Es war nach zehn, als sie in die Pension Westminster zurückkehrte, deutlich später, als sie ursprünglich geplant hatte, aber unendlich viel früher, als ihr Gefühl ihr weismachen wollte. Alles in allem hatte ihre unfreiwillige Odyssee durch den Londoner Untergrund kaum länger als zwei Stunden gedauert, auch wenn es ihr wie ein Mehrfaches dieser Zeit vorgekommen war, aber sie hatte fast eine Stunde gebraucht, um einen Wagen zu finden, dessen Fahrer bereit gewesen war, sie in ihrem desolaten Zustand einsteigen zu lassen.
Auf den Gedanken, einfach die erstbeste Droschke anzuhalten und den Fahrer zu zwingen, sie mitzunehmen, war sie gar nicht gekommen, durcheinander und bis ins Mark erschüttert, wie sie war. Vielleicht hatte sich etwas in ihr auch einfach gegen die bloße Vorstellung gesträubt, nach dem, was mit Arthur passiert war. Sie hatte - nachdem es ihr endlich gelungen war, einen Mietkutscher zu finden, dessen bisheriger Tag schlecht genug gewesen war, um selbst einen unheimlichen Fahrgast aufzunehmen, der aussah wie der sprichwörtliche Schwarze Mann, verkohlte Kleider trug und roch, als hätte er ausgiebig in einer siedenden Kloake gebadet - dem Fahrer sogar Anweisung gegeben, es ruhig langsam angehen zu lassen. Mrs Walsh würde vermutlich schon auf sie warten und sich möglicherweise Sorgen machen - sollte Maistowe inzwischen zurück sein, sogar ganz bestimmt -, und so absurd es ihr auch selbst vorkam, machte ihr bei dieser Vorstellung ihr schlechtes Gewissen zu schaffen. Aber sie brauchte einfach ein wenig Zeit für sich, um zur Ruhe zu kommen und über das eine oder andere nachzudenken.
Nicht, dass es tatsächlich noch etwas zu überlegen gegeben hätte. Sie musste hier weg - aus dieser Stadt, diesem Land und diesem ganzen Teil der Welt, und das so schnell, wie es nur ging. Horus hatte recht gehabt: Sie hätte gar nicht erst hierherkommen sollen. Indem sie es trotzdem getan hatte, hatte sie nicht nur nichts erreicht, sondern nur unermesslichen Schaden angerichtet. Einen kurzen Moment lang hatte sie sogar ernsthaft mit dem Gedanken gespielt, dem Fahrer Anweisung zu geben, sie statt in Mrs Walshs Pension zum Hafen oder dem nächsten Bahnhof zu bringen und London noch in dieser Stunde zu verlassen - aber natürlich war das eine kindische Idee, die sie fast augenblicklich wieder verworfen hatte. Einmal ganz davon abgesehen, dass sich nicht nur ihr Gepäck mit ihren Kleidern, ihrer gesamten Barschaft und einigen anderen, wirklich unersetzlichen Dingen in ihrem Zimmer befand, gab es noch ein paar andere - größtenteils selbst gemachte - Probleme, die sie lösen musste, bevor sie wieder dorthin zurückkehren konnte, wohin sie gehörte. Da waren nicht nur Jacobs Erinnerungen, die dringend einer gewissen Korrektur bedurften, sondern auch Cindy und vor allem Abberline, aus dessen Verhalten sie immer noch nicht wirklich schlau wurde.
Bast hatte fest damit gerechnet, dass der Inspektor sie auf der Stelle verhaften und zurück zum Yard schleifen - oder es wenigstens versuchen - würde, und sie verstand bis zu diesem Moment nicht wirklich, warum er es nicht getan hatte. Vielleicht ahnte er ja, was sie vorhatte, und dies war seine Art, sie gehen zu lassen, ohne vollends das Gesicht zu verlieren. Bast sollte es recht sein. Sie brauchte ein Bad, frische Kleider und ein Schiff, das sie so weit von hier wegbrachte, wie es nur ging.
Sobald gewisse Dinge erledigt waren.
Sie bezahlte den Fahrer nebst einem Trinkgeld, das ausreichte, damit er sich auch in einer Woche noch ganz bestimmt an sie erinnerte, schüttelte den Kopf über ihre eigene Gedankenlosigkeit und machte diesen Fehler wieder wett, indem sie seine Erinnerungen an die zurückliegende Stunde auslöschte, bevor sie aus der Kutsche stieg. Sollte er sich doch am nächsten Morgen wundern, woher der Gestank in seinem Wagen kam ... und über die fünf Pfund in seiner Geldbörse.
Mrs Walsh öffnete ihr die Tür, noch bevor Bast die Hand nach der Klinke ausstrecken konnte. Vermutlich hatte sie die Droschke gehört und war ans Fenster getreten, um nachzusehen, und der Ausdruck auf ihrem normalerweise so gütigen Gesicht verhieß nichts Gutes. Sie fuhr Bast an, noch bevor sie auch nur den Mund auftun konnte. »Meine Liebe, ich bin es ganz und gar nicht gewohnt, dass meine Gäste um diese Zeit ...« Sie verstummte mitten im Satz, riss die Augen auf und prallte dann regelrecht entsetzt einen Schritt zurück. »Großer Gott! Wie sehen Sie denn aus?«
»Das ist eine lange Geschichte, Mrs Walsh«, antwortete Bast müde. »Ich weiß, es ist spät, und ich sehe vermutlich nicht besonders gut aus, aber dürfte ich trotzdem eintreten?«
Einen Moment lang war sie nicht einmal davon überzeugt, dann kam ihr die Situation nachgerade lächerlich vor. Möglicherweise brannte hinter ihnen gerade die halbe Stadt ab, und irgendwo wurden noch immer Pläne geschmiedet, nichts weniger als diese ganze Zivilisation zu Fall zu bringen ... und Mrs Walsh sorgte sich um ihren Teppich? Das war so grotesk, dass sie um ein Haar laut aufgelacht hätte.
»Sie riechen auch etwas streng, meine Liebe«, antwortete Mrs Walsh, mit einiger Verspätung und sichtlich um einen wenigstens halbwegs sachlichen Ton bemüht. Sie versuchte zu lächeln, aber es blieb bei dem Versuch.
»Ja, ich fürchte, damit haben Sie recht.« Bast nutzte die Gelegenheit, an der vollkommen erstarrten Mrs Walsh vorbei vollends ins Haus zu treten und demonstrativ die Tür hinter sich zu schließen. »Ich nehme an, Kapitän Maistowe ist noch nicht zurück?« Sie beantwortete ihre eigene Frage mit einem Kopfschütteln. »Inspektor Abberline hat versprochen, später noch einmal vorbeizuschauen. Ich denke, ich sollte die Zeit nutzen, um mich ein wenig ... herzurichten.«
Mrs Walsh überwand ihren Schock nur mühsam. »Ja, das scheint mir auch angemessen«, sagte sie lahm, räusperte sich unecht und zauberte dann wieder einen strafenden Ausdruck auf ihr Gesicht. »Und ich werde wohl auch eine Bürste und einen Eimer heißes Wasser bereitstellen.« Sie maß Bast mit einem missbilligenden Blick und verbesserte sich. »Zwei.«
»Es tut mir sehr leid, dass ich Ihnen solche Umstände bereite, Mrs Walsh«, seufzte Bast. »Ich gehe sofort nach oben und ziehe mich um, und dann ...«
»Sie werden ganz bestimmt nicht in diesem Zustand durch das ganze Haus laufen und es endgültig verpesten«, fiel ihr Mrs Walsh ins Wort. Offensichtlich hatte sie ihren Schrecken mittlerweile endgültig überwunden. »Ich gehe in Ihr Zimmer hinauf und hole Ihnen saubere Kleider, und Sie können mein Bad benutzen. Dort gibt es eine Badewanne, die Sie dringend nötig haben, wie mir scheint. Aber es wird eine Weile dauern, bis das Wasser heiß ist. Ich setze es gleich auf, aber ich möchte Sie bitten, in der Küche zu warten.«
»Kaltes Wasser reicht vollkommen«, antwortete Bast rasch. »Hauptsache, es ist sauber.«
Mrs Walsh war offensichtlich derselben Meinung, denn sie beließ es bei einem abermaligen, missbilligenden Stirnrunzeln, fuhr auf dem Absatz herum und rauschte wie eine Walküre die Treppe hinauf. Bast sah ihr widerwillig amüsiert nach. Mrs Walshs Empörung war ebenso echt wie absurd, aber der Anblick übte eine sonderbare und gänzlich unerwartete Wirkung auf sie aus. Sie hätte erwartet, dass er sie amüsierte oder ärgerte - wahrscheinlich beides -, aber er stimmte sie eher bekümmert. Ganz plötzlich wurde ihr klar, dass es tatsächlich keine Rolle spielte, ob die Stadt rings um sie herum in Schutt und Asche versank, oder auch gleich die ganze Welt. Nicht für Mrs Walsh. Alles, was zählte, war ihre eigene, private Welt, die sich innerhalb dieser vier Wände befand. Der Rest Londons und der ganzen Welt interessierte sie allenfalls, wenn er ihr kleines, privates Universum und ihre beschränkte Wertewelt bedrohte.
Vielleicht hatte Horus recht gehabt, dachte sie traurig. Vielleicht verdiente es diese Kultur, denselben Weg zu gehen wie Theben, Rom und Byzanz und so viele andere.
Sie schüttelte auch diesen Gedanken ab und lauschte einen Moment mit geschlossenen Augen. Abgesehen von den Geräuschen, die Mrs Walsh selbst verursachte, war es vollkommen still im Haus. Offenbar war sie immer noch der einzige Gast, und auch das Mädchen schlief. Basts schlechtes Gewissen regte sich bei dem Gedanken an Cindy, aber sie ließ dieses Gefühl nicht an sich heran - nicht jetzt -, sondern machte sich auf den Weg zur Küche. Während sie sie durchquerte und die Hintertür ansteuerte, schlüpfte sie aus ihrem Mantel und hätte ihn um ein Haar achtlos fallen lassen, wäre ihr nicht im letzten Moment eingefallen, was Mrs Walsh zu einer solch frevlerischen Tat sagen würde. Ein unwillkürliches Lächeln huschte über ihre Lippen, als sie die Tür aufstieß und auf den winzigen, an drei Seiten von Mauern umschlossenen Innenhof hinaustrat. Es war unerwartet kalt, als wären die Temperaturen in den wenigen Augenblicken, in denen sie im Haus gewesen war, ins Bodenlose gestürzt, und so dunkel, dass selbst ihre empfindlichen Augen kaum mehr als Schemen wahrnahmen. Der Himmel war wolkenlos und erstaunlich klar, aber die sechs Fuß hohen Mauern, die den schmalen Hof von den benachbarten Grundstücken trennten, verschluckten nahezu jede Helligkeit, und hinter keinem einzigen Fenster brannte Licht. Die Leute in dieser Gegend gingen anscheinend beizeiten zu Bett - oder sie zündeten absichtlich kein Licht an, um Petroleum oder Kerzen zu sparen. Möglicherweise stand ja hinter irgendeinem dieser Fenster jemand und beobachtete sie in genau diesem Augenblick, aber Bast machte sich nicht einmal die Mühe, sich davon zu überzeugen. Es war ihr gleich.
Sie ließ ihren Mantel fallen, stieß den verbrannten Fetzen mit dem Fuß beiseite und begann sich aus ihrem Kleid zu schälen, während sie sich langsam auf den altmodischen Ziehbrunnen zubewegte, der in der Mitte des Hofes stand. Der verbrannte Stoff löste sich unter ihren Fingern auf, und etwas klirrte, als sie das Kleid abstreifte und mit nichts anderem als dem goldenen Skarabäus an ihrem Hals weiterging.
Bast zögerte, ließ sich in die Hocke sinken, grub mit den Fingern in dem verkohlten Stoff und runzelte überrascht die Stirn, als sie plötzlich den zersplitterten Stumpf ihres Schwertes in der Hand hielt.
Seltsam - sie konnte sich überhaupt nicht erinnern, die zerbrochene Waffe eingesteckt zu haben, aber etwas in ihr musste diese Waffe wohl als wichtig erachtet haben ... auch wenn sie nicht wusste, was.
Natürlich war selbst dieser abgebrochene Stumpf noch unendlich wertvoll. Der Griff bestand aus massivem, fein ziseliertem Gold und war mit kostbaren Edelsteinen besetzte. In jedem Museum dieses Landes oder einem der großen Versteigerungshäuser Londons hätte sie ein kleines Vermögen für dieses zerbrochene Schwert bekommen. Aber weltlicher Besitz hatte sie noch nie interessiert.
Dennoch war der Verlust dieser Waffe schrecklich und inakzeptabel. Das Schwert war mehr als zweitausend Jahre alt und stammte aus einer Zeit, als sich der Rest der Welt noch mit Bronzeschwertern oder Knüppeln geschlagen hatte. Jetzt war es nicht mehr als ein nutzloses Stück Tand.
Sie überlegte einen Moment, es allein aus Gründen der Sentimentalität aufzubewahren, stand aber dann stattdessen mit einem Ruck auf und stieß es mit einem demonstrativen Tritt von sich. Sie würde es verschwinden lassen müssen, bevor Mrs Walsh oder Maistowe es fanden und sich wunderten, woher diese wertvolle Antiquität kam. Sie trat an den Brunnenrand, kurbelte den Eimer hoch und schauderte leicht, als sie spürte, wie eisig das Wasser war. Dennoch schöpfte sie sich tapfer drei, vier zusammengelegte Hände voll ins Gesicht und biss die Zähne zusammen, als sich all die zahllosen kleinen Verbrennungen, Kratzer, Schrammen und diversen anderen Blessuren, die sie von ihrem unterirdischen Abenteuer mitgebracht hatte, schmerzhaft wieder in Erinnerung brachten. Nichts von alledem war schlimm genug, um sich wirklich Sorgen zu machen - im Nachhinein kam ihr zu Bewusstsein, dass es ohnehin einem mittelgroßen Wunder gleichkam, dass weder sie noch Abberline wirklich schwer verletzt worden waren -, und die meisten Verletzungen verheilten bereits und würden spätestens morgen früh verschwunden sein. Aber so fantastisch und zäh ihr außergewöhnlicher Metabolismus auch sein mochte, sie bekam nichts geschenkt. Jede einzelne dieser winzigen Verletzungen kostete sie Kraft. Das Wenige, was sie gestern von Roy gestohlen hatte, würde nicht mehr lange vorhalten, und sie ertappte sich bei der bösen Überlegung, welche Verschwendung es doch gewesen war, Jones etwas von diesem wertvollen Vorrat abzugeben.
Sie schämte sich dieses Gedankens, der viel mehr zu Horus oder Sobek gepasst hätte als zu dem Bild, das sie selbst von sich hatte, und plötzlich überkam sie ein jähes Gefühl von Trauer.
Sobek war tot.
Jemand, den sie seit fünftausend Jahren gekannt hatte, auch wenn sie nie wirklich Freunde gewesen waren und er selbst mehr als einmal bereit gewesen war, sie zu töten.
Und nun war er tot. In den Flammen verbrannt.
Der Gedanke hatte etwas so Bizarres, dass es ihr immer noch schwerfiel, ihn als real zu akzeptieren. In Mrs Walshs und Abberlines Lebenszeit gemessen, hatte sie Sobek mehr als zweihundert Generationen lang gekannt. Jemand, der so lange gelebt hatte, konnte einfach nicht sterben. Das war ... absurd.
Und Horus?
Sie hatte noch die schemenhafte Gestalt vor Augen, die mit Flügeln aus Rauch und Dunkelheit gegen den Feuersturm angekämpft hatte, das flüchtige Bild eines Schattens, der aus dem unterirdischen Kerker in die Luft stieg. Aber vielleicht war das nur eine Illusion gewesen, ein Wunschbild, auch wenn sie sich selbst nicht eingestehen wollte, dass sie einen solchen Wunsch hegte. Nein. Ein solches Inferno konnte niemand überleben.
Plötzlich wurde Bast klar, wie viel er ihr bedeutet hatte. Nicht wegen all der unzähligen Jahre, die sie miteinander verbracht hatten, oder gar der - lächerlich wenigen - Male, die sie miteinander ' geschlafen hatten. Nicht einmal, weil sie ihn so lange gekannt hatte, sondern einfach, weil er da gewesen war, und weil sie nur noch so wenige waren. Er war einer von ihnen gewesen, und sein Verlust war inakzeptabel und entsetzlich. Tot.
Die Trauer drohte über ihr zusammenzuschlagen wie eine riesige schwarze Wolke, sie einzuhüllen wie ein schwerer Mantel, der mit seinem dicken, klammen Stoff jeden Laut zum Verstummen brachte, jedes Gefühl erstickte und sie von allem anderen isolierte, was sie umgab, dieser Stadt mit ihrem wimmelnden Wirrwarr von Menschen, die strebten und hofften und vergeblich versuchten, Sinn und Ordnung in das kurze Leben zu bringen, in das sie hineingeboren wurden, und das so oft vor der Zeit beendet wurde, sei es durch Krankheit, Hunger oder die Hand eines Mörders.
In dieser Welt war sie so einsam, wie sie immer gewesen war.
Und dennoch ...
Ein heller, sonderbar wehklagender Schrei zerriss die tiefe Stille, die sich in den winzigen Innenhof gesenkt hatte, und als Bast den Kopf hob, glaubte sie einen schwarzen pfeilflügeligen Schatten zu erkennen, der verloren in der unendlichen Weite des Nachthimmels schwamm und vergebens nach seinem Herrn schrie.
Sie schloss die Augen und atmete gezwungen tief und langsam ein und als sie wieder hinsah, war der Falke verschwunden, und sein wehklagendes Rufen verstummt. Beides war niemals real gewesen; nur ein weiteres Gespenst, mit dem sie die Dämonen ihrer Vergangenheit von nun an plagen würden. Eines von vielen. Viel zu vielen.
Und plötzlich brachen die Tränen ungehemmt aus ihr heraus; lautlos, aber in Strömen, die heiß und brennend wie Säure über ihr Gesicht rannen. Sie gab keinen Laut von sich, denn der Schmerz schnürte ihr einfach die Kehle zu, aber ihre Schultern bebten in einem lautlosen Schluchzen. Einen Moment lang starrte sie ihr eigenes Spiegelbild in dem halb geleerten Eimer auf dem Brunnenrand an, bevor sie es mit einem plötzlichen Fausthieb zerschmetterte, der das Wasser aufspritzen und die Haut über ihren kaum verheilten Knöcheln erneut aufplatzen ließ.
Der Schmerz war unerwartet schlimm, aber er riss sie auch in die Wirklichkeit zurück. Bast blickte auf ihr eigenes, in tausend sichelförmige Splitter zerborstenes Spiegelbild, dann brachte sie den Blutstrom aus ihren aufgerissenen Knöcheln mit einer bewussten Anstrengung zum Versiegen, tauchte beide Hände ins Wasser und schöpfte sich noch einmal eisige Kälte ins Gesicht.
Als sie die Hände wieder herunternahm, spürte sie, dass sie nicht mehr allein war.
»Kommen Sie ruhig näher, Kapitän«, sagte sie. »Es macht mir nichts aus.«
Maistowe, selbst für ihre Augen kaum mehr als ein Schatten vor einem noch dunkleren Hintergrund, rührte sich im ersten Moment überhaupt nicht, aber sie konnte spüren, wie ihm die Röte ins Gesicht schoss - dabei war es vollkommen unmöglich, dass er mehr sah als einen Umriss.
»Es muss Ihnen nicht peinlich sein«, fügte sie hinzu, aber sie spürte auch selbst, dass sie es damit nur noch schlimmer machte. Natürlich sah er nur einen Schatten, aber selbst er musste erkennen, dass sie unbekleidet war, und Maistowe wäre kein Mann gewesen, hätte er nicht entsprechend darauf reagiert. Sein Verstand, sein Charakter und seine Erziehung mochten ihm noch so sehr klarmachen, dass es nicht richtig war - ein anderer, viel älterer und stärkerer Teil von ihm begehrte sie. Er hatte sie von Anfang an begehrt, und daran hatte sich in all der Zeit nichts geändert. Und wie auch? Er war ein Mann, ein Sterblicher, und wie sie und ihre Art sich von ihm und seiner Art unterschied, das war nicht nur ihre höhere Lebenserwartung und ihre scharfen Sinne. Auch wenn es letzten Endes vielleicht nicht so war - für ihn und jeden anderen Mann auf der Welt war sie eine Göttin, und welcher Mann hätte sich der Verlockung einer solchen entziehen können? Manchmal - und in letzter Zeit immer häufiger - vergaß sie das.
Sie lauschte behutsam in ihn hinein und stellte nun doch etwas Erstaunliches fest: Der Anblick war ihm peinlich, so sehr, dass er immer noch wie gelähmt dastand und am liebsten im Boden versunken wäre - aber den meisten anderen Männern an seiner Stelle wäre es nur unangenehm gewesen, dass sie es bemerkt hatte. Er verzieh es sich nicht, es überhaupt getan zu haben.
»Ich ... ähm ... es tut mir leid«, stammelte er schließlich. »Gloria hat mir gesagt, dass Sie hier draußen sind, aber ich wusste nicht, dass ...« Er bewegte sich unbeholfen auf der Stelle, und Bast kam endlich zu dem Schluss, ihn genug gequält zu haben, bückte sich nach ihrem zerrissenen Kleid und schlüpfte in das, was noch davon übrig war. Es war eher eine symbolische Tat - das Kleid bestand buchstäblich nur noch aus Fetzen und enthüllte fast mehr, als es verbarg. Aber sie stand nun nicht mehr nackt vor ihm, und sie spürte, dass ihm das wichtig war. Maistowe atmete erleichtert auf. Nach einem weiteren Augenblick kam er näher, wobei er sich geradezu rührend bemühte, nur ihr Gesicht anzusehen.
»Ich ... also ... wie gesagt - Gloria hat mir gesagt, Sie wären hier draußen, und sie meinte, dass irgendetwas nicht in Ordnung ist«, stammelte er. »Und ich dachte ...« Er blinzelte. »Haben Sie ... geweint?«
»Nein«, antwortete Bast überrascht. Wie konnte er das wissen? Sie hatte nicht den mindesten Laut von sich gegeben, und die Nässe auf ihrem Gesicht war simples, wenn auch eiskaltes Wasser. Aber er wusste es. Bast hob die Schultern und rettete sich in ein verlegenes Lächeln.
»Ja«, gestand sie. »Eine ... alte Erinnerung, die mich plötzlich überkommen hat. Es ist schon vorbei.«
Maistowes Blick machte klar, wie unglaubwürdig diese Behauptung klang, aber er ging nicht weiter darauf ein. Sein Blick hing weiter wie gebannt an ihrem Gesicht, und er wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit seinen Händen, aber zumindest seine Stimme klang wieder gefasst. Einigermaßen. »Was ist passiert? Abberline hatte Sie mitgehen lassen. Haben Sie den Konstabler gefunden?«
»Nein«, antwortete Bast. Sie war einfach zu müde für irgendeine Ausflucht. »Aber ich fürchte, wir haben den zweiten auch verloren. Es sind ein paar ... sehr schlimme Dinge passiert, fürchte ich.«
Maistowe verstand offensichtlich kein Wort, aber er sah sehr erschrocken aus, und genau genommen war das auch genau das, was sie hatte erreichen wollen. Sie sorgte - sehr behutsam - dafür, dass er auch keine weitere Frage mehr stellen würde und wollte ihn unter einem Vorwand wegschicken, als Mrs Walsh aus dem Haus kam und ihr die Mühe abnahm, auf ihre ganz eigene Art.
»Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich Ihnen beinahe unehrenhafte Absichten unterstellen, Jacob«, sagte sie. »Was tun Sie hier draußen?«
»Sie haben mir gesagt, dass Bast hier draußen ist!«, verteidigte sich Maistowe.
»Dass sie hier ist, ja«, antwortete Mrs Walsh »Nicht, dass Sie hinausgehen und sie anstarren sollen. Und jetzt gehen Sie ins Haus und setzen Sie einen Kessel Wasser auf. Ich mache uns Tee, und danach können wir reden wie zivilisierte Menschen.«
Bast hatte Mühe, ein Lächeln zu unterdrücken. Maistowe warf ihr noch einen letzten, fast hilfesuchenden Blick zu, dann fuhr er auf dem Absatz herum und floh regelrecht ins Haus zurück.
Mrs Walsh blickte ihm kopfschüttelnd nach. Sie sah einfach verärgert aus, aber Bast war nicht sicher, dass dieser Ärger tatsächlich Maistowe galt.
»Jetzt haben sie ihm unrecht getan, fürchte ich«, sagte Bast. »Ich versichere Ihnen, dass sich Kapitän Maistowe in jeder Sekunde wie ein perfekter Gentleman benommen hat.«
»Daran zweifle ich nicht«, antwortete Mrs Walsh. Sie reichte ihr ein zusammengefaltetes Kleid, das aus Basts Gepäck stammte, und zwei ordentlich zusammengefaltete saubere Handtücher, die intensiv nach Kernseife rochen. »Aber ich beginne mich allmählich zu fragen, ob Sie tatsächlich die Lady sind, für die ich Sie gehalten habe.«
Bast zog überrascht die Augenbrauen hoch. Sie schwieg. Sie rührte auch keinen Finger, um das Kleid und die Handtücher entgegenzunehmen, sodass Mrs Walsh schließlich an ihr vorbeiging und sie auf dem Brunnenrand ablegte.
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, worauf Sie hinauswollen. Mrs Walsh«, sagte sie schließlich. »Vielleicht hat es ja ein ... Missverständnis zwischen uns gegeben?«
»Ja, das scheint mir auch so«, antwortete Mrs Walsh. Bast spürte, wie schwer es ihr fiel, die Contenance zu bewahren. »Ich habe Ihnen gesagt, dass Jacob Maistowe ein guter Freund ist, nicht mehr und nicht weniger, und dass zwischen uns niemals etwas ...«, Bast spürte, wie schwer es ihr fiel, über dieses Thema zu reden, »... etwas Körperliches war, und das wird auch niemals so sein. Ich weiß selbstverständlich, dass Jacob ein normaler gesunder Mann mit ganz normalen Bedürfnissen ist, und ich bin weder weltfremd noch eifersüchtig. Aber das heißt nicht, dass ich tatenlos zusehen werde, wie Sie mit ihm spielen, mein Kind. Ich werde nicht zulassen, dass jemand ihm wehtut.«
»Das habe ich auch nicht vor, Mrs Walsh«, antwortete Bast ernst. Sie war überrascht. Dieser plötzliche Angriff kam nicht nur unerwartet, sondern auch aus einer gänzlich unerwarteten Richtung.
»Reden Sie keinen Unsinn«, sagte Mrs Walsh scharf. »Ich bin nicht blind. Mir ist nicht entgangen, wie Jacob Sie ansieht. Und damit meine ich nicht das hier.«
»Oh, das.« Bast lächelte sanft. »Glauben Sie mir, Mrs Walsh, das bedeutet nichts. Alle Männer sehen mich so an. Das bin ich gewohnt. Seit sehr langer Zeit.«
»Ja, Sie vielleicht«, erwiderte Mrs Walsh kühl. »Aber ich nicht, und Jacob ist es auch nicht. Und das sollte auch nicht so sein.«
»Worauf genau wollen Sie hinaus?«, fragte Bast.
Mrs Walsh antwortete nicht gleich, sondern maß sie mit einem sehr langen, taxierenden Blick von Kopf bis Fuß, der ihr unendlich viel peinlicher war als die Art, auf die Maistowe sie gerade gemustert hatte. »Das Mädchen«, sagte sie schließlich und, wie es schien, vollkommen unvermittelt. »Sie haben sich bisher kaum um es gekümmert. Ich weiß, Sie hatten vermutlich wichtigere Dinge zu tun, und das arme Ding tut mir auch aufrichtig leid, aber Tatsache ist, dass es hier nicht bleiben kann. So etwas kann ich in meinem Haus nicht dulden.«
»Ich verstehe«, antwortete Bast. »Sie möchten, dass sie geht. Sie möchten, dass auch ich gehe.«
Mrs Walsh zierte sich noch einen Moment, aber dann nickte sie, auch wenn sie ihrem Blick dabei auswich. »Ja«, stieß sie hervor. »Wenn ich ehrlich sein soll, wäre es mir das Liebste. Natürlich nicht sofort. Sie können gerne noch bis morgen bleiben, und ich werde Ihnen auch behilflich sein, für sich und das Mädchen eine andere Unterkunft zu finden, aber ... ja, ich möchte, dass Sie gehen. Sie bringen ... Unruhe in mein Leben.«
Jetzt war es heraus, und Bast konnte ihr nicht einmal wirklich böse sein. Mrs Walsh hatte vollkommen recht - von ihrem Standpunkt aus. Sie war wie ein Wirbelsturm über ihr bisher so geordnetes Leben hereingebrochen. Sie hatte Gewalt in ihr Haus gebracht, und die Tür zu einer Welt, vor der sie bisher ganz bewusst die Augen verschlossen hatte, weit aufgerissen. Das Mädchen zu befreien war vielleicht löblich gewesen, aber zugleich auch ziemlich dumm, und es war vor allem ihr Problem, ein Problem, das sie einfach hier abgeladen hatte, ohne auch nur darüber nachzudenken, ob es ihr recht war oder nicht.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Sie haben recht, und ich kann mich nur bei Ihnen entschuldigen. Ich habe nicht nachgedacht. Cindy und ich werden Ihr Haus noch heute verlassen.«
»Reden Sie keinen Unsinn, Kindchen!«, antwortete Mrs Walsh. »Sie bleiben selbstverständlich bis morgen. Kennen Sie mich wirklich so schlecht, dass Sie glauben, ich würde Sie bei Nacht und Nebel aus dem Haus jagen?«
»Natürlich nicht, aber ...«
»Nichts aber«, unterbrach sie Mrs Walsh, »jetzt waschen Sie sich, ziehen sich ein Kleid an, das diesen Namen auch verdient, und dann kümmern Sie sich um dieses arme Kind, bevor es sich noch die Augen aus dem Kopf weint. Und danach trinken wir eine Tasse Tee zusammen, und Sie erklären uns, wie ...«, sie machte eine Kopfbewegung auf ihr mitgenommenes Kleid, »... das da passiert ist. Ich muss nämlich gestehen, dass auch ich nicht frei von Fehlern bin. Ich bin neugierig.«
Cindy schlief, als sie in ihr Zimmer zurückkehrte. Aber es war kein natürlicher Schlaf. Als Bast sie gestern ins Bett geschickt hatte, hatte sie dafür gesorgt, dass die Angst des Mädchens nicht übermächtig wurde - oder es sogar auf die Idee kam, davonzulaufen -, aber sie hatte es sehr behutsam getan, und sie hatte nicht damit gerechnet, auch nur annähernd so lange fortzubleiben, wie sie es tatsächlich getan hatte. Cindy hätte längst aufwachen müssen, und wenn sie Mrs Walshs Worte von gerade richtig gedeutet hatte, dann war sie das zwischenzeitlich auch. Jetzt schlief sie wieder, und ihre regelmäßigen Atemzüge verrieten Bast, dass es ein sehr tiefer Schlaf war.
Leise trat sie an das frisch bezogene Bett heran - der Anblick entlockte ihr ein flüchtiges Lächeln. Das Bett war nicht nur frisch bezogen und roch genau so intensiv nach Kernseife wie die Handtücher, die Mrs Walsh ihr gebracht hatte. Mrs Walsh hatte die Decke sogar über dem schlafenden Mädchen glatt gestrichen, ihre Hände über dem Laken gefaltet und sogar ihr Haar gebürstet, sodass sie aussah wie ein unschuldiger kleiner Engel - aber dann beugte sie sich vor, und ein schwacher, aber unverkennbarer Geruch stieg ihr in die Nase. Laudanum. Eine ziemliche Menge Laudanum. Mrs Walsh hatte auf ihre eigene Art dafür gesorgt, dass Cindy ruhig blieb.
Bast wurde zornig, aber nur für einen ganz kurzen Moment. Welches Recht hatte sie, über Gloria Walsh zu urteilen? Sie hatte - wenn auch vielleicht auf andere und schädlichere Art - schließlich nichts anderes getan als das, was sie selbst unzählige Male - und seit Jahrtausenden - tat. Und wahrscheinlich war es unter den Umständen sogar das Beste gewesen.
Bast zögerte noch einen Moment, aber dann beugte sie sich weiter vor, legte dem Mädchen die Hand auf die Stirn und weckte sie auf.
Cindys Augenlieder flatterten. Bast spürte den inneren Kampf, der sich für einen Moment hinter ihrer Stirn abspielte, als wehre sich irgendetwas in ihr mit verzweifelter Kraft dagegen, wieder in die Welt diesseits der Träume zurückzukehren, und für einen noch kürzeren Moment hatte sie das Gefühl, von einer schwarzen Brandung überrollt zu werden, als die Erinnerung an all die Widerwärtigkeiten und Demütigungen über sie hinwegrollten, die dieses gequälte Kind in Maudes käuflicher Hölle hatte ertragen müssen.
Es kam so überraschend, dass sie erschrocken zurückprallte und wohl auch ihre Physiognomie nicht so gut unter Kontrolle hatte, wie sie es gewohnt war, denn Cindys Augen standen weit offen, und Bast las ihrerseits einen Ausdruck tiefen Schreckens in diesem Blick.
»Entschuldige«, sagte sie unbeholfen. »Ich wollte ... dich nicht erschrecken.«
»Hast du nicht«, antwortete Cindy. Sie hatte eine sehr helle, klare Stimme, ganz eindeutig die Stimme eines Kindes, so wie alles an ihr noch sehr viel kindlicher war, als man es ihrem Alter entsprechend erwarten konnte; zumindest jetzt, wo Mrs Walsh sie all der hässlichen Schminke, der falschen Farbe ihres Haares und der niedlichen Kleider entledigt hatte. Aber das war letzten Endes nur ein böser Streich gewesen, den Maude ihr gespielt hatte. Frauen wie Maude wussten, dass es Männer gab, die genau so etwas erregte.
»Ich bin ...«, begann sie.
»Ich weiß, wer du bist«, fiel ihr Cindy ins Wort. Nicht nur ihre Stimme war so kristallklar, dass es schon fast ein bisschen unheimlich war, etwas, das eine Spur zu rein und perfekt erschien, um wirklich real zu sein, Bast spürte auch, dass sie vollkommen und absolut wach war. Da war nicht einmal eine Spur von Benommenheit. »Warum hast du mich mitgenommen?«
»Mitgenommen?«
»Ich will zurück zu Maude«, sagte Cindy sehr ernst. »Ich will nach Hause.«
»Nach Hause?« Bast versuchte, in Cindy hineinzulauschen, aber sie schrak vor dem zurück, was sie in ihrem Inneren spürte. Da waren ein dunkler Strudel der Verderbtheit, die sie erschauern ließen. Im allerersten Augenblick schrak sie tatsächlich vor Cindy selbst zurück, aber sie begriff im gleichen Moment, wie unrecht sie dem Mädchen tat. Es war nichts an oder in Cindy, das sie so erschreckte. Es war das, was ihr angetan worden war. Der Schmutz, den sie spürte, war der, mit dem Cindy besudelt worden war.
»Das war nicht dein Zuhause«, sagte sie, als Cindy nicht antwortete, sondern sie nur weiter aus ihren durchdringenden, hellblauen Augen anstarrte. Sie spürte einen Zorn dahinter, den sie sich nicht erklären konnte. Vielleicht war in diesem Moment ein wenig Härte angesagt. »Ich kann mich irren, aber ich glaube, Maude hat dich gekauft. Und wenn ich richtig informiert bin, warst du nicht einmal besonders teuer.«
Es funktionierte nicht, das begriff sie, noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte. Sie wusste nichts über das Mädchen, nicht einmal ihren richtigen Namen - niemand hieß Cindy! -, aber sie spürte die Härte, die sich hinter diesem so zerbrechlich erscheinenden Kindergesicht verbarg, und sie war plötzlich nicht mehr sicher, dass diese Härte nur aus den wenigen Wochen resultierte, die sie in Maudes Obhut verbracht hatte.
»Und?«, fragte Cindy. »Wer sagt dir, dass mich das stört?«
Bast blickte ebenso fragend wie schockiert, und Cindy stemmte sich auf die Ellbogen hoch, sodass das bisher faltenlose weiße Laken herunterrutschte und Bast sah, dass sie darunter nackt war. Anscheinend war Mrs Walsh der Meinung gewesen, dass keine Kleidung noch immer besser war als das, was sie bei ihrer Ankunft getragen hatte. Mrs Walsh hatte sie offensichtlich auch gewaschen, aber irgendwie den gegenteiligen Effekt erzielt: Ohne Rouge und Puder und eingetrockneten Schweiß traten die blauen Flecken und kaum verschorften Kratzer nur noch deutlicher hervor. Das Mädchen sah kaum weniger schlimm aus als sie selbst; nur, dass seine Verletzungen nicht innerhalb weniger Stunden heilen würden. Vielleicht, dachte Bast kalt, war sie zu gnädig gewesen. Sie hätte Maude töten sollen.
Cindy deutete ihren Blick falsch. »Gefällt dir, was du siehst?«, fragte sie.
Bast zog die Decke mit einem Ruck vollends herunter und sah noch einmal und sehr ausführlich hin. »Nein«, sagte sie dann.
»Magst du keine Frauen?«
»Manchmal schon«, erwiderte Bast. »Aber du bist keine Frau. Noch nicht.« Sie fragte sich, warum sie sich auf dieses alberne Spiel einließ. Sie machte eine entsprechende Kopfbewegung. »Woher hast du die Narbe am Oberschenkel? Maude?«
»Keine Ahnung«, antwortete Cindy trotzig. »Ich erinnere mich nicht mehr.«
Das war gelogen, aber Bast wusste auch, dass die halbmondförmige, hässliche Brandnarbe an Cindys Oberschenkel ganz bestimmt nicht von Maude stammte. Was immer sie über diese schmutzige alte Frau auch denken mochte, sie war gewiss nicht dumm. Kein Kaufmann beschädigte absichtlich seine Ware.
»Also, verdammt, was willst du von mir?«, fuhr Cindy fort, als Bast nichts sagte, sondern sie nur weiter unverhohlen anstarrte. »Wann kann ich wieder nach Hause?« Sie setzte sich vollends auf, zog die Knie an den Leih und die Decke mit einer trotzigen Bewegung bis zum Kinn hoch.
»Sobald wir herausgefunden haben, wo dein Zuhause ist«, antwortete Bast. »Vielleicht.«
»Ich will zurück zu Maude«, sagte Cindy.
»Warum?«, fragte Bast.
»Weil es dort gut ist.«
»Gut?« Bast runzelte übertrieben die Stirn. »Du bist geschlagen worden ... wenn nicht Schlimmeres. Was soll daran gut sein?«
»Und?«, schnappte Cindy trotzig. »Das macht mir nichts aus.«
»Es macht dir nichts aus, geschlagen zu werden?« Bast machte ein zweifelndes Gesicht.
»Bin ich gewohnt«, antwortete Cindy. Es klang herausfordernd, aber nicht nach einer Lüge. »Und bei Maude habe ich immer satt zu essen bekommen, und es ist warm. Und die anderen Frauen sind nett zu mir.«
»Und die Männer?«
Cindy hob die Schultern. »Sind eben Männer«, sagte sie, als wäre das Erklärung genug.
»Du hast schlechte Erfahrungen gemacht«, vermutete Bast.
»Das Leben ist hart«, antwortete Cindy. »Man kriegt, was man verdient. Oder was man sich nimmt. Ist nicht so schlimm, wenn man weiß, wie's läuft.«
»Maude hat dich also gekauft«, versuchte es Bast erneut, und auf eine andere Art. »Von wem? Deiner Mutter?«
»Nein«, antwortete Cindy. »Meine Mutter ist ... ich weiß nicht. Hab sie nie gekannt. Ich bin mal hier, mal da aufgewachsen. Die meiste Zeit war es gut.«
»Und die übrige?«
Cindy funkelte sie an. »Was soll das? Hab ich was ausgefressen, dass du mich so verhörst?«
»Nein«, antwortete Bast. Sie hatte Schwierigkeiten, Cindys unverhohlene Feindseligkeit von sich abprallen zu lassen. Dieses Mädchen war ihr weder sonderlich sympathisch, noch tat sie etwas, um ihr Herz - oder auch nur ihr Mitleid - zu gewinnen, sondern starrte geradezu vor Widerborstigkeit. »Das ist kein Verhör. Ich bin nur ... neugierig, weißt du? Auf dich.«
»Auf mich?« Cindy wirkte eher noch misstrauischer. »Wieso? Was gibt's denn an einer wie mir Interessantes?«
»An einer wie dir eigentlich gar nichts«, antwortete Bast betont. »Aber an dir.«
Cindy runzelte die Stirn und sah sie nur noch misstrauischer an, aber zugleich begann ihr Blick auch insgeheim durch das Zimmer zu irren, wie der eines kleinen Tieres, das sich in die Enge gedrängt fühlte und nach einem Fluchtweg Ausschau hielt.
Und genau das bedeutete es auch, begriff Bast plötzlich. Nach ihrem Erwachen hatte Cindy ihren freien Willen überraschend schnell zurückerlangt, und sie dachte an Flucht.
Bast sorgte dafür, dass sie diesen Gedanken auch ebenso schnell wieder vergaß - und diesmal für länger -, und für einen ganz kurzen Moment erschien ein Ausdruck von Verwirrung auf dem blassen Gesicht des Mädchens, bevor er wieder dem üblichen Trotz wich. »Also?«, fragte sie. »Was willst du wissen?«
»Eigentlich alles«, antwortete Bast. »Fangen wir mit deinem Namen an ... ich meine, du heißt nicht wirklich, Cindy, oder?«
»Nein«, antwortete Cindy, allerdings erst nach einem spürbaren Zögern, und mit genauso spürbarem Widerwillen. Sie war stark. »Da, wo ich früher war, da hatten wir eine Katze, die hieß Cindy. War ein blödes Vieh. Sie hat mich immer nur gekratzt und überall hingeschissen. Ich hab sie weggejagt, aber den Namen hab ich behalten. Hat mir besser gefallen als Emily.«
Bast lachte leise. »Magst du Katzen?« Sie wartete Cindys Antwort gar nicht ab, sondern ging zur Tür und öffnete sie gerade weit genug, um einen schlanken, bernsteinäugigen Schatten hereinhuschen zu lassen. »Das ist Cleopatra«, sagte sie. »Eine gute Freundin von mir. Wenn du möchtest, kann sie auch deine Freundin sein. Und keine Sorge. Sie wird dich weder kratzen, noch ... na ja, du weißt schon.«
Cleopatra rieb sich schnurrend an ihrem Bein, hielt das Mädchen aber zugleich aus ihren unergründlichen Augen aufmerksam im Blick, und auch Cindy sah die Katze aufmerksam an.
»Was soll das?«, fragte sie schließlich. »Glaubst du, du kannst mich damit einwickeln?«
»Nein«, erwiderte Bast. Sie musste sich beherrschen, um nicht grob zu werden. Sie hatte nie besonders gut mit Kindern umgehen können. »Ich komme aus Ägypten. Weißt du, wo das ist?«
»Ziemlich weit weg«, antwortete Cindy misstrauisch. »Warum?«
»Hättest du Lust, mich dorthin zu begleiten?«, fragte Bast.
»Begleiten?«, wiederholte Cindy. »Ich? Warum?«
»Ich kann nicht mehr lange in diesem Land bleiben«, antwortete Bast. »Wahrscheinlich muss ich schon in ein paar Tagen wieder nach Hause fahren. Du könntest mitkommen, wenn du willst. Ich habe ein ziemlich großes Haus in der Nähe von Kairo. Ich kann immer Hilfe gebrauchen.«
»Hilfe ... wobei?«
»Was eben in einem großen Haus alles so anfällt«, antwortete Bast schulterzuckend. »Es war nur eine Idee.« Sie lächelte verlegen, ließ sich - wohlweislich in großem Abstand - auf die Bettkante sinken und zuckte mit den Achseln. »Also, um ganz ehrlich zu sein, weiß ich im Moment nicht so genau, was ich mit dir anfangen soll.«
Sie blinzelte Cleopatra zu, und die Katze sprang mit einem leichtfüßigen Satz auf ihren Schoß und begann laut zu schnurren. Cindy zögerte spürbar, aber dann streckte sie die Hand aus und streichelte sie scheu. Cleopatras Schnurren wurde lauter.
»Ich verstehe«, murmelte Cindy. »Du hast mich gekauft, und jetzt bin ich dir lästig. Ich kann gehen, wenn du willst. Ich will dir bestimmt nicht zur Last fallen. Du musst es nur sagen.«
»Netter Versuch«, antwortete Bast. »Aber daraus wird nichts. Du hast völlig recht: Ich habe dich gekauft, und du warst nicht einmal billig.« Zugleich war sie erstaunt, dass sich Cindy an dieses unwichtige Detail erinnerte. Das Mädchen überraschte sie jeden Moment mehr. Nebst etlichem anderen verfügte es ganz offensichtlich über eine ausgezeichnete Beobachtungsgabe.
»Lass mich einfach gehen, und wir sind quitt«, fuhr Cindy fort.
»Quitt?« Bast blinzelte überrascht. »Also ich glaube nicht, dass ...«
»Du bist nicht für mich verantwortlich, wenn du das meinst«, fuhr Cindy fort. »Und du musst auch keine Angst um mich haben. Ich komme schon durch.«
»Das glaube ich dir sogar«, antwortete Bast. »Aber du hast vollkommen recht, weißt du? Ich habe dich gekauft, und damit habe ich auch die Verantwortung für dich. So ist das nun einmal, da, wo ich herkomme.«
»Und deshalb willst du mich mitnehmen?«
Unten im Haus fiel eine Tür ins Schloss, und gedämpfte Stimmen drangen an Basts Ohr. Sie machte sich nicht die Mühe, auf die Worte zu achten, aber eine der Stimmen gehörte ganz eindeutig Abberline. »Nicht unbedingt«, erwiderte sie. »Um ehrlich zu sein, wäre mir eine andere Lösung lieber. Aber ich kann dich nicht zu Maude zurückgehen lassen.«
»Und warum nicht?«
»Weil ich es nicht kann, basta!«, antwortete Bast ärgerlich. »In ein paar Jahren wirst du verstehen, warum. Vielleicht denkst du einfach darüber nach, wie es mit uns weitergehen könnte.« Sie stand auf und kam sich selbst immer hilfloser vor. Aber was hatte sie erwartet? »Heute Nacht bleiben wir noch hier, aber morgen müssen wir uns sowieso eine andere Unterkunft suchen.«
»Ich wüsste da eine«, antwortete Cindy böse. »Für dich würde Maude bestimmt noch sehr viel mehr bezahlen als für mich.«
Bast musste sich plötzlich beherrschen, um sie nicht schlichtweg zu ohrfeigen. Sie stand mit einem Ruck auf. Cleopatra sprang erschrocken von ihrem Schoß und stieß ein vorwurfsvolles Maunzen aus.
»Also gut«, sagte sie kühl. »Du wirst jetzt schlafen, und morgen früh reden wir noch einmal über alles. Aber dann erwarte ich eine Entscheidung von dir. Wenn du wie eine Erwachsene behandelt werden willst, dann wirst du dich gefälligst auch so benehmen.«
Cindy sah sie einfach nur perplex an - was daran liegen mochte, dass ihre Reaktion nicht nur völlig überzogen, sondern schlichtweg blödsinnig war -, aber Bast war auch schon zu weit vorgeprescht, um jetzt noch nachgeben zu können. »Schlaf jetzt«, sagte sie.
»Ich denke ja gar nicht daran«, antwortete Cindy trotzig, ließ sich zurücksinken und schlief ein, noch bevor ihr Hinterkopf das Kissen berührt hatte.
Viel mehr ärgerlich auf sich selbst als auf sie, blieb Bast noch etliche Sekunden lang reglos stehen und blickte auf das schlafende Mädchen hinab. Das Gespräch war vollkommen anders verlaufen, als sie erwartet hatte, aber sie durfte Cindy nicht die Schuld daran geben. Letztendlich hatte Cindy sie nicht darum gebeten, von ihr mitgenommen zu werden.
Als sie sich umdrehte, wollte Cleopatra ihr folgen, aber Bast schüttelte rasch den Kopf und ließ sich vor der Katze in die Hocke sinken. »Du bleibst hier und passt auf sie auf«, sagte sie. »Gib auf ihre Träume acht, hast du verstanden? Und wenn irgendetwas nicht stimmt, dann rufst du mich. Ich lehne die Tür nur an.«
Cleopatra maunzte zwar enttäuscht, sprang aber gehorsam auf das Bett zurück und rollte sich neben dem schlafenden Mädchen zusammen.
Bast verließ das Zimmer und wäre um ein Haar gegen Maistowe geprallt, der direkt auf der anderen Seite stand und sie ziemlich verblüfft ansah. Bast musste seine Gedanken nicht lesen, um zu wissen, ob er sich gerade fragte, sie tatsächlich mit einer Katze reden gehört zu haben.
»Ich ... ähm ... entschuldigen Sie«, stotterte er. »Ich wollte nicht lauschen, aber Frederick - Inspektor Abberline - ist gekommen, um mit Ihnen zu reden.«
Bast antwortete mit einem wortlosen Nicken und zog die Tür hinter sich zu, ließ sie aber einen Spalt breit offen stehen, bevor sie so schnell losging, dass Maistowe sich sputen musste, um mit ihr Schritt zu halten. »Wie geht es dem Mädchen?«, fragte er.
»Sie schläft«, antwortete Bast. Maistowe schien das allerdings nicht zu reichen, denn er holte mit einem raschen Schritt zu ihr auf und hielt sie am Arm fest.
»Auf ein Wort«, sagte er, schrak dann sichtbar zusammen und zog die Hand fast schuldbewusst zurück. »Bitte.«
Bast hörte Abberline und Mrs Walsh unten im Erdgeschoss miteinander reden, und irgendetwas sagte ihr, dass es gar nicht gut war, die beiden zu lange allein zu lassen. Trotzdem nickte sie widerwillig.
Maistowe druckste einen Moment herum. »Bitte glauben Sie jetzt nicht, dass ich Ihnen nachspioniere oder Sie belausche«, sagte er schließlich. »Aber ich habe zufällig gehört, was Gloria vorhin zu Ihnen gesagt hat.«
»Und sie hat recht damit«, sagte Bast. »Nichts von alledem, was seit meiner Ankunft hier passiert ist, ist Mrs Walshs Problem - oder Ihres.«
»Das mag sein«, antwortete Maistowe, noch immer, ohne sie direkt anzusehen. »Dennoch ist das nicht die Gloria, die ich kenne. Ich weiß wirklich nicht, was in sie gefahren ist, aber ich verspreche Ihnen, mit ihr zu reden. Sie können sicher noch ein paar Tage hier bleiben, und das Mädchen auch.«
»Das ist nett gemeint von Ihnen, Jacob«, begann Bast, »aber ...«
»Die Lady sticht in einer Woche wieder in See«, fuhr Maistowe fort. »Wenn Sie sich entschließen sollten, mit mir zurückzufahren, dann bin ich sicher, dass Gloria es sich noch einmal überlegt und Ihnen und dem Mädchen gestattet, so lange hier zu bleiben.«
Bast hätte ihm erklären können, warum das keine gute Idee war, aber sie hatte keine Lust auf eine weitere sinnlose Diskussion, und sie wollte Maistowe, der es nur gut meinte, nicht vor den Kopf stoßen. »Cindy schläft jetzt«, sagte sie. »Lassen Sie uns später darüber reden, vielleicht zusammen mit ihr. Ich denke, wir sollten Inspektor Abberline nicht zu lange warten lassen. Oder sind Sie nicht begierig darauf, zu erfahren, was passiert ist?«
Maistowe wechselte zwar wunschgemäß das Thema, aber er wirkte nicht begeistert. »Er hat mich schon in groben Zügen informiert«, sagte er. »Aber natürlich haben Sie recht ... und ich hatte umgekehrt den Eindruck, dass ihm daran gelegen ist, möglichst rasch mit ihnen zu reden.«
Bast drehte sich rasch herum und ging - bevor Maistowe Gelegenheit fand, eine weitere überflüssige Frage zu stellen und sie in ein Gespräch zu verwickeln, das sie nicht führen wollte. Offensichtlich sorgte er sich mehr um das Mädchen als Mrs Walsh - oder sie.
Abberline und Mrs Walsh saßen am Kamin, als Maistowe und sie die Treppe herunterkamen. Mrs Walsh stand wortlos auf und verschwand in der Küche, vermutlich, um den avisierten Tee zu holen, während Abberline aufstand und ihr zwar nur stumm und mit steinernem Gesicht zunickte, trotz allem aber Gentleman genug war, erst dann wieder Platz zu nehmen, nachdem sie und Maistowe sich gesetzt hatten.
»Ich bin froh, dass Sie unbeschadet wieder hier angekommen sind«, begann er, anscheinend nicht in der Stimmung, sich mit Höflichkeitsfloskeln aufzuhalten. Bast war auch nicht danach.
»Ich kann nur dasselbe über Sie sagen, Inspektor«, antwortete sie. »Sie sind früh ... ich meine: Ich hätte nicht erwartet, dass Ihre Vorgesetzten Sie so schnell gehen lassen - nach dem, was in der Underground passiert ist.«
»Das haben sie auch nicht«, antwortete Abberline.
Maistowe sah ihn fragend an, und Abberline wollte auch antworten, unterbrach sich aber dann, als Mrs Walsh aus der Küche kam, und wartete, bis sie zwei saubere Tassen vor Bast und Maistowe abgestellt und ihnen Tee eingegossen hatte.
»Ich meine, ich habe nicht mit meinen Vorgesetzten gesprochen«, setzte er neu an. »Ich wollte es selbstverständlich. Ich bin noch eine Weile geblieben, um mich davon zu überzeugen, dass die Feuerwehr und die Polizei der Lage auch Herr werden.«
»Welcher Lage?«, fragte Mrs Walsh.
»Es gab einen Brand in der stillgelegten Tower-Station«, antwortete Abberline. »Aber es sah im ersten Augenblick sehr viel dramatischer aus, als es war. Die städtische Feuerwehr ist sehr tüchtig, und die U-Bahn ist so gebaut, dass ein Feuer nur sehr schwer unkontrolliert um sich greifen kann.«
Mrs Walsh sagte nichts dazu, aber sie maß Bast mit einem sehr langen, nachdenklichen Blick, bevor endlich auch sie Platz nahm und an ihrem Tee nippte.
»Ich bin danach zum Yard gegangen, aber Mr Monro war nicht mehr da, und Sir Charles Warren, meinen obersten Chef, habe ich seit Tagen nicht mehr gesehen. Und ich muss gestehen, dass ich nicht allzu unglücklich darüber bin.«
»Wieso?«, fragte Maistowe.
»Selbstverständlich werde ich gleich morgen früh ausführlich Bericht erstatten«, antwortete Abberline, allerdings an Bast gewandt, nicht an Maistowe, und mit sonderbar ernstem Gesicht. »Und ich werde in meinem Bericht selbstverständlich nicht die geringste Kleinigkeit auslassen. Das wäre unverantwortlich, nicht nur meinen Vorgesetzten, sondern auch den Menschen in dieser Stadt gegenüber. Immerhin treibt sich dort unten immer noch ein Ungeheuer herum, dem bereits zwei Menschen zum Opfer gefallen sind. Mindestens.«
»Ein Ungeheuer?«, fragte Mrs Walsh alarmiert. »Was für ein Ungeheuer?«
»Miss Bast bezeichnet es als Nildrachen«, antwortete Abberline, »aber meines Erachtens ist es ein ganz gewöhnliches Krokodil - wenn auch ein ziemlich großes.«
»Glauben Sie mir, Inspektor, ich habe Nildrachen gesehen, gegen die dieses Tier der reinste Zwerg ist«, sagte Bast.
»Ein Krokodil?«, murmelte Mrs Walsh entsetzt. »In der Londoner U-Bahn?«
»Eher in der Kanalisation«, antwortete Abberline. Er sah immer noch unentwegt Bast an. »Wir haben das Tier durch die Kanalisation gejagt, aber es ist uns leider entkommen, und der kürzeste Weg zurück an die Oberfläche führte durch die Tube.«
»Die dabei rein zufällig in Brand geraten ist?«, vermutete Mrs Walsh.
»Nun ja, ich gebe zu, das ist die Kurzfassung«, sagte Abberline. »Aber jetzt ist nicht der Moment für lange Erklärungen. Ich bin aus einem anderen Grund hier.«
»Ach?«, fragte Bast. Warum war sie nicht überrascht?
»Um ehrlich zu sein«, antwortete Abberline, »war ich ganz froh, dass sich mir die Gelegenheit bietet, zuerst noch einmal mit Ihnen zu reden, bevor ich mit Monro spreche.«
»Warum?«
»Unter anderem wegen dem, was ich in diesem Raum gesehen habe«, antwortete Abberline. Er schien einen Moment angestrengt nachzudenken, und Bast konnte ihm regelrecht ansehen, wie schwer ihm die Entscheidung fiel, zu der er schließlich gelangte.
Aber er traf sie, griff in die Rocktasche und reichte Bast einen kleinen, in ein sauberes Taschentuch eingewickelten Gegenstand. »Können Sie mir sagen, was das ist?«, fragte er.
Als sie das Tuch zur Seite schlug, kam ein runder, mit einem geschnitzten Katzenkopf und kunstvollen Ziselierungen verzierter Deckel aus feinstem weißen Alabaster zum Vorschein.
»Woher haben Sie das?«, fragte sie überrascht.
»Ich habe es gefunden«, antwortete Abberline. »Heute Abend, im Wagen Ihres unglückseligen Kutschers.«
Jetzt war Bast überrascht. »Bei Arthur?«
»Neben seinem Leichnam, ja«, bestätigte Abberline. »Genauer gesagt, unter der Bank, auf der er lag. Sie wissen, was das ist?«
»Ein Kanopendeckel, ja«, antwortete Bast. »Ein sehr alter.«
»Ein was?« Mrs Walsh machte keinen Hehl daraus, wie wenig ihr das Thema behagte, über das sie redeten, aber sie war auch neugierig.
»Wir haben mehrere Kanopen gesehen, bei unserem gemeinsamen Museumsbesuch, meine Liebe«, antwortete Bast. »Sie wissen, dass die Pharaonen im alten Ägypten nach ihrem Tod einbalsamiert wurden, um auf diese Weise die Reise ins ewige Leben anzutreten?«
Mrs Walsh nickte. Dieses Thema war ihr sichtlich noch unangenehmer, aber wenigstens protestierte sie nicht.
»Nebst etlichen anderen Vorbereitungen war es dazu notwendig, dem Leichnam die inneren Organe zu entnehmen«, fuhr Bast fort. Mrs Walsh sah regelrecht entsetzt aus, aber Abberline runzelte die Stirn und sah sie auf eine jetzt völlig andere Art beunruhigt an. Offenbar erinnerten ihn Basts Worte an etwas vollkommen anderes. Etwas, das sie beide und Maistowe erst vor wenigen Stunden gesehen hatten.
»Und die entnommenen Organe ...?«, vermutete er.
»Wurden in besonderen, heiligen Gefäßen aufbewahrt«, bestätigte Bast. »Den Kanopen. Und Sie haben das hier tatsächlich in Arthurs Wagen gefunden?«
»Und nicht nur das.« Abberline nahm ihr den Deckel wieder ab und wickelte ihn sorgfältig ein; allerdings nur zur Hälfte. »Ich habe diesen Deckel schon zuvor gesehen - zusammen mit dem Rest.«
»Die komplette Kanope?«, fragte Bast überrascht. »Wo?«
»In Monros Büro«, antwortete Abberline ernst. »Nicht dem, das Sie kennen, sondern in seinem Büro im Innenministerium.« Er seufzte. »Ich nehme an, so etwas ist sehr wertvoll?«
»Unbezahlbar«, antwortete Bast. Und nicht nur in materieller Hinsicht.
»Und Sie sind sicher, dass es sich um dasselbe Stück handelt?«, fragte Mrs Walsh. »Es könnte eine Kopie sein.«
»Nein«, antwortete Abberline. »Nicht in diesem Fall. Sehen Sie, ich musste vor einer Weile auf Monro warten, und dabei sind mir diese Krüge aufgefallen, und ich habe sie mir genauer angesehen, aus reiner Neugierde, und weil sie mir gefallen haben.«
»Krüge?«, vergewisserte sich Bast. »Es sind mehrere?«
»Drei«, bestätigte Abberline. »Sehen Sie den Katzenkopf?«
Er hob den Deckel. »Das rechte Ohr ist beschädigt. Ein kleines Stück ist abgebrochen. Es ist nur eine Kleinigkeit, aber sie ist mir aufgefallen, weil der Krug ansonsten vollkommen unversehrt war. Es ist eindeutig derselbe Deckel.«
»Wissen Sie, was Sie da sagen?«, fragte Maistowe. »Sie wollen doch nicht behaupten, dass der Leiter der Spezialabteilung ein Kunstdieb ist!«
»Natürlich nicht.« Abberline wickelte den Deckel endgültig ein und ließ ihn in der Jackentasche verschwinden; ein Anblick, der Bast geradezu körperliches Unbehagen bereitete. Sie musste sich beherrschen, um Abberline das Päckchen nicht mit Gewalt zu entreißen.
»Sie erinnern sich an Ihr Gespräch mit Monro«, fuhr er fort. »Die Gerüchte über zwei geheimnisvolle Fremde, die in der Stadt gesehen worden sein sollen, sind keineswegs so neu, wie er Sie glauben machen wollte. Ich selbst habe ihm in den letzten Wochen mehrmals davon Bericht erstattet, aber diesen Gerüchten wurde niemals mit der angemessenen Energie nachgegangen.«
»Sie glauben, Monro hätte etwas mit den beiden zu tun?«, fragte Mrs Walsh.
»Nein, das sicher nicht.« Abberlines Antwort kam eine Spur zu schnell, fand Bast. »Monro und ich sind sicherlich nicht die besten Freunde, dafür ist er mir viel zu ehrgeizig, aber ich halte ihn auch nicht für einen Verbrecher. Allerdings pflegt er einen aufwändigen Lebensstil und ist ständig in Geldnöten. Es wäre immerhin denkbar, dass Ihre beiden Freunde, sagen wir, dafür gesorgt haben, dass er der einen oder anderen Spur vielleicht nicht ganz so intensiv nachgeht.«
»Das würde bedeuten, dass er zwei Mörder deckt«, sagte Mrs Walsh.
»Nicht unbedingt.« Abberline seufzte noch einmal, und noch tiefer. »Genau genommen gibt es keinerlei Beweise, dass diese beiden hinter den Ripper-Morden stecken. Bis zum heutigen Tage gab es nicht einmal einen Hinweis darauf.«
Mrs Walsh schwieg. Dieses Thema schien ihr nun völlig unangenehm zu sein.
»Horus und Sobek«, fuhr Abberline fort, »das sind die Namen, an die ich mich erinnere. Namen alter ägyptischer Gottheiten. Wie Bastet. Und wie hieß noch einmal die Freundin, nach der Sie suchen? Isis, nicht wahr? Ist das nicht auch eine altägyptische Gottheit?«
»Eine der Mächtigsten sogar«, bestätigte Bast. Sie machte ein betrübtes Gesicht. »Sie haben mich ertappt, Inspektor. Ich gebe alles zu. In Wahrheit sind wir die echten alten Götter, die hierhergekommen sind, um uns dafür zu rächen, dass Ihr Volk unsere heiligen Stätten plündert.«
Abberline blieb ernst. »Das wohl nicht«, sagte er ruhig. »Aber nach dem, was ich dort unten gesehen habe, frage ich mich, ob Sie vielleicht zu irgendeiner verrückten Sekte gehören, die sich einbildet, im Namen dieser alten Götter zu handeln.«
»Aber das ist doch lächerlich!«, begehrte Mrs Walsh auf. »Hören Sie auf, solch einen Unsinn zu reden.«
»Ich fürchte, so lächerlich ist es nicht, Mrs Walsh«, seufzte Bast, hob aber auch zugleich rasch die Hand und schüttelte den Kopf. »Es handelt sich nicht um eine Sekte oder einen Kult, und ihren Kindern die Namen unserer alten Götter zu geben ist in meinem Land nicht ungewöhnlich ... so wenig wie hier, wo die Hälfte der Kinder die Namen christlicher Heiliger trägt. Aber in einem Punkt haben Sie recht, Inspektor - manche, wie Horus, sind tatsächlich der Meinung, sich dafür rächen zu müssen, dass Fremde unsere heiligsten Orte schänden, die Gräber unserer Könige plündern und ihre Leichname in Museen ausstellen, wo sie von Neugierigen begafft werden können.«
»Und Sie?«, fragte Abberline. »Ist das auch Ihre Meinung?«
Bast war im ersten Moment verwirrt über diese Frage, aber dann wurde ihr selbst klar, wie scharf ihre Stimme bei den letzten Worten geklungen hatte.
»Nein.« Bast zwang sich zu einem Lächeln. »Ganz im Gegenteil. Ich wollte Ihnen nur Horus' Standpunkt klarmachen. Aber es ist ... war ... seine Meinung, nicht meine. Ich bin hierhergekommen, um Patsy ... Isis ... vor Horus und Sobek zu warnen. Das ist die Wahrheit.«
»Und es macht Ihnen gar nichts aus?«, fragte Abberline. »Dass Ihre heiligsten Gegenstände in unseren Museen ausgestellt werden? Mich würde es stören, wenn christliche Reliquien in einem Museum in Kairo hängen würden.«
»Ich bin nicht begeistert davon«, sagte Bast kühl. »Aber die Zeiten ändern sich. Vor langer Zeit hat mein Volk nahezu über die gesamte Welt geherrscht und vermutlich dasselbe mit den Heiligtümern anderer Völker getan. Heute beherrscht Ihr Volk die Welt, und wir müssen uns beugen. In weiteren tausend Jahren wird ein anderes Volk hier herrschen und die Krone eurer Könige in einem Museum ausstellen. So ist nun einmal der Lauf der Zeit.«
»Das hört sich ziemlich abgeklärt an«, sagte Abberline.
»Ich würde das Wort realistisch vorziehen«, antwortete Bast. »Leider hat Horus das nicht so gesehen.«
»Und Sie glauben, damit ist die Angelegenheit für mich erledigt?«, fragte Abberline.
»Das sollte sie sein, Inspektor«, antwortete Bast ernst. »Oder was glauben Sie jetzt noch erreichen zu können?«
»Die Wahrheit.«
»Welche Wahrheit?«, fragte Bast spöttisch. »Dass Ihr oberster Vorgesetzter sich hat kaufen lassen? Das werden Sie jetzt schwerlich beweisen können, jetzt, wo Horus und Sobek tot sind. Und selbst wenn - Monro hat sie vermutlich für Kunstdiebe oder Schmuggler gehalten und sich seinen Anteil gesichert. Selbst wenn Sie es beweisen könnten, würde ihm nicht viel passieren - aber Ihre Karriere wäre zu Ende.«
»Und deshalb soll ich zwei Mörder laufen lassen?«
»Sie sind tot«, erinnerte Bast. »Wenn Horus und Sobek tatsächlich für die Ripper-Morde verantwortlich waren, dann hören sie jetzt auf.«
»Und wenn nicht, beweist das nur, dass Monro wirklich nichts damit zu tun hat«, fügte Maistowe hinzu. »Bast hat recht, Frederick. Was immer Sie unternehmen, schadet nur Ihnen selbst. Schätzen Sie sich einfach glücklich, dass die Sache so glimpflich abgegangen ist. Immerhin leben Sie noch, und schließlich haben Sie die Kerle am Ende erwischt. Ist das nicht Ihre Aufgabe?«
»Meine Aufgabe ist es, die Wahrheit herauszufinden«, sagte Abberline. Aber er klang zugleich auch verunsichert. Er sah Bast nach wie vor durchdringend und misstrauisch an. Ihre Worte erklärten zweifellos viel, aber längst nicht alles. Sie konnte nur hoffen, dass er gar nicht alles von dem verstehen wollte, was er gesehen und erlebt hatte.
»Es fällt mir schwer zu glauben, dass Sie rein zufällig gerade in diesem Moment hier aufgetaucht sind und mit alldem nichts zu tun haben«, sagte er.
»Das habe ich auch nie behauptet«, antwortete Bast. »Aber ich habe nichts mit dem zu tun, was Horus und Sobek getan haben. Ich bin hierhergekommen, um Isis vor ihnen zu warnen, das ist alles.«
»Aber das dürfte ja nun nicht mehr nötig sein«, sagte Abberline.
»Nein«, bestätigte Bast. »Und aus diesem Grunde werde ich England auch verlassen. Vielleicht schon morgen - wenn Sie nichts dagegen haben, heißt das.«
»Das kann ich im Moment noch nicht entscheiden«, antwortete Abberline. »Ich neige dazu, Ihnen zu glauben, aber es gibt noch zu viele offene Fragen ... und letzten Endes entscheide ich darüber auch nicht allein. Ich muss Sie also bitten, zumindest noch eine kleine Weile in London zu bleiben. Es könnte sein, dass ich Ihre Hilfe noch benötige.«
»Wobei?«
»Zum Beispiel dabei, dieses Ungeheuer zu erlegen, das noch immer die Kanalisation unsicher macht.«
»Sobeks Drachen?« Bast schüttelte den Kopf. »Das ist nicht nötig. Jetzt, wo Sobek tot ist, wird er auch sterben.«
»Ich verstehe«, sagte Abberline spöttisch. »Sagten Sie nicht gerade, dieser Sobek wäre ein ganz normaler Mensch?«
»Ich sagte, er ist kein Gott«, antwortete Bast. »Nicht, dass er ein normaler Mensch wie Sie oder ich war, Inspektor. Die Sache ist leider etwas komplizierter.«
»Was ist er dann?«, fragte Abberline.
»Vor allem tot«, erwiderte Bast. »Er stellt keine Gefahr mehr dar, ebenso wenig wie Horus. Finden Sie sich damit ab, dass Sie nicht immer gewinnen können, Inspektor. Hoffen Sie, dass Horus und Sobek hinter diesem angeblichen Ripper gesteckt haben, denn dann ist es vorbei, und zumindest Sie wissen, dass die Mörder ihre gerechte Strafe bekommen haben. Und wenn nicht, dann werden die Morde weitergehen, und Sie werden den wirklichen Ripper fangen.«
»Ich wünschte, es wäre so leicht«, seufzte Abberline. »Warum werde ich das Gefühl nicht los, dass Sie mir etwas verschweigen?«
»Ich bin eine Frau voller Geheimnisse, haben Sie das etwa nicht gewusst?«, antwortete Bast lächelnd. Sie stand auf. »Und nun entschuldigen Sie mich bitte. Es ist spät, und ich habe einen anstrengenden Tag hinter mir - wie Sie ja wissen. Ich würde mich jetzt gern zurückziehen. Haben Sie keine Sorge - ich werde London nicht verlassen, solange Sie es mir nicht erlauben.«
Das Haus war vollkommen still, als sie am nächsten Morgen erwachte - zu ihrer eigenen Überraschung eine gute Stunde nach Sonnenaufgang, statt mit dem ersten Lichtstrahl, wie sie es eigentlich gewohnt war. Sie fühlte sich auch ungewöhnlich müde, obwohl sie länger als normal geschlafen hatte. Ihre Lider waren so schwer, dass sie Mühe hatte, die Augen zu öffnen, und es kostete sie spürbare Überwindung, sich aufzusetzen und die letzten Spuren von Benommenheit abzuschütteln. Außerdem war sie schon wieder hungrig. Offenbar hatte sie der gestrige Tag doch mehr mitgenommen, als sie sich eingestehen mochte.
Behutsam setzte sie sich auf und lauschte einen Moment. Um Cindy nicht zu stören, hatte sie Mrs Walshs Einverständnis einfach vorausgesetzt und das benachbarte Zimmer in Beschlag genommen, die Tür aber nur angelehnt gelassen. Sie konnte Cindy nebenan regelmäßig atmen hören - offenbar schlief sie noch -, darüber hinaus aber war das Haus vollkommen still und leer. Maistowe und anscheinend auch ihre Wirtin waren nicht da, aber das war ihr im Moment nur recht. Ihr war nicht nach Reden zumute, und schon gar nicht nach einer Fortsetzung ihrer Debatte mit Mrs Walsh.
Sie hatte sich nicht wirklich so überhastet zurückgezogen, weil sie zu erschöpft wäre, um weiter mit Abberline zu reden, sondern weil sie keinen Sinn mehr in dieser Diskussion gesehen hatte - sie hatte auch nicht vor, ihr Versprechen zu halten und abzuwarten, ob Abberline sie wirklich gehen ließ oder es sich vielleicht doch noch anders überlegte und mit einem Rollkommando vor der Pension auftauchte, um sie zu verhaften, sondern würde sowohl der Pension Westminster als auch dieser Stadt noch heute den Rücken kehren - und weil es einfach eine Menge wichtiger Dinge gab, über die sie nachdenken musste.
Ihr Körper hatte ihr einen Strich durch die Rechnung gemacht. Sie hatte sich kaum hingelegt, da war sie auch schon eingeschlafen. Aber es war kein erquickender Schlaf gewesen. Sie erinnerte sich schwach an üble Träume, die sie gehabt hatte, und ein vages Gefühl von Trauer, das immer noch tief in ihr wühlte. Zum Nachdenken war sie jedenfalls nicht gekommen.
Sie stand auf, trat ans Fenster und legte die Stirn in Falten, als sie eine schwarz uniformierte Gestalt mit einem hohen Helm bemerkte, die auf der gegenüber liegenden Straßenseite stand, das Haus beobachtete und sich so krampfhaft bemühte, unauffällig zu sein, dass er genau so gut auch gleich eine rote Fahne schwenken konnte. So viel zu ihrer Idee, Abberline könnte ihr trauen. Aber das konnte sie ihm eigentlich nicht einmal übelnehmen.
Cindy schlief tatsächlich noch, als sie das Zimmer betrat, aber sie schlug beinahe sofort die Augen auf und war hellwach. Cleopatra, die anscheinend die ganze Nacht neben ihr gelegen hatte, hob den Kopf und begann lautstark zu schnurren, rührte sich aber nicht von der Stelle.
»Guten Morgen«, sagte Bast lächelnd. »Hast du gut geschlafen?«
Cindy antwortete nicht, sah sie aber sehr aufmerksam an und legte die Hand auf Cleopatras Kopf. Das Schnurren der Katze wurde lauter, und Bast verspürte einen kurzen, aber heftigen Stich vollkommen absurder Eifersucht, für den sie sich selbst sofort mit einem mindestens ebenso heftigen schlechten Gewissen bestrafte.
»Ich werte das einfach einmal als ein Ja«, sagte sie, trat ans Fenster und zog die Vorhänge zurück. Morgenlicht strömte herein und ließ die Konturen der Dinge schärfer hervortreten, Cindys Gesicht aber auch noch blasser und ihre Augen größer und dunkler erscheinen. Sie sagte immer noch nichts. Bast warf einen raschen, suchenden Blick auf die Straße und Abberlines Wachtposten hinab - er stand noch immer stocksteif da und starrte das Haus an -, schüttelte spöttisch den Kopf und wandte sich dann wieder Cindy und der Katze zu.
»Wie ich sehe, habt ihr ja mittlerweile Freundschaft geschlossen«, sagte sie. »Jetzt mach mich nur nicht eifersüchtig, indem du mir meine beste Freundin ausspannst.«
Cleopatra blickte ein bisschen beleidigt, und Cindy starrte sie weiter einfach an. Bast fühlte sich mit jedem Moment hilfloser. Sie hatte nicht die geringste Erfahrung im Umgang mit Kindern - und als wäre das nicht schwierig genug, war dieses Mädchen in der einen oder anderen Hinsicht ganz bestimmt kein Kind mehr -, und sie wusste einfach nicht, wie sie mit ihr umgehen sollte.
»Hast du über meinen Vorschlag von gestern Abend nachgedacht?«, fragte sie. »Mich zu begleiten?«
Sie hatte nicht wirklich mit einer Antwort gerechnet, doch Cindy nickte und schüttelte fast im gleichen Moment den Kopf.
»Das will ich nicht«, sagte sie leise, aber mit sehr entschlossener Stimme.
»Das trifft sich gut«, antwortete Bast. »Ich glaube nämlich inzwischen selbst, dass es eine dumme Idee war. Aber mir ist eine andere Idee gekommen, die dir vielleicht auch gefallen wird. Bist du hungrig? Ich jedenfalls könnte ein Frühstück vertragen. Was hältst du davon, wenn du dich wäschst und anziehst und wir beim Frühstück darüber reden?«
Statt laut zu antworten, schlug Cindy die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett, und Bast stellte überrascht fest, dass sie zumindest einmal während der Nacht aufgestanden sein musste, denn sie trug jetzt ein gestreiftes Nachthemd, nicht nur ihre eigene Haut und unzählige blaue Flecke. Es war ihr um mehrere Nummern zu groß und hoffnungslos altmodisch und gehörte ganz offensichtlich Mrs Walsh.
»Da hätten wir gleich das nächste Problem«, seufzte Bast. »Bevor wir uns eine neue Unterkunft suchen, brauchen wir etwas zum Anziehen für dich. So kannst du jedenfalls nicht auf die Straße.«
»Ich habe Kleider«, antwortete Cindy, die jetzt schon wieder ein wenig trotzig klang, wenn auch nicht mehr annähernd so feindselig wie am vergangenen Abend. »Eine Menge Kleider sogar. Sie sind noch bei Maude.«
»Ja, das ist mir klar«, antwortete Bast. »Aber wenn sie so aussehen, wie ich es befürchte, werden wir damit auch Probleme haben, ein anständiges Zimmer zu bekommen.« Sie brachte Cindy mit einer Geste zum Schweigen, als diese widersprechen wollte. »Ich lass mir was einfallen, keine Angst. Jetzt essen wir erst einmal, und dann sehen wir weiter. Kann ich mich darauf verlassen, dass du keinen Unsinn anstellst, wie zum Beispiel wegzulaufen?«
»Du würdest mich doch sowieso wieder einfangen, oder?«
»Vermutlich«, sagte Bast. »Die Frage ist, ob du es versuchen willst.«
»Dann hindere mich doch daran«, antwortete Cindy. »Das kannst du doch.«
»Wie meinst du das?«, fragte Bast überrascht.
Cindy schürzte trotzig die Lippen. »Du hast doch gestern auch dafür gesorgt, dass ich nicht weglaufe«, sagte sie. »Ich wollte es, aber ich konnte es nicht.«
»Vielleicht ist dir einfach klar geworden, dass du hier besser aufgehoben bist«, antwortete Bast. Sie war verwirrt, und auch ein wenig beunruhigt. Cindy hatte ganz offensichtlich gespürt, dass etwas mit ihrem freien Willen nicht stimmte, und das war sehr ungewöhnlich.
Cindy ignorierte ihre Antwort vollkommen. »Ich weiß nicht, was du bist«, sagte sie ernst. »Eine Hexe oder was? So wie du Ben fertiggemacht hast, das würde nicht einmal der stärkste Mann schaffen, den ich kenne.«
»Und deshalb muss ich eine Hexe sein? Zu viel der Ehre. Da, wo ich herkomme, müssen auch Frauen beizeiten lernen, sich ihrer Haut zu wehren, weißt du? Ich bin ... eine Kriegerin, wenn du so willst. Ich kann dir beibringen, wie man sich verteidigt.«
»Irgendetwas stimmt jedenfalls nicht mit dir«, beharrte Cindy. »Ich glaube nicht, dass ich bei dir bleiben will.«
»Na, gut.« Bast wandte sich brüsk zur Tür. »Wasch dich. Und dann komm nach unten. Ich sehe inzwischen zu, dass ich ein Frühstück für uns zusammenbekomme.«
»Und wenn ich das nicht will?«, fragte Cindy trotzig.
»Dich waschen oder frühstücken?« Bast bemühte sich, ein möglichst grimmiges Gesicht zu machen. »Wenn du wirklich glaubst, dass ich eine Hexe bin, dann solltest du es dir zweimal überlegen, dich mit mir anzulegen. Ich könnte dich in einen Frosch verwandeln oder dich zwingen, den ganzen Tag auf einem Bein herumzuhüpfen und wie ein Huhn zu gackern.«
Sie ging, bevor Cindy antworten konnte, aber ihr Gesichtsausdruck verdüsterte sich schlagartig noch einmal um mehrere Grade, kaum dass sie das Zimmer verlassen hatte. Das war die zweite Runde, die ganz eindeutig an Cindy ging, und irgendetwas sagte ihr, dass sich daran auch nichts ändern würde, solange sie nicht zu wirklich drastischen Maßnahmen griff. Nein, es war vollkommen unmöglich, dass das Mädchen bei ihr blieb.
Sie ging nach unten und durchsuchte Mrs Walshs Küche nach etwas Essbarem. Sie selbst war nicht wählerisch und konnte auch von Dingen leben, die andere glatt umgebracht hätten, aber sie wollte Cindy nicht auch noch mehr verschrecken, indem sie sie mit ihrem persönlichen Speiseplan konfrontierte. Sie hatte keine Ahnung, was der landestypische Speiseplan war, fand aber schließlich einige Hühnereier und ein paar Streifen Speck, die sie in einer Pfanne zu einem nicht unbedingt appetitlich aussehenden Etwas zusammenbriet, das zumindest genießbar roch.
Das Mädchen saß an dem mittlerweile erloschenen Kamin, als sie mit der noch brutzelnden Pfanne in der einen und zwei Tellern samt Besteck in der anderen Hand aus der Küche kam. Cindy trug noch immer Mrs Walshs Nachthemd, hatte sich aber zusätzlich in eine Decke gemummelt und die Beine unter den Körper gezogen, und der Anblick machte Bast klar, wie empfindlich kalt es inzwischen hier drinnen geworden war. Cindy musste die Kälte sogar noch mehr fühlen, denn sie hatte getan, was sie ihr aufgetragen hatte, und sich gewaschen. Ihr Haar klebte in nassen Strähnen an ihrem Kopf, was ihr Gesicht noch schmaler und verwundbarer erscheinen ließ.
»Was ist das?« Cindy schnüffelte demonstrativ und reckte den Hals nach der Pfanne. Sie sah nicht begeistert aus.
»Hexenfrühstück«, antwortete Bast. Sie lud ihre Last scheppernd auf dem Tisch ab und bückte sich nach dem Kamin, um das Feuer wieder in Gang zu setzen, gab den Gedanken aber sofort wieder auf. In der Feuerstelle befand sich nur noch kalte, fast weiße Asche, und sie war einfach zu träge, um nach draußen zu gehen und Holz zu holen.
»So riecht es auch«, antwortete Cindy, was sie aber nicht daran hinderte, sich aus ihrer Decke zu schälen und sich über die Mahlzeit herzumachen - über die Pfanne, nicht über einen Teller.
Bast sah ihr eine Weile amüsiert zu. Allzu schlecht schien es um ihre Kochkünste wohl doch nicht bestellt zu sein, oder Cindy war wirklich sehr hungrig gewesen. Sie verputzte den Inhalt der Pfanne bis auf den letzten Krümel, dann fuhr sie sichtbar zusammen und sah Bast fast ein wenig schuldbewusst an. »Jetzt habe ich dir gar nichts übrig gelassen.«
»Das macht nichts«, antwortete Bast ernst. »Du glaubst doch nicht, dass ich das Zeug, das ich zusammenpampe, auch noch selbst esse, oder?«
Cindy blinzelte verwirrt, unschlüssig, ob sie lachen oder diese Bemerkung ernst nehmen sollte. »Bist du denn ... gar nicht hungrig?«, fragte sie zögernd.
»Doch«, antwortete Bast. »Sehr sogar.« Aber nicht auf diese Art von Nahrung. »Ich esse später.«
»Etwas Vernünftiges.«
»Natürlich. Was hast du gedacht? Es heißt nicht Hexenfrühstück, weil Hexen es frühstücken. Wir geben es unseren Opfern, um sie heimlich zu vergiften.«
»Dann hast du was falsch gemacht«, sagte Cindy. »Mit dem heimlich, meine ich.«
Bast verzog das Gesicht, ging aber nicht weiter darauf ein, sondern betrachtete Cindy nachdenklich. Etwas ... hatte sich geändert, nicht nur äußerlich. Anscheinend hatte das Mädchen beschlossen, ihre Taktik zu ändern, aber sie konnte nicht sagen, ob es Einsicht war oder Kalkül. Besser, sie ging von Letzterem aus.
»Ich habe in deinen Koffer geschaut«, sagte Cindy unvermittelt. »Hab was zum Anziehen gesucht, aber nichts gefunden. Warum hast du so viele Waffen mit?«
»Ich habe dir doch gesagt, ich bin eine Kriegerin«, antwortete Bast leicht verärgert. Was fiel dieser Cindy ein, ihr Gepäck zu durchwühlen?
»Blödsinn!«, sagte Cindy. »Das sind mindestens zwei Schwerter und jede Menge Messer, und noch anderer Kram. Ziemlich wertvolles Zeug.«
»Ja, und es ist gezählt«, antwortete Bast. »Komm nicht auf dumme Ideen.«
»Handelst du mit dem Kram?«, wollte Cindy wissen.
Vielleicht war das die bequemste Antwort. »Manchmal«, sagte sie. »Das spielt jetzt keine Rolle. Wir müssen über dich sprechen.«
Cindys Gesicht wurde wieder zu einer abweisenden Maske. »Wozu? Du hast doch sowieso schon alles entschieden, oder?«
»Das stimmt«, antwortete Bast. »Ich wollte dir nur die Chance geben, damit einverstanden zu sein. Ich bin nämlich eine nette Hexe, weißt du?«
»Und was genau hast du beschlossen?«, fragte Cindy.
»Noch nichts Endgültiges«, antwortete Bast. »Nur dass du nicht zu Maude zurückkannst oder auch nur in diese Gegend.«
»Weil es unmoralisch ist.«
Bast überging die Bemerkung. »Ich kenne jemanden, der dir vielleicht helfen kann«, sagte sie. »Ich muss noch mit ihm ... ihr ... reden, aber ich bin zuversichtlich, dass wir eine Lösung finden. Aber dazu muss ich dich eine Weile allein lassen. Meinst du, dass wir das hinkriegen? Freiwillig, meine ich?«
Cindy sah sie einen Moment lang durchdringend an, bevor sie nickte. »Ja.«
Es war ehrlich gemeint, das spürte Bast. Sie stand auf. »Dann mache ich mich am besten auf den Weg. Wenn Mrs Walsh zurückkommt, dann richte ihr aus, dass ich unterwegs bin, um unser ... gemeinsames Problem zu lösen.«
Cindy blickte sie fragend an, aber Bast hatte nicht vor, irgendeine weitere Erklärung abzugeben, sondern ging die Treppe hinauf und in ihr Zimmer, um sich einen Mantel zu holen, den letzten, den sie mitgebracht hatte. Noch ein weiteres Abenteuer wie gestern Abend konnte sie sich nicht leisten, es sei denn, sie wollte die Heimreise nackt antreten - oder in London auf Einkaufstour gehen.
Ihr Koffer stand offen, und es war nicht zu übersehen, dass Cindy den Inhalt durchwühlt hatte. Ein flüchtiges Gefühl von Zorn blitzte in ihr auf und erlosch wieder, als sie sich über den Koffer beugte, um wenigstens den Anschein von Ordnung wiederherzustellen. Alles war noch da, durcheinander, aber da. Cindy war anscheinend tatsächlich nur neugierig gewesen oder auf der Suche nach einem Kleidungsstück, das etwas kleidsamer war als Mrs Walshs Nachthemd.
Sie schlang den Mantel um die Schultern, wählte ein etwas längeres - und vor allem weniger kostbares - Schwert als gestern und schob es unter ihren Gürtel. Gerade wollte sie den Koffer schließen, als ihr ein Gegenstand auffiel, der nicht hineingehörte. Ein dünnes, in braunes Ölpapier eingeschlagenes Päckchen, das ganz unten unter ihren Kleidern lag.
Überrascht und verwirrt zog sie es hervor, und aus ihrem Erstaunen wurde ein leises Gefühl von Beunruhigung, als sie die dunkelbraun eingetrockneten Flecken sah, die das Papier besudelten. Das war Blut. Menschliches Blut. Und da war ... noch mehr.
Bast tastete mit den Fingerspitzen über das Papier, schloss die Augen und lauschte in sich hinein, und etwas ... regte sich. Es war, als flüstere das Papier zu ihr. Da waren Erinnerungen; vage Erinnerungen und chaotische Bilder, die nicht zu ihr gehörten. Gewalt Sie spürte ... Furcht. Blanke Todesangst und das verzweifelte Flehen, am Leben zu bleiben, und eine kurze, reißende Explosion aus alles hinwegfegender Gier.
Bast öffnete mit einem Ruck die Augen, und die chaotischen Bilder erloschen. Alles in ihr war aufgewühlt; und sie hatte die Kiefer so fest aufeinandergepresst, dass sie ihr eigenes Blut schmecken konnte. Ihre Finger zitterten leicht. Was immer dieses Päckchen enthielt, es war an einem Ort purer Gewalt und unbeschreiblicher Furcht gewesen.
Mit zitternden Fingern riss sie das Päckchen auf und sah einen Moment lang völlig verständnislos auf seinen Inhalt hinab. Es war eine dünne, auf den ersten Blick schwarz schimmernde Glasplatte, unter deren Oberfläche sich etwas zu bewegen schien, als wäre eine sonderbare Art von Leben darin gefangen, das herauswollte. Erst, als sie die Platte mit beiden Händen gegen das Licht hob, wurde ihr klar, was sie da hatte.
Es war eine photographische Platte, die eine Anzahl menschlicher Gestalten vor dem Hintergrund einer von schäbigen Backsteingebäuden gesäumten Straße zeigte, bar jeder Farbe und mit umgedrehten Schwarz- und Weißtönen. Eine Negativplatte, wie sie Photographen in ihren Kameras benutzten. Bast erkannte sogar die Szenerie, die in dem beschichteten Glas eingefangen war: Es war die Nacht in Whitechapel, in der sie Abberline zum ersten Mal begegnet war, und ausgelöst durch den Anblick erinnerte sie sich plötzlich wieder an den grellen Blitz, der sie erst auf die Szene aufmerksam gemacht hatte. Das Bild zeigte Liz' Leichnam, aber auch die zusammengelaufene Menge aus Neugierigen und Gaffern, die ihr Möglichstes getan hatten, um Abberline und seinen Männern die Arbeit zu erschweren. Und sie selbst, eine dunkle, in einen schwarzen Kapuzenmantel gehüllte Gestalt, die alle Umstehenden um eine gute Haupteslänge überragte. Und sie konnte sich nicht einmal ansatzweise erinnern, wie diese Photoplatte in ihren Besitz gekommen war, geschweige denn in ihren Koffer.
Bast hob die Schultern und wollte ihren sonderbaren Fund wieder zurücklegen, doch dann fuhr sie heftig zusammen, und ihre Finger schlossen sich so fest um die Photoplatte, dass das dünne Glas hörbar knirschte.
Auf der Photoplatte war nicht sie zu sehen. Sie konnte es gar nicht sein, denn sie war Dutzende von Schritten entfernt gewesen, und überhaupt erst durch das grelle Blitzlicht auf das Geschehen aufmerksam geworden. Und dennoch ...
Die Gestalt sah aus wie sie. Sie war groß - über sechs Fuß -, vollkommen in Schwarz gekleidet und trug einen Kapuzenmantel, unter dem ihr Gesicht völlig im Schatten blieb. Trotzdem konnte man irgendwie die weiblichen Formen unter dem fließenden schwarzen Stoff erahnen, und wenn man ganz genau hinsah - Bast hielt die Photoplatte höher gegen das Licht und kniff die Augen zusammen -, dann erahnte man unter der weit nach vorne gezogenen Kapuze eine ungebändigte dunkle Haarpracht, die sie spätestens seit ihrer Ankunft in diesem Land nicht mehr hatte. Auf dem Bild war nicht sie zu erkennen, sondern jemand, der ihr ähnelte wie eine Schwester. Und es auch war.
Isis.
Aber Isis war an diesem Abend nicht dabei gewesen. Jedenfalls nicht in ihrer wirklichen Gestalt.
Bast ließ die Photoplatte sinken und legte nachdenklich die Stirn in Falten.
Wie war das möglich? Isis war nicht da gewesen, aber auf dieser Photoplatte war sie ganz eindeutig zu sehen, und zwar in ihrer wirklichen Gestalt, die außer ihr vermutlich niemand auf diesem ganzen Kontinent kannte.
Und ganz plötzlich hatte sie Angst.
Hinter ihr wurden Schritte laut, und Bast ließ die Photoplatte fast hastig sinken und verbarg sie unter einem ihrer Kleider, bevor sie sich herumdrehte und Cindys Blick begegnete.
»Ich habe nichts rausgenommen«, sagte das Mädchen. »Es ist alles noch da.«
»Das ... weiß ich«, sagte Bast hastig. »Ich ... habe nicht deswegen nachgesehen.«
»Ach«, antwortete Cindy böse. »Weshalb dann?«
»Das geht dich nichts an«, versetzte Bast ärgerlich. Sie schlug den Koffer mit einem Knall zu, besann sich dann eines Besseren und öffnete ihn noch einmal, um die Photoplatte herauszunehmen und unter ihren Mantel zu schieben. »Ich brauchte noch ein paar Hexenkräuter. Du weißt schon - Krötenschenkel und Spinnenbeine und so ein Zeug. Was man eben für einen anständigen Fluch so braucht.«
»Ein Schwert?«
Bast sah an sich hinab. Ihr Mantel war nicht ganz geschlossen, und Cindy konnte das Schwert sehen, das sie unter ihren Gürtel geschoben hatte.
»Das gehört zu der Kriegerin in mir«, sagte sie. »Du bringst da was durcheinander.« Sie schloss ihren Mantel und - zum zweiten Mal - den Koffer. »Ich bin in ein paar Stunden zurück«, sagte sie. »Wenn du dann noch hier bist, reden wir. Und wenn nicht, ist es auch gut.«
Und in diesem Moment meinte sie das vollkommen ernst.
Den Polizeibeamten zu übertölpeln, den Abberline so unauffällig vor ihrer Tür zurückgelassen hatte, war geradezu beleidigend einfach gewesen. Bast hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht, auf ihre besonderen Kräfte zurückzugreifen, sondern hatte das Haus schlichtweg durch den Hinterausgang verlassen und war über die Mauer in einen der benachbarten Gärten gestiegen, um in die Parallelstraße zu gelangen.
Als deutlich schwieriger hatte es sich dann schon erwiesen, zu ihrem Ziel zu gelangen. Whitechapel zu finden erwies sich als nicht allzu schwierig - sie hatte es immerhin schon einmal zu Fuß und sogar im Dunkeln geschafft, wenn auch mit Umwegen -, aber sie brauchte beinahe noch einmal so lange, um den schäbigen Hinterhof zu finden, in dem Fayes Wohnung lag ... und selbstverständlich reagierte niemand auf ihr Klopfen.
Es kostete Bast zwei einfache Handgriffe und die Dauer eines Atemzuges, die Tür so zu öffnen, dass nicht einmal Abberlines Spezialisten irgendeine Spur eines gewaltsamen Eindringens finden würden. Aber auch diese Mühe war vergebens. Das Zimmer war leer und Fayes Bett ganz eindeutig unbenutzt.
Bast hatte ganz selbstverständlich angenommen, das Mädchen in tiefem Schlaf vorzufinden, erschöpft nach einer ebenso anstrengenden wie erniedrigenden Nacht, aber die war allem Anschein nach für Faye noch nicht vorbei. Und jetzt hatte sie tatsächlich ein Problem. Sie konnte nicht warten, bis sich der Zeitverlauf Whitechapels dem des übrigen London angepasst haben würde und die braven Bürger hier allmählich wach würden - was vermutlich irgendwann am späten Nachmittag der Fall war -, aber ganz auf sich allein gestellt wusste sie auch nicht, wie sie Faye finden sollte; von Isis gar nicht zu sprechen. Das Ten Bells war zu dieser frühen Stunde ganz bestimmt noch geschlossen, und ansonsten kannte sie hier absolut niemanden.
Nun gut, abgesehen von einer Ausnahme ...
Unzufrieden und übellaunig, wie sie war, erwog Bast tatsächlich einen Moment lang ernsthaft den Gedanken, zu Maude zu gehen und alles, was sie wissen wollte, schlichtweg aus ihr herauszuprügeln; wenn sie Glück hatte, war die Alte ja so zäh, wie sie aussah und beantwortete ihre Fragen nicht sofort. Aber diesmal war das Schicksal gnädig und bewahrte sie davor, etwas so Dummes zu tun. Sie verließ das schäbige Zimmer und verriegelte die Tür sorgfältig wieder hinter sich, und als sie auf halbem Wege zur Straße war, fuhr draußen eine zweispännige Kutsche vor und hielt direkt vor der gemauerten Toreinfahrt. Nur aus einem Gefühl heraus huschte Bast in den Schatten des künstlichen Gewölbes und sorgte auch darüber hinaus dafür, dass sie unsichtbar wurde.
Und wie sich zeigte, keinen Moment zu früh.
Die Tür der Kutsche öffnete sich, und Faye stieg aus. Sie wirkte müde und übernächtigt und war sehr blass und sah im Tageslicht deutlich jünger aus, als Bast sie in Erinnerung hatte, und plötzlich nicht mehr annähernd so unschuldig und kindlich, aber Bast schenkte ihr ohnehin nur einen flüchtigen Blick. Ihre Aufmerksamkeit galt beinahe vollständig dem Mann, der hinter ihr aus dem Wagen stieg. Es war Mr Monro.
Munro.
Bast sah schweigend und aufs Höchste überrascht zu, wie Monro hinter Faye aus der kostspieligen Kutsche stieg, sie kurz in die Arme schloss und ihr einen Abschiedskuss gab - allerdings erst, nachdem er sich mit einem raschen Blick davon überzeugt hatte, dass sie auch nicht beobachtet wurden. Im Herumdrehen drückte er ihr noch ein schmales Bündel Geldscheine in die Hand, dann stieg er wieder in seine Kutsche, die rasch davonfuhr.
Faye sah dem Wagen nach, bis er am Ende der Straße verschwunden war, und wandte sich dann mit einer müden Bewegung um, und Bast wartete, bis sie die Einfahrt durchquert hatte, dann wurde sie wieder sichtbar und vertrat ihr den Weg.
»Das war also Onkel Munro«, sagte sie, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten.
Faye riss überrascht die Augen auf. »Wo ... wo kommst du denn so plötzlich her?«
»Ich muss mit dir reden«, antwortete Bast, ohne direkt zu antworten. »Es ist wichtig.« Sie musste sich beherrschen, um nicht in die Richtung zu sehen, in der Monros Kutsche verschwunden war. Nach allem, was das Schicksal ihr seit ihrer Ankunft in diesem verfluchten Land angetan hatte, hatte es sich nun offenbar entschlossen, wenigstens ein bisschen davon wieder auszugleichen und ihr ein unerwartetes Geschenk zu machen.
»Worüber?«, fragte Faye. Sie klang unerwartet feindselig. »Mach es schnell. Ich bin müde und muss ein paar Stunden schlafen.«
»Ja, Onkel Munro und du, ihr hattet eine anstrengende Nacht, nehme ich an.« Bast bedauerte die Bemerkung schon, bevor sie ganz zu Ende gesprochen hatte, und Faye reagierte natürlich ganz genau so, wie sie es an ihrer Stelle vermutlich auch getan hätte: Ihre Augen blitzten zornig, und nun war alles, was sie auf ihrem Gesicht noch lesen konnte, purer Trotz.
»Was wird das?«, fauchte sie. »Hast du mir aufgelauert, um die Anstandsdame zu spielen und mir Vorhaltungen zu machen?«
»Nein.« Bast machte eine Kopfbewegung auf die Tür des schäbigen Zimmers. »Darf ich reinkommen? Nur für einen Moment?«
Im allerersten Augenblick schien nicht einmal das sicher, aber dann stülpte Faye trotzig die Unterlippe vor und nickte, und Bast geduldete sich, bis sie den Schlüssel aus ihrem Beutel gekramt und die Tür entriegelt hatte. Faye forderte sie nicht auf, ihr zu folgen, aber sie ließ die Tür hinter sich offen.
»Mach es kurz«, sagte Faye. »Ich bin wirklich müde und muss schlafen. Hast übrigens Glück, dass Marie-Jeanette noch nicht da ist. Ich versteh gar nicht, wo sie bleibt.«
»Marie-Jeanette?«
»Wir teilen uns das Zimmer, hab ich das nicht erzählt?« Faye beantwortete ihre eigene Frage mit einem Schulterzucken. »Früher nur manchmal, aber seit der vorletzten Nacht hat sie keine Unterkunft mehr ... deinetwegen.«
»Meinetwegen? Wieso?«
»Du bist vielleicht gut«, schnaubte Faye. »Bist du so naiv, oder spielst du nur die Dumme? Whitechapel steht Kopf, deinetwegen.«
»Wegen Roy?«, vermutete Bast.
»Eher wegen Maude und einer Menge unbequemer Fragen, die du gestellt hast«, antwortete Faye. »Aber auch wegen Roy. Nachdem er wieder laufen konnte, ist er zu Maude gekrochen und hat sich bei ihr ausgeweint. Schätze, die beiden sind nicht besonders gut auf dich zu sprechen.«
»Und was hat das mit Marie-Jeanette zu tun?«, fragte Bast.
Faye lachte hart. »Du bist vielleicht gut. Glaubst du wirklich, du kannst hier so einfach auftauchen, eine Menge komischer Fragen stellen und den berüchtigtsten Schläger der Stadt aufmischen und dich dann auch noch mit der fetten Maude anlegen und ihr ihr bestes Pferdchen wegnehmen, ohne dass jemand was tut? Die beiden schäumen vor Wut und gehen auf jeden los, der auch nur mit dir gesprochen hat! Roy hat die arme Marie-Jeanette grün und blau geschlagen, und Maude hat dafür gesorgt, dass sie aus ihrem Zimmer geflogen ist. Wenn ich sie nicht aufgenommen hätte, dann müsste sie jetzt auf der Straße schlafen.« Sie legte herausfordernd den Kopf schräg. »Also was willst du hier? Hast du noch nicht genug Schaden angerichtet und wartest darauf, dass sie jetzt auch noch auf mich losgehen?«
»Wenn das alles so stimmt«, antwortete Bast, »dann wundere ich mich fast, dass sie das nicht längst getan haben.«
»Was nicht ist, kann ja noch werden«, antwortete Faye schnippisch. »Ich hatte eben Glück.«
»Glück?«
»Und Munro«, bekannte Faye widerwillig. »Roy und Maude wissen von ihm - ist ja auch klar. Roy hat mich ja überhaupt erst mit ihm zusammengebracht. Schätze, sie wissen, dass ihm etwas an mir liegt, und wollen es sich nicht mit ihm verderben.«
»Und du?«, fragte Bast. Das Gehörte überraschte sie noch immer. Das Mädchen, das ihr gegenüberstand, schien kaum noch Ähnlichkeit mit der Faye aus der vorletzten Nacht zu haben. Nicht einmal äußerlich.
»Was soll mit mir sein?«, fragte Faye.
»Monro«, antwortete Bast, wobei sie ganz bewusst seinen richtigen Namen benutzte, um Fayes Reaktion zu testen.
»Du weißt, wer er ist?«, fragte das Mädchen auch prompt.
»Ich kenne ihn jedenfalls«, antwortete Bast. »Und ich weiß auch, was er ist. Also, wie ist es mit dir? Liegt dir auch etwas an ihm, oder ist es nur sein Geld und der Schutz, den er dir gewährt?«
»Und wenn?«
»Dann sollte dir klar sein, dass beides nicht von Dauer ist«, sagte Bast. »In ein paar Jahren sucht er sich eine Jüngere, oder er verliert ganz das Interesse an jungen Mädchen und erinnert sich wieder daran, dass er eigentlich ein angesehener Bürger dieser Stadt ist, glücklich verheiratet und Familienvater ... oder er wird einfach alt und stirbt.« Sie zuckte mit den Achseln, als interessiere sie das alles nicht wirklich. »So oder so, du bezahlst die Zeche, nicht er.«
»Und?«, fragte Faye. »Hatten wir das nicht schon?«
»Und ich hatte den Eindruck, dass du mir geglaubt hast«, sagte Bast. »Was hat sich geändert?«
»Na ja, das war, als ich dir vertraut hab«, sagte Faye, »blöd, wie ich war.«
»Und jetzt nicht mehr?«
Faye zögerte einen Augenblick. »Was du gesagt hast, hat sich gut angehört«, bekannte sie schließlich. »Und du hast mit Maude und Roys Bande auch eine verdammt gute Show abgezogen. Aber danach bist du verschwunden und hast dich einen Scheiß um das gekümmert, was mit uns ist.«
»Ich war einen Tag weg!«
»An einem Tag kann eine Menge passieren«, erwiderte Faye, stellte aber dann eine überraschende Frage. »Was ist mit Cindy? Geht es ihr gut?«
»Nicht besonders«, antwortete Bast offen. »Sie hat Angst.«
»Kann ich verstehen.« Faye gähnte ungeniert mit offenem Mund, sah sich in dem winzigen Zimmerchen um, als würde sie etwas ganz Bestimmtes suchen, und begann dann langsam ihr Kleid aufzuknöpfen. »Aber das ist dein Problem. Du wolltest sie haben, und jetzt hast du sie am Hals.«
Bast antwortete nicht gleich, sondern sah ihr einige Augenblicke lang fast widerwillig dabei zu, wie sie sich weiter entkleidete. Sie konnte nicht sagen, ob es pure Gedankenlosigkeit oder Absicht war, dass sie es langsam und mit fast lasziven Bewegungen tat, aber das Ergebnis war dasselbe: Der Anblick war ihr mit jedem Herzschlag unangenehmer. Er erinnerte sie daran, wie hungrig sie war.
»Vielleicht auch nicht«, sagte sie schließlich.
Faye streifte ihr Kleid ab und stand jetzt nur noch in einem dünnen Hemd vor ihr. Es war kalt hier drinnen, und das dünne Leinenkleid konnte nicht verbergen, wie sehr sie fror. Bast war jetzt sicher, dass sie das absichtlich tat.
»Ich habe dir angeboten, dir zu helfen, wenn du hier rauswillst. Erinnerst du dich?«
»Du hast nur leider nicht gesagt, wie das gehen soll.« Faye machte Anstalten, den Träger ihres Hemdes abzustreifen, und Bast streckte rasch den Arm aus und hielt ihre Hand fest.
»Dann sage ich es jetzt. Du hast mir von deinem Traum erzählt, erinnerst du dich? Irgendwo in Ruhe zu leben und ein eigenes Haus und vielleicht ein kleines Geschäft zu haben? War das wirklich dein Ernst, oder nur so dahingesagt?«
Ihre Hand hielt noch immer die von Faye, und das Mädchen machte keinen Versuch, die Hand zurückzuziehen, sondern legte ganz im Gegenteil nun auch noch die Linke auf Basts Finger, und plötzlich spürte sie, dass sie tatsächlich vor Kälte am ganzen Leib zitterte ... aber auch, wie weich und verführerisch zart ihre Haut war und wie gut sie roch ...
Bast prallte fast erschrocken vor ihr zurück und erteilte sich selbst in Gedanken eine scharfe Rüge. So hungrig war sie noch längst nicht.
»Und wenn es so wäre?«, fragte Faye. Sie klang irgendwie enttäuscht.
»Dann könnte ich dir helfen, diesen Traum wahr zu machen«, antwortete sie. »Du gehst von hier fort, am besten noch heute. Ich gebe dir Geld. Genug, um irgendwo neu anzufangen und dir dein Geschäft einzurichten. Am besten in einer anderen Stadt.«
»Einfach so?«, erkundigte sich Faye. »Wo ist der Haken?«
»Natürlich nicht einfach so«, erwiderte Bast. »Ich werde ein Auge auf dich werfen und darauf achten, dass du dich auch wirklich an unsere Vereinbarung hältst, und nicht in einer anderen Stadt einfach so weitermachst wie hier und dir einen neuen Onkel Munro suchst. Und den Haken kennst du. Er heißt Cindy.«
»Cindy?« Faye riss die Augen auf. »Was habe ich ...?«
»Ich möchte, dass du dich um sie kümmerst. Dafür bezahle ich dich. Du sorgst dafür, dass sie zur Schule geht und ein anständiges Mädchen wird, und solange du diese Aufgabe erfüllst, lasse ich dir regelmäßig Geld zukommen. Du wirst nicht reich, aber etwas Besseres als das hier werdet ihr euch allemal leisten können.«
Faye sah sie sehr lange und ebenso misstrauisch wie verwirrt an. Schließlich streifte sie ihren Träger nicht nur wieder hoch, sondern griff auch nach ihrem Kleid, um es sich vorzuhalten; als wäre sie ganz plötzlich schamhaft geworden. »Du meinst das wirklich ernst, wie?«, murmelte sie.
»Todernst«, bestätigte Bast.
»Warum?«, fragte Faye. Ihr Blick irrte immer hektischer über Basts Gesicht, als suche sie verzweifelt nach irgendeiner Spur von Spott oder Heimtücke hinter ihren Augen. »Ich meine: Was bist du? So etwas wie die gute Fee aus dem Märchen?«
»Nein«, antwortete Bast. »Für die meisten bin ich wahrscheinlich eher das Gegenteil. Aber erstens bin ich reich. Ich kann es mir leisten, großzügig zu sein. Und zweitens ...«
»Zweitens?«
»Hast du recht«, antwortete Bast. »Ich hätte Cindy nicht mitnehmen sollen. Es war ein Fehler. Die Vorstellung, ein unschuldiges Mädchen aus den Klauen einer gierigen Puffmutter zu befreien, hatte in diesem Moment einen gewissen Reiz für mich, aber inzwischen glaube ich beinahe, dass es keine besonders gute Idee war.«
»Dann bring sie zurück«, sagte Faye. »Maude wird sich freuen.«
»Dafür ist es zu spät«, sagte Bast. »Ich habe sie am Hals, und damit habe ich ein Problem. Also was liegt näher, als mein Problem zu deiner Lösung zu machen? Du willst von hier weg? Nimm mir diese Göre ab, und ich erfülle dir deinen Wunsch.«
»Warum nimmst du sie nicht einfach mit, wenn dir so viel an ihr liegt?«
»Das geht nicht«, antwortete Bast. »Also?«
»Also was?« Faye blinzelte.
»Also, was sagst du? Bist du einverstanden?«
»Einverstanden?« Faye lachte nervös. »Du glaubst doch nicht, dass ... dass ich eine solche Entscheidung in einer Minute treffe, oder? Gib mir ein paar Tage Zeit, um ...«
»Das geht nicht«, unterbrach sie Bast. »Das ist der zweite Haken an der Sache. Du musst dich jetzt entscheiden. Nicht in einer Minute, aber heute.«
»Heute noch?«, ächzte Faye. »Wieso?«
»Weil ich fortmuss. Ich muss die Stadt verlassen, vielleicht das Land. Dringende Geschäfte, wenn du verstehst.«
»Dringende Geschäfte?« Faye lachte nervös. »Du bist ja verrückt!«
»Vermutlich«, antwortete Bast. »Aber das sollte nicht deine Sorge sein.«
»Vielleicht doch«, widersprach Faye. Sie war noch immer vollkommen perplex. »Ich meine - wer sagt mir denn, dass du nicht wirklich verrückt bist? Was ist, wenn ich wirklich von hier weggehe und dann irgendwo ganz allein mit Cindy bin? Wer sagt mir denn, dass du uns wirklich Geld schickst? Vielleicht ist das ja deine ganz persönliche Art von Humor.«
Bast seufzte tief. Sie konnte Faye ja verstehen. Die junge Frau hatte in ihrem kurzen Leben schon zu viele Enttäuschungen erlebt, um noch irgendjemandem zu trauen, schon gar nicht einer Wildfremden, die quasi aus dem Nichts aufgetaucht war und sich als die gute Fee aus dem Märchen entpuppte. Statt zu antworten, griff sie in ihren Beutel und zog einen fingernagelgroßen Rubin heraus, den sie Faye reichte.
»Nimm das einfach als Anzahlung«, sagte sie.
Faye riss ungläubig die Augen auf. »Ist der ... echt?«, flüsterte sie.
»Ja«, antwortete Bast. »Wenn du ihn verkaufst, könnt ihr allein davon ein Jahr gut leben. Wahrscheinlich länger. Überzeugt dich das?«
Wie es aussah, lautete die Antwort auf diese Frage ganz eindeutig nein. Faye sah immer noch hoffnungslos hilflos und verwirrt aus - aber ihr Misstrauen nahm eher noch zu. »Dann ist er gestohlen«, behauptete sie. »Wahrscheinlich werden sie mich verhaften und ins Gefängnis werfen, wenn ich versuche, ihn zu verkaufen.«
Bast verzog das Gesicht. »Ein kleines Risiko wirst du wohl eingehen müssen, fürchte ich. Also überleg es dir einfach, aber nicht zu lange. Bis heute Nachmittag brauche ich eine Antwort. Den Stein kannst du behalten, ganz egal, wie du dich entscheidest.«
Faye starrte weiter den Rubin auf ihrer ausgestreckten Handfläche an. jetzt war sie wirklich erschüttert. »Das ... das ist für mich?«
»Ja«, antwortete Bast. »Aber mach dir auch keine übertriebenen Hoffnungen. Eine Wohnung, ein kleines Geschäft und genug, damit ihr nicht hungern müsst und es im Winter warm habt, das ist alles - und so, wie ich dieses Land bisher kennen gelernt habe, ist das schon mehr, als die allermeisten anderen haben. Überlege es dir, bis ich zurück bin.«
»Zurück?« Es kostete Faye sichtliche Mühe, ihren Blick von dem blutfarbenen Stein auf ihrer Handfläche loszureißen. »Von wo? Wann?«
»Das ist der zweite Grund, aus dem ich hier bin«, antwortete Bast. »Ich muss mit Isis sprechen.«
»Isis?«
»Patsy, Patsy Kline. Ich muss sie finden. Dringend.«
»Aber ich weiß nicht, wo sie ist. Niemand weiß das. Ich habe dir doch gesagt, dass sie kommt und geht, wie es ihr gerade passt. Manchmal ist sie wochenlang verschwunden.«
Genauer musste es wohl heißen: Manchmal konnte sie wochenlang niemand sehen, dachte Bast ... aber das Ergebnis war wohl dasselbe. Sie musste nicht einmal Fayes Gedanken lesen, um zu erkennen, dass das Mädchen die Wahrheit sagte.
»Aber du weißt, wie ich sie finden kann«, vermutete sie. »Komm schon. Irgendeinen Weg muss es doch geben, mit ihr Kontakt aufzunehmen. Es wäre sehr wichtig für mich.«
»Ein Grund mehr, dir nicht zu helfen«, sagte Faye. »Je länger du brauchst, um sie zu finden, desto mehr Zeit bleibt mir zum Überlegen, oder?«
»Leider nicht«, sagte Bast. »Ich verlasse London spätestens heute Abend, ob ich Patsy gefunden habe oder nicht. Es wäre eben nur sehr wichtig, dass ich mit ihr rede. Für dich macht es keinen Unterschied.«
»Warum? Ich meine: Warum musst du mit ihr reden?«
»Ich muss sie warnen«, antwortete Bast. »Ich glaube, dass sie in großer Gefahr ist - und jetzt frag mich nicht, wieso. Das geht dich nichts an.«
»Ich glaube fast, ich will es auch gar nicht wissen.« Faye schloss mit einem Ruck die Faust um den Edelstein. »Aber ich kann dir nicht helfen. Ich weiß wirklich nicht, wo Patsy ist ... oder Isis oder wie immer sie auch heißt. Vielleicht kann Red dir helfen.«
»Red? Der Kellner aus dem Ten Bells«
»Angeblich hat er mal was mit Patsy gehabt«, sagte Faye. »Glaub ich aber nicht. Jedenfalls erzählt man sich, dass er weiß, wo Patsy sich versteckt. Aber ich weiß nicht, ob es stimmt.«
»Dann sollte ich ihn vielleicht selbst fragen«, sagte Bast. »Wo finde ich ihn?«
»Er hat ein Zimmer direkt über dem Ten Bells«, antwortete Faye. »Aber die haben erst vor einer guten Stunde Schluss gemacht. Jetzt schläft er bestimmt.«
»Vermutlich«, sagte Bast. »Tja, dann werde ich ihn wohl wecken müssen.«
Ganz wie Faye vorausgesagt hatte, war das Ten Bells geschlossen, und dasselbe schien auch für die gesamte Straße zu gelten. Bast begegnete auf dem ganzen Weg nahezu niemandem, und ihre Sinne verrieten ihr auch den Grund dafür: In kaum einem der Häuser, an denen sie vorbeikam, schien jemand wach zu sein. Hier und da erblickte sie einen einsamen Fußgänger, und ein- oder zweimal hörte sie das Weinen eines Kindes, aber der allergrößte Teil Whitechapels lag noch in tiefem Schlaf. Anscheinend tickten die Uhren hier anders als im übrigen London.
Bast sollte es recht sein. Sie war weder erpicht auf neugierige Blicke noch auf irgendeine Unterhaltung; also tarnte sie sich, indem sie die Gestalt einer sowohl von ihrer Erscheinung als auch Kleidung her unauffälligen Frau mittleren Alters annahm und sich zumindest weit genug beherrschte, nicht allzu schnellen Schrittes dahinzueilen. Niemand, der nicht aus dem einen oder anderen Grund auf der Flucht war, rannte hier. Die wenigen Menschen, denen sie überhaupt begegnete, schlurften mit müden Schritten und hängenden Schultern dahin. Selbst der Konstabler, der ihr auf halbem Wege auf der anderen Straßenseite entgegenkam - anscheinend hatten sich Abberlines Vorgesetzte entschlossen, zumindest nach außen hin Präsenz zu zeigen -, schien im Gehen vor sich hin zu dösen und streifte sie nur mit einem desinteressierten Blick, bevor er wieder in seine Tagträume versank.
Ihre Geduld war jedoch endgültig aufgebraucht, als sie das Ten Bells erreichte. Die heruntergekommene Kaschemme sah bei Tageslicht noch schäbiger und erbärmlicher aus als bei Nacht, und der Gestank nach kaltem Rauch, abgestandenem Bier und angebranntem Fleisch schlug ihr schon in zwanzig Schritten Entfernung entgegen und nahm ihr schier den Atem.
Sie machte sich nicht die Mühe, anzuklopfen - es hätte sowieso niemand reagiert -, sondern warf nur einen sichernden Blick in beide Richtungen, stellte fest, dass sie allein auf der Straße war und trat dann kurzerhand die Tür ein. Das morsche Holz zersplitterte wie Glas unter ihrem Fuß, und sie legte vorsichtshalber die Hand auf den Schwertgriff, als sie gebückt unter der niedrigen Tür hindurchtrat, obwohl sie wusste, dass auf der anderen Seite niemand auf sie wartete.
Es war sehr still und so dunkel, dass ihre Augen ein oder zwei Sekunden brauchten, um sich umzustellen. Die Läden waren vorgelegt und ließen nur dünne Streifen aus grauem Licht herein, in denen Staub tanzte, und nach einem Moment glaubte sie doch ein Geräusch zu hören: ein unregelmäßiges rasselndes Schnarchen, das unter einem der Tische am anderen Ende des großen Schankraumes hervordrang. Anscheinend hatte man einen der Zecher dort vergessen.
Obwohl sich das Ten Bells über drei Gebäudebreiten erstreckte, bestand das Erdgeschoss doch nur aus drei Räumen: dem Schankraum, einer schmuddeligen Küche, bei deren Anblick Bast ein stummes Dankgebet zu Ra schickte, hier niemals etwas gegessen zu haben, und einer winzigen Kammer, aus der eine Treppe ins obere Geschoss hinaufführte. Bast lauschte einen Moment in sich hinein und registrierte nur ein einziges, eher schwaches Lebenszeichen. Trotzdem ließ sie die Hand auf dem Schwertgriff, während sie die ausgetretenen Stufen hinaufeilte. Sie hatte in letzter Zeit zu viele unangenehme Überraschungen erlebt.
Das Obergeschoss des Ten Bells erwies sich als das genaue Gegenteil des unteren: Es war ein wahres Labyrinth winziger, verschachtelter Gänge und Kammern, von denen die meisten nicht einmal Fenster hatten und als Lager, Rumpelkammer oder auch anderen, vermutlich weniger legalen Zwecken dienten. Auf gut Glück hätte sie womöglich eine halbe Stunde gebraucht, um den gewaltigen Dachboden abzusuchen, der sich tatsächlich über die ganze Länge des Häuserblocks zu erstrecken schien, aber sie war nicht auf Glück angewiesen.
Bast lauschte einen Moment konzentriert und vernahm das Geräusch regelmäßiger Atemzüge, und als sie weiterging, einen langsamen, sehr schwachen Herzschlag irgendwo vor ihr. Da war noch etwas, wie ein flüchtiges Erkennen, ohne dass sie wirklich begriff, was sie da spürte, und das Gefühl entglitt ihr auch, bevor sie sich wirklich sicher sein konnte.
Sehr vorsichtig und die Hand schon wieder griffbereit auf dem Schwert, ging sie weiter, öffnete eine Tür und trat in ein winziges, kaum erhelltes Zimmer voller schlechter Luft und uralter, größtenteils beschädigter Möbel. Red lag auf einem schäbigen, aber sehr breiten Bett und schlief. Der schwache Herzschlag, den sie gehört hatte, stammte von ihm, und seine Atemzüge waren kaum kräftiger. Er sah schlecht aus.
Bast überzeugte sich mit einem ebenso raschen wie überflüssigen Blick davon, dass sie auch tatsächlich allein waren, steckte das Schwert ein und ließ sich neben dem schlafenden Jungen in die Hocke sinken. Sie revidierte ihre erste Einschätzung: Red sah nicht schlecht aus, er bot einen erschreckenden Anblick. Sein Gesicht war nahezu grau und von dunklen, tief eingegrabenen Linien durchzogen, an die sie sich nicht erinnern konnte, zumindest nicht in dieser Ausprägung, und auf seiner Stirn glitzerte kalter, ungesunder Schweiß. Ihr Geruchssinn verriet ihr, dass eine Frau bei ihm gewesen war, in der zurückliegenden Nacht, aber so, wie er aussah, wäre es wohl um ein Haar vielleicht seine letzte Liebesnacht gewesen.
Seltsam. Sie hatte gespürt, dass er krank war, aber nicht, dass es so schlecht um ihn stand.
Irgendwo hinter ihr bewegte sich etwas. Bast drehte rasch den Kopf, sah aber nichts, und als sie sich wieder zu Red herumdrehte, standen seine Augen auf, und er sah sie an. Seltsamerweise wirkte er nicht einmal im Geringsten überrascht, sie zu sehen.
»Du bist noch da?«, murmelte er verschlafen. Für einen Moment erschien sogar die Andeutung eines Lächelns auf seinem blassen Gesicht. Er versuchte sich auf die Ellbogen hochzustemmen, war aber eindeutig selbst für diese kleine Anstrengung zu schwach. Bast drückte ihn mit sanfter Gewalt auf sein verschwitztes Lager zurück.
»Bleib liegen«, sagte sie. »Ich habe nur eine einzige Frage an dich, dann kannst du weiterschlafen. Du musst sie nicht einmal laut beantworten.«
Red nickte schwach, und dann ... änderte sich etwas in seinem Blick. Es war, als erkenne er sie zum zweiten Mal, oder eben auch nicht.
»Sie?«, murmelte er. »Aber wie ...?«
»Es ist alles in Ordnung«, sagte Bast rasch. »Du brauchst keine Angst zu haben. Ich will nur ...« Sie sprach nicht weiter, als der Ausdruck von Verwirrung in seinen Augen in nackte Angst umschlug. »Was ist los?«, fragte sie verwirrt. »Ich habe dir doch gesagt, dass ...«
»Du solltest den armen Jungen nicht so erschrecken«, sagte eine spöttische Stimme hinter ihr. »Ich gebe ja gerne zu, dass er seine Fehler hat, aber das hat er nun wirklich nicht verdient.«
Bast fuhr herum und zog noch im Aufspringen ihr Schwert, aber sie war trotzdem nicht schnell genug. Isis - in ihrer wahren Gestalt, so groß und schwarz wie sie und mit nichts als ihrem wallenden roten Haar bekleidet - trat aus den Schatten heraus. Sie hatte ein Schwert in der rechten Hand, dessen Spitze Basts Kehle berührte, noch bevor sie ihre eigene Waffe auch nur halb gezogen hatte.
»Versuch es lieber erst gar nicht«, sagte sie, noch immer lachend. »Ich kenne dich. Du bist besser mit dem Schwert als ich, viel zu gut, als dass ich dir eine Chance geben könnte.«
»Und was hast du vor?«, fragte Bast mühsam. Der Druck der Schwertspitze auf ihrer Kehle war so fest, dass sie den Kopf in den Nacken legen musste, um überhaupt sprechen zu können. Noch eine Winzigkeit mehr, und sie würde einfach hintenüberfallen und Red unter sich begraben. »Und was hast du jetzt vor? Mich töten?«
»Nein«, antwortete Isis, aber erst nach einem Moment, so als hätte sie tatsächlich über diese Frage nachdenken müssen. »Aber ich habe kein Problem damit, dir weh zu tun, wenn du mich dazu zwingst. Sehr weh. Glaubst du mir?«
»Jedes Wort«, ächzte Bast. Der Druck der Schwertspitze verstärkte sich noch, und ein einzelner Blutstropfen lief an ihrem Hals hinab.
»Dann nehme ich an, dass du mir dein Wort gibst, keine Dummheiten zu machen?«
»Was soll der Unsinn?«, fauchte Bast. »Hast du den Verstand verloren? Nimm das verdammte Schwert herunter!«
Isis reagierte - natürlich - nicht sofort, sondern verstärkte den Druck auf ihre Kehle sogar noch, sodass sich ein weiterer Blutstropfen zu dem ersten gestellte, dann aber ließ sie das Schwert sinken und trat rasch einen halben Schritt zurück.
Bast funkelte sie an, hob die Hand an den Hals und sah Isis dann noch einmal und noch zorniger an, als sie das frische Rot auf ihren Fingerspitzen registrierte. »Bist du verrückt geworden? Was soll denn dieser Unsinn?«
»Man muss vorsichtig sein«, antwortete Isis lächelnd. Bast fiel auf, dass sie das Schwert zwar gesenkt hatte, aber nicht ganz. Sie hielt es noch immer in der rechten Hand und nur scheinbar locker. Irgendetwas stimmte hier nicht.
»Du weißt doch selbst, wie das ist. Als Frau in einem fremden Land muss man immer auf der Hut sein. Was willst du hier? Ich meine: Ich freue mich immer, wenn du mich besuchst, aber du hättest dich vorher anmelden sollen. Nur ein paar Minuten eher, und du hättest uns in einer einigermaßen peinlichen Situation überrascht.«
Überrascht war im allerersten Moment vor allem Bast selbst. Einen einzelnen, schweren Herzschlag lang starrte sie Isis einfach nur an, dann drehte sie sich mit einem Ruck herum und sah auf Red hinab. Er hatte sich wieder zurücksinken lassen und schien zu schlafen.
»Keine Sorge«, sagte Isis. »Er wird sich an nichts erinnern.«
»Red?«, murmelte Bast ungläubig. »Red und du? Dieser arme Junge ...«
»Hat seine Qualitäten, wie ich schon einmal gesagt habe«, fiel ihr Isis ins Wort. Sie klang ein bisschen gereizt. »Du bist aber nicht hier, um mir Vorwürfe zu machen, oder?«
Bast hatte Mühe, die Worte überhaupt zu hören. Sie starrte immer noch Red an, und es fiel ihr immer noch schwer, zu glauben, was sie sah. Isis und ... dieses Kind?
Und doch ergab plötzlich alles einen schrecklichen Sinn. Sie hatte gespürt, dass Red bereits vom Tod gezeichnet war. Dass es da irgendetwas gab, was ihn langsam von innen heraus auffraß und ihm das Leben nahm. Aber sie hätte sich niemals träumen lassen, dass ...
»Warum tust du das?«, murmelte sie fassungslos.
»Man muss leben«, antwortete Isis spöttisch. »Außerdem ist er süß. Er hat mir gleich im ersten Moment gefallen ... und ich bin ziemlich sicher, dass er es auch genießt.«
»Du weißt verdammt noch mal ganz genau, was ich meine!« Bast fuhr zornig herum. »Du bringst diesen Jungen um? Wie lange gibst du ihm noch? Ein paar Tage? Eine Woche? Was soll das? Wieso er?«
»Wie gesagt: Man muss leben«, antwortete Isis. »Du doch auch, oder?«
»Aber ich töte keine Kinder«, zischte Bast. »Was ist los mit dir? Wieso hast du dich so verändert? Du warst einmal die Göttin des Lebens, erinnerst du dich überhaupt noch daran?«
»Und ich bin es immer noch.« Isis legte endlich das Schwert aus der Hand und sah sich um, vermutlich auf der Suche nach ihrem Kleid oder Mantel, rührte sich aber dann doch nicht. Aber sie wurde plötzlich ernster. »Er stirbt ohnehin«, sagte sie. »Überzeuge dich ruhig selbst, wenn du mir nicht glaubst. Er hat vielleicht noch ein Jahr, vielleicht auch weniger. Ich gebe ihm noch ein paar schöne Stunden.«
»Und stiehlst ihm dafür ebenso viele Monate«, fiel ihr Bast ins Wort. »Bei Ra, ich frage mich, ob ich mich nicht getäuscht habe und du vielleicht doch mehr mit Horus und den anderen gemein hast, als ich geglaubt habe.«
»Wer weiß«, antwortete Isis ruhig. »Wir alle täuschen uns dann und wann.« Sie machte eine ärgerliche Geste, als Bast antworten wollte. »Aber ich nehme nicht an, dass du nur hierhergekommen bist, um mit mir zu streiten, oder? Was willst du?«
Ja, was wollte sie eigentlich? Bast war im allerersten Moment um die Antwort fast verlegen. Natürlich wusste sie, warum sie hierher gekommen war ... aber Isis' Anblick verstörte sie. Sie hatte sie unzählige Male nackt gesehen. Sie alle kannten sich ein paar tausend Jahre zu lange, als dass es noch so etwas wie Scham zwischen ihnen geben konnte, aber plötzlich war da etwas ... Neues.
Sie verscheuchte den Gedanken erschrocken.
»Ich war auf der Suche nach dir«, sagte sie. »Jemand hat mir gesagt, dass Red vielleicht wissen könnte, wo du dich versteckst.«
»Jemand?« Isis runzelte die Stirn, dann nickte sie. »Faye, vermute ich. Ich habe Red immer gesagt, dass er diesem kleinen Biest nicht trauen kann.«
»Ich hatte allerdings erwartet, dass du eine etwas ... angemessenere Unterkunft gefunden hättest.« Bast sah sich demonstrativ stirnrunzelnd um, aber Isis lachte nur.
»Weltliche Besitztümer haben mir nie viel bedeutet«, sagte sie. »So wenig wie dir.« Sie begann in dem winzigen Zimmer auf und ab zu gehen, mit geschmeidigen, katzenhaft anmutenden Bewegungen, die eine Wirkung auf Bast ausübten, die sie ganz und gar nicht wollte, gegen die sie aber auch ganz und gar wehrlos war.
»Also gut. Du hast mich gesucht, und du hast mich gefunden. Was genau willst du von mir?«
»Ich verlasse die Stadt und das Land«, antwortete Bast. »So schnell wie möglich. Wahrscheinlich noch heute. Ich möchte, dass du mit mir kommst.«
»Warum?«, fragte Isis.
»Weil du nicht hierher gehörst«, antwortete Bast. »So wenig wie ich oder ... irgendeiner von uns. Diese Menschen hier wollen uns nicht. Sie brauchen uns nicht.«
»Die Menschen haben immer Götter gebraucht«, antwortete Isis. »Was bringt dich auf die Idee, dass sich das geändert haben könnte?«
»Vielleicht, weil sie ihre eigenen haben?«
Isis lachte. »Sie haben ihnen vielleicht andere Namen gegeben, aber glaub mir, es sind noch immer dieselben. Wir sind es. Wir waren es immer, und wir werden es immer sein.«
»Ja«, antwortete Bast böse. »Deshalb versteckst du dich ja auch in diesem Loch.«
Isis setzte zu einer Entgegnung an, beließ es aber dann bei einem Kopfschütteln und einem lautlosen Seufzen. »Deshalb bist du nicht hier, oder? Was genau willst du?«
Vielleicht hätte sie sich diese Frage stellen sollen, bevor sie an Land gegangen war, dachte Bast. Die Wahrheit war: Sie wusste es nicht. Oder nein: Die ganze Wahrheit war, dass sie es sehr wohl wusste, dieses Wissen aber so tief in sich verborgen hatte, dass sie sie sich nicht einmal jetzt eingestehen konnte.
Vielleicht nur, um den Gespenstern ihrer Vergangenheit Einhalt zu gebieten, griff sie unter ihren Mantel und zog die Photoplatte hervor. »Im Grunde wollte ich dir nur dein Geschenk zurückbringen«, sagte sie.
Isis sah sie einen kurzen Moment lang mit überzeugend geschauspielerter Verständnislosigkeit an, bevor sie nach der beschichteten Glasscheibe griff und sie nach einem abermaligen kurzen Zögern ins Licht hielt. Mindestens zehn Sekunden lang blickte sie sie mit vollkommen unbewegtem Gesicht an, bevor sie - widerwillig anerkennend - nickte.
»Ich würde sagen, ich bin nicht besonders gut getroffen.«
»Vor allem, wenn man bedenkt, dass du gar nicht da warst«, sagte Bast.
Isis reichte ihr die Photoplatte zurück, und Bast beobachtete fasziniert das Spiel ihrer Muskeln unter der glatten, ebenholzschwarzen Haut. »Das ist beunruhigend«, sagte sie. »Sollten wir anfangen, uns Sorgen zu machen?«
»Worüber?«
»Über Photographien«, antwortete Isis, »und andere Errungenschaften der modernen Zeit. Wenn so etwas Schule macht, dann bekommen wir ein Problem. Den menschlichen Geist kann man in die Irre führen, eine ... Maschine nicht. Jedermann könnte uns sehen.«
»Nicht alles, was die Menschen sich ausdenken, hat auch Bestand«, antwortete Bast. »Ich muss dir nicht sagen, wie viele großartige Erfindungen wieder in Vergessenheit geraten sind. Nützlichere als diese Photographien.« Sie machte eine unwillige Geste, als Isis etwas darauf erwidern wollte. »So oder so, wir können es wohl nicht aufhalten. Aber warum hast du es mir gebracht?«
»Ich?« Isis machte ein verwirrtes Gesicht. »Ich sehe das jetzt zum ersten Mal. Wo hast du es her?«
»Es war in meinem Gepäck.«
»Und ich habe nicht die geringste Ahnung, wo du wohnst«, antwortete Isis. »Und es interessiert mich auch nicht. Anders als so manche, die ich kenne, bin ich nämlich der Meinung, dass jeder das Recht auf ein wenig Privatsphäre hat.«
Bast ignorierte die Spitze. »Wenn du es nicht warst, wer soll es dann gewesen sein?«
»Woher soll ich das wissen?«, fragte Isis. »Warum fragst du nicht Horus?«
Bast starrte sie an. »Du ... weißt es noch nicht?«
»Was?«
»Horus«, antwortete Bast. »Und Sobek.« Isis blickte nur noch verwirrter, und Bast hatte plötzlich fast Mühe weiterzusprechen. Sie hatte sich nie besonders wohl in der Rolle des Überbringers schlechter Nachrichten gefühlt. »Sie sind tot.«
»Tot?«, wiederholte Isis. »Bist du sicher?«
»Ganz sicher«, antwortete Bast. »Sie ... sind verbrannt. Beide.«
Isis starrte sie an, als zweifele sie an ihrem Verstand, aber sie wirkte nicht besonders erschrocken ... und wie auch? Sogar Bast fiel es immer noch schwer, den Gedanken zu akzeptieren, dass ihre alten Weggefährten wirklich tot sein sollten.
»Verbrannt«, wiederholte Isis schließlich. »Wann ist das passiert?«
»Gestern Abend«, antwortete Bast. »Es tut mir leid, dass du es von mir erfahren musst. Ich war dabei. Ich habe es gesehen.«
»Ich weiß«, sagte Isis.
»Was?«
»Dass du dabei gewesen bist«, antwortete Isis. »Du hättest ihnen helfen können, meinst du nicht? Ganz gleich, was zwischen euch war - Verbrennen ist kein schöner Tod.«
»Du weißt, dass ich dabei war?«, wiederholte Bast alarmiert. »Woher?«
»Von Horus«, antwortete Isis. »Er war ziemlich wütend. Du solltest ihm in nächster Zeit vielleicht besser aus dem Weg gehen.«
»Horus lebt?«, wiederholte Bast ungläubig.
»Er lebt«, bestätigte Isis. »Eins muss man dir lassen: Wenn du dir Feinde machst, dann gründlich.« Sie lachte leise. »Du solltest ihm besser die nächsten fünfzig oder hundert Jahre aus dem Weg gehen. Ich weiß nicht, ob er sein ehernes Prinzip, keinen von uns umzubringen, in deinem Fall aufrechtzuerhalten gedenkt.«
»Wann hast du mit ihm gesprochen?«, fragte Bast. »Wo?«
»Vergangene Nacht«, antwortete Isis. »Er hat mir erzählt, dass Sobek es nicht überstanden hat. Seine Verbrennungen waren zu schwer, als dass er sich hätte regenerieren können. Ich weiß nicht, ob ich darüber besonders traurig sein soll. Ich fand ihn immer ziemlich widerlich, ihn und seine Nildrachen.«
Bast war noch immer wie vor den Kopf geschlagen. Ihr schwindelte, und sie musste sich gegen die Wand lehnen. Sie hatte Sobek als brennende Fackel davonstürzen sehen, aber es jetzt aus Isis' Mund zu hören, dass Sobek wirklich tot war, aber dass Horus lebte, war fast mehr, als sie ertragen konnte.
Dann war der Schatten, der aus der Tiefe emporgeflogen war, doch keine Illusion gewesen.
»Horus hatte von uns allen immer schon die größte Widerstandkraft gegenüber dem Feuer«, fuhr Isis fort. »Nicht umsonst hat man ihn als Sonnengott verehrt. Aber es hat ihn ziemlich übel erwischt, und jetzt hat er sich in ein Versteck zurückgezogen und leckt seine Wunden.« Sie grinste. »Vielleicht findet sich ja auch eine nette Engländerin, die es für ihn tut.«
»Und wo ist dieses Versteck?«
»Keine Chance.« Isis schüttelte den Kopf. »Ich würde ihm nicht verraten, wo du dich versteckst, und ich verrate dir nicht, wo du ihn findest. Euer Streit geht mich nichts an.«
»Du bist doch schon mitten drin!«, behauptete Bast. »Wie lange glaubst du wohl, kannst du noch so tun, als ob dich das alles nichts angeht? Wenn er mit mir fertig ist, dann bist du dran. Horus wird dich töten.«
»Der Einzige, der bisher getötet wurde, ist Sobek«, antwortete Isis ernst. »Horus würde mir niemals etwas antun. Wir waren einmal verheiratet, falls du das vergessen haben solltest.« Plötzlich wurde sie wütend. »Ich frage dich noch einmal: Was willst du von mir? Ich bin weder in Gefahr, noch führe ich ein Leben, das mir nicht gefällt. Also was, zum Teufel, willst du?«
Bast schwieg, und Isis - genau so jäh wieder ruhig, wie sie gerade wütend geworden war - kam zwei Schritte näher und sah sie durchdringend aus ihren großen, unergründlichen Augen an. »Soll ich dir sagen, warum du in dieses Land gekommen bist?« Sie kam einen weiteren Schritt näher, und Bast spürte, wie ihr Herz ein wenig schneller zu schlagen begann. Sie wünschte sich, Isis würde das nicht tun - und zugleich musste sie sich mit aller Macht beherrschen, um sie nicht an sich zu ziehen und das Gesicht in ihrem herrlich duftenden Haar zu vergraben und ihre weiche Haut mit den Händen und den Lippen zu liebkosen.
»Du bist meinetwegen hier«, fuhr Isis fort. »Du glaubst, du wärst gekommen, um mich vor Horus zu warnen, und dem, was er plant, wahrscheinlich glaubst du das sogar selbst - aber die Wahrheit ist, dass du nur meinetwegen hier bist. Du liebst mich.« Und plötzlich, warnungslos und mit der ganzen übermenschlichen Kraft ihres göttlichen Körpers, riss sie sie an sich und presste ihre Lippen auf Basts Mund.
Im allerersten Moment versuchte sie sich zu wehren, aber es war unmöglich, Isis' Griff zu sprengen, ohne echte Gewalt anzuwenden, und wahrscheinlich hätte auch das nicht einmal etwas genutzt, denn Isis war mindestens so stark wie sie, wenn nicht stärker, und Bast war noch immer vollkommen überrascht, und dann war die Chance vorbei, Basts Lippen wurden weich und fordernd, und Isis' Zunge fand wie von selbst den Weg in ihren Mund ... gerade lange genug, um eine Explosion aus reiner weißer Glut in Bast auszulösen und sie ein leises, sinnliches Stöhnen ausstoßen zu lassen. Dann lösten sich nicht nur Isis' Lippen von den ihren, auch ihre Hände, die bisher ihr Gesicht festgehalten hatten, glitten hinab, und sie trat einen Schritt zurück. Nur ihr Blick hielt den Basts weiter unerbittlich fest.
»Du hast mich immer geliebt«, fuhr sie fort, »vom ersten Tag an. Ich liebe dich auch, Bastet - aber nicht so.«
»Aber du ...«
»Diese eine Nacht in Memphis war wunderschön, Bastet«, fuhr Isis ungerührt fort. »Ich habe sie genossen, und ich denke selbst heute noch manchmal daran. Aber es war nur eine Nacht, und es ist lange her. Zu lange, um es zu wiederholen. Was zwischen uns war, war ein herrlicher Traum. Mach ihn nicht kaputt.«
»Aber es könnte ... mehr werden«, flüsterte Bast mühsam. Ihre Stimme zitterte. Sie hatte Mühe, überhaupt zu sprechen, geschweige denn einen klaren Gedanken zu fassen. »Der Traum könnte Wirklichkeit werden. Wir ... wir könnten gemeinsam weggehen. Wir müssen nicht zurück zu den anderen. Ich meine, egal ob sich Horus durchsetzt oder die anderen, wir müssten nicht zu ihnen zurück. Nicht einmal nach Ägypten. Die Welt ist groß genug!«
»Ich bin genau da, wo ich sein will«, antwortete Isis ernst, aber auch auf eine unbestimmte Art traurig. »Und ich lebe genau so, wie ich es möchte. Ich wollte, du hättest mir dieses Gespräch nicht aufgezwungen. Aber wahrscheinlich musste es sein.«
»Aber du ...«
»Ich«, fiel ihr Isis ins Wort, »werde hier bleiben. Allein. Oder zumindest ohne dich. Du solltest überlegen, wo dein wirklicher Platz ist.«
»Was ... meinst du damit?«, fragte Bast verwirrt. Sie konnte immer noch nicht wirklich klar denken. Alles in ihr war in hellem Aufruhr.
Ihre Gedanken überschlugen sich, und ihr ganzer Körper schrie vor Verlangen. Es kostete sie fast all ihre Kraft, sich nicht auf Isis zu stürzen und sich zu nehmen, was sie so unvorstellbar dringend brauchte, was ihr zustand. Sie zitterte am ganzen Leib.
»Bist du wirklich sicher, dass du nicht weiter auf Horus' Seite stehst, als du zugeben willst?«, fragte Isis. »Vielleicht hat er ja recht.«
»Recht?« Bast lachte schrill. »Womit? Dass wir alle Götter sind und die Menschen nur unsere Spielzeuge oder bestenfalls Schlachtvieh?«
Statt zu antworten, deutete Isis auf die Photoplatte, die sie noch immer in der rechten Hand hielt. Basts Blick folgte ihrem, und sie registrierte ein dünnes Rinnsal aus Blut, das an der Glasplatte hinunterlief. Erst dann spürte sie den brennenden Schmerz. Sie hatte die Platte so fest umklammert, dass das empfindliche Glas gesprungen war.
»Das da ist es, wovor Horus wirklich Angst hat«, sagte Isis. »Die Zeit bleibt nicht stehen, und das weiß Horus auch. Er glaubt, dass er auf einem heiligen Kreuzzug ist, um die Ungläubigen zu bestrafen, die unsere Gräber plündern und uns unsere Vergangenheit stehlen, aber in Wahrheit versucht er, die Zeit aufzuhalten. Bist du sicher, dass du nicht dasselbe willst?«
»Das ist doch ... Unsinn«, sagte Bast schleppend. »Horus ist verrückt. Er ...«
»Weil er spürt, dass unsere Zeit abläuft?«, fuhr Isis ungerührt fort. »Vielleicht ist er verrückt, aber wenn, dann allerhöchstens, weil er versucht, mit dem Schwert gegen das Unvermeidliche zu kämpfen.« Sie lächelte traurig. »Vielleicht ist es sogar gut so.«
»Was?«
»Vielleicht ist unsere Zeit vorüber, Bastet.« Isis deutete abermals auf die Photoplatte. »Wie lange gibt es uns schon, Bastet? Und was haben wir erreicht?«
»Alles, was wir wollten«, antwortete Bast automatisch.
Isis lachte. »Ach, haben wir das? Nun, man könnte es auch anders sehen, meinst du nicht? Am Anfang waren wir Götter, später Könige und Kriegsfürsten, und dann wurden wir zu Legenden. Und was sind wir heute?« Sie beantwortete ihre Frage selbst, und in bitterem, aber nicht resignierendem Tonfall. »Mystische Gestalten, mit denen man Kinder erschreckt.« Sie bückte sich nach ihrem Mantel und streifte ihn über. »Was haben wir hinterlassen, Bastet? Ein paar Ruinen und eine Handvoll Bilder und Vasen in den Museen. Viele von uns sind tot, und ich fürchte, auch die Zeit von uns wenigen Übriggebliebenen läuft ab. Vielleicht gibt es uns nur deshalb noch, weil wir zu Gespenstern geworden sind, an die niemand mehr glaubt. Aber auch diese Zeit ist vielleicht irgendwann vorbei. Noch sind wir unsichtbar, aber bald können sie uns sehen, und vielleicht werden sie irgendwann wieder wissen, dass es uns gibt. Was glaubst du, wie lange wir überleben können, wenn das passiert?«
»Und deshalb willst du aufgeben und dich hier ... verkriechen?«, fragte Bast ungläubig.
»Vielleicht solltest du dasselbe tun«, seufzte Isis. »Oder dir wenigstens eingestehen, dass ich recht habe. Geh nach Hause, Bastet. Wenn du Horus aufhalten willst, dann tu es dort. Und nicht mit dem Schwert, sondern mit deinem Verstand. Scharf genug ist er. Du musst ihn nur benutzen.«
Sie kam verwirrter wieder in der Pension an, als sie sie verlassen hatte; durcheinander und zornig auf Isis und vor allem sich selbst. Abberlines Wachhund stand noch immer auf der anderen Straßenseite und wurde kreidebleich, als er sie sah - Bast war weder in der Stimmung, noch hatte sie überhaupt daran gedacht, sich zu tarnen -, und normalerweise wäre ein solches Benehmen unter ihrer Würde gewesen, aber jetzt war sie einfach in der Stimmung, ihm nicht nur freundlich zuzuwinken, sondern auch ganz bewusst ihren Mantel zurückzuschlagen, als sie das Haus ansteuerte, sodass er das Schwert an ihrem Gürtel sehen musste. Um ein Haar hätte sie sich sogar selbst verletzt, nur damit er auch noch ein bisschen Blut auf der Klinge sah - aber das war ihr dann doch zu albern.
Im Haus war es warm. Im Kamin prasselte das größte Feuer, das sie seit ihrer Ankunft hier erlebt hatte, und aus der Küche drang nicht nur das emsige Klappern von Geschirr, sondern auch ein verlockender Duft, der ihr das Wasser im Munde zusammenlaufen ließ. Während sie die Küche ansteuerte, sah sie auf die Zeiger der großen Standuhr und stellte überrascht fest, dass es auf Mittag zuging. Sie hatte nicht einmal gemerkt, dass sie so lange unterwegs gewesen war.
Als sie die Küche betrat, erlebte sie eine zweite Überraschung. Dass Mrs Walsh am Herd stand und eine Mahlzeit zubereitete, hatte sie erwartet. Was sie nicht erwartet hatte, war Cindy, die auf einem Stuhl auf der anderen Seite des großen Kohleherdes saß, mit den Beinen baumelte und Mrs Walsh interessiert zusah. Sie trug ein einfaches, aber offensichtlich neues Kleid, das ihr um gute zwei Nummern zu groß war, hatte das Haar zurückgebunden und sogar ein wenig Rouge aufgelegt, allerdings nicht auf eine Art, die Mrs Walshs gerechte Empörung noch weiter anstacheln würde, sondern wohl eher, um die blauen Flecke und Schwellungen in ihrem Gesicht zu überdecken. Freilich mit mäßigem Erfolg.
»Oh«, machte Bast überrascht.
Cindy sah sie nur wortlos an, aber Mrs Walsh ließ von ihren Töpfen ab und drehte sich beinahe erschrocken um. Ihr Gesicht hellte sich allerdings auf, als sie sah, wer hinter ihr stand.
»Das nenne ich pünktlich«, sagte sie. »Gerade wollte ich anfangen, mir Sorgen zu machen, ob ich vielleicht zu viel gekocht habe. Aber wie es aussieht, nehmen Sie ja doch inzwischen ein paar britische Tugenden an.«
»Ich wusste gar nicht, dass Pünktlichkeit dazugehört«, antwortete Bast lahm. Ihr Blick irrte verwirrt zwischen Mrs Walsh und Cindy hin und her. Das Mädchen hier unten zusammen mit Mrs Walsh anzutreffen wäre so ziemlich das Letzte gewesen, womit sie gerechnet hatte.
Mrs Walsh drohte ihr spielerisch mit dem Zeigefinger. »Bissige Ironie gehört jedenfalls nicht dazu«, sagte sie. »Aber es ist dennoch gut, dass Sie da sind. Wir haben eine Menge zu besprechen.«
»Wir?«
»Jacob, ich und Sie«, antwortete Mrs Walsh. »Er ist nur noch einmal rasch weg, um eine Besorgung zu machen, aber er hat mir fest versprochen, pünktlich zum Lunch wieder hier zu sein.«
»Und er würde es niemals wagen, sein Wort zu brechen«, vermutete Bast.
»Niemals«, antwortete Mrs Walsh. Ironie gehörte ganz offensichtlich nicht zu den typischen britischen Eigenschaften.
»Und worüber?« Bast konnte nicht verhindern, dass ihr Blick noch einmal den Cindys suchte.
»Auch über sie«, sagte Mrs Walsh. »Aber ich ziehe es vor, beim Essen mit Ihnen darüber zu sprechen. Auf diese Weise muss ich nicht alles zweimal erzählen, und bei einem guten Lunch redet es sich ohnehin besser, finde ich. Wer weiß, vielleicht werde ich Jacob sogar gestatten, anschließend eine seiner grässlichen Zigarren zu rauchen.«
Gut, als Nächstes würde sie ihr vermutlich erklären, dass die Sonne demnächst im Westen aufging; und nach allem, was Bast in den letzten zwei Minuten erlebt hatte, würde sie ihr wahrscheinlich sogar glauben.
»Waren Sie erfolgreich?«, fragte Mrs Walsh.
»Erfolgreich? Wobei?«
»Bei Ihren Besorgungen.« Mrs Walsh machte eine Kopfbewegung zu Cindy. »Sie hat erzählt, dass sie in einer dringenden Angelegenheit wegmussten. Ich hoffe doch, dass es nichts damit zu tun hatte.«
Bast verstand nicht einmal, wovon sie sprach, bis sie ihrem Blick folgte und sah, dass ihr Mantel immer noch weit genug offen stand, dass man das Schwert sehen konnte.
»Oh nein, sicher nicht«, sagte sie hastig. »Jedenfalls nicht so, wie Sie vielleicht befürchten.«
»Soll heißen?«
»Ich ... habe mich mit einem Kunsthändler getroffen, der es vielleicht kaufen wird«, improvisierte Bast. »Man sieht es ihm nicht an, aber es ist sehr alt und sehr kostbar.«
»Und eine solche Kostbarkeit tragen Sie einfach so mit sich herum?«, fragte Mrs Walsh kopfschüttelnd, winkte zugleich aber auch ab. »Nun gut, ich weiß ja, das Sie sich Ihrer Haut wehren können. Und ich nehme an, Ihre Angelegenheit war wichtig. Sonst hätten Sie unseren Gast bestimmt nicht allein gelassen.«
»Sie hat mir versprochen, nicht wegzulaufen und auch nichts anzustellen«, antwortete Bast. »Sie hat doch Wort gehalten?«
»Das hat sie«, bestätigte Mrs Walsh. »Aber darüber reden wir später. Sind Sie vielleicht so freundlich und gehen mir ein bisschen dabei zur Hand, den Tisch zu decken?«
Maistowe erschien tatsächlich pünktlich zum Mittagessen - oder vielleicht auch gerade noch im letzten Augenblick, um sich ein Donnerwetter zu ersparen. Das Essen stand bereits auf dem Tisch, und Mrs Walshs Miene hatte sich mit jeder Minute weiter verdüstert, die sich der Zeiger der Uhr der Zwölf genähert hatte, aber er kam buchstäblich im allerletzten Augenblick, und so beließ Mrs Walsh es bei einem stummen, fast triumphierenden Blick in Basts Richtung. Nach dem obligatorischen Tischgebet, das Mrs Walsh mit aller Strenge zelebrierte, aßen sie in Schweigen. Bast spürte sehr wohl, dass Maistowe die Neuigkeiten, die er mitgebracht hatte, auf der Zunge brannten, und ganz offensichtlich wartete auch Mrs Walsh nur darauf, dass sie eine entsprechende Frage stellte, aber sie war noch immer zutiefst verwirrt. Ihr Gespräch mit Isis ging ihr nicht aus dem Sinn, doch je länger sie darüber nachdachte, desto weniger Sinn schien das meiste von dem zu ergeben, was sie gesagt hatte. Und desto schlimmer wurde der Schmerz, der tief in ihr wühlte.
Schließlich waren sie beim Dessert angelangt - etwas, das sich Plumpudding nannte und das ausnehmend scheußlich schmeckte; was Bast aber wohlweislich für sich behielt, als sie Maistowes und Mrs Walshs verzückten Gesichtsausdruck registrierte -, und Maistowe lehnte sich genießerisch zurück und zündete sich ein Zigarillo an.
»Das war wirklich köstlich«, sagte er. »Mein Kompliment, Gloria. Ich wusste ja, dass Sie eine hervorragende Köchin sind, aber heute haben Sie sich selbst übertroffen.«
Mrs Walsh nickte geschmeichelt, und Maistowe nahm einen tiefen Zug aus seinem Zigarillo, blies das Streichholz aus und schnippte es zielsicher eine Handbreit neben den Kamin, bevor er sich direkt an Bast wandte. »Hat es Ihnen auch geschmeckt?«
»Hervorragend«, beeilte sich Bast zu versichern.
»Das freut mich«, antwortete Maistowe. »Zumal dieses Festmahl nicht ganz ohne Grund stattgefunden hat.«
»So?«, fragte Bast.
»Nun ja, um ehrlich zu sein, ist es eher ein ... privater Grund. Aber es gehört bei uns schon seit einer geraumen Weile dazu, dass Gloria eine ganz besondere Mahlzeit zubereitet, bevor ich wieder in See steche. Als kleines ... Abschiedsgeschenk, wenn Sie so wollen.«
»So?«, fragte Bast noch einmal. Sie fragte sich, worauf Maistowe hinauswollte.
»Ich war den ganzen Morgen im Hafen, um mit einigen Leuten zu sprechen«, sagte Maistowe, nachdem er endlich eingesehen hatte, dass sie ihm nicht den Gefallen tun und eine entsprechende Frage stellen würde. »Es war nicht leicht, und ich musste eine Menge alter Schulden einfordern, aber am Ende ist es mir gelungen, eine Fracht für die Lady aufzutreiben und unsere Abfahrt vorzuverlegen. Sie wird bereits beladen, und heute Nachmittag werden Lebensmittel und Wasser gebunkert. Das größte Problem dürfte sein, die komplette Mannschaft zusammenzutrommeln, aber ich bin sicher, dass wir die meisten in den einschlägigen Spelunken finden und bis heute Abend auch halbwegs nüchtern bekommen werden. Und zur Not können wir auch auf den einen oder anderen verzichten. Die Lady ist ein tapferes Mädchen, das seinen Weg auch allein findet, wenn es sein muss.«
Bast verstand immer noch nicht, worauf er hinauswollte. »Sagten Sie nicht, dass Sie erst in ein paar Tagen auslaufen wollen?«, fragte sie.
»Das war auch unser Plan«, antwortete Maistowe. »Aber nun ist es mir gelungen, unsere Abreise vorzuverlegen. Die Lady läuft übermorgen in den frühen Morgenstunden aus.«
»Morgen schon? Warum?«, fragte Bast.
»Aber ich dachte, das wäre in Ihrem Sinne?«, antwortete Mrs Walsh an Maistowes Stelle. »Wollten Sie nicht so schnell wie möglich nach Hause?«
»Sicher«, erwiderte Bast. »Aber ...«
»Ich will ehrlich zu Ihnen sein, Bast«, sagte Maistowe. Er lächelte noch immer, aber in seinem Blick war plötzlich auch ein Ernst, den sie bisher nicht darin bemerkt hatte. »Nun ... ich habe heute Morgen noch einmal mit Frederick gesprochen - Inspektor Abberline -, und er hat angedeutet, dass es vielleicht ... auch in seinem Interesse liegen könnte, wenn Sie London möglichst bald verlassen.«
Bast musste nur einen kurzen Moment überlegen. »Monro«, vermutete sie.
»Frederick hat keine Einzelheiten erzählt«, antwortete Maistowe. »Aber sein Gespräch mit Mr Monro scheint nicht besonders erfolgreich gewesen zu sein. Wie gesagt, ich weiß nichts Genaues, aber irgendetwas ist im Busch.«
»Dann habe ich ihm auch die Ehrengarde vor der Tür zu verdanken«, vermutete Bast.
Maistowe blickte sie verständnislos an, und Bast machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Dort draußen steht ein Polizeibeamter«, sagte sie. »Schon seit heute Morgen, vielleicht schon länger.«
Maistowe runzelte zweifelnd die Stirn, aber er sagte nichts, sondern stand wortlos auf, ging zur Tür und warf einen langen, prüfenden Blick durch das schmale Fenster daneben. »Tatsächlich«, sagte er. »Das ist erstaunlich. Aber ein Grund mehr.«
»Wegzulaufen?«, fragte Bast.
Maistowe ließ die Gardine zurückfallen. Er wirkte beunruhigt, aus einem Grund, den Bast nicht nachvollziehen konnte, aber auch immer noch zufrieden.
»Weglaufen ist nicht immer ein Zeichen von Feigheit, Bast«, sagte er. »Manchmal ist es einfach klüger, gewissen Schwierigkeiten aus dem Weg zu gehen. Sie wären erstaunt, wie viele Probleme sich einfach dadurch erledigen, dass man ihnen ausweicht.«
»Das gilt vielleicht für mich«, antwortete Bast ernst. »Aber Sie kommen irgendwann zurück, Kapitän. Monro wird vielleicht nicht begeistert sein, wenn er erfährt, dass Sie mir zur Flucht verholfen haben.«
»Flucht?« Maistowe betonte das Wort auf seltsame Art. »Bisher wirft man Ihnen nichts wirklich vor, wenn ich richtig informiert bin. Und selbst wenn, kann man mir das wohl kaum zum Vorwurf machen. Ich weiß von nichts.« Er lächelte. »Und es ist auch noch gar nicht gesagt, dass ich zurückkomme.«
»Was meinen Sie damit?«
»Nun«, antwortete Maistowe, und sein Lächeln wurde eindeutig strahlend. »Der Grund für dieses besondere Essen war nicht allein meine Abreise. Es gibt ... noch einen weiteren Grund zum Feiern. Und daran sind Sie nicht vollkommen unschuldig, meine Liebe - auch wenn Sie es wahrscheinlich selbst nicht wissen.«
»Das stimmt«, antwortete Bast. »Ich habe nicht die geringste Ahnung, wovon Sie reden, Kapitän.«
»Jacob«, verbesserte sie Maistowe. »Das ist das Mindeste, nach allem, was ich Ihnen zu verdanken habe.«
»Aha«, sagte Bast.
»Um es kurz zu machen«, sagte Mrs Walsh. »Jacob hat gestern Abend noch einmal mit mir gesprochen, nachdem Sie zu Bett gegangen sind. Er hat mir ... wie soll ich sagen ... den Kopf gewaschen. Ich muss mich bei Ihnen entschuldigen, Bast. Ich war egoistisch, und wohl auch ein wenig unfair zu Ihnen und Cindy. Jacob hat mir klargemacht, dass das Leben nicht nur aus meiner Pension und einem gelegentlichen Glas Sherry besteht.«
»Und was hat das ... mit mir zu tun?«, fragte Bast verwirrt.
»Unser Gespräch war damit nicht zu Ende, Bast«, sagte Maistowe. »Ein Wort gab das andere, und ... also, um es kurz zu machen: Gloria hat meinem Drängen endlich nachgegeben und meinen Antrag angenommen.«
»Antrag?«
»Jetzt schießen Sie nicht gleich über das Ziel hinaus, Jacob«, sagte Mrs Walsh. »Ich habe zugestimmt, Sie auf dieser Reise zu begleiten, nicht mehr und nicht weniger.«
»Das ist ... wunderbar«, sagte Bast, die ehrlich überrascht war. »Meinen Glückwunsch. Aber wenn Sie mir die Frage gestatten: Was habe ich damit zu tun?«
»Sie glauben doch nicht, dass ich die Abreise auch nur um eine Sekunde hinauszögere - auf die Gefahr hin, dass es sich Gloria im letzten Moment noch anders überlegt?«, fragte Maistowe schmunzelnd. »Nein, im Ernst: Wahrscheinlich wäre es ohne Sie niemals so weit gekommen. Wir hätten dieses Gespräch wohl niemals geführt ohne alles, was seit Ihrer Ankunft hier geschehen ist.«
»Wenn das so ist, dann sollte ich mich vielleicht öfter bemühen, andere in Schwierigkeiten zu bringen«, sagte Bast.
»Ich bin Ihnen jedenfalls zu Dank verpflichtet, Bast«, sagte Maistowe ernst. »Und ich glaube fest, dass Sie mit all diesen schrecklichen Vorfällen nichts zu tun haben.«
»Monro scheint da anderer Meinung zu sein«, seufzte Bast.
»Monro«, erwiderte Maistowe überzeugt, »ist ein Idiot, wenn Sie mich fragen.«
»Ich brauche Sie nicht zu fragen, um das zu wissen«, seufzte Bast. »Aber leider ist er auch ein Idiot mit Einfluss und Macht.«
»Ein Grund mehr, ihm aus dem Weg zu gehen«, sagte Maistowe.
»Die Lady wird vermutlich erst in zwei Monaten zurückkehren. Bis dahin hat er längst vergessen, dass es uns gibt, und diesen verrückten Mörder hoffentlich schon gefangen.«
»Und ... Cindy?«
»Auch dafür haben wir eine Lösung gefunden«, sagte Mrs Walsh. »Das ist auch der Grund, aus dem ich heute Morgen so frühzeitig das Haus verlassen habe. Es gibt da eine ... Institution, die sich um bedauernswerte Kinder wie sie kümmert.«
Bast warf Cindy einen raschen Blick zu und las nichts als Verachtung und bösen Spott in ihren Augen. »Das St. Catherine's?«, fragte sie.
»Im Namen der heiligen Jungfrau Maria, nein!«, schnaubte Mrs Walsh. »Diese sogenannten frommen Schwestern machen doch alles nur noch schlimmer! Fromme Sprüche haben noch nie jemanden auf den rechten Weg zurückgebracht.«
Bast hatte ihre Zweifel, ob Cindy überhaupt auf den rechten Weg zurückwollte. Sie sah Mrs Walsh nur fragend an.
»Nein«, wiederholte Mrs Walsh. »Aber ich kenne einen Pater. Vater McNeill von der Kirche der Gesegneten Schwestern, nicht einmal weit von hier. Er hat schon mehr als einem gestrauchelten Kind geholfen, wieder Fuß zu fassen und in ein normales und gottesfürchtiges Leben zurückzufinden.«
Und warum muss ein normales Leben eines sein, in dem man seinen Gott fürchtet, dachte Bast.
Mrs Walsh blinzelte, und Bast begriff zu spät, dass sie diese Frage keineswegs nur gedacht hatte, sondern laut ausgesprochen. Zu ihrer Erleichterung zog es Mrs Walsh jedoch vor, diese Frage kurzerhand zu ignorieren.
»Vater McNeill hat mir versprochen, sich Cindys anzunehmen«, fuhr sie fort. »Ich werde heute Nachmittag zu ihm gehen und ihm Cindy vorstellen. Er wird sie in einem anständigen Haus unterbringen und dafür sorgen, dass sie eine ehrliche Anstellung findet. Ich weiß, das alles kommt ein wenig schnell, aber Jacob hat mich mit seiner Eile doch ein wenig - wie soll ich sagen - überrascht. Ich habe jedoch vollstes Vertrauen in Vater McNeill. Es ist nicht das erste Mal, dass er sich einer gestrauchelten Seele annimmt. Mit Erfolg, wie ich hinzufügen möchte.«
Bast schwieg. Sie konnte sich diesen Erfolg lebhaft vorstellen, aber sie wusste auch, dass jede Diskussion über dieses Thema reine Zeitverschwendung wäre. Sie machte sich auch nicht die Mühe, Cindy auch nur einen fragenden Blick zuzuwerfen.
»Sie sehen nicht wirklich begeistert aus, mein Kind«, sagte Mrs Walsh, als sie auch nach etlichen weiteren Sekunden nicht antwortete.
»Oh nein, das ist es nicht«, sagte Bast hastig. »Es kommt nur ... etwas überraschend - wie Sie ja selbst gesagt haben. Ich hatte ... andere Pläne. Aber ich muss gestehen«, fügte sie noch hastiger und mit leicht erhobener Stimme hinzu, »dass Ihr Vorschlag vernünftiger klingt.«
Sie spürte, wie Cindy dazu ansetzte, etwas zu sagen - etwas, das Mrs Walsh ganz bestimmt nicht gefallen würde -, und verhinderte es rasch. Sie war erstaunt, wie viel Widerstand ihr das Mädchen entgegensetzte, aber natürlich war es nicht genug.
»Und welche?«, fragte Mrs Walsh.
»Ich fürchte, sie waren nicht annähernd so gut wie Ihre«, antwortete Bast. »Und wenn Cindy damit einverstanden ist ...?« Sie sah Cindy fragend an und zwang sie mit sanftem Druck, zustimmend zu nicken. Was sie nicht vollkommen unterdrücken konnte, war der empörte Ausdruck in Cindys Augen.
»Dann gehen wir in einer Stunde zu Vater McNeill«, bestimmte Mrs Walsh. »Ich nehme doch an, dass Sie uns begleiten?«
Draußen war wieder die ungewöhnlich lange, diesige Abenddämmerung dieses Landes angebrochen, an die Bast sich wohl nie gewöhnen würde, ganz egal, wie sehr sie es auch versuchte.
Sie hatte es allerdings nicht besonders nachdrücklich versucht, und sie war auch nicht sicher, ob sie sich überhaupt daran gewöhnen wollte. In ihrer Heimat dauerte die Dämmerung allenfalls Minuten. Manchmal wurde es buchstäblich von einem Augenblick zum anderen finster, und nach Basts persönlichem Geschmack war das auch vollkommen richtig. Es gab den Tag, und es gab die Nacht, und was dazwischen lag, das war so unnötig und lästig wie eine Stunde, in der man sich zu Bett legt und vergeblich versucht, den Schlaf herbeizuzwingen. Dieses langsam verblassende Grau auf der anderen Seite der Fenster kam ihr vor wie ein lautloser erbitterter Kampf, den sich Tag und Nacht immer aufs Neue lieferten und in dem sich nicht nur die Umrisse der Dinge, sondern die Wirklichkeit aufzulösen schien. Selbst der Bobby, der noch immer auf der anderen Straßenseite stand und das Haus beobachtete, begann allmählich zu einem grauen Gespenst mit zerfließenden Konturen zu verblassen. Aber es war noch immer derselbe Beamte wie heute Morgen. Monro mutete seinen Untergebenen offensichtlich ziemlich lange Dienstzeiten zu.
»Wonach suchst du?«
Bast wandte sich mit einem fast erschrocken wirkenden Ruck vom Fenster ab und in Cindys Richtung. Sie hatte nicht gehört, dass das Mädchen hereingekommen war und ärgerte sich schon wieder über sich selbst, diese kleine Unaufmerksamkeit zugelassen zu haben.
»Nichts«, antwortete sie. »Ich habe nur die Dämmerung beobachtet.«
»Die Dämmerung?« Cindy ging mit schnellen Schritten an ihr vorbei und stellte sich auf die Zehenspitzen, um nicht nur aus dem Fenster zu sehen, sondern auch auf den gegenüber liegenden Bürgersteig hinab. »Du meinst den Konstabler.«
»Nein«, sagte Bast. »Die Dämmerung.«
»Was gibt's denn daran zu beobachten?«, fragte Cindy stirnrunzelnd.
»Sie dauert sehr lange. In meiner Heimat geht die Sonne so schnell unter, dass man dabei zusehen kann, weißt du? Hier dauert es viel länger. Es ist richtig unheimlich.«
»Der Nebel ist unheimlich«, sagte Cindy. »Hast du schon einmal richtigen Londoner Nebel erlebt?«
»Ja«, antwortete Bast, schüttelte gleich darauf den Kopf und verbesserte sich. »Nein. Ich meine, ich habe schon Nebel erlebt, auch hier, aber ich glaube nicht, dass es das war, was die Leute meinen, wenn sie vom Londoner Nebel reden.«
»Ganz bestimmt nicht«, versicherte Cindy. »Die Suppe ist unheimlich. Du kannst keine zehn Schritte weit sehen, und sie verschluckt jedes Geräusch. Aber es ist gut fürs Geschäft.«
»Der Nebel?«
»Sicher. Wenn es richtig neblig ist, kommen manchmal die besten Kunden.« Sie lachte leise. »Du glaubst ja nicht, wie viele feine Pinkel glauben, niemand würde sie kommen sehen, wenn sie sich im Schutz des Nebels nach Whitechapel schleichen.«
»Gute Kunden wie der von vorgestern?«, fragte Bast.
Sie hatte damit gerechnet, dass Cindy wütend würde, oder zumindest verstimmt, aber sie zuckte nur mit den Schultern. »So schlimm war er gar nicht«, behauptete sie. »Er hat immer gut gezahlt, und es gibt andere, die viel ekligere Sachen von mir verlangt haben.«
»Ekliger als sich halb tot schlagen zu lassen?«, zweifelte Bast.
»So schlimm war es nicht«, sagte Cindy noch einmal. »Okay, das letzte Mal hat er es ein bisschen übertrieben, aber das hast du ihm ja ganz schön heimgezahlt.« Sie sah Bast nachdenklich an. »Weiß du eigentlich, wen du da verprügelt hast?«
»Auf jeden Fall einen einflussreichen Mann«, antwortete Bast. »Aber mach dir keine Sorgen - du wirst ihn nicht wiedersehen. Hast du dich entschieden?«
Jetzt reagierte Cindy doch. Ihre Miene wirkte plötzlich wieder verstockt. »Als ob ich was zu sagen hätte!«, schnaubte sie. »Ich geh jedenfalls nicht zu diesem Pfaffen.«
»Warum nicht?«, fragte Bast. »Vater McNeill ist doch sehr nett.« Sie meinte das ernst. Cindy, Mrs Walsh und sie waren am Nachmittag tatsächlich bei Vater McNeill gewesen, einem weißhaarigen alten Mann, bibelfest und strenggläubig, aber nicht fanatisch, und schon gar nicht weltfremd. Ganz im Gegenteil hatte er sich als ebenso warmherziger wie humorvoller Mensch erwiesen, der sich Cindys Problem - aus Mrs Walshs Mund; Bast hatte wenig und Cindy kein einziges Wort gesprochen - angehört und mehr als einmal vielsagend die Stirn gerunzelt hatte, aber sie hatten nicht ein Wort des Vorwurfs von ihm gehört und schon gar nicht die Drohung mit ewiger Verdammnis oder dem Zorn Gottes, die sie halbwegs erwartet hatte.
»Nett?« Cindy machte ein unanständiges Geräusch. »Der Kerl ist ein alter Furz, der vom Leben keine Ahnung hat!«
»Ganz anders als du, nicht wahr?«, fragte Bast spöttisch.
Cindy überging die Bemerkung. »Ich werde jedenfalls nicht zu irgendeiner vertrockneten alten Schachtel ziehen und mich damit amüsieren, dreckige Unterhosen zu waschen.«
Das war nicht genau das, was Vater McNeill vorgeschlagen hatte, aber Bast musste zugeben, dass es der Wahrheit nahekam. Konkret hatte der Geistliche von einer ihm bekannten Witwe erzählt, die die Besitzerin einer kleinen Wäscherei war und schon öfter Waisenkinder bei sich aufgenommen und ihnen ein Dach über dem Kopf und drei warme Mahlzeiten geboten hatte ... gegen einen entsprechenden Obolus in Form ihrer Arbeitskraft, versteht sich. Bei jedem anderen hätte Bast dieses Angebot schlichtweg empört, aber sie hatte in McNeills Gedanken gelesen, dass besagte Witwe ihre Zöglinge noch nie ausgenutzt oder auch nur übervorteilt hatte. Es war eine Chance, und es waren harte Zeiten.
Trotzdem.
»Keine Angst«, sagte sie. »Ich wollte ... keine unnötigen Diskussionen mit Mrs Walsh, das ist alles. Du musst nicht in diese Wäscherei.«
»Wie gnädig. Und womit verdiene ich diese Großzügigkeit?«
»Weil ich nicht möchte, dass du in London bleibst«, antwortete Bast wahrheitsgemäß.
Cindy kniff misstrauisch die Augen zusammen. »Wieso?«
»Willst du, dass Maude dich findet?«, fragte Bast. »Jetzt mal ganz im Ernst.« Sehr behutsam las sie Cindys Gedanken, aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Cindy antwortete erst nach endlosen Sekunden, doch Bast hatte die Antwort schon lange zuvor auf ihrem Gesicht abgelesen.
»Nein«, sagte sie schließlich. »Das möchte ich nicht.«
»Aber genau das würde dir passieren, wenn du in London bleibst«, antwortete Bast. »Früher oder später kriegt sie dich.«
»Ja, wahrscheinlich«, sagte Cindy. »Also muss ich wohl weg. Oder freiwillig zurückgehen. Wenn ich selbst zu ihr gehe, dann wird es vielleicht nicht so schlimm.«
»Das ist deine Entscheidung.« Bast deutete zur Tür. »Ich werde nicht versuchen, dich aufzuhalten.«
»Würdest du doch.«
»Das könnte ich gar nicht«, antwortete Bast. »Sicher, ich könnte dich zwingen, in Vater McNeills Kirche einzuziehen und dort sechzehn Stunden am Tag zu beten, und du würdest glücklich dabei sein. Für eine Weile. Aber nicht auf Dauer, und schon gar nicht für den Rest deines Lebens. Du hast völlig recht: Ich kann den Willen eines Menschen brechen ... aber niemand kann dich zu einem anderen Menschen machen.«
»Und wenn du lügst? Jetzt gerade? Nur, damit ich gehorche?«
Bast lächelte. »Wenn ich jetzt lügen würde, dann hätte ich es nicht nötig zu lügen, meinst du nicht auch? Außerdem, wenn ich fähig wäre, einen Menschen wirklich zu ändern, dann gäbe es Menschen wie Maude nicht mehr. Also, wie ist es? Willst du zurück zu Maude, in die Wäscherei, oder willst du mit Faye gehen?«
»Faye?«
»Du kennst sie?«, fragte Bast. Cindy nickte verwirrt, und Bast fuhr fort: »Sie geht weg. Du konntest mit ihr gehen. Eine kleine Wohnung, harte Arbeit ... aber keine Maude mehr. Und keine Gentlemen mit ekligen Wünschen. Deine Entscheidung.«
»Und sie würde mich mitnehmen?«, fragte Cindy zweifelnd.
»Das wird sie«, antwortete Bast. »Sie weiß es zwar selbst noch nicht, aber eigentlich hat sie sich schon entschieden. Ich bringe sie mit hierher, wenn du willst. Oder du begleitest mich gleich.«
Cindy zog die Unterlippe zwischen die Zähne und begann unsicher von einem Bein auf das andere zu treten. Für einen Moment sah sie tatsächlich aus wie das unschuldige, ängstliche Kind, das Mrs Walsh so gerne in ihr gesehen hätte. »Darf ich ... noch einen Moment darüber nachdenken?«, fragte sie. »Vielleicht bis nach dem Abendessen?«
Bast wusste, Cindy hatte sich längst entschieden; sie brachte nur nicht den Mut auf, sich diese Entscheidung auch einzugestehen.
»Das im Übrigen allmählich kalt wird«, sagte Mrs Walsh von der Tür her. Bast fuhr erschrocken herum und sah sie eindeutig schuldbewusst an. Sie hatte Mrs Walsh nicht gehört, und sie wusste auch nicht, wie lange sie schon dort stand und zuhörte. Aber ihrem Gesichtsausdruck nach lange genug.
»Ich hatte dich gebeten, nach oben zu gehen und Miss Bast zum Essen zu rufen«, fuhr sie in tadelndem Tonfall und direkt an Cindy gewandt fort. »Schade. Ich hatte eigentlich gehofft, mich auf dich verlassen zu können.«
Cindy sagte vorsichtshalber gar nichts, sondern flitzte an ihr vorbei aus dem Zimmer, und auch Bast wollte sich in Bewegung setzen, doch Mrs Walsh hob rasch die Hand und hielt sie zurück. »Auf ein Wort.«
»Mrs Walsh?«
»Ich bin ein wenig enttäuscht von Ihnen, meine Liebe. Ich hätte nicht gedacht, dass Sie mich hintergehen.«
»Hintergehen?«
»Vielleicht war das das falsche Wort«, räumte Mrs Walsh ein, »aber Sie wissen sehr wohl, was ich meine. Warum lassen Sie mich mit Vater McNeill reden und all diese Dinge tun, wenn die Sache für Sie doch schon längst entschieden ist?«
Sie hatte alles gehört. Einen Moment lang überlegte Bast ernsthaft, die Erinnerung an die letzten Minuten aus ihrem Gedächtnis zu löschen, entschied sich aber dann dagegen. Eine solche Manipulation war anstrengend, und sie würde das Gedächtnis der beiden ohnehin einer gründlichen Überarbeitung unterziehen müssen, sobald sie in Kairo von Bord ging.
»Es ist noch gar nichts entschieden, Mrs Walsh«, sagte sie ruhig. »Und ich wollte mir auf jeden Fall anhören, was Vater McNeill anzubieten hat.«
»Nicht mehr und nicht weniger als ein gottesfürchtiges Leben und harte Arbeit«, antwortete Mrs Walsh spröde. »Ist Ihnen das nicht genug für Ihren Schützling? Glauben Sie vielleicht, es ist mir leichtgefallen, zu Vater McNeill zu gehen und ihn um Hilfe zu bitten, für so eine!«
»Was genau meinen Sie mit so eine, Mrs Walsh?«, erkundigte sich Bast kühl.
Mrs Walshs Miene verfinsterte sich noch weiter. »Bitte halten Sie mich nicht für dumm, Kleines«, sagte sie. »Ich weiß genau, was dieses Mädchen ist und woher es kommt - und damit meine ich nicht jenes zweifelhafte Etablissement, aus dem sie sie zweifellos zu Recht befreit haben. Unschuldige Kinder, meine Liebe, landen nicht in solchen Häusern. Es ist mir nicht leichtgefallen, mich für sie einzusetzen.«
»Umso mehr danke ich Ihnen dafür, dass Sie es getan haben«, sagte Bast. Sie sollte wütend werden, und ein Teil von ihr war es auch, denn sie begriff plötzlich, dass Mrs Walsh ihr wohl nur etwas vorgespielt hatte und das ihre wirkliche Meinung über Cindy war. Eigentlich war sie aber eher enttäuscht. »Sollte sich Faye doch anders entscheiden, komme ich gern auf Vater McNeills Angebot zurück.«
»Ich nehme an, diese Faye ist ebenfalls eine ... ein Mädchen wie sie?«, fragte Mrs Walsh.
»Wenn Sie schon lauschen, dann tun Sie es richtig«, antwortete Bast freundlich. »Faye wird die Stadt verlassen und ein neues Leben beginnen. Jedenfalls hat sie mir das gesagt. Ich halte es für eine gute Idee, wenn sie es gemeinsam versuchen.« Sie erstickte Mrs Walshs Widerspruch im Keim, wenn auch mit schlechtem Gewissen. »Ich werde später zu Faye gehen und alles Notwendige mit ihr klären.«
»Tun Sie das«, antwortete Mrs Walsh. »Aber es wäre mir recht, wenn Sie diese Person nicht auch noch in mein Haus bringen würden. Und nun lassen Sie uns essen. Ich habe noch eine Menge zu tun. Immerhin geht unser Schiff um Mitternacht.«
Das war noch lange nicht alles, was sie ihr eigentlich hatte sagen wollen, das spürte Bast, und vermutlich hätte sie es auch getan, hätte sie es zugelassen. Um eine weitere Diskussion zu vermeiden, schob sie Mrs Walsh mit sanfter Gewalt aus dem Weg und ging dann die Treppe hinab ins Untergeschoss.
Der Anblick des kleinen, normalerweise pedantisch aufgeräumten Salons hatte sich seit ihrer Rückkehr von Vater McNeill am frühen Nachmittag radikal verändert: Überall standen Koffer, Taschen, Hutschachteln und Kartons. Abgesehen von dem kleinen Tisch am Kamin, auf dem eine Kanne mit dampfendem Tee und ein Abendessen warteten, das ebenso einfach wie der Lunch am Mittag überreich gewesen war, schien jedes einzelne Möbelstück mit diversen Kleidungsstücken belegt zu sein. Selbst auf dem Boden lagen Kleider, Schuhe und andere Reiseutensilien. Der Salon sah aus, als wäre ein Wirbelsturm hindurchgezogen. Kapitän Maistowe wuselte irgendwo in all dem Durcheinander geschäftig herum, ohne dass Bast sagen konnte, was genau er eigentlich tat, während Cindy bereits am Tisch saß und sich fingerdick Butter auf eine Scheibe Schwarzbrot strich; zweifellos aus keinem anderen Grund als dem, Mrs Walsh zu provozieren.
Es funktionierte nicht. Mrs Walsh runzelte zwar erwartungsgemäß die Stirn, aber ihre Missbilligung galt offensichtlich nur der Tatsache, dass Cindy bereits angefangen hatte. »Nimm ruhig alles, was du magst, mein Kind«, sagte sie. »Was wir heute nicht verbrauchen, das wird ohnehin schlecht und muss weggeworfen werden.« Sie sah sich stirnrunzelnd und irgendwie wehleidig um. »Ich fürchte, ich werde so manches wegwerfen müssen, wenn ich zurückkomme.«
»Nun übertreiben Sie aber, Gloria.« Maistowe tauchte aus dem Durcheinander aus Kartons, Kleidern und halb gepackten Koffern auf und verzog das Gesicht. »Wir gehen nicht auf eine Weltreise, sondern fahren lediglich nach Kairo. Wir sind in längstens zwei Monaten wieder hier. Davon abgesehen, habe ich ohnehin den Eindruck, dass Sie Ihren gesamten Besitz mitnehmen.«
Mrs Walsh schenkte ihm zwar einen ärgerlichen Blick, zog es aber ansonsten vor, die Bemerkung zu ignorieren. »Ein Haus verfällt, wenn es nicht bewohnt wird, mein lieber Jacob«, seufzte sie.
»So wie eine Mahlzeit schlecht wird, wenn man sie nicht isst«, sagte Maistowe. Mit großen Storchenschritten bahnte er sich einen Weg durch das Durcheinander, wobei er sich ein weiteres missbilligendes Stirnrunzeln Mrs Walshs einhandelte, als er auf irgendetwas trat, das knackend zerbrach, und nahm am Tisch Platz. »Ich verstehe Ihre Hektik nicht, meine Teuerste. Die Lady legt erst morgen weit nach Mitternacht ab. Wir haben noch mehr als einen Tag Zeit, um Ihre Koffer zu packen und an Bord zu bringen.«
»Also ob es damit getan wäre!« Mrs Walsh setzte sich als Letzte und warf Bast einen Verzeihung heischenden Blick zu. »Ich muss mich für dieses einfache Mahl entschuldigen«, sagte sie, »aber Sie sehen ja selbst ...«
»Aber ich bitte Sie«, antwortete Bast. »Kapitän Maistowe hat keine Ahnung. Ich bin eine Frau. Ich weiß, was es heißt, für eine große Reise zu packen.«
Maistowe verzog das Gesicht und murmelte irgendetwas, das sich wie Weiber anhörte, und Bast drohte ihm spielerisch mit dem Finger. »Passen Sie auf, was Sie sagen, Kapitän. Wir sind im Moment eindeutig in der Überzahl.«
»Hm«, machte Maistowe, beließ es aber vorsichtshalber auch dabei.
»Ich bin nicht sicher, ob ich nicht einen Fehler gemacht habe«, seufzte Mrs Walsh.
»Einen Fehler?« Maistowe, der gerade dazu ansetzte, seine Gabel in das Stew zu rammen, als hielte er sich für Kapitän Ahab und das Stück Fleisch für Moby Dick, erstarrte mitten in der Bewegung.
»Mit ... alledem hier.« Mrs Walsh machte eine ausholende Bewegung. »Sie bringen Unordnung in mein Leben, Jacob.«
»Aber das tue ich doch gern«, grinste Maistowe und wurde schlagartig wieder ernst, als Mrs Walshs Blick nur noch zorniger wurde. »Das ist doch halb so schlimm«, sagte er hastig. »Wir haben noch jede Menge Zeit. Morgen sieht es hier schon wieder ganz anders aus, und für morgen Abend habe ich einen Wagen und ein paar meiner Männer bestellt, die Ihr Gepäck auf die Lady schaffen. Bei der Gelegenheit: Soll die Standuhr nun mit oder nicht?«
Bast lächelte flüchtig, aber sie war zugleich nicht ganz sicher, ob Maistowes Frage wirklich nur scherzhaft gemeint gewesen war. Mrs Walsh seufzte leise.
»Ich meine nicht diese Unordnung hier«, sagte sie. »Sie bringen mein Leben in Unordnung, Jacob, und ich verabscheue Unordnung, wie Sie wissen. Vielleicht hätte ich Ihrem Drängen nicht so schnell nachgeben sollen. Sie haben mich ...«
»Überrumpelt?«, fiel ihr Maistowe ins Wort. »Genau das war meine Absicht.«
Mrs Walsh durchbohrte ihn regelrecht mit Blicken, und Maistowe beugte sich hastig über sein Stew. Sie aßen eine Weile schweigend. Mrs Walsh musste tatsächlich ihre gesamte Speisekammer geplündert und alles Verderbliche in diesen Eintopf gekippt haben. So jedenfalls schmeckte er, fand Bast, und hielt sich zurück, soweit es möglich war.
»Das war wie üblich ganz hervorragend, meine Liebe«, sagte Maistowe. »Nur eine Schande, dass der Rest nun umkommt.«
»Ja, eine wirkliche Schande«, bestätigte Mrs Walsh.
»Warum fragt ihr nicht den Konstabler draußen, ob er Hunger hat«, schlug Cindy vor. »Der arme Kerl steht schließlich schon den ganzen Tag dort draußen.«
»Und einen heißen Tee kann er bestimmt auch gebrauchen«, fügte Maistowe hinzu. Aber er schüttelte auch gleichzeitig den Kopf. »Ich glaube kaum, dass er es annimmt. Die Londoner Bobbys sind in dieser Beziehung etwas eigen. Und wie ich Mr Monro kenne, würde er es uns am Ende noch als Bestechungsversuch auslegen und hätte endlich einen Grund, Sie zu verhaften.«
»Unsinn«, sagte Mrs Walsh. »Gegen einen heißen Tee wird wohl kaum etwas einzuwenden sein. Schauen Sie wenigstens nach, ob er noch nicht erfroren ist.«
Maistowe zierte sich noch einen Moment, stand dann aber auf und bahnte sich vorsichtig einen Weg zur Tür. Ein spürbarer Schwall von Kälte drang zu ihnen herein, als er das Haus verließ.
Schon nach einem Augenblick kam er zurück und machte ein ratloses Gesicht. »Er ist nicht mehr da.«
»Nicht mehr da?«, wiederholte Mrs Walsh. »Was soll das heißen?«
»Was es heißt«, antwortete Maistowe, während er die Tür hinter sich ins Schloss drückte. »Er ist verschwunden. Vielleicht hat Monro ihn abgezogen. Oder Frederick.«
»Nachdem er das Haus den ganzen Tag beobachtet hat?«, wandte Bast zweifelnd ein.
»Vielleicht ist er ja auch nur mal pinkeln«, sagte Cindy, und jetzt war sie es, die sich einen strafenden Blick Mrs Walshs einhandelte.
»Kaum«, antwortete Maistowe. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ich habe Frederick natürlich heute noch nicht gesprochen. Möglicherweise haben sich ja neue Fakten ergeben.« Er versuchte zu lachen. »Wer weiß, am Ende haben sie diesen Ripper ja endlich erwischt, und Scotland Yard braucht keinen Sündenbock mehr.«
Aber so einfach war die Erklärung nicht, das spürte Bast. Irgendetwas ... stimmte hier nicht. Sie stand auf und ging um den Tisch herum, um ebenfalls zur Tür zu gehen und einen Blick nach draußen zu werfen, und Maistowe kam ihr entgegen. Allerdings unerwartet schnell und auch nicht ganz freiwillig. Die Tür wurde mit solcher Gewalt aufgestoßen, dass sie ihn wie ein Hammerschlag zwischen den Schulterblättern traf und einfach nach vorne schleuderte.
Bast versuchte ihm auszuweichen, glitt aber auf irgendetwas aus, das auf dem Fußboden lag, und musste plötzlich ihrerseits um ihr Gleichgewicht kämpfen; vielleicht nur den Bruchteil einer Sekunde, aber lange genug, um Maistowe wie ein lebendes Geschoss gegen sie prallen zu lassen und sie endgültig von den Füßen zu reißen. Als wäre das alles noch nicht genug, prallte sie mit Schultern und Hinterkopf so hart auf die Tischkante, dass das zerbrechliche Möbelstück zusammenbrach und Holzsplitter und zerberstendes Geschirr in alle Richtungen flogen.
Mrs Walsh und Cindy schrien wie mit einer Stimme auf und prallten zurück, und Bast schlug ein zweites Mal und noch härter mit dem Hinterkopf auf dem Boden auf; diesmal so hart, dass ihr für einen Moment schwarz vor Augen wurde.
Als sich ihr Blick wieder klärte, blickte sie direkt in den Lauf einer Pistole. Sie bekam kaum Luft, denn auf ihrer Brust hockte der riesigste Kerl, den sie jemals gesehen hatte. Er wog mindestens eine Tonne, und seine Knie bohrten sich mit so grausamer Kraft in ihre Rippen, dass mindestens zwei davon bereits gebrochen und die anderen auch nicht mehr sehr weit davon entfernt waren. Ein Knochensplitter bohrte sich wie eine rot glühende Dolchklinge in ihre Lunge. Der Schmerz war so grässlich, dass sie beinahe das Bewusstsein verloren hätte.
Aber eben nur beinahe. Und sie war schließlich auch nicht irgendwer.
Bast kämpfte den Schmerz mit einer kurzen, aber ungemein heftigen Anstrengung nieder und spannte sich, und der Riese, der sie niedergeworfen hatte, schlug ihr mit der linken Hand brutal ins Gesicht und rammte ihr gleichzeitig den Pistolenlauf unter das Kinn.
»Versuchen Sie's lieber nich', Miss«, sagte er. »Selbst wenn Sie's schaffen, dass ich Ihnen nich' in den Kopf schieße, würd's den andern schlecht bekommen.«
Ganz instinktiv wollte Bast ihn trotzdem von sich herunterschleudern, indem sie die Beine gegen den Boden stemmte und den Rücken durchbog, und jeden anderen Gegner an seiner Stelle hätte sie auf diese Weise auch vermutlich abgeschüttelt wie ein bockendes Wildpferd einen unerfahrenen Reiter.
Unglücklicherweise war Ben beinahe genauso stark wie sie. Er brauchte zwar all seine Kraft, um nicht abgeschüttelt zu werden, aber die Pistole bohrte sich nur noch tiefer unter ihr Kinn, sodass sie kaum noch atmen konnte, und gleichzeitig schlug er ihr noch einmal mit dem Handrücken ins Gesicht.
Diesmal platzte ihre Unterlippe auf, und sie schmeckte ihr eigenes Blut. Etwas klickte, und Bast sah wie durch einen roten Nebelschleier hindurch, wie der Hahn der Waffe zurückgezogen wurde und sich Bens Finger um den Abzug spannte.
Bast erstarrte. Sie war schnell, aber nicht so schnell, und eine Pistolenkugel ins Gesicht würde selbst sie auf der Stelle töten.
»Sehr vernünftig«, sagte Ben. »Ich würd Sie wirklich ungern erschießen, Miss. Aber ich werd's tun, wenn's sein muss.«
»Den Teufel wirst du tun, Arschloch«, sagte eine Stimme hinter ihm. »Die kleine Schlampe nehm ich mir selbst vor.«
Bast drehte - unendlich vorsichtig - den Kopf, um nach dem Sprecher Ausschau zu halten. Sie sah ihn nicht, wohl aber Mrs Walsh und Cindy, die beide von zwei grobschlächtigen Kerlen in derben Kleidern und mit noch derberen Gesichtern festgehalten wurden. Bei Cindy beschränkte sich der Kerl darauf, sie einfach an den Schultern festzuhalten, der Bursche, der Mrs Walsh gepackt hatte, drehte ihr den linken Arm auf den Rücken und hielt ihr mit der anderen Hand ein Messer an die Kehle. Kapitän Maistowe hockte nur ein kleines Stück daneben auf Händen und Knien und sah benommen aus. Vielleicht war er auch vor Schrecken erstarrt, denn hinter ihm stand ein dritter Kerl, der mit einer doppelläufigen Schrotflinte auf seinen Kopf zielte.
»Tja, ist genau so, wie Ben sagt«, fuhr die Stimme fort. »Du kannst es versuchen, aber wenn dir was an deinen Freunden liegt, solltest du es bleiben lassen.«
Bast drehte den Kopf in die andere Richtung und erkannte Roy, der mit dem Rücken an der wieder geschlossenen Tür lehnte und sie breit angrinste. Allerdings erst auf den zweiten Blick, denn er hatte kaum noch Ähnlichkeiten mit dem kraftstrotzenden Riesen, als den Bast ihn kennen gelernt hatte.
Sein Gesicht war so grau wie das einer Leiche und wirkte eingefallen, als hätte er eine lange und schwere Krankheit hinter sich. Seine Augen lagen tief in den Höhlen und blickten trüb, und Bast war nicht sicher, ob er wirklich nur gegen die Tür gelehnt dastand, weil er auf diese Weise lässiger wirkte. Es kam ihr tatsächlich vor, als wäre er kleiner geworden.
»Ich hätte dich doch umbringen sollen«, sagte sie mühsam. Sie konnte immer noch nicht richtig atmen. Noch ein paar Minuten, und sie würde einfach unter Bens Gewicht ersticken.
»Hast du aber nicht, Süße«, antwortete Roy. »Dumm von dir. Wie ist es - willst du noch ein bisschen unter Ben liegen bleiben, oder bist du vernünftig und versprichst mir, keine Dummheiten zu machen, wenn er dich loslässt?«
Bast sah noch einmal zu Mrs Walsh hin. An ihrem Hals lief mittlerweile eine dünne rote Linie hinab.
»Das werte ich jetzt mal als Ja«, sagte Roy. »Lass sie los, Ben. Aber pass auf. Die kleine Wildkatze ist gefährlich.«
Ben musste wohl derselben Meinung sein, denn er stemmte sich zwar vorsichtig in die Höhe - wobei er ihr mindestens eine weitere Rippe brach, und diesmal konnte sie ein leises gequältes Stöhnen nicht mehr ganz unterdrücken -, aber der Pistolenlauf bewegte sich dabei um keinen Millimeter; auch nicht, als Bast umständlich aufzustehen versuchte. Es gelang ihr kaum, denn sie musste den Kopf so weit in den Nacken legen, dass sie beinahe sofort wieder hintenübergefallen wäre.
»Vielleicht ...«, würgte sie mühsam hervor, »könnten wir uns besser unterhalten, wenn ich ... atmen dürfte.«
»Netter Versuch«, sagte Roy. »Aber dazu bist du mir zu gefährlich. Wenn's nach mir ginge, wärst du schon tot. Aber was nich' ist, kann ja noch werden. Bind ihr die Hände zusammen, Ben. Auf dem Rücken.«
Endlich verschwand der Pistolenlauf von ihrem Hals, und Bast konnte den Kopf wieder in eine normale Haltung senken und wieder atmen. Jedenfalls, soweit es der grausame Schmerz in ihrer Lunge zuließ. Sie schmeckte immer noch Blut. Und nicht nur auf der Zunge. Mittlerweile schien sich der glühende Dolch tief in ihren Leib zu bohren, und das Reißen und Brennen wurde immer schlimmer. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie hätte in diesem Moment gar nicht mehr die Kraft gehabt, sich zu wehren. Ben war mit einem einzigen Schritt hinter ihr, drückte ihre Handgelenke zusammen und legte irgendetwas darum, das sich sehr kalt und sehr hart anführte. Metall. Sie registrierte fast beiläufig, dass Roy mittlerweile ebenfalls eine Waffe gezogen hatte und auf sie zielte.
Sie konzentrierte sich, drängte den Schmerz zurück und schloss für ein paar Sekunden die Augen.
Es funktionierte, allerdings nicht sehr gut, und sie wagte auch nicht zu prophezeien, wie oft noch. Der Schmerz zog sich fauchend und spuckend wie eine wütende Katze zurück, und ihre Gedanken klärten sich, aber es war nicht nur der körperliche Schmerz, gegen den sie kämpfte. Da war noch etwas, tief in ihr, etwas, das ungleich schlimmer und älter war, und das erwachen wollte. Wenn das geschah, dann würde keine Macht der Welt Roy und seine Männer noch retten können. Und Mrs Walsh, Jacob und Cindy auch nicht.
Ben war mit dem, was immer er auch mit ihren Händen tat, fertig, und trat mit einem fast hastigen Schritt zurück und - in sicherem Abstand - neben sie und zielte sofort wieder auf ihre Brust, und Bast spannte probehalber die Arme. Ebenso gut hätte sie versuchen können, die großen Statuen von Abu Simbel mit bloßen Händen einzureißen. Ben hatte ihr Handschellen angelegt, woher auch immer er sie haben mochte.
Als hätte er ihre Gedanken gelesen - wahrscheinlich hatte er schlichtweg ihre Anstrengungen bemerkt -, griente Roy noch breiter. »Versuch es erst gar nicht, Schätzchen«, sagte er. »Bester englischer Stahl. Nicht einmal du kannst sie zerreißen. Eine freundliche Leihgabe von Konstabler Stowe. Ich glaube, du kennst ihn.«
Bast funkelte ihn an. Sie vermied es absichtlich, Cindy oder Mrs Walsh anzusehen, aber der Druck auf die unsichtbaren Ketten in ihrem Inneren wurde immer stärker. Sie fragte sich, wie lange sie das Ungeheuer noch bändigen konnte.
»Lass die anderen gehen, Roy«, sagte sie. »Das hier geht nur uns etwas an. Mrs Walsh und Kapitän Maistowe haben nichts damit zu tun. Und das Mädchen auch nicht.«
»Wie edel.« Roy lachte böse. »Sonst opfern sich doch immer nur die Männer für die Frauen, oder?« Er winkte ab. »Spielt aber keine Rolle. Eine normale Frau bist du ja sowieso nicht.«
Seine Waffe zielte immer noch auf ihre Brust, und auf einer tiefen, beinahe unbewussten Ebene wog Bast ganz analytisch ihre Chancen ab, lebend aus dieser Situation heraus zu kommen. Sie standen nicht besonders schlecht. Weder ihre gefesselten Hände noch ihre Verletzung konnten sie wirklich davon abhalten, Roy und alle seine Leute umzubringen. Aber dazu musste sie das Ungeheuer in sich von der Kette lassen. Sie musste zu Sachmet werden - vielleicht endgültig, und das würden auch Mrs Walsh und die beiden anderen nicht überleben.
»Überlegen Sie sich genau, was Sie tun«, sagte Maistowe. »Ich schwöre Ihnen, wenn den Frauen etwas passiert, dann ...«
Roy gab dem Burschen hinter ihm einen Wink mit den Augen, und Maistowe brach mit einem Wimmern zusammen, als der Mann ihm den Gewehrlaut gegen die Schläfe hämmerte. Cindy begann zu weinen.
»Das ist nicht nötig«, sagte Bast ruhig. »Lass sie da raus. Wenn du meinetwegen hier bist, dann mach das mit mir aus. Oder bist du zu feige dazu?«
Roy schüttelte langsam den Kopf. »Man muss kein Feigling sein, um Angst vor dir zu haben, Schlampe«, sagte er. »Und ich würd dir deinen Wunsch ja gern erfüllen, aber damit wäre Maude wohl nicht einverstanden.«
»Maude?« Bast starrte einen halben Atemzug lang ihn und deutlich länger Ben an. Roy grinste triumphierend weiter, aber Ben wich ihrem Blick aus.
»Wozu hat man Freunde?«, griente Roy. »Maude will ihr Eigentum zurück, und wir zwei haben noch eine Rechnung offen, erinnerst du dich?« Sein Lächeln erlosch, und seine Augen wurden plötzlich so hart wie Stein. »Hast du wirklich geglaubt, die Sache wäre damit erledigt? Weißt du, du hattest recht, Püppchen: Du hättest mich umbringen sollen, als du die Gelegenheit dazu gehabt hast. Jetzt bin ich dran. Maude will die Kleine zurück. Was mit dir passiert, ist ihr egal.«
»Übertreib es nicht«, sagte Ben. Schon seine Stimme verriet ihr, wie wenig wohl er sich in seiner Haut fühlte.
»Halt's Maul«, sagte Roy. »Und wenn wir schon mal dabei sind, dann tritt doch mal einen Schritt zur Seite.«
»Warum?«, fragte Ben.
»Weil ich kein besonders guter Schütze bin«, sagte Roy und drückte ab.
Es kam zu überraschend, als dass sie der Kugel noch hätte ausweichen können. Sie warf sich im letzten Augenblick herum und zur Seite, sodass die Kugel nicht ihr Herz traf. Aber es war wie ein Schlag in den Magen; ein brutaler Hieb mit einem Vorschlaghämmer, der ihren Leib in zwei Hälften aus purer Agonie zu zerreißen schien und sie mit einem gellenden Schrei auf die Knie fallen ließ.
Etwas in ihr zerriss, und es waren nicht nur Muskeln und Sehnen und empfindliches Fleisch. Blut schoss aus ihrem Magen und die Kehle hinauf und über ihre Lippen. Sie fiel nach vorne, brachte es irgendwie fertig, ihren Sturz halbwegs abzufangen und nicht aufs Gesicht zu fallen und krümmte sich im nächsten Moment vor Schmerz so sehr, dass ihre Stirn trotzdem auf den Boden knallte. Alles in ihr war Qual.
»Bist du verrückt geworden?!«, keuchte Ben. Mrs Walsh wimmerte vor Angst.
»Nur keine Sorge«, sagte Roy. »Das hält sie aus. Die Schlampe ist zäh.«
Bast kippte stöhnend und verzweifelt nach Luft ringend auf die Seite. Das Ungeheuer in ihr schrie, aber nicht einmal Sachmets Kräfte reichten, die stählernen Fesseln zu zerreißen, die ihre Hände hielten. Flammen verzehrten ihren Körper. Etwas in ihr ... tobte.
Aber da war nichts, was sie tun konnte.
»Das war ich dir noch schuldig, Schätzchen«, sagte Roy. »Aber wir sind trotzdem noch nicht quitt.« Er stieß sich - mühsam - von der Tür ab und hatte sichtliche Mühe, aufrecht zu gehen. »Also gut. Ben, Jack - ihr passt auf unsere Gäste auf. Matt und Frankie, ihr nehmt euch die Schlampe vor. Aber passt auf, dass sie mit euch nicht dasselbe macht wie mit mir. Ihr seht ja, was sie mir angetan hat.«
Bast versuchte sich hochzustemmen, aber ihre Kraft reichte nicht. Alles drehte sich um sie, und sie hatte das Gefühl, immer schneller in einem Ozean aus reiner Agonie zu versinken, an dessen Grund eine unvorstellbar tiefe Schwärze lauerte. Roy sagte noch etwas, das sie nicht mehr verstand, weil das Hämmern ihres eigenen Herzschlages in ihren Ohren mittlerweile jeden anderen Laut verschluckte.
Jemand zerrte sie brutal auf die Füße und schlug ihr ins Gesicht, was absolut überflüssig war; sie hatte nicht einmal mehr die Kraft, zu stehen und wäre sofort wieder zusammengebrochen, hätte der gleiche Kerl sie nicht auch aufgefangen.
»Vielleicht gehst du besser auch noch mit, Stan«, sagte Roy. »Sollst auch deinen Spaß haben.«
»Spaß? Mit der? Die ist doch halb tot!«
»Dann solltet ihr euch besser beeilen, wenn ihr noch was von der Schlampe haben wollt«, kicherte Roy. »Ben und ich amüsieren uns inzwischen ein bisschen mit der kleinen Cindy und ihrer neuen Familie - nicht wahr, meine Süße?«
»Du rührst die Kleine nicht an«, sagte Ren. »Maude will sie unversehrt zurück.«
Roy schnaubte irgendetwas, das Bast aber schon nicht mehr verstand. Ihre Arme wurden brutal auf den Rücken gedreht, und eine dritte Hand krallte sich in ihr Haar und zwang ihren Kopf in den Nacken, während sie von zwei der Kerle die Treppe hinaufgestoßen wurde. Der dritte war bereits die Stufen hinaufgeeilt und stieß die erstbeste Tür auf, die er fand.
Bast versuchte sich gegen den erbarmungslosen Griff zu stemmen, aber sie fühlte sich so schwach und hilflos wie ein neugeborenes Kind. Sie blutete stark. Ihr Kleid war bereits nass und schwer, und sie hinterließ eine dunkelrote, breite Spur auf dem Teppich und den Stufen, die die beiden Schläger sie hinaufzerrten. Aber viel schlimmer noch blutete sie nach innen. Nie zuvor im Leben hatte sie solche Schmerzen gehabt, und sie spürte, dass sie auch nur selten dem Tod so nahe gewesen war. Ihr Körper kämpfte mit all seiner unglaublichen Kraft gegen die schrecklichen Verletzungen an, die sie erlitten hatte, und wäre die Situation nur ein klein wenig anders gewesen, so hätte er diesen Kampf auch zweifellos gewonnen. Sie brauchte nur wenige Minuten, um wieder so weit zu Kräften zu kommen, dass sie sich wenigstens bewegen konnte. Aber vielleicht würde sie diese wenigen Minuten nicht mehr haben.
»Du weißt, dass Maude sie lebend haben will«, sagte Ben unter ihr.
»Was Maude will, ist mir scheißegal«, schnaubte Roy. »Die Schlampe ist viel zu gefährlich, um sie am Leben zu lassen - muss ich das ausgerechnet dir erklären? Wenn ihr mit ihr fertig seid, dann schneidet ihr die Kehle durch!«, rief er den beiden Kerlen nach, die sie die Treppe hinaufschleiften. »Oder auch vorher. Is' mir egal!«
Irgendwie brachte Bast die Kraft auf, zumindest den Kopf zu drehen und einen Blick nach unten zu werfen. Roy lehnte noch immer an der Tür und grinste zu ihr herauf, und Ben hielt nun die Schrotflinte in der Hand, mit der er Mrs Walsh und Cindy bedrohte. Er wich ihrem Blick aus.
Sie wurde weitergezerrt und grob durch die Tür und auf das Bett gestoßen. Ihre Hüfte stieß gegen einen der Bettpfosten, und es tat so weh, dass sie das Gefühl hatte, gepfählt zu werden. Ihr wurde schwarz vor Augen, vielleicht verlor sie für einen Moment auch das Bewusstsein.
Als sich ihre Sinne wieder zurückmeldeten - allen voran ihr Schmerzempfinden -, lag sie halb auf dem Bett, halb kniete sie davor, und sie fühlte, wie das Blut wortwörtlich aus ihr herausströmte und das Bettzeug und die Matratze besudelte. Verzweifelt schrie sie nach ihrer dunklen Schwester, deren Ketten der grausame Schmerz längst zerrissen hatte - immer noch besser als Sachmet weiterleben denn als Bastet sterben -, aber sie bekam keine Antwort. Das Ungeheuer, gegen das sie zeit ihres Lebens gekämpft hatte, war nicht mehr da.
Schritte polterten, und jemand riss ihr den Mantel von den Schultern und schlug ihr Kleid hoch. »He!«, sagte eine anerkennende Stimme. »Die Kleine trägt ja nicht mal was drunter. Das macht es einfacher. Willst du zuerst, Stan?«
»Ich bin doch nicht so krank wie ihr und vögele mit einer Leiche«, antwortete eine verächtliche Stimme. »Ich warte vor der Tür. Macht, was ihr wollt, aber beeilt euch ein bisschen.«
Die Tür fiel ins Schloss, und Bast biss die Zähne zusammen und versuchte sich gegen den Schmerz zu wappnen, der kommen musste.
Es nutzte nichts. Der Kerl nahm sie schnell und wohl absichtlich so brutal, wie er nur konnte, und der Schmerz ließ die noch immer tobende Qual in ihrem Leib zu schierer Agonie explodieren. Für einen Moment war sie dem Tod nicht nur nahe, sondern berührte ihn, eine dunkle, sanfte Macht, an der nichts Erschreckendes war, und auch nichts Forderndes, sondern die einfach nur stumm und geduldig darauf wartete, sie in ihre warme Umarmung schließen zu können.
Aber diesmal nicht. Noch nicht.
Bast besann sich endlich auf das, was ihr schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte, zwang sich, der unvorstellbaren Agonie nicht nur standzuhalten, sondern sie ihrerseits zu nutzen, auch wenn das, was sie erlitt, die Grenzen des Vorstellbaren dabei selbst für sie überschritt. Aber es gelang ihr, für einen Moment alles andere aus ihrem Bewusstsein auszublenden und nach seinem Geist zu greifen.
Er merkte es nicht einmal, jedenfalls nicht, bevor es zu spät war. Bast gewann schon in den ersten Augenblicken genug Kraft, um der Qual endgültig Herr zu werden und sie zu bloßem Schmerz zu machen, schlimm, aber erträglich. Sie spürte, wie der Blutstrom bereits zu versiegen begann und sich ihr Körper nun mit Macht daranmachte, den angerichteten Schaden zu reparieren, und plötzlich wurde ihr klar, in welch schrecklicher und erniedrigender Lage sie sich befand; wortwörtlich. Dennoch ließ sie den Kerl noch zwei, drei Augenblicke gewähren, bevor sie sich der lebendigen Flamme in ihm weiter näherte, und mehr nahm. Mehr. Mehr.
Da er hinter ihr stand, konnte sie sein Gesicht und den Ausdruck darauf nicht erkennen, aber sie hatte es schon viel zu oft erlebt, um nicht zu wissen, dass in seinen Augen plötzlich ein Ausdruck vager Verwirrung erschien, gefolgt von einem plötzlichen Erschrecken, das in jähes Entsetzen umschlug, als er nicht nur begriff, dass etwas mit ihm geschah, sondern auch, was.
Alle begriffen es, im letzten Moment.
Er hörte auf, sich zu bewegen, oder versuchte es wenigstens, aber das ließ sie nicht zu. Sie war längst schon wieder viel zu stark, als dass er eine Chance gegen sie gehabt hätte, sie zwang ihn, weiterzumachen, mit langsamen, sehr gleichmäßigen Bewegungen jetzt, und er begann zu stöhnen. Aber es waren keine Laute der Lust, sondern das genaue Gegenteil, nichts als Qual und das schiere Entsetzen, als er spürte, wie das Leben aus ihm herausgerissen wurde, rasch und mit unerbittlicher Kraft und auf eine Art, die er sich bisher nicht einmal hatte vorstellen können.
»Ist alles in Ordnung mit dir, Frankie?«
Bast erinnerte sich erst jetzt des zweiten Kerls, der mit ihnen hereingekommen war, und schenkte dem Burschen hinter sich noch einige Sekunden Leben, indem sie ihn nun doch aus ihrem Griff entließ und ihm gestattete, aufzuhören. Er taumelte einen Schritt zurück, strauchelte und kämpfte einen Moment lang mit verzweifelter Anstrengung darum, auf den Beinen zu bleiben, verlor diesen Kampf aber. Am ganzen Leib zitternd sank er auf die Knie und weiter nach vorne, bis er seinen Sturz im letzten Augenblick mit den Händen abfing.
»Frankie, verdammt, was ist mit dir?« Der andere Bursche war mit einem Satz neben ihm. »Was hat die verdammte Hexe mit dir gemacht?«
»Dasselbe, was ich mit dir tun werde«, sagte Bast. Ihre Stimme klang brüchig, und sie zitterte noch immer leicht, als sie sich herumdrehte. »Und steck die Pistole weg. So etwas ist doch zwischen uns wohl nicht notwendig, oder?«
Bast hatte niemals an die Macht des Schicksals oder böse Flüche oder Vorahnungen geglaubt, aber mittlerweile war sie nicht mehr sicher, ob es vorhin wirklich gut gewesen war, sich so abfällig über den Londoner Nebel zu äußern. Ob es nun der typische Londoner oder ganz normaler Nebel war, das Zeug lag wie eine vom Himmel gefallene Wolke über der Straße und beschränkte nicht nur ihre Sichtweite auf kaum zwanzig Fuß, sondern tränkte auch alles mit eisiger Nässe und machte die Ziegelsteinwand so glitschig, dass sie bis zuletzt nicht einmal sicher gewesen war, das kurze Stück his zum Dach hinauf überhaupt zu schaffen. Sie war bis auf die Haut durchnässt - diesmal nicht von ihrem eigenen Blut, sondern ganz ordinärer Nässe, aber das Zeug war eisig. Die Wand, an der sie emporstieg, war glitschig wie Schmierseife, und ihre Finger und Zehen waren vor Kälte taub.
Vielleicht hätte sie doch die Treppe nehmen sollen.
Bast zog sich mit einer letzten Anstrengung auf das steile Dach hinauf, biss die Zähne zusammen, als sie spürte, wie eisig die Dachziegel waren und blieb einen Moment mit geschlossenen Augen liegen, bis sie wieder zu Atem gekommen war. Sie hatte nicht viel Zeit.
Sie hatte den zweiten Burschen schnell genommen und sich anschließend auch noch den Rest von Lebenskraft geholt, der noch in Frankie war. Es hatte nicht lange gedauert, aber es hatte gedauert, und sie glaubte nicht, dass Stan noch lange vor der Tür stehen und darauf warten würde, bis seine Freunde mit ihr fertig waren. Einen Moment lang hatte sie erwogen, ihn unter einem Vorwand hereinzurufen oder schlichtweg durch die Tür hindurch zu erschießen, um anschließend auf den Gang hinauszustürmen und dasselbe mit Roy und Ben zu tun. Ihre Chancen, es zu schaffen, standen nicht schlecht. Sie fühlte sich kräftig und energiegeladen wie schon seit langer Zeit nicht mehr. Von Roy hatte sie nur das Notwendigste genommen; genug, um den schlimmsten Hunger zu stillen und ihn am Leben zu lassen, wie sie es - fast - immer tat. Die beiden gerade hatte sie vollkommen verzehrt, und sie fühlte sich so stark wie schon seit Ewigkeiten nicht mehr. Beinahe konnte sie Horus und die anderen verstehen, die es vorzogen, ihren Hunger auf diese Weise zu stillen.
Sie verscheuchte den Gedanken und setzte ihren Weg auf Händen und Knien fort. Nach einem Augenblick erreichte sie den First, glitt hinüber und auf der anderen Seite wieder bis zur Dachkante hinab. Der Hinterhof lag gut zwanzig Fuß unter ihr, vielleicht mehr, aber sie hatte keine Zeit für einen anstrengenden und vor allem langsamen Abstieg und legte die Entfernung mit einem entschlossenen Sprung zurück. Sie kam - beinahe - lautlos auf, verbrauchte die restliche Energie mit einer geschmeidigen Rolle und schluckte einen Fluch herunter, als ihr Fuß gegen irgendetwas stieß, das mit einem hörbaren Scheppern davonflog. Ein verirrter Lichtstrahl brach sich auf blitzendem Gold.
Bast runzelte die Stirn, ging ein zweites Mal in die Hocke und hob das abgebrochene Schwert auf, das sie am vergangenen Abend so achtlos fallen gelassen hatte. Die verbliebene Klinge war kürzer als ihr kleiner Finger, aber immer noch besser eine zerbrochene Waffe als keine Waffe.
Unendlich behutsam öffnete sie die Hintertür, schlüpfte in die Küche und ließ sich in die Hocke sinken, um durch das Schlüsselloch zu spähen. Sehr viel konnte sie nicht sehen, Roy lehnte immer noch mit dem Rücken an der Tür und zielte mit seiner Pistole auf Maistowe, der sich mittlerweile auf die Knie erhoben hatte und mit beiden Händen seinen Kopf hielt. Mrs Walsh kniete neben ihm und schien mit leiser Stimme auf ihn einzureden, und von Cindy und Ben konnte sie gar nichts sehen, aber sie war ziemlich sicher, dass Ben dem Mädchen nichts tun würde. Dennoch gefiel ihr nicht, was sie sah. Sie hatte auf ihre gewohnte Taktik - einen direkten kompromisslosen Angriff ohne Rücksicht auf sich oder andere - verzichtet, um Mrs Walsh und Maistowe nicht in Gefahr zu bringen. Sie war schnell, aber nicht schneller als eine Pistolenkugel, und Roy würde keinen Sekundenbruchteil zögern, die beiden zu erschießen, und daran hatte sich nicht besonders viel geändert.
Bast überlegte angestrengt und fuhr dann erschrocken zusammen, als irgendetwas sie sacht am Bein berührte. Aber es war nur Cleopatra, die sich schnurrend an ihr rieb und um Streicheleinheiten bettelte.
»Jetzt nicht, Cleopatra«, sagte Bast, schob die Katze ein kleines Stück zur Seite und besann sich dann eines Besseren. Lautlos rief sie Cleopatra zurück, drückte vorsichtig die Klinke herunter und spähte durch den Türspalt. Sie konnte Ben erkennen, der auf der untersten Stufe Platz genommen und die Schrotflinte quer über die Knie gelegt hatte. Cindy hockte ein kleines Stück weiter mit angezogenen Knien auf dem Boden und starrte aus blicklosen Augen ins Leere. Wahrscheinlich war es besser, wenn sie sich zuerst um Roy kümmerte. Ben war zweifellos der gefährlichere Gegner, aber Bast glaubte nicht, dass er ebenso skrupellos wie Roy schießen würde. Jedenfalls nicht auf Mrs Walsh und Jacob.
Vorsichtig öffnete sie die Tür weiter und gab Cleopatra einen lautlosen Befehl, woraufhin die Katze durch den Türspalt schlüpfte und ein lautstarkes Maunzen ausstieß. Roy fuhr erschrocken herum, und auch Ben fuhr zusammen und hob blitzartig sein Gewehr, entspannte sich aber auch genauso schnell wieder und schüttelte lachend den Kopf.
»Entspann dich, Roy«, sagte er. »Es ist nur eine Katze.«
Eine Sekunde lang starrte Roy die schwarze Katze fast hasserfüllt an, und Bast rechnete fast damit, dass er seine Pistole heben und sie erschießen würde. Dann aber ließ er mit einem nervösen Lächeln die Waffe sinken und wandte sich um, und Bast stieß die Tür auf und stürzte sich auf ihn.
Sie hatte sich trotz allem verschätzt. Sie hatte gewusst, dass Ben der gefährlichere der beiden war, aber sie hätte trotz allem nicht gedacht, dass er so schnell war. Roy glotzte sie einfach nur aus hervorquellenden Augen an und verstand ganz offensichtlich überhaupt nichts, aber Maudes persönlicher Gorilla reagierte dafür umso schneller: Er sprang hoch, wirbelte das Gewehr herum und drückte ab, alles in einer einzigen, unglaublich schnellen Bewegung, und Bast fand gerade noch Zeit, sich mitten im Sprung herumzuwerfen und zu ducken.
Drei oder vier Schrotkugeln bissen wie kleine, zornige Hornissen in ihre Schulter und ihren linken Oberarm, aber der Großteil der Ladung stanzte ein rauchendes Loch in die Haustür, ohne dass ihre Wucht nennenswert von dem Umweg gebremst zu werden schien, den sie durch Roys Gesicht und Hinterkopf nehmen musste. Roy brach mit einem sonderbar gurgelnden Laut zusammen und begann mit Armen und Beinen zu zucken und Blut in alle Richtungen zu verspritzen, unglaublicherweise immer noch am Leben, und Bast kam mit einer blitzartigen Rolle auf die Füße, täuschte eine Bewegung nach links an und warf sich dann in die entgegengesetzte Richtung.
Bens Schrotflinte entlud ihren zweiten Lauf mit einem donnernden Knall, der ihr zehnmal lauter vorkam als der erste Schuss, aber ihre Finte hatte funktioniert: Die Schrotladung verfehlte sie weit und ließ ein gutes Drittel des Kaminsimses explodieren.
Bast sprang direkt auf Ben zu und hob den Schwertgriff. Im allerletzten Moment registrierte sie eine Bewegung am oberen Ende der Treppe und erkannte Stan, Roys dritten Schläger, der, vom Geräusch der Schüsse angelockt, herangestürmt kam und mit einem rostigen Revolver herumfuchtelte. Sie traf eine blitzartige Entscheidung und schleuderte den Schwertgriff in seine Richtung, statt ihn Ben ins Herz zu rammen, wie sie es ursprünglich vorgehabt hatte. Das zerbrochene Schwert verwandelte sich in einen goldfarbenen Blitz, der sich ein halbes Dutzend Mal in der Luft überschlug, bevor er sich so tief in Stans Hals bohrte, dass der Kerl zurückgeworfen und regelrecht an die Wand genagelt wurde. Er war tot, noch bevor der Revolver seinen Fingern entglitt und sich überschlagend die Treppe herunterzupoltern begann.
Und Bast begriff in einer grellweißen Lohe aus reinem Schmerz, dass sie Ben trotz allem abermals unterschätzt hatte. Er zögerte keinen Sekundenbruchteil, und statt etwas so Dummes zu tun wie etwa nach ihr zu schlagen oder sie gar mit bloßen Händen zu packen, rammte er ihr den Gewehrlauf mit solcher Gewalt in den Leib, dass sie nach Luft japsend zusammenbrach und nur noch ein rotes Wabern wahrnahm. Ihre Kräfte verließen sie, und ihr ganzer Körper schien sich von innen heraus zu verflüssigen und dabei Feuer zu fangen. Auch ihre Leidensfähigkeit hatte Grenzen, und die waren erreicht.
Als sie nach vorne kippte, rammte ihr Ben das Knie ins Gesicht. Bast wurde nach hinten geschleudert und blieb halb bewusstlos auf dem Rücken liegen. Sie verlor nicht wirklich die Besinnung, aber sie stürzte über eine unsichtbare Klippe und befand sich für einen Moment in einem Zustand, der einer Ohnmacht so nahekam, wie es überhaupt nur ging. Wie aus unendlicher Entfernung registrierte sie, wie Ben das Gewehr in den Händen herumdrehte und die Waffe nun wie eine Keule schwang, um ihr damit den Schädel einzuschlagen, versuchte instinktiv, von ihm wegzukriechen und spürte selbst, dass es ihr nicht gelang.
Alles ging wahnsinnig schnell, und zugleich schien die Zeit für sie stehen zu bleiben. Ihre Kräfte kehrten rasend schnell zurück, und nun war auch jene andere, düstere Macht in ihr wieder da, die sich mit einem wütenden Kreischen auf ihren Feind stürzen und die Krallen in sein empfindliches Fleisch schlagen und ihn zerreißen wollte, aber nichts davon würde sie jetzt noch retten.
Ben machte einen einzelnen, stampfenden Schritt auf sie zu, nahm breitbeinig über ihr Aufstellung und hob seine improvisierte Keule zu einem vernichtenden Hieb. Dann keuchte er, riss ungläubig die Augen auf und kippte dann wie ein gefällter Baum zur Seite, als sein rechtes Bein plötzlich unter ihm nachgab.
Bast warf sich instinktiv zur Seite, rollte sich keuchend vor Schmerz auf die Knie und begriff, dass das eine ganz besonders schlechte Idee gewesen war, als das Reißen und Zerren in ihrem Leib noch einmal schlimmer wurde. Ihre Wunde war wieder aufgebrochen und machte ihr mehr zu schaffen denn je. Sie konnte sich kaum bewegen, so sehr sie es auch versuchte, und nicht einmal das Wissen, dass sie noch längst nicht außer Gefahr und Ben auch auf Händen und Knien kriechend noch immer ein tödlicher Gegner war, vermochte daran etwas zu ändern.
Wieso war er überhaupt gestürzt?
Bast zwang sich mit einiger Mühe, die Augen zu öffnen, um wenigstens zu Ben hinüberzusehen, und wurde mit einem schon fast absurden Anblick belohnt: Ben lag kaum einen Meter neben ihr auf der Seite und starrte, noch immer mit demselben, nichts anderes als verblüfften Ausdruck auf dem Gesicht, seinen rechten Fuß an, unter dem sich allmählich eine dunkelrote Lache bildete, und Mrs Walsh hockte nur ein kleines Stück neben ihm auf den Knien und starrte auf das winzige Küchenmesser, mit dem sie die Sehne an seinem rechten Knie durchtrennt hatte, mit einem sauberen Schnitt von links nach rechts.
»Du verdammte blöde Kuh«, murmelte er, noch immer viel mehr überrascht und empört als wirklich wütend. »Was ... was hast du gemacht?«
Er versuchte sich hochzustemmen, fiel mit einem schmerzhaften Keuchen wieder zurück und wälzte sich auf das andere Bein. Das Gewehr war ihm beim Sturz entglitten, aber er brauchte keine Waffe, um einer alten Frau mit bloßen Händen das Genick zu brechen. Mrs Walsh starrte ihn aus riesigen Augen an und rührte sich um keinen Zoll. »Dafür werd ich dir ...«
Bast warf sich auf ihn, schlang den Am um seinen Hals und riss ihn nach hinten. Ben war viel zu überrascht, um sich zu wehren, zumindest im allerersten Moment, und als er seine Verblüffung überwand und seinerseits nach ihr griff, um sie zu packen, überraschte Bast ihn ein weiteres Mal, indem sie nicht einmal versuchte, ihm Widerstand entgegenzusetzen, sondern sich einfach herumwirbeln und unter ihm begraben ließ. Seine linke Hand schloss sich mit erbarmungsloser Kraft um ihren Hals und schnürte ihr den Atem ab, die andere hatte er zur Faust geballt, um sie ihr mit aller Gewalt ins Gesicht zu schmettern. Von dem sanften Riesen, als den Bast ihn trotz allem immer noch eingeschätzt hatte, war nichts mehr geblieben. In seinen Augen loderte die blanke Mordlust.
Bast war schneller. Ihre Hände schossen hoch, krallten sich in sein Haar und zerrten sein Gesicht zu sich herab, und ihre Lippen berührten sich.
Bens erhobene Faust erstarrte, und in die Wut in seinem Blick mischte sich Überraschung - und dann war es auch schon zu spät.
Sie spürte ihn nicht in sich, und ihre Vereinigung erfolgte auch nicht freiwillig, was es für sie leichter gemacht hätte, aber der Unterschied war nicht sehr groß. Wenn sie Sachmets Meinung interessiert hätte, so hätte sie ihr vermutlich sogar gesagt, dass es so leichter war; oder zumindest befriedigender. Das Raubtier in ihr griff nach Bens Lebenskraft und zerrte sie einfach aus ihm heraus. Bens Augen weiteten sich. Er war tatsächlich stark, geradezu unvorstellbar stark für einen ganz normalen Menschen. Er wehrte sich noch immer. Es gelang ihm sogar beinahe, sich von ihr loszureißen.
Aber nur beinahe, und nach einem weiteren Moment waren auch seine Kräfte erschöpft. Das letzte bisschen Leben, das noch in ihm war, ging in Bast über, und die Flamme erlosch.
Und nur einen Augenblick später auch ihr Bewusstsein.