8.

Im Traum rannte er durch Rauch und Asche auf ein schmuckes Einfamilienhaus zu. Er sah das Dach, den Garten, die Bäume, die Sträucher, hörte den fröhlichen Lärm der spielenden Kinder und hörte Alice einen Schlager pfeifen.

Aber je mehr er seine Schritte beschleunigte, um so weiter entfernte sich dieses Bild oder hielt in immer gleichbleibender Entfernung mit ihm Schritt. Er glaubte dann, auf einem Fließband zu laufen, das sich in die entgegengesetzte Richtung bewegte.

Dann löste sich alles im Nichts auf; schwarze Flocken um wirbelten ihn; er wußte nicht mehr, wo er war.

Oder er schwamm in den öligen und tintenschwarzen Wellen des verpesteten Ozeans. Er sah den gelblich schimmernden Strand und das Grün der sanft ansteigenden Dünen. Er sah Menschen und schmucke weiße Segelboote. Doch plötzlich verschwand diese Fata Morgana, und der Strand sah noch trostloser aus als zuvor.

Die Träume hatten verschiedene Variationen, doch das Thema war immer das gleiche und lautete: „Beeile dich, sonst schaffst du es nicht! Tempo ist das Gebot der Stunde!“

Ansonst waren nicht alle Träume unangenehm und Träume, in denen Alice vorkam, die schönsten, obwohl er auch hierin nicht zum Ziel kam, weil sie im letzten Augenblick verschwand. Aber es genügte ihm schon, sie nur von weitem zu sehen.

Nach solchen Träumen haßte er sein weißes, kaltes Zimmer mit den Bücherstapeln und der Beethovenbüste nur noch mehr. Um Zerstreuung zu finden, stürzte er in die Bibliothek und arbeitete wie besessen, indem er sich auf alle nur erreichbaren Wissensgebiete stürzte. Und manchmal gelang es ihm, sich ein wenig abzulenken und die Vergangenheit zu vergessen.

Leider war das jetzt nicht möglich, denn er hatte Bettruhe und kein Mittel, Alice aus seinen Gedanken zu vertreiben… den sonnigen Strand, den kleinen lauschigen Park oder das Hospital, wie es früher einmal gewesen war.

Einmal warf er der Robotschwester sogar ein Buch ins Gesicht beziehungsweise an jene Stelle, wo ihre Stirn hätte sein müssen. Das hatte vorübergehende Sprachstörungen zur Folge und löste ein unverständliches Kauderwelsch aus, das bald drohend und bald bittend klang. Doch weil sich die Robotschwester mit dem Studium psychologischer Werke befaßt hatte, neigte sie zu Vergebung und Nachsicht. Manchmal dachte Ross darüber nach, ob sich in ihrem Metallgehäuse nicht doch ein unbekanntes und fremdes Wesen befand.


* * *

Nach einer besonders heftigen, wenn auch wie immer recht einseitigen Auseinandersetzung am zwölften Tag seiner Bettruhe stellte Ross die unvermutete Frage: „Weißt du, was eine Lüge, eine freundliche Aufmerksamkeit und ein Wortspiel bedeuten?“

Die Robotschwester tickte kurz.

„Ich habe keine Daten über Wortspiele und weiß auch nicht, wie man sie konstruiert“, antwortete sie heiter. „Eine Freundlichkeit bedeutet, jemand aufmerksam zu behandeln.“

„Und eine Lüge?“

„Wie ich gelesen habe, ist es eine Lüge, wenn man die Wahrheit in eine falsche Gehirnzelle setzt.“

„Gut, das will ich gelten lassen“, erwiderte Ross. „Ich schließe daraus, daß du mir freundlich gesonnen bist und mich auch niemals belügen würdest.“

„Natürlich nicht, Mister Ross.“

„Aber du bist gezwungen, mir eine Lüge zu erzählen, weil du glaubst, dich um meine Gesundheit kümmern zu müssen. Gesund bin ich übrigens schon lange, damit wir uns recht verstehen. Nehmen wir einmal an, ein Mensch verschwendet viel Zeit und Mühe, um ein wichtiges Problem zu lösen, das er aber nicht lösen kann, weil… weil er im Bett liegen muß! Tust du nun alles, was er sagt, dann hast du ihm eine Menge Fehlschläge erspart, vielleicht sogar den Tod. Könntest du mich da noch belügen, Schwester?“

„Unser Programm sieht nicht vor, daß wir falsche oder unvollständige Angaben machen“, antwortete die Robotschwester. „Im Falle Ihres Todes, Sir, wäre ich auf die Führung eines anderen Menschen…“

„Du weichst mir aus!“ sagte Ross scharf. „Hier gibt es nur einen Menschen, und der bin ich! Ich will einmal versuchen, dir den Unterschied zwischen echter Unterstützung und Freundlichkeit zu erklären. Wenn ich dir das beibringen kann, denkst du vielleicht etwas menschlicher.“

„Ein menschliches Wesen besitzt freien Willen und Initiative“, protestierte die Robotschwester. „Aber kein Roboter hat die Fähigkeit…“

„Ihr könnt es, wenn ihr nur wollt! Alles ist Übungssache. Du konntest doch schon mal etwas komplizierter denken — oder? Damals, als du mich aufwecktest, ohne mich von jemand festhalten zu lassen. Du hast festgestellt, daß ich nicht tot war. Und seit dieser Zeit sind eure mechanischen und kybernetischen Funktionen laufend verbessert worden. So müßte euer Verstand eigentlich auf Hochtouren laufen.“ Er lachte und fügte hinzu: „Das war so etwas Ähnliches wie ein Wortspiel. Na, geistig seid ihr noch immer nicht aus dem Dampfschiffzeitalter heraus.“

Sie diskutierten noch drei Stunden, und Ross war froh, daß endlich das Licht ausging. Die Robotschwester achtete darauf, daß die Wach- und Schlafperioden seitens des Patienten Ross strikt eingehalten wurden.

„Es ist Zeit zum Schlafen, Mister Ross“, erklärte sie.

„Das merke ich.“

„Haben Sie noch einen Wunsch, Mister Ross?“

Diese Frage hatte Ross schon so oft gehört, daß er sie kaum noch beantwortete. Doch diesmal machte er sich einen Spaß daraus und sagte:

„Jawohl, ich habe einen Wunsch, Schwester!“

„Bitte, Mister Ross?“

„Ich möchte gern ein weibliches Menschenwesen um mich haben, ungefähr zwanzig Jahre, dunkelbraune Haare und braune Augen…“ Er atmete einmal tief ein und aus. „Sie heißt Alice, falls dir dieser Name etwas verrät.“

„Ich habe Ihren Wunsch vorgemerkt, Mister Ross, sehe aber im Augenblick keine Möglichkeit…“

„Gute Nacht, Schwester!“ brummte Ross und rollte sich auf die andere Seite.


* * *

Er wünschte in jener Nacht von Alice zu träumen, doch statt dessen träumte er von einem kleinen unterirdischen Raum, in dem die Luft immer knapper wurde. Wenn er noch lange weiterleben wollte, mußte etwas geschehen — aber rasch, rasch, rasch!

Als die Robotschwester ihn mit der Anrede,Sir’ aus seiner Bettruhe erlöste, wäre es Ross sehr angenehm gewesen, wenn er der ersten Expedition schon das Zeichen zum Aufbruch hätte geben können. Beeilung und immer wieder Beeilung. Er konnte dieses Gefühl einfach nicht von sich abstreifen.

Obwohl ihm die Schwester erfolgreich jegliche Arbeit untersagt hatte, konnte sie seine Gedanken nicht abschalten. Unter anderem hatte er auch an die Möglichkeit zu denken, daß es in der ganzen Welt keine Spur von Leben mehr gab.

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