5.

Die auf den ersten sechs Seiten des Diariums geschilderten Vorgänge waren Ross zum Teil bekannt und für die Erforschung der Gegenwart belanglos. Es war auch kein reines Vergnügen, die krakeligen Schriftzüge von Doktor Pellew zu entziffern. Ross blätterte zwanzig Seiten weiter und las:

Verbindungen mit Sektion F seit zwei Stunden unterbrochen. Sind nicht in der Lage, die Verbindung mit den anderen Sektionen länger als eine Woche aufrechtzuerhalten. Um eine Panik zu vermeiden, habe ich das Gerücht verbreitet, daß das plötzliche Abreißen der Verbindung durch ein Erdbeben verursacht sei, dessen Stöße man auch hier unten wahrgenommen habe. Ich habe den Instandhaltungsrobotern den Auftrag gegeben, die Türen des Elevatorschachtes mit Eisenketten abzusperren, damit niemand den Fahrstuhl benutzen kann. Es gibt immer noch eine Reihe kurzsichtiger Narren, die eine Flucht planen…

Ross erinnerte sich an eine andere Eintragung, die mit den Worten begann: Solange diese Notverordnungen bestehen… Vielleicht hatte dieser Teil des umfangreichen Diariums etwas damit zu tun. Ross hatte zu weit geblättert und schlug die Seiten nun langsam zurück. Der Roboter trat ein und servierte ihm fünf Konservenbüchsen.

Er öffnete eine, schnupperte vorsichtshalber und stellte sie in den leeren Aschenbecher. Ihm war zumute, als müßte Doktor Pellew jeden Augenblick das Zimmer betreten. Er aß mit gutem Appetit und schlug dann aufs Geratewohl eine der schon wieder zugeblätterten Seiten auf:

… erweckte ich in der vergangenen Woche Courtland aus dem Tiefschlaf. In seiner gegenwärtigen Verfassung wird er nur noch wenige Monate zu leben haben. Er weiß es, läßt sich aber nichts anmerken. Seine Tapferkeit richtet mich auf. Aber ich brauche Hilfe, und er war einer der besten Kybernetiker seiner Zeit. Er arbeitet an einem Roboter vom Typ Mark 5.

Mein Wunsch ist ein Roboter mit Urteilskraft und eigener Initiative, und Mark 5 B scheint diese Qualitäten zu haben. Courtland behauptet, daß er lediglich die Aufspeicherungskapazität des Elektronengehirns erhöht habe. Er meinte scherzhaft, daß Mark 5 B nach wie vor keinen Sinn für Humor besäße. Dennoch ist Courtland sehr stolz auf seinen neuen Roboter, dem er den Namen Bea gegeben hat. Courtland ist davon überzeugt, daß er noch große Leistungen vollbringen würde, wenn seine Lebensspanne nicht so knapp bemessen wäre.

Ich glaube, daß er schon große Leistungen vollbracht hat. Wenn Ross nur bald sein Werk fortführen könnte…

Ross spürte ein leichtes Prickeln auf seiner Kopfhaut. Die Nennung seines eigenen Namens war wie ein Scheck. Doch wovon war wirklich die Rede? Wo lag der Kern des Problems?

„Wann hast du zum letztenmal mit Doktor Pellew gesprochen?“ fragte er plötzlich den Roboter, der noch immer neben ihm stand.

„Das sind dreiundzwanzig Jahre und fünfzehn Tage her, Sir.“

„Gar nicht mal so lange“, murmelte Ross. „Und wann wird er aus dem Tiefschlaf erwachen?“

Der Roboter begann zu ticken.

„Na, hör mal, das ist doch eine einfache Frage“, begann Ross verärgert, aber dann überlegte er. Natürlich war das eine einfache Frage, aber… „Ist Doktor Pellew tot?“

„Ja, Sir.“

Ross schluckte und fragte heiser: „Wie viele sind noch übriggeblieben? Patienten und Personal?“

Der Roboter dachte nicht lange nach. „Einer, Sir.“

„Und wer ist das?“

„Sie, Sir.“

Ross atmete einmal tief ein und aus. Obwohl ihm in Anbetracht dieser Auskunft der Appetit vergangen war, griff er nach dem Löffel und begann zu essen. War er nicht schon selber gestorben? Vielleicht wußte er das nur nicht. Doktor Pellew war tot, Alice war tot, Doktor Hanson, einfach alle. Wenn er der Zeitrechnung seines Gehirns Glauben schenkte, so hatte er sich mit diesen Personen noch vor zwei Tagen unterhalten. Jetzt waren sie tot und begraben, die meisten schon Hunderte von Jahren. Das ganze Hospital wurde von Robotern beherrscht, von glitzernden Metallgebilden. Kein Mensch konnte sich einsamer fühlen als Ross. Plötzlich wurde er sich der Tatsache bewußt, daß er fünf Meilen unter der Erde war. Das Hospital war nichts anderes als ein riesiger Sarg. Aber er lebte und wollte raus, raus, raus!

Ross hatte laut geschrien und wußte es nicht.

„Doktor Pellew sagte mir, daß Sie in der ersten Zeit voreilige Entschlüsse fassen würden“, ließ der Roboter seine Stimme vernehmen. „Ich sollte Ihnen sagen, daß die Zukunft der menschlichen Rasse von Ihrer Reaktion abhängig ist. Überlegen Sie sich Ihre Handlungen ganz genau, Sir.“

„Natürlich — und ich weiß auch ganz genau, was ich jetzt sage: Wie komme ich hier heraus?“

Ein menschliches Wesen wäre dieser Frage eventuell ausgewichen oder hätte die Antwort verweigert, aber diese,Krankenschwester’ war ein Roboter und hatte keine Wahl. Das Elektronengehirn prüfte die Situation und zählte eine unglaubliche Menge von Gründen auf, die Ross beweisen sollten, daß es besser für ihn wäre, einstweilen noch unten zu bleiben. Der Elevatorschacht war blockiert, die Luft draußen war noch verunreinigt, er dürfe sich keiner Gefahr aussetzen und so weiter.

„Weißt du, was man unter Wahnsinn versteht?“ fragte Ross mit einer Stimme, die ihm gar nicht zu gehören schien. „Verstehst du etwas von Geisteskrankheiten… hm?“

„Ja, Sir.“

„Verstößt es nicht gegen deine Direktiven, wenn du mich in solch einen Zustand hineintreibst?“

„Ja, Sir.“

„Dann bringe mich an die Erdoberfläche!“

Es dauerte drei Stunden.


* * *

Der Roboter tickte wie besessen und schien schließlich zu der Überzeugung zu kommen, daß die Sterne für dieses Vorhaben günstig standen. Um den Elevatorschacht frei zu machen, war die Hilfe der schwereren Bewachungsroboter erforderlich. Es waren fünf Schächte nebeneinander. Die Roboter gehorchten nur menschlichen Befehlen. Sie waren nicht so glänzend wie der Schwesterntyp. Ein Wort genügte zwar, um sie in Bewegung zu setzen, aber es waren eine Menge Worte erforderlich, um ihnen begreiflich zu machen, was zu tun war. Und Ross durfte nicht früher einsteigen, bis die Roboter eine Probefahrt gemacht hatten. Diese und ähnliche Verzögerungen veranlaßten Ross, noch einmal in dem Diarium zu blättern. Jetzt kannte er den Sinn dieser Notverordnungen: es hatte ein Krieg stattgefunden. Nach den Aufzeichnungen von Doktor Pellew hatte der Krieg fünf Monate gedauert. In den ersten fünf Wochen nach Kriegsende durfte sich kein Lebewesen auf der Erdoberfläche blicken lassen…

Ross wollte heraus, egal, was ihn oben erwartete. Nur weg von diesen gespenstischen Robotern und der tödlichen Stille der einzelnen Räume. Er rechnete nicht mehr damit, oben noch Menschen anzutreffen oder sonstige Lebewesen. Aber er würde Insekten, Gräser und Bäume sehen, dazu einen Himmel mit Sonne und Wolken; auch die frische unverfälschte Luft würde ihm schmecken. Nein, er glaubte an keine Überlebenden mehr — und doch gab er insgeheim die Hoffnung nicht auf.

Jede Etappe der Fahrt nach oben war die gleiche. Überall erkundigte sich Ross bei dem Wachroboter, ob noch Menschen vorhanden seien. Wurde diese Frage verneint, so erkundigte er sich nach dem Roboterpersonal der Etage. Innerhalb weniger Minuten umringten ihn die zylinderförmigen Wesen vollzählig, und ihre Stimmen klangen so echt menschlich, daß Ross eine Gänsehaut bekam.

Der Lift hielt auch in der Etage, die zu der Zeit, als Ross im Tiefschlaf lag, am tiefsten gelegen war. Im Korridor dieser Sektion des unterirdischen Hospitals lag der Staub von Jahrhunderten wie grauer Schnee auf dem Fußboden. Die Roboter, die Ross herbeirief, entfachten einen regelrechten Staubsturm.

Die erste Etappe von oben lag immerhin noch hundert Fuß unter der Erdoberfläche. Sie sah aus wie ein Schrottlager und die Roboter darin nicht viel besser. Die Decke hatte breite Risse und die Wände wiesen Löcher auf, die an Unterstände erinnerten. Aber Ross sah auch einen Tunnel, der schräg aufwärts verlief und einen verschwommenen grauen Lichtschein erkennen ließ. Ross konnte nicht sagen, ob die Leute dieser Etappe den Tunnel gegraben hatten, um an die Erdoberfläche zu gelangen, oder ob die Leute von oben dem Grauen des Krieges entgehen wollten, indem sie versuchten, so tief wie möglich im Erdinnern zu verschwinden.

Ross ging auf den Lichtschein zu. Der ihn begleitende Roboter hatte Mühe, ihm auf den Fersen zu bleiben, zumal er nur drei Räder besaß.

Kurz vor der Öffnung des Tunnels brach Ross erschöpft zusammen. Er sah Erdbrocken, Felsgestein und Scherben, die wie geschmolzene Glassplitter aussahen. Die Luft hatte einen eigenartigen Geruch, den seine noch vom Staub gereizte Nase nicht identifizieren konnte. Die Öffnung des Tunnels war nur wenige Meter entfernt; Ross lag schon im Bereich des grauen Lichtscheins. Der Helligkeit nach zu urteilen, mußte es dem Abend oder der Morgendämmerung zugehen.

Er ruhte sich noch ein paar Minuten auf dem Bauch liegend aus, rappelte sich auf und lief taumelnd ins Freie.


* * *

Forschend blickte er herum. Ein Windstoß hüllte ihn in eine Staubwolke, und er konnte kaum weiter als vierzig Meter sehen. Die Erde war dunkelgrau und schwarz. Überall geschmolzenes Gestein. Es sah aus, als habe jemand die Felsen mit einer schwarzglänzenden Glasur überzogen. Der Wind ließ Aschenwirbel entstehen und zerfliegen. Die ganze Landschaft erinnerte an einen plötzlich zu Glas erstarrten Ozean.

Die Sonne stand hoch am Himmel und hatte einen breiten Hof aus schmutzig-rötlicher Farbe. Die Wellen des echten Ozeans rauschten in einer Entfernung von einer halben Meile.

An jenem Strand hatte Ross oft in der Sonne gelegen, mit andern Studenten und mit Alice. Das waren herrliche Tage gewesen…

Ross ging in Richtung des Strandes. Er kam sich selber wie ein seelenloser Roboter vor, der mechanisch einen Fuß vor den andern setzte. Am Stand schien die Sonne heller, und ihre rote Scheibe war auch deutlicher zu erkennen. Der vom Ozean kommende Wind war frei von Asche. Ja, es gab auch noch Wellenberge, aber sie waren schwarz wie Tinte. Rollten sie am Ufer aus, so blieben schmutzige Schaumkronen liegen. Das Wasser in den Tümpeln des Strandes war von einem dünnen schwarzen Film bedeckt. Nirgendwo ein Halm Seetang, keine Algen, überhaupt nichts, was eine grüne Farbe hatte.

Man hatte im Verlauf dieses Krieges auch das Meer getötet.

Ross setzte sich auf einen Felsen, den die Wellen geglättet und eine glänzende Politur verliehen hatten. Er blieb sehr lange sitzen. Es begann zu regnen, und die Aschenwolken wurden aus der Luft gewaschen. Jetzt konnte Ross auch landeinwärts blicken und sah eine Gruppe Roboter, die im Gänsemarsch aus dem Tunnel kamen. Er beobachtete sie und überlegte, ob er seine Toga ausziehen und ein Bad nehmen sollte. Doch das hätte vielleicht seinen Tod bedeutet. Und wenn schon, dachte er. Die Welt hatte aufgehört zu existieren; er war wahrscheinlich das einzige menschliche Lebewesen auf diesem verwüsteten Planeten. Was konnte ihm die Zukunft schon bringen? Einsamkeit oder Wahnsinn. Dabei war Ross erst zweiundzwanzig Jahre.

Die Roboter hatten Ross nun erreicht und umringten ihn.

„Sie müssen jetzt in Ihr Bett zurückkehren, Mister Ross“, sagte sein Leibwächter.

Sekunden später wurde er behutsam von den Armen eines Roboters ergriffen und auf dessen Rücken gehoben. Auf diese einfache Weise gelangte Ross zur Tunnelöffnung. Er brauchte einige Minuten, um zu begreifen, daß man ihn einer gründlichen Untersuchung unterzog und über die beim Sturz erlittenen Kratz- und Schnittwunden ernsthaft diskutierte. Er wurde seines Postens als,Gebieter’ enthoben und zum,Patienten’ degradiert. Aus dem,Sir’ war wieder ein,Mister Ross’ geworden.

Nach eingehender Beratung verurteilte man ihn zu einer siebzehntägigen Bettruhe.

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