die Waffen zu holen, nach denen Abberline verlangt hatte -, und mit einem Mal hatte sie das Gefühl, dem Funktionieren eines präzise ablaufenden Uhrwerks zuzusehen. Auf den allerersten Blick schien sich der Raum in ein einziges Chaos zu verwandeln, alle rannten und stürzten scheinbar kopflos durcheinander, aber das schien eben nur so. In Wahrheit wusste jeder einzelne Mann, was er zu tun hatte.

Sie wurde zu einer schmalen Bank an der gegenüber liegenden Wand geführt und - scheinbar - allein gelassen. Niemand stellte auch nur eine einzige Frage, aber natürlich entgingen ihr weder die zum Teil neugierigen, zum Teil aber auch furchtsamen Blicke, noch das verstohlene Tuscheln und Gestikulieren. Einige der Männer erinnerten sich offensichtlich auch an sie und machten sich entsprechende Gedanken.

Bast war es vollkommen egal. Erschöpft ließ sie sich zurücksinken, lehnte den Kopf gegen die holzvertäfelte Wand und versuchte, an nichts zu denken.

Als sie die Augen wieder öffnete - es konnten kaum mehr als eine oder zwei Minuten vergangen sein -, bot sich ihr ein völlig veränderter Anblick. Nahezu alle Männer waren jetzt bewaffnet, die meisten mit Revolvern, einige aber auch mit martialisch anmutenden, großkalibrigen Büchsen, ein trotz allem ungewohnter und irritierender Anblick. Der Raum hatte vorher eher wie ein Kontor gewirkt, in dem die Angestellten nur ganz zufällig schwarze Uniformen trugen. Jetzt schien er sich in eine uneinnehmbare Festung verwandelt zu haben. Der Anblick hätte sie beruhigen müssen, aber das genaue Gegenteil war der Fall. Vielleicht, weil sie sich - eindeutig gegen ihren Willen - eine simple Frage stellte: Hätte sie all das hier aufhalten können?

Ganz bestimmt nicht.

Sie versuchte weiter mit aller Macht an nichts zu denken, und es funktionierte auch weiter nicht. Immerhin gelang es ihr, die Schmerzen in ihren Beinen gänzlich auszuschalten, und sie spürte auch, wie sich ihr Körper nun rasch erholte.

Sie würde einen hohen Preis dafür bezahlen müssen, einen Heilungsprozess, der normalerweise mindestens einen Tag dauerte, in weniger als einer Stunde erzwungen zu haben. Sie spürte bereits jetzt, wie die Kräfte, die sie sich gestern genommen hatte, wie trockenes Laub in einem Feuersturm vergingen. Vielleicht würde sie sich in wenigen Minuten schon wieder vollkommen normal bewegen können - aber dann würde sie kaum noch kräftiger als irgendeiner der Männer hier im Raum sein.

Endlich, nachdem genug Zeit verstrichen war, um aus Basts bangem Gefühl erste echte Sorge werden zu lassen, kam Abberline zurück, einen äußerst aufgebrachten Monro im Schlepptau und zu Basts maßloser Überraschung begleitet nicht nur von den beiden Beamten, die ihn nach oben begleitet hatten, sondern auch von Kapitän Maistowe und Gloria Walsh.

Sie kam nicht einmal dazu, ihrem Erstaunen Ausdruck zu verleihen, denn kaum hatte Monro sie gesehen, da verdüsterte sich sein Gesicht noch einmal um mehrere Grade, und er hielt im Sturmschritt auf sie zu.

»Das nenne ich den Gipfel der Unverfrorenheit!«, polterte er los. »Sie besitzen tatsächlich die Dreistigkeit, hier aufzutauchen! Was sind Sie eigentlich - unbeschreiblich frech oder einfach nur dumm?«

Für einen Mann, der so viel Wert auf gepflegte Umgangsformen und tadellose Manieren legte wie Monro, fand Bast, war das ein geradezu ungeheuerlicher Zornesausbruch. Und er war noch nicht vorbei.

»Und was ist hier überhaupt los?«, polterte er weiter. »Sind jetzt hier alle verrückt geworden? Was soll dieser Unsinn? Sind wir hier im Kindergarten oder im Schmierentheater?«

»Faye«, sagte Bast einfach.

Abberline wollte antworten, aber Monro kam ihm wieder zuvor. »Ihrer kleinen Freundin geht es gut, nur keine Sorge. Die Frage ist, ob es Ihnen bald noch so gut geht wie jetzt.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Bast verwirrt. Sie versuchte zuerst Maistowes und dann Mrs Walshs Blick einzufangen, aber beide wichen ihr aus.

»Nun, meine Liebe«, antwortete Monro süffisant, »ich bin zum Beispiel gar nicht mehr sicher, wie lange Sie sich noch Ihrer Freiheit erfreuen können.«

»Wo ist Faye?«, fragte Bast eisig. Sie wollte nicht einmal über diesen Unsinn nachdenken.

»Oh, nur keine Sorge«, antwortete Monro. »Sie ist so sicher, wie es überhaupt nur geht. Möchten Sie sich vielleicht selbst davon überzeugen?« Er wartete ihre Antwort erst gar nicht ab, sondern drehte sich ruckartig auf dem Absatz herum und fuhr den erstbesten Mann in seiner Nähe an. »Haben Sie mich nicht verstanden? Dieses Theater hier hört unverzüglich auf! Legen Sie die Waffen weg! Und Sie, Verehrteste«, fuhr er, nun wieder an Bast gewandt, aber in unverändert scharfem Ton fort, »haben bitte die Freundlichkeit, mich zu begleiten!«

»Wohin?«, fragte Bast misstrauisch.

»Ich dachte, Sie wollten Ihre kleine Freundin besuchen und sich überzeugen, dass es ihr gut geht«, antwortete Monro. »Also, wenn ich bitten dürfte?« Er unterstrich seine Worte mit einer einladenden Geste, machte aber auch gleich darauf eine abwehrende Handbewegung, nun doch stehen zu bleiben, und winkte zwei Konstabler herbei. »Durchsuchen Sie sie!«

Bast spannte sich - trotz ihrer geschwundenen Kräfte wäre es für sie immer noch ein Leichtes gewesen, die Beamten davon abzuhalten -, aber Abberline warf ihr einen hastigen Blick zu und deutete ein Kopfschütteln an, sodass sie aufstand und sich widerstandslos abtasten ließ. Sie verstand nicht im Geringsten, was hier überhaupt vorging, aber sie war eher verwirrt als wirklich beunruhigt.

Monro wirkte nicht besonders überrascht, als ihm einer der Männer das Schwert reichte, das er aus ihrem Gürtel gezogen hatte.

»Vielleicht war ich gerade doch etwas vorschnell«, sagte er lediglich. »Behalten Sie Ihre Waffen vorerst noch, meine Herren.« Er machte eine befehlende Geste zu Bast. »Kommen Sie!«

Ohne auf ihre Reaktion zu warten, wandte er sich um und ging mit schnellen Schritten auf die Tür zu, hinter der vorhin die Männer die Waffen hervorgeholt hatten. Bast, Maistowe, Abberline und Mrs Walsh folgten ihm. Und sechs bewaffnete Polizisten.

Sie durchschritten die Tür und gelangten in einen schmalen, nur trübe beleuchteten Gang, von dem mehrere massive Türen abzweigten, die ausnahmslos mit schweren eisernen Schlössern und Riegeln gesichert waren. Auf einen Wink Monros hin eilte einer der Bobbys voraus und entriegelte eine noch massivere, aus schweren Eichenbohlen gefertigte Tür am Ende des Korridors. Obwohl sie so neu sein mussten wie das gesamte Gebäude, quietschten die Angeln hörbar, als die Tür aufschwang.

»Dort unten geht es zum Zellentrakt!«, sagte Abberline.

»Was haben Sie erwartet?«, schnauzte Monro. »Sie wollten, dass sie sicher untergebracht wird. Sicherer als in einer unserer Zellen geht es nicht. Wovon Sie sich gleich selbst überzeugen können.«

Bast war immer noch nicht wirklich besorgt - das Gefängnis, das sie gegen ihren Willen halten konnte, musste erst noch gebaut werden -, aber sie wurde immer zorniger. Ganz gleich, auf welch brillante Idee Monro in der Zwischenzeit auch gekommen sein mochte und für wie sicher er sich inmitten seiner bewaffneten Männer auch fühlen mochte, er hatte nicht die geringste Ahnung, auf was er sich hier eingelassen hatte. Darüber hinaus würde die kleine Armee, die er zusammengetrommelt hatte, um sie zu beeindrucken, Isis ziemlich kalt lassen.

Die Treppe führte unerwartet steil in die Tiefe, und ein muffiger, feuchter Geruch schlug ihnen entgegen. Es war kalt; wie es Bast vorkam, beinahe ebenso kalt wie draußen auf der Straße.

»Der Zellentrakt ist alt«, sagte Abberline, dem ihre überraschten Blicke nicht entgangen waren. »Das Haus ist auf den Fundamenten eines viel älteren Gebäudes errichtet worden.«

»Schweigen Sie, Inspektor«, sagte Monro. »Bevor ich ernsthaft darüber nachzudenken beginne, Ihnen ebenfalls ein neues Büro hier unten zuzuweisen.«

Abberline verstummte, und Bast versuchte noch einmal, in Mrs Walshs oder Maistowes Gesicht zu lesen. Aber auch jetzt wieder vergeblich. Ihr Hiersein konnte jedoch nichts Gutes bedeuten.

Sie gingen einen langen, aus schwerem Bruchstein erbauten Gang entlang, von dem eine Anzahl niedriger Türen abzweigte. Anders als der Rest des Untergeschosses waren die Türen neu, und die meisten davon standen offen, sodass Bast im Vorbeigehen einen Blick in die dahinter liegenden Räume werten konnte: Winzige, kahle Zellen ohne Fenster oder eine sichtbare Frischluftzufuhr, deren gesamte Einrichtung aus einer schmalen Pritsche, einem Tisch und einem Zinkeimer mit Deckel bestand.

»Ihre Pension ist im Moment nicht besonders gut ausgebucht«, sagte Bast spöttisch.

Monro antwortete, ohne sie anzusehen. »Die Zellen werden offiziell noch nicht benutzt. Wir haben nur das Mädchen hier untergebracht.« Er blieb stehen, sah sie nun doch an und wies auf die letzte Tür, ganz am Ende des Ganges. »Ich bin Ihnen zwar keine Rechenschaft schuldig, aber das hier unten ist tatsächlich der sicherste Ort im ganzen Yard. Niemand kommt hier herein.«

»Und niemand heraus.«

»Und niemand heraus«, bestätigte Monro ungerührt. »Und so ganz nebenbei ist dieser Keller auch noch absolut schalldicht. Sie könnten hier unten eine Kanone abfeuern, ohne dass jemand es hört ... aber sie wollten das Mädchen sehen, nicht wahr?«

Er ging weiter, ohne ihre Reaktion abzuwarten, bedeutete einem der Bobbys in seiner Begleitung, die Tür zu öffnen, auf die er gerade gedeutet hatte und machte eine einladende Geste. Bast tauschte einen Blick mit Abberline, bekam ein mindestens genauso irritiertes Achselzucken zur Antwort und ging zu ihm. Monro maß sie mit einem sehr sonderbaren Blick und machte ihr Platz, damit sie die Zelle betreten konnte.

Wenn man darin war, war die Gefängniszelle noch viel kleiner als von außen betrachtet. Eine nahezu heruntergedrehte Petroleumlampe verbreitete einen blassen gelben Schein, der die allgegenwärtige Kälte aber noch zu betonen schien. Faye lag auf dem Bett, den angewinkelten Arm unter den Kopf geschoben und das Gesicht zur Wand gedreht, und schien zu schlafen. Aber Bast spürte, dass sie wach war. Sie spürte auch, dass sie geweint hatte.

»Hallo Faye«, sagte Bast. »Ich bin es, Bast. Es ist alles in Ordnung.«

Im allerersten Moment sah es so aus, als wolle sich Faye einfach schlafend stellen; eine Rolle, die sie so perfekt spielte, dass selbst Bast einen Augenblick lang unsicher war. Dann aber zog sie die Hand unter dem Gesicht hervor, richtete sich langsam auf und schwang die Beine von der Pritsche. Bast hatte nicht unbedingt damit gerechnet, dass sie aufspringen und ihr um den Hals fallen würde, aber Faye sah sie einfach nur an und rührte sich überhaupt nicht.

»Geht es dir gut?«, fragte sie schließlich.

»So gut wie es einem eben geht, wenn man im Gefängnis sitzt«, antwortete Faye. »Ist das das neue Leben, das du mir versprochen hast?«

»Unsinn!« Bast schüttelte ärgerlich den Kopf und trat einen Schritt näher, blieb aber sofort wieder stehen, als sie spürte, dass sie im Begriff stand, Fayes persönliche Fluchtdistanz zu unterschreiten. »Monro hat dich hierhergebracht, weil du hier angeblich sicher bist. Aber Monro ist ein Idiot. Ich hol dich hier raus, keine Angst.«

»Und wann?« In Fayes Stimme war nicht eine Spur von Zuversicht oder gar Hoffnung.

»Heute«, antwortete Bast. Sie verbesserte sich. »Jetzt. Auf der Stelle. Ich nehme dich mit.«

»Ach, und du glaubst, er lässt das einfach so zu?«

Statt Faye eine Antwort zu geben, die sie ihr ohnehin nicht geglaubt hätte, drehte sich Bast mit einem Ruck herum und trat wieder in den Gang hinaus.

Sie erlebte eine Überraschung. Monro stand nicht vor der Tür und lauschte, wie sie als sicher vorausgesetzt hatte, sondern hatte sich nicht nur ein paar Schritte entfernt, sondern offensichtlich seine Leute weggeschickt. Bast sah gerade noch, wie sich der Letzte von ihnen herumdrehte und mit verstörtem Gesichtsausdruck und schnellen Schritten davonging.

»Was bedeutet das, Mr Monro?«, fragte sie.

»Sie haben mich gebeten, einen sicheren Platz für Faye zu finden, und ...«

»Das meine ich nicht.« Bast deutete auf den Beamten, der beinahe schon das Ende des Ganges und damit die Treppe erreicht hatte. »Vor einer Minute hatte ich noch das Gefühl, dass Sie mich am liebsten verhaften würden.«

»Und wer sagt Ihnen, dass das jetzt anders ist?«, erwiderte Monro kühl, hob zugleich aber auch rasch die Hand, als sie antworten wollte. »Um ehrlich zu sein, ist mir immer noch danach. Aber bevor ich Ihre Frage beantworte, möchte ich, dass Sie mir eine Frage beantworten. Warum sind Sie zurückgekommen?«

»Um Faye zu holen«, antwortete Bast. »Sie muss hier weg. Sie ist in Gefahr. Verdammt, was soll diese Frage?«

»Wenn das tatsächlich wahr ist, dann muss Ihnen wirklich viel an dem Mädchen liegen«, antwortete Monro. »Oder Sie sind einfach dumm. Aber es fällt mir schwer, eines von beidem zu glauben.«

»Sir, dürfte ich erfahren, was das alles zu bedeuten hat?«, fragte Abberline in einem Ton, der allein vermutlich schon ausreichte, ihm eine Versetzung in ein Zweihundert-Seelen-Kaff in den schottischen Highlands zu garantieren.

Monro ignorierte ihn. Sein Blick lastete durchbohrend auf Bast, und sie sah nichts als pure Angst darin. Aber zugleich auch eine trotzige Entschlossenheit, mit der sie als Allerletztes gerechnet hatte.

»Bevor ich Ihre Frage beantworte, Miss Bast«, sagte er, »möchte ich, dass Sie Folgendes wissen: Ich habe meine Männer weggeschickt, um allein mit Ihnen zu reden, aber ich habe es nicht getan, ohne ihnen sehr präzise Anweisungen zu geben. Diese Anweisungen lauten wie folgt: Sollte mir etwas zustoßen, ganz egal was, so werden sie Sie auf der Stelle verhaften, und falls Sie Widerstand leisten, haben sie Befehl, Sie zu erschießen. Dasselbe gilt, wenn ich mich irgendwie sonderbar benehme. Darüber hinaus haben wir eine Parole vereinbart. Sollte ich sie nicht nennen, wird die Tür zum Zellentrakt nicht geöffnet, bevor Sie nicht in Ketten liegen oder tot sind.«

Bast blickte in ihn hinein und erkannte, dass er die Wahrheit sprach. Sie erkannte auch das Kennwort, das er mit seinen Männern vereinbart hatte, und noch ein weiteres, geheimes Zeichen, das sie ebenfalls ausgemacht hatten. Aber sie erkannte auch noch etwas, was sie zutiefst erschreckte und mit einem nicht mehr ganz unterdrückten Keuchen zu Mrs Walsh herumfahren ließ.

»Es ... es ist nicht meine Schuld, Bast«, sagte Mrs Walsh leise. »Ich konnte nichts tun. Sie ... sie waren ganz plötzlich da.«

»Wer war ganz plötzlich da?«, fragte Abberline alarmiert.

»Ich bin kein Mann, der sich erpressen lässt, Miss Bast«, fuhr Monro fort, als hätte er Abberlines Worte nicht gehört. Seine Augen waren noch immer voller Angst, aber sein Gesicht war zu einer Maske der Ausdruckslosigkeit erstarrt. »Sie haben gesagt, dass Sie das Mädchen fortbringen wollen, und ich gebe Ihnen diese Möglichkeit. Draußen wartet ein Wagen, der Sie zum Hafen bringen wird, und meine Männer werden sich davon überzeugen, dass Sie an Bord der Lady of the Mist gehen und England noch in dieser Nacht verlassen. Sollten Sie oder das Mädchen jemals wieder einen Fuß in dieses Land setzen, so werden Sie auf der Stelle verhaftet, ganz gleich, welche Konsequenzen es für mich persönlich haben sollte.«

Bast sah abermals in ihn hinein und erkannte, dass er log. Die Konsequenzen für ihn waren ihm alles andere als gleichgültig. Er hatte panische Angst vor einem Skandal. Aber noch mehr Angst hatte er davor, vielleicht den Rest seines Lebens erpresst zu werden ... oder auch nur in der Furcht zu leben, jemand könnte es tun. Was er über den Wagen erzählt hatte, entsprach der Wahrheit. Nur, dass sie zwar den Hafen, niemals aber das Schiff erreichen würden.

Als ob sie nicht schon genug Probleme hätte ...

»Und die Alternative?«, fragte sie.

Monro nickte Mrs Walsh zu.

»Sie ... sie sind gleich nach Ihnen gekommen, Bast«, sagte Mrs Walsh mit leiser, schuldbewusster Stimme. »Nur ein paar Minuten, nachdem Frederick und Sie fort waren. Wir ... konnten nichts tun. Es tut mir so leid.«

»Wer ist gleich nach uns gekommen, Gloria?«, fragte Abberline.

»Glauben Sie tatsächlich, ich wäre so naiv, Sie Dummkopf?«, fuhr ihn Monro an. »Ich weiß nicht, wie tief Sie in dieser Geschichte stecken, und welche Rolle Sie wirklich spielen, Inspektor, aber wenn ich Sie wäre, dann würde ich mir ernsthaft überlegen, mit an Bord des Schiffes zu gehen. Selbstverständlich habe ich Sie beschatten lassen, nachdem Sie die Wohnung dieses kleinen Flittchens verlassen hatten. Wie es der Zufall will, haben wir in Mrs Walshs Pension gleich ein halbes Dutzend Leichen gefunden.« Er machte eine herrische Geste, als Abberline etwas sagen wollte. »Mrs Walsh und Kapitän Maistowe haben mir erzählt, was passiert ist. Ich glaube ihnen. Ich bin bereit, diese fünf Toten zu vergessen - sofern Sie alle England noch in dieser Nacht verlassen.«

»Sie ... lassen uns gehen?«, murmelte Maistowe ungläubig.

»Warum nicht?« Monro machte ein abfälliges Geräusch. »Wegen dieser toten Schläger? Früher oder später wären sie wahrscheinlich sowieso umgebracht worden, und wahrscheinlich hätten sie vorher noch eine Menge Schaden angerichtet. Niemand wird diesen Subjekten auch nur eine Träne nachweinen. Ich ganz bestimmt nicht.«

»Was wollen Sie dann von uns?«, fragte Mrs Walsh. Sie klang ... verwirrt.

Monro sagte gar nichts, doch Abberline antwortete an seiner Stelle: »Fünf tote Zuhälter und ein ermordetes Mädchen, Gloria. Das reicht, um jeden Richter zu überzeugen.«

»Das sehe ich genauso«, sagte Monro ruhig. »Aber mir ist nicht an einem Skandal gelegen. Irgendetwas bleibt immer hängen, ganz egal, wie sauber man auch aus der Geschichte herauszukommen glaubt. Also?«

»Sie lassen uns ja wohl keine andere Wahl«, sagte Bast rasch. »Was sagst du dazu, Faye?«

Die letzten Worte hatte sie lauter ausgesprochen, obwohl es wahrscheinlich nicht nötig gewesen wäre. Sie hatten nicht gerade leise geredet. Und Faye trat auch prompt hinter ihm aus der offen stehenden Zellentür. Sie sagte kein Wort, und ihr Gesicht war mindestens so ausdruckslos wie das Monros selbst. Ganz ruhig trat sie auf ihren ehemaligen Onkel Munro zu, legte den Kopf in den Nacken, um ihm ins Gesicht zu sehen - und ohrfeigte ihn, zweimal und mit aller Kraft.

Monro nahm die Schläge ungerührt hin, obwohl Faye so fest zugeschlagen hatte, dass sich ihre Finger rot auf Monros Gesicht abzeichneten. »Ich nehme an, das bedeutet Ja«, sagte er ruhig.

Etwas kam. Bast spürte es so deutlich wie die Berührung einer eiskalten eisernen Hand, die ihre Seele streifte, ein Gefühl, das so intensiv und schrecklich war, dass sie wie unter einem Schlag zusammenfuhr und nicht einmal mitbekam, was Faye antwortete. Etwas Riesiges, unendlich Böses und Zerstörerisches raste heran, ein Ding aus reiner Gier und grundloser Mordlust, dessen bloße Nähe sie entsetzt nach Luft schnappen ließ. Es stürmte heran, schnell und unaufhaltsam wie eine Springflut aus schwarzem Wasser und Stein, deren bloßer Anblick sie vor Entsetzen schier erstarren ließ.

Eine Tür fiel ins Schloss, und hastige Schritte näherten sich, und vielleicht gerade weil das Geräusch schon beinahe lächerlich banal war, durchbrach es die Lähmung, die von Bast Besitz ergriffen hatte, und ließ sie herumfahren.

Eine rennende Gestalt näherte sich, schwarz gekleidet und mit wirbelnden Armen und weit nach vorne gebeugt, um nicht vom Schwung ihres eigenen Tempos von den Füßen gerissen zu werden. Es war der Konstabler, mit dem Monro zuletzt gesprochen hatte, und er musste etwas wirklich Wichtiges auf der Seele haben, denn er rannte, als ginge es um sein Leben.

Sie hatte sich getäuscht. Was immer sie gespürt hatte, schien von links zu kommen, aus der Richtung hinter Monro und Faye, aber dort war nichts, nur das Ende des Ganges und eine massive Wand - aber der Konstabler kam genau aus der entgegengesetzten Richtung gelaufen, mühsam um sein Gleichgewicht kämpfend. Und irgendetwas an ihm ... flackerte.

Seine Umrisse zerflossen, bildeten sich neu und kehrten dann in ihre ursprüngliche Form zurück, aber für einen unendlich kurzen Moment, den tausendsten Teil eines Blinzeins oder weniger, sah sie ihn so, wie er wirklich war, eine hoch gewachsene, schlanke Gestalt mit wallendem rotem Haar und flatterndem Mantel, die ein Schwert in jeder Hand hielt und mit gewaltigen Sätzen heranstürmte.

»Das ist Isis!«, schrie sie. Ihre Hand zuckte nach unten und griff nach dem Schwert, das nicht mehr da war, und selbst, wenn es anders gewesen wäre, hätte es ihr nichts mehr genützt. Isis raste heran, schnell wie das Licht und so zornig wie eine Naturgewalt, und die Wand von Fayes Zelle explodierte in einer Wolke aus fliegendem Stein und glitzernden Schuppen, und etwas Gigantisches, das nur aus Zähnen und Klauen und einem monströsen peitschenden Schwanz zu bestehen schien, brach aus dem gezackten Loch hervor und prallte mit solcher Gewalt gegen die gegenüber liegende Wand, dass das gesamte Gebäude in seinen Grundfesten zu erzittern schien.

Sobeks Drache war gekommen, um den Tod seines Herrn zu rächen.

Zwei, drei der fliegenden Steintrümmer trafen Monro und Faye, die noch immer vor der Tür der Zelle standen, und rissen sie von den Füßen, und auch Abberline schrie nur einen Sekundenbruchteil später auf und krümmte sich. Die pure Wucht, mit der das Ungeheuer gegen die Wand geprallt war, ließ Bast wanken und Mrs Walsh mit haltlos rudernden Armen gegen Maistowe prallen und ihn halbwegs von den Füßen reißen, und selbst Isis wankte und drohte aus dem Tritt zu kommen. Ihre Tarnung erlosch wie das Bild einer Laterna magica, deren Kerze der Sturm ausblies.

Der Einzige, der sich rasend schnell und ohne das geringste Zögern weiterbewegte, war der Drache. Weder der Umstand, dass die Zelle kaum ausreichte, um seinem gigantischen Leib Platz zu bieten, noch die unvorstellbare Gewalt, mit der er gegen die Wand geprallt war, machten ihn auch nur merklich langsamer. Mit einer schlangengleichen, fließenden Bewegung fuhr er herum, zertrümmerte die kärgliche Einrichtung der Zelle endgültig und stürzte auf die Tür zu. Sein gigantisches Maul schnappte nach Monro und Faye und verfehlte sie nur, weil das Ungeheuer einfach in der Tür stecken blieb, wie ein Korken in einem zu engen Flaschenhals.

»Bastet! Fang!«

Bast sah einen kupferfarbenen Blitz aus den Augenwinkeln heraus auf sich zufliegen, griff ganz instinktiv zu und spürte plötzlich das vertraute Gewicht eines Schwertes in ihrer Hand. Isis hatte ihr ihre zweite Waffe zugeworfen.

Sie verschwendete keine Zeit damit, über dieses unerwartete Geschenk nachzudenken. Mit einem einzigen Satz sprang sie über Monro und Faye hinweg, schwang die Waffe mit aller Gewalt und ließ sie auf die stumpfe Schnauze des Drachen niedersausen. Die Klinge prallte von den eisenharten Schuppen des Ungeheuers ab, ohne ihm sichtbaren Schaden zugefügt zu haben, aber offensichtlich hatte der Drache den Schlag zumindest gespürt, denn er ließ ein wütendes Zischen hören und warf sich zurück. Sein peitschender Schwanz, länger als ein Mann und mit mörderischen Knochenschuppen besetzt, schlug Steinsplitter und Funken aus den Wänden der Gefängniszelle, und seine schrecklichen Krallen zerfetzten den Türrahmen und rissen handlange, dünne, gebogene Metallstreifen aus der Tür.

Bast bückte sich blitzschnell, zerrte Monro auf die Füße und stieß ihn fort - nicht weil sie ihn so sehr in ihr Herz geschlossen hatte, sondern schlichtweg, weil er auf Faye lag - und bückte sich hastig, um auch Faye aus dem gefährlichen Bereich unmittelbar vor der Tür zu zerren.

Sie war nicht schnell genug. Ihr Hieb hatte den Drachen erst richtig wütend gemacht. Er warf sich ein weiteres Mal vor, diesmal mit solcher Gewalt, dass der Türrahmen wie morsches Holz splitterte und die komplette, schwere Eisentür einfach nach außen kippte, vielleicht nicht annährend so scharf, aber mindestens so tödlich wie eine Guillotine.

Durch nichts anderes als pures Glück entgingen Faye und sie dem niederkrachenden Zentnergewicht der Tür, aber hinter ihnen wütete der Drache heran. Die Öffnung, die er gewaltsam geschaffen hatte, war immer noch nicht groß genug für seinen monströsen Leib, aber sein gigantisches Maul schnappte in Basts Richtung, und sie wusste, dass sie ihm nicht mehr entgehen konnte.

Und dann war plötzlich Isis da, riss sie zurück und rammte ihr Schwert in das weit aufgerissene Maul des Ungeheuers.

Der Drache brüllte vor Wut und Schmerz, als die rasiermesserscharfe Klinge in das empfindliche Fleisch seines Gaumens biss, warf sich zurück und riss in seinem Toben ein weiteres, gewaltiges Stück aus dem Türrahmen. Ein faustgroßer Stein traf Bast an der Schulter und ließ sie taumeln. Trotzdem beugte sie sich weiter über Faye, um sie vor den fliegenden Steinbrocken und Trümmern zu schützen, und Isis holte zu einem zweiten, beidhändig geführten Schlag gegen die Schnauze des Ungeheuers aus, der die eisenharten Panzerschuppen spaltete und ihm eine tiefe, blutende Wunde zufügte.

Das riesige Krokodil brüllte vor Wut und Schmerz, bäumte sich in der winzigen Zelle auf und brach in einem gewaltigen Hagel aus Steinen und kochendem Staub auf den Gang hinaus.

Sein schuppiger Schwanz peitschte durch die Luft, traf Isis wie ein Keulenhieb an der Schulter und schleuderte sie meterweit davon. Bast wich den zuschnappenden Kiefern mit einer verzweifelten Bewegung aus und zerrte Faye auf die Füße, aber sie kam nicht einmal einen Schritt weit. Ein Krallenhieb traf sie am Oberschenkel und schleuderte Faye und sie abermals zu Boden. Schmerz explodierte in ihrer Seite. Faye schrie, und auch Mrs Walsh und Maistowe brüllten irgendetwas, aber sie verstand nichts davon, sondern warf sich schützend über das Mädchen und rollte eng an sie geklammert davon, bis sie gegen die rückwärtige Mauer des Ganges prallte.

Der Drache folgte ihnen, eine Wand aus Schuppen, Zähnen und mörderischer Wut, die sich mit unvorstellbarer Schnelligkeit bewegte. Irgendwie gelang es Bast, ihm das Schwert in die Kehle zu stoßen, aber ihre Kraft reichte nicht, um die zähen Panzerplatten des Ungeheuers ganz zu durchdringen. Die Bestie prallte mit einem wütenden Knurren zurück und schüttelte den mächtigen Schädel. Zähes, fast schwarzes Blut lief an ihrem Hals hinab und quoll aus ihrem Maul. Bast versuchte zurückzukriechen, aber hinter ihr war nichts mehr; nur noch Faye, die sie mit ihrem eigenen Körper gegen die Wand presste.

Als der Drache zu seinem letzten Angriff ansetzte, sprang Isis mit einem Satz auf seinen Rücken, schlang den linken Arm um seinen Hals und riss seinen Schädel mit einer unvorstellbaren Kraftanstrengung zurück, während sie ihm mit der anderen Hand das Schwert tief in den Nacken stieß.

Das Ungeheuer bäumte sich auf. Isis wurde davongeschleudert, riss Maistowe von den Füßen und schmetterte mit wirbelnden Armen und Beinen auch noch Mrs Walsh zu Boden, bevor sie meterweit entfernt mit grausamer Wucht gegen die Wand prallte und zusammenbrach.

Der Drache tobte, warf sich im Todeskampf hin und her und versuchte vergeblich nach dem Peiniger zu schnappen, der noch immer in seinem Nacken steckte und ihm so grausame Schmerzen zufügte. Seine Krallen pflügten fingertiefe Furchen in den Boden, und sein peitschender Schwanz zertrümmerte den Stein der Wände. Bast warf sich verzweifelt herum, presste Faye an sich und kroch auf Händen und Knien aus der Reichweite der tobenden Bestie. Erst dann ließ sie das Mädchen los, sprang auf und war mit einem einzigen Satz neben Isis.

Sie war bei Bewusstsein. Ihre Augen standen weit offen und waren voller Schmerz, und Bast spürte, wie schwer verletzt sie war, aber nicht so schlimm, dass sie sich Sorgen machen musste.

»Ist alles in Ordnung?«, fragte sie.

Isis verzog die Lippen. »Natürlich«, krächzte sie, hustete Bast ein paar Tropfen Blut ins Gesicht und fuhr sich anschließend angewidert mit dem Handrücken über das Kinn. Trotzdem fuhr sie fort: »Ich habe mich selten so wohl gefühlt, sieht man mir das etwa nicht an?«

Bast war vollkommen verwirrt. Sie fühlte sich hilflos, durcheinander und so verstört wie schon seit langer Zeit nicht mehr, und in ihrem Kopf schien plötzlich nur noch Leere zu herrschen. Was ging hier vor?

Sie setzte dazu an, etwas zu sagen, brachte aber nur ein hilfloses Schulterzucken zustande und drehte sich halb herum. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, erschien es ihr beinahe selbst wie ein kleines Wunder, dass hier unten überhaupt noch jemand am Leben war.

Der Drache hatte aufgehört zu toben. Er bewegte sich noch, aber nur schwach, und aus seinem Maul lief immer mehr dunkles, zähflüssiges Blut. Monro und Abberline lagen beide am Boden, bewusstlos, vielleicht auch tot. Kapitän Maistowe blutete aus einer großen Platzwunde am Kopf; auch er rührte sich nicht. Einzig Mrs Walsh schien mehr oder weniger mit dem Schrecken davongekommen zu sein, auch wenn Bast nicht ganz sicher war, dass sie dabei wirklich einen guten Tausch gemacht hatte. Sie hockte mit angezogenen Knien nur ein kleines Stück neben Faye an der Wand und hatte die Fingernägel so fest in den Stoff ihres Kleides gekrallt, dass Blut zu Boden tropfte. Ihre Augen waren leer.

So mühsam, als müsse sie gegen unsichtbare Ketten ankämpfen, wandte sie sich wieder zu Isis um und las nichts als Spott in deren Augen.

»Nun verschwinde schon«, sagte Isis. »Nimm das Mädchen und bring es in Sicherheit. Ich sorge hier schon für Ordnung, keine Angst.«

Bast starrte sie an. »Du lässt uns ... gehen?«, murmelte sie ungläubig.

»Natürlich - was hast du denn erwartet, Dummerchen?« Isis streckte die Hand aus und ließ sich mit zusammengebissenen Zähnen auf die Beine helfen. Sie schwankte leicht, aber Bast spürte, dass sie sich rasch erholte.

»Aber ich dachte, du wärst gekommen, um ...«, murmelte Bast hilflos, schüttelte den Kopf und setzte von neuem an. Horus hatte gesagt, sie wäre unterwegs hierher, um das Mädchen zu töten.

»Und da hast du natürlich sofort geschlossen, dass er von mir gesprochen hat!« Isis hatte ihre Gedanken gelesen. »Ich dachte eigentlich, dass du mich besser kennst.«

»Wen sollte er sonst gemeint haben?« Sie fühlte sich nicht wohl dabei, diese Frage zu stellen, und sie ahnte, dass sie im Begriff stand, Isis wirklich zu verletzen ... aber alles war so verwirrend. Plötzlich schien nichts mehr einen Sinn zu ergeben.

»Warum findet du es nicht heraus?«, sagte Isis böse. »In solchen Dingen warst du doch immer schon besser als ich.« Sie lachte, ohne allzu viel echten Humor, und deutete auf den sterbenden Drachen. »Warum hebst du nicht einfach seinen Schwanz hoch und siehst nach, ob er vielleicht eine Sie ist?«

Bast war nicht nach Scherzen zumute. »Horus ist tot«, murmelte sie schließlich.

Jetzt war es Isis, die sie anstarrte, lange.

»Hast du ihn getötet?«

»Ja«, antwortete Bast, hob die Schultern und fügte hinzu: »Es tut mir leid. Er hat mir keine Wahl gelassen ... aber wenn Horus dich nicht gemeint hat, was suchst du dann hier?«

»Deine Dankbarkeit ist immer wieder herzerfrischend.« Isis schnaubte. »In Whitechapel geschieht nicht viel, von dem ich nichts mitbekomme. Ich wollte einfach nur sichergehen, dass deinen neuen Freunden nichts zustößt.« Sie machte eine Kopfbewegung auf Mrs Walsh und ließ erneut dieses abfällige Schnauben hören. »Wo dein Herz doch so sehr an ihnen hängt.«

»Es tut mir leid«, sagte Bast erneut. Es sollte eine Entschuldigung sein, aber es klang nicht so, und sie war auch ziemlich sicher, dass es bei Isis auch nicht so ankam. Sie fühlte sich elend. Sie konnte sich doch nicht so geirrt haben!

»Ich wusste immer, dass es ein schlimmes Ende mit Horus nimmt«, seufzte Isis. »Aber dass du es sein würdest ...«

»Wegen Horus ...«

»Wenn du es nicht getan hättest, hätte ich ihn wohl irgendwann selbst umgebracht«, fiel ihr Isis ins Wort. Sie gab sich einen sichtbaren Ruck. »Ihr solltet jetzt gehen, bevor Monros Leute die Tür aufbrechen und nachsehen, wo er so lange bleibt.« Sie zog seufzend die Augenbrauen zusammen. »Das ist wieder mal typisch. Ihr habt euren Spaß, und ich kann hinter euch aufräumen.«

Ein leises Stöhnen erklang, und Bast drehte erschrocken den Kopf. Es war Abberline, der unsicher die Augen aufschlug und sich benommen hochzustemmen versuchte, aber sofort und mit einem schmerzhaften Zusammenpressen der Zähne wieder zurücksank. »Mein Bein«, stöhnte er. »Ich kann mein Bein ... nicht bewegen.«

»Gloria«, sagte Bast. Im ersten Moment reagierte sie gar nicht, dann aber hob sie mühsam den Kopf und sah zu ihr hoch. »Bitte kümmern Sie sich um Frederick, okay?«, bat Bast. Ganz gleich was, Mrs Walsh musste irgendetwas tun, um der lodernden Furcht in ihren Augen Einhalt zu gebieten.

Während Mrs Walsh sich mühsam aufrappelte und zu Abberline hinüberhumpelte, wandte sich Bast wieder an Isis. »Kommst du mit dem Drachen allein zurecht?«

Isis maß das sterbende Ungeheuer mit einem abschätzenden Blick. »Ich denke schon ... wenn du mir erlaubst, so lange zu warten, bis er endgültig tot ist. Diese Biester sind unberechenbar.« Sie lachte. »Aber ich bin sicher, Monro und seine Leute werden mir dabei helfen, sollte ich es nicht allein schaffen. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er wild darauf ist, das alles hier seinen Vorgesetzten zu erklären oder gar der Presse - nicht wahr - Faye, Schätzchen?«

Sie brach mitten im Wort ab. Ihre Augen wurden groß vor ungläubigem Staunen, während sie sich auf einen Punkt irgendwo hinter Bast fixierten, dann ertönte ein dumpfer, sonderbar weicher Knall, und Isis' Kopf und Schultern wurden nach hinten gerissen und gegen die Wand geschmettert. Zwischen ihren Augen, vielleicht zwei Finger breit über ihrer Nasenwurzel, war plötzlich ein kreisrundes dunkles Loch von der Größe einer Pennymünze, und der so erstaunte, durch und durch ungläubige Ausdruck blieb in ihrem Blick, obwohl sie schon tot sein musste, noch bevor ihr Körper an der Wand hinab zusammenzusacken begann.

Als Bast sich herumdrehte, blickte sie in die rauchende Mündung des Revolvers, den Mrs Walsh aus Abberlines Jacke genommen hatte. In der anderen Hand hielt sie ein Rasiermesser, dessen Klinge sie von hinten so fest gegen Fayes Kehle presste, dass Blut am Hals des Mädchens herunterrann und sie sich vermutlich selbst die Luftröhre durchschneiden würde, wenn sie versuchte, sich loszureißen.

»Mrs Walsh?«, murmelte sie ungläubig. »Aber was ...?«

»Schweigen Sie, Sie verruchte Person!«, fuhr Mrs Walsh sie an. »Sie wollen gehen? Ich fürchte, das kann ich nicht zulassen!« Der Revolverlauf deutete weiter drohend auf Basts Gesicht. In Mrs Walshs schmaler Hand sah die Waffe riesig und schwer aus, aber sie zitterte nicht um einen Millimeter, und Bast hatte vor wenigen Sekunden erlebt, wie ausgezeichnet Mrs Walsh damit umzugehen verstand. Trotzdem hätte sie es riskiert - sie war verletzt und erschöpft, aber sie war immer noch schnell -, wäre Faye nicht gewesen. Mrs Walsh stand halb hinter ihr und benutzte ihren schlanken Körper als Deckung, und so, wie sie das Rasiermesser hielt, musste einfach alles, was sie tat, zu ihrem Tod führen.

Und sie verstand immer noch nicht, was sie sah.

»Mrs Walsh«, murmelte sie noch einmal. »Aber ... warum ... warum tun Sie das?«

Mrs Walsh lachte, ein hässlicher, schriller Laut wie das Quietschen von Fingernägeln auf einer Schiefertafel, der Bast einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. »Das fragen Sie noch? Ich hatte Sie für klüger gehalten. Glauben Sie tatsächlich, ich lasse Sie und dieses verruchte Weibsstück gehen, damit Sie Ihr lästerliches Leben fortsetzen und weitere Männer vom rechten Pfad abbringen?«

Es vergingen noch einmal endlose, lange Sekunden, aber dann begriff Bast endlich. »Sie?«, hauchte sie. »Sie sind ... Jack the Ripper?«

»Ein lächerlicher Name, ich gebe es zu«, sagte Mrs Walsh, »aber gut genug, um lächerliche Polizisten auf die falsche Spur zu lenken - nicht wahr, Frederick?« Sie schoss Abberline in die Brust, lächelnd und ohne mit der Wimper zu zucken und so beiläufig, dass die Revolvermündung schon wieder auf Basts Stirn wies, ehe sie auch nur richtig begriff, was geschah. Abberline sackte mit einem Ächzen in sich zusammen, und Faye gab einen erschrockenen Laut von sich und versuchte sich aus Mrs Walshs Griff zu winden, mit dem einzigen Ergebnis allerdings, dass der Schnitt an ihrem Hals nur heftiger blutete.

»Nicht, Faye«, sagte Bast hastig. »Sie wird dir nichts tun, keine Angst. Wir kommen hier raus.«

Mrs Walsh schnaubte höhnisch. »Das glaube ich nicht. Ich fürchte, Sie wissen bereits zu viel, mein Kind.« Plötzlich lachte sie leise. »Oh, ich hatte Ihnen ja eigentlich versprochen, Sie nicht mehr so zu nennen ... aber wie es aussieht, werde ich nun doch älter als Sie, nicht wahr?«

»Sie haben all diese Frauen umgebracht?«, fragte Bast noch einmal. Im Grunde sprach sie nur, um Mrs Walsh abzulenken, oder wenigstens irgendwie beschäftigt zu halten. Hinter ihrem zu einer ungläubigen Miene verzogenen Gesicht überschlugen sich ihre Gedanken. Wenn sie richtig gezählt und Abberline nicht nachgeladen hatte, war in Mrs Walshs Waffe nur noch ein einziger Schuss - aber sie stand kaum zwei Schritte vor ihr, eine Distanz, aus der sie sie praktisch gar nicht verfehlten konnte ... und da war immer noch Faye.

Bast bewegte sich unendlich behutsam ein winziges Stückchen auf sie zu, ohne die Füße zu heben, oder auch nur, dass sich eine Falte ihres Gewandes bewegt hätte - und hielt sofort wieder inne, als Mrs Walsh eine winzige, drohende Geste mit der Waffe machte, und Faye zugleich einen zweiten, blutenden Schnitt an der Kehle zufügte. Das Mädchen wimmerte vor Angst.

»Versuchen Sie keinen Ihrer teuflischen Tricks!«, warnte Mrs Walsh. »Ich weiß, wozu Sie imstande sind, vergessen Sie das nicht!«

Bast konnte den Geist nahezu jedes normalen Menschen blenden und ihn Dinge sehen lasen, die nicht da waren, oder auch solche, die da waren, nicht mehr sehen lassen. Aber Gloria war nicht normal. Das unselige Flackern in ihren Augen, das sie für Angst gehalten hatte, war die schwarze Flamme des Wahnsinns. Sie hätte es trotzdem versuchen können: in die Schatten zurückweichen oder sich vor Glorias Augen in die Teufelsgestalt verwandeln, für die sie sie anscheinend ohnehin zu halten schien. Aber ganz gleich, was sie auch tat, ebenso gut konnte sie Faye auch gleich selbst die Kehle durchschneiden.

»Ich werde keine Tricks versuchen«, sagte sie ruhig. »Aber lassen Sie Faye gehen. Das ist eine Sache zwischen uns. Sie hat nichts damit zu tun.«

Mrs Walsh lachte böse. »Für wie dumm halten Sie mich?«, fragte sie. »Sie wollen mich ablenken, damit sie fliehen kann, um ihr schmutziges Tun in aller Ruhe fortzusetzen? Nein: Sie wird das bekommen, was sie verdient, und ihre Seele wird für alle Ewigkeiten in den Feuern der Hölle brennen!«

»Sie hat Ihnen nichts getan, Gloria«, sagte Bast sanft.

»Sie ist verdorben!«, antwortete Mrs Walsh kalt. »Sie ist ein verdorbener Mensch, der den Anspruch auf Gottes Schutz verwirkt hat und nichts anderes tut, als andere zu verderben! Sie wird ihrer gerechten Strafe nicht entgehen, so wie alle anderen vor ihr!«

»Weil sie für Geld mit Männern schläft?«, fragte Bast. »Wer trägt wohl mehr Schuld daran, Gloria - Frauen wie sie oder die Männer, die sie dafür bezahlen ... oder dazu zwingen?«

»Männer sind nun einmal Männer«, antwortete Mrs Walsh. »Sie sind so, wie Gott sie geschaffen hat, und können nicht anders. Der Teufel hat das Weib erschaffen, um den Mann in Versuchung zu führen, aber eine Frau, die auch nur einen Funken Anstand im Leib hat, wird den Einflüsterungen des Satans widerstehen.«

»Ich verstehe«, seufzte Bast. Noch behutsamer als gerade glitt sie ein weiteres Stück auf Mrs Walsh zu, kaum mehr als zwei oder drei Zoll, und diesmal tatsächlich, ohne dass Mrs Walsh es bemerkte. Aber sie reagierte ganz unbewusst so, wie Bast es sich erhofft hatte, und wich um dieselbe Distanz vor ihr zurück, ohne es selbst auch nur zu spüren. »Wollen Sie jetzt alle Prostituierten Londons umbringen, oder ...« Sie sah auf den bewusstlosen Maistowe hinab, und verstand ... auch, wenn ihr der Gedanke im allerersten Moment so monströs vorkam, dass sie ihn am liebsten weit von sich gewiesen hätte.

»Jacob?«, murmelte sie. »Sie ... Sie haben das alles nur ... nur seinetwegen getan?«

Mrs Walsh starrte sie an. Die schwarze Flamme in ihrem Blick loderte höher.

»Liz. Kate. Marie-Jeanette und Dark Annie«, murmelte Bast. »Waren das alle, die Jacob ... gekannt hat?«

»Oh nein«, antwortete Mrs Walsh lächelnd.

»Und ... Cindy?«, fragte Bast. Sie glitt ein weiteres Stück auf Mrs Walsh zu, und noch eines, und Mrs Walsh wich jedes Mal um dieselbe Distanz vor ihr zurück. Bast wusste selbst noch nicht, welchen Vorteil sie daraus ziehen sollte, aber es war besser als nichts. »Was hat sie getan, Gloria, um den Tod zu verdienen? Jacob war nicht einmal im Land, als sie zu Maude gekommen ist!«

»Jacob wollte sie mitnehmen!«, ereiferte sich Mrs Walsh. »Er hat behauptet, er wolle sie retten, aber so dumm bin ich nicht. Glauben Sie wirklich, ich nehme die Schlange mit und nähre sie noch an meiner Brust?«

Ein weiterer, winziger Schritt, und Mrs Walsh wich abermals vor ihr zurück. Aber wie weit noch? »Dann lassen Sie wenigstens Faye gehen«, bat sie. »Sie hat Jacob bis vor einer Stunde noch nicht einmal gekannt!«

»Ich fürchte, dass das nicht in meine Pläne passt«, antwortete Mrs Walsh. »Aber keine Angst - ich werde es leicht für sie machen.«

Bast fragte sich, wie lange Mrs Walsh die schwere Waffe noch so ruhig würde halten können. Der Revolver wog mindestens zwei Pfund, aber er blieb unerbittlich weiter auf ihre Stirn gerichtet. »Sterben ist niemals leicht, Gloria.«

»Wie gesagt - ich werde es ihr leichtmachen, und Ihnen auch, mein Kind; auch wenn Sie es gewiss nicht verdient haben. Keine Sorge, ich kenne mich aus.« Sie ließ erneut ein böses, fast schon irre klingendes Kichern hören und wich um eine weitere, winzige Strecke vor Bast zurück. »Habe ich Ihnen erzählt, dass mein seliger Mann Metzger war?« Sie nickte heftig. »Oh ja, er war ein talentierter Fleischer, aber er hatte auch ein gutes Herz. Nie wollte er den armen Kreaturen, die er töten musste, unnötigen Schmerz zufügen.« Sie wandte sich direkt an Faye, ohne Bast dabei auch nur einen Sekundenbruchteil aus den Augen zu lassen. »Keine Angst, mein Kind. Ich habe gut aufgepasst. Du wirst kaum etwas spüren, das verspreche ich dir, und ...«

Maistowes Hand schoss vor und klammerte sich um ihr Fußgelenk. Er blutete noch immer heftig aus der Platzwunde am Kopf, sein Gesicht war eine einzige, nasse rote Maske, und er war benommen und kraftlos, aber der Ausdruck in seinen Augen machte Bast auch klar, dass er jedes Wort verstanden hatte.

Sie sprang. Gloria Walsh schrie vor Zorn und Schrecken auf und warf sich zurück, um seinem Griff zu entkommen, aber Jacob hielt sie unerbittlich fest. Das Rasiermesser schrammte an Fayes Hals entlang und hinterließ einen langen, bis auf den Knochen reichenden Schnitt an ihrem Kinn, und Bast packte Glorias Hand und bog sie mit einem so harten Ruck zurück, dass die Knochen ihres Handgelenkes wie Glas zersplitterten. Gloria kreischte, ließ das Rasiermesser fallen und riss sich mit der unwiderstehlichen Kraft einer Wahnsinnigen los, und Bast zerrte Faye hastig von ihr weg und prallte zurück, als Gloria den Revolver auf sie richtete und abdrückte.

Die Kugel verfehlte sie weit und fuhr harmlos in die Decke, nahezu auf halber Länge des Ganges hinter ihr, aber der enorme Rückstoß der Waffe riss Glorias Arm nach oben und brachte sie endgültig aus dem Gleichgewicht. Sie taumelte zurück, wedelte mit beiden Armen, um ihre Balance zurück zu gewinnen und prallte gegen den toten Drachen.

Aber der Drache war nicht tot.

Was immer noch an Leben in ihm war, es reichte, um ihn sich aufbäumen und seine gewaltigen Kiefer um Glorias Oberschenkel zuschnappen zu lassen. Glorias gellender Schrei ging im Grollen der Bestie und dem Geräusch von brechenden Knochen und zerreißendem Fleisch unter.

So mühelos, als wöge sie rein gar nichts, schleuderte der Drache Gloria in die Höhe, warf sich herum und schüttelte sein schreiendes Opfer wie ein Terrier, der eine Ratte gefangen hatte, bevor sich seine mächtigen Kiefer endgültig schlossen und ihr beinloser Torso zu Boden fiel, schrecklich verstümmelt, aber immer noch am Leben, immer noch schreiend.

So lange, bis der Drache zum zweiten Mal zuschnappte.

Bast ließ das Entsetzen, mit dem der furchtbare Anblick sie erfüllen wollte, nicht an sich heran, sondern bückte sich hastig nach der Waffe, die Gloria fallen gelassen hatte, nahm sie an sich und eilte erst dann zu Abberline, um neben ihm auf die Knie zu fallen. Sie erwartete, Abberline tot oder sterbend vorzufinden, aber er lebte, und sie erkannte sofort, dass er ein geradezu unwahrscheinliches Glück gehabt hatte. Sein Bein war gebrochen, und die Kugel hatte sein Herz weit verfehlt und ein hässliches Loch in seine Schulter gestanzt, aber nichts davon würde ihn umbringen.

Bast wedelte mit der leer geschossenen Waffe. »Haben Sie Munition für das Ding dabei?«

»In meiner ... rechten Tasche«, antwortete Abberline mit zusammengebissenen Zähnen.

Bast griff in seine Rocktasche, fand eine Handvoll Patronen und verschwendete etliche wertvolle Sekunden damit, die simple Mechanik zu ergründen, mit der sie die Trommel des Revolvers herausklappen konnte, und noch einmal so viel Zeit, um die leeren Patronenhülsen heraus- und neue Munition hineinzunesteln. Erst danach fuhr sie in der Hocke herum und legte auf das Ungeheuer an.

Aber sie schoss nicht.

Der Nildrache schlang gerade seine Henkersmahlzeit herunter, Glorias Kopf und Glieder, und starrte sie aus seinen winzigen, bösartigen Augen an. Er blickte nicht nur in ihre Richtung oder musterte sie auf die Art eines Raubtieres, das seine Beute oder einen gefährlichen Feind maß. Er sah sie an, das, was sie wirklich war, tief in sich drinnen, und in seinen Augen stand purer, reiner Hass geschrieben, zu dem ein Tier eigentlich nicht fähig sein durfte.

Aber auch das Wissen, dass er starb.

Bast senkte die Waffe.

»Was ... was tun Sie da?«, presste Abberline hervor. »Knallen Sie ... das Mistvieh ab!«

Bast ließ den Revolver noch weiter sinken, zögerte noch einen letzten Moment und legte ihn schließlich ganz zu Boden. »Er stirbt doch sowieso«, sagte sie traurig.

Mit plötzlich mühsamen, schleppenden Bewegungen, als hätte der letzte Ausbruch auch noch seine allerletzten Kräfte verbraucht, drehte sich der Drache herum und kroch in die Zelle zurück, eine glitzernde Spur hinterlassend, in der sich schwarzes Blut mit dunkelrotem mischte. Isis' Schwert ragte noch immer aus seinem Nacken, und die Klinge schien seinen Hals zur Gänze durchdrungen zu haben, denn Bast hörte ein leises, metallisches Schleifen, das sein mühsames Vorwärtsschleppen und Kriechen begleitete. Unendlich langsam und immer wieder innehaltend, um neue Kräfte zu schöpfen, kroch der Drache durch die winzige Zelle und verschwand schließlich wieder durch die gewaltsam geschaffene Bresche, durch die er hineingekommen war.

»Warum haben Sie das getan?«, murmelte Abberline. »Jetzt wird es ... noch mehr Menschen umbringen.« Er versuchte sich aufzurichten, aber Bast drückte ihn mit sanfter Gewalt zurück und nahm ihm zugleich seine schlimmsten Schmerzen - oder versuchte es. Es ging nicht. Dieselbe Eins-zu-einer-Million-Möglichkeit, die ihn bisher nicht nur vor ihrer, sondern auch vor Horus' und Sobeks geistiger Macht beschützt hatte, hinderte sie nun daran, ihm wenigstens ein bisschen Linderung zu verschaffen.

»Er wird niemandem mehr etwas tun«, sagte sie. »Er stirbt. Vielleicht ist er schon tot.«

Abberline wirkte nicht überzeugt, aber Bast gab ihm keine Gelegenheit, eine weitere Frage zu stellen, sondern erhob sich rasch und folgte dem sterbenden Ungeheuer. Sie wich Glorias kopf- und gliederlosem Torso aus, so weit sie es nur konnte, und sie wich auch Maistowes Blicken aus. Vielleicht wäre das, was sie darin gesehen hätte, mehr gewesen, als sie im Moment ertragen konnte.

Hinter dem gewaltigen Loch in der Mauer begann eine steil in die Tiefe führende, vielleicht zwanzig Fuß lange Schutt- und Trümmerhalde, und an ihrem Ende lag der Drache. Bast näherte sich ihm vorsichtig, stieß ihn zwei- oder dreimal mit dem Fuß an - was eigentlich vollkommen überflüssig war. Sie spürte, dass in dem Ungeheuer kein Leben mehr war, aber sie hatte irgendwie das Gefühl, dass es einfach dazu gehörte - bevor sie den Schwertgriff mit beiden Händen umklammerte und die Waffe mit erheblicher Anstrengung aus dem Nacken des Ungeheuers zog. Sorgfältig wischte sie die Klinge an ihrem Mantel ab, bevor sie sie in die schmale Schlaufe an ihrem Gürtel schob. Isis' Schwert. Ihre Lieblingswaffe, eine Klinge von unvorstellbarem Wert, geschmiedet in den heiligen Feuern von Atlantis und beinahe so alt wie sie selbst. Und nun war sie alles, was von ihr geblieben war.

Sie lauschte. Vor ihr war nichts als vollkommene Dunkelheit, aber sie hörte das Geräusch von fließendem Wasser, und ein sachter, aber sehr unangenehmer Geruch drang in ihre Nase. Vielleicht, dachte sie, hätte der Polizeipräsident sich die Baupläne für seine neue Residenz ein wenig genauer ansehen sollen. Dann hätte er vielleicht gesehen, wie dünn die Mauern waren, die die Zellen vom Labyrinth der Kanalisation trennten. Es brauchte keinen Drachen, um sie nieder zu reißen.

Sie blieb lange so stehen und starrte in die Schwärze hinein, und ihre Gedanken wanderten auf Pfaden, die noch viel dunkler waren, die sie aber gar nicht kennen lernen wollte. Schließlich aber drehte sie sich herum und ging in den Zellentrakt zurück. Sie hatte das Gefühl, unendlich lange fort gewesen zu sein, aber wenn es so war, dann musste die Zeit hier oben wohl stehen geblieben sein, denn viel hatte sich nicht verändert. Monro lag noch immer lang ausgestreckt auf dem Gesicht und ohne Bewusstsein - Bast überzeugte sich rasch davon, dass er tatsächlich nur bewusstlos war und nichts Schlimmeres, aber sie ertappte sich dabei, ihm die grässlichsten Kopfschmerzen seines Lebens zu wünschen -, und Abberline hatte es immerhin geschafft, sich halb aufzurichten und mit Hinterkopf und Schultern gegen die Wand zu lehnen. Von weit her drangen ein dumpfes Hämmern und aufgeregte Stimmen an ihr Ohr. Anscheinend hatten Monros Männer endlich beschlossen, doch einmal nach dem Rechten zu sehen, und versuchten die Tür aufzubrechen. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit.

Der Einzige, der sich bewegt zu haben schien, war Maistowe. Er war zu Faye geeilt und hatte irgendwo einen Streifen Stoff aufgetrieben - vermutlich aus seinem Hemd gerissen -, mit dem er ebenso ungeschickt wie erfolglos versuchte, die stark blutende Wunde an Fayes Kinn zu verbinden. Das Mädchen weinte schluchzend und krampfhaft und versuchte instinktiv, Maistowes Hände abzuwehren, die ihr nur noch mehr Schmerzen zufügten.

Bast ging rasch hin, legte ihr die Hand auf die Stirn und löschte zuerst ihren Schmerz und dann ihr Bewusstsein aus. Faye blieb auf den Beinen, aber ihre Augen waren plötzlich leer.

»Bast, ich ...«, begann Maistowe, aber Bast unterbrach ihn mit einer sanften Geste und einem Kopfschütteln. »Ich weiß, was Sie sagen wollen, Jacob«, sagte sie. »Ich kann nicht bleiben. Nicht jetzt. Versprechen Sie mir, sich um Faye zu kümmern?«

Sie hätte Maistowe gezwungen, es zu tun, wäre es nötig gewesen, aber das war es nicht. Er nickte, und sie spürte, dass es ehrlich gemeint war. Mehr noch: Es mochte aussehen, als wäre Faye auf seine Hilfe angewiesen, aber in Wahrheit war es genau andersherum.

Wortlos ging sie weiter, wich geflissentlich Abberlines Blicken aus und ließ sich neben Isis auf die Knie fallen. Ihre Augen standen immer noch offen, und da war immer noch dieser Ausdruck maßlosen Erstaunens darin, als könne sie einfach nicht begreifen, wie simpel, wie grotesk einfach und beinahe schon lächerlich das Ende sein sollte. Nach allem, was sie überstanden und erlitten hatte, nach Jahrtausenden des Kampfes und unzähligen Siegen über vermeintlich unbesiegbare Feinde war es schließlich eine verbitterte alte Frau gewesen, die sie am Ende besiegt hatte.

Bast schob die Arme unter ihren Körper und hob sie auf. Isis war genau so groß wie sie, aber es kam ihr vor, als wöge sie fast nichts.

Langsam drehte sich Bast herum und ging zu der leer stehenden verwüsteten Zelle zurück, ihre tote Schwester auf den Armen. Sie wartete auf die Tränen, die jetzt ihre Augen füllen sollten.

Aber sie kamen nicht.

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