10.

Als die Roboter weitere Fahrzeuge hergestellt hatten, gab ihnen Ross den Auftrag, sich in den zerbombten Städten umzusehen. Doch für Fahrzeug Nummer eins hatte er einen Spezialauftrag.

Das unerklärliche Gefühl, sich um jeden Preis beeilen zu müssen, schlummerte noch immer in ihm. Als gebe es doch noch irgendwo Spuren von Leben, das endgültig aussterben würde, wenn er sich nicht beeilte. Nichtsdestoweniger schickte er Nummer eins in nördliche Richtung, und zwar mit einem Auftrag, der nichts mit der Bergung von Überlebenden zu tun hatte. Mit Spezialgeräten ausgerüstet und in Begleitung einer Robotschwester, deren Elektronengehirn mit biologischen Daten gefüttert war, hatte das Fahrzeug den Auftrag, die Polargebiete zu erkunden und festzustellen, ob im Eis noch pflanzliche Leben oder lebensfähige Saatkörner konserviert waren. Daß es diese Möglichkeit gab, wußte niemand besser als Ross, dessen Körper ja auch Hunderte von Jahren im,Kühlschrank’ gelegen hatte.

Plötzlich erkannte er den Grund seiner Eile. Natürlich lebte noch jemand, und wenn der Betreffende nicht sterben wollte, waren wirklich verzweifelte Anstrengungen erforderlich. Dieser Jemand war Ross persönlich!

„Wir haben die von Ihnen vorgeschlagene Testmethode angewandt“, berichtete die Robotschwester eines Morgens.

Zunächst wußte Ross nicht, wovon die Rede war, aber er kam rasch dahinter.

„Wir haben festgestellt“, erklärte die Robotschwester, „daß zwei Drittel aller Lebensmittelkonserven noch genießbar sind. Eine Stichprobe aus den Vorratskammern der vier höheren Etappen ergab, daß der Inhalt völlig verdorben ist. Wir vermuten eine chemische Veränderung, die durch radioaktive Einwirkung verursacht wurde. Weiter unten war die Strahlung nicht mehr stark genug.“

„Und wie lange kann ich noch davon leben?“ fragte Ross.

„Wenn Sie nicht mehr und nicht weniger essen als bisher, sind es noch vierzehn Tage. Es ist eine sehr wichtige Angelegenheit, Sir. Haben Sie einige Anweisungen?“

„Da stimmt doch etwas nicht“, murmelte Ross und ging hinaus, um sich von dem Zustand der restlichen Konserven zu überzeugen.

Doch es stimmte alles.

Er hatte sich mit den Vorräten der nächstgelegenen Etappe versorgen lassen, und jetzt stellte es sich peinlicherweise heraus, daß es die einzige Etappe war, in der die Konserven noch genießbar geblieben waren. Verdammt noch mal, das hätte er auch früher prüfen können! Aber was hätte das eigentlich genutzt? Davon wären die schlechten Konserven wohl auch nicht besser geworden.

Die Robotschwester folgte ihm auf Schritt und Tritt und fragte beständig nach weiteren Anweisungen.

„Ja!“ sagte Ross plötzlich. Ihm war etwas eingefallen und einen anderen Gedanken gab es nicht. „Signalisiere allen Robotern, daß sie nach unterirdisch angelegten Lebensmittelkammern suchen sollen. Das gilt für alle Besatzungen, mit Ausnahme von Fahrzeug Nummer eins, das sich schon zu weit vom Ausgangspunkt entfernt hat. Und lasse alle Konservenbüchsen öffnen, deren Inhalt schlecht sein könnte. Du hast nur eine Stichprobe nehmen lassen, und das genügt nicht. Also, alle verfügbaren Roboter in die Lagerräume. Und ich will jetzt nicht mehr länger Maulwurf spielen, denn ich habe an der Erdoberfläche zu tun!“


* * *

Lange Zeit hatte Ross körperlich und geistig hart gearbeitet, um nicht allzuoft an die Vergangenheit zu denken. Doch jetzt arbeitete er, um nicht an die Zukunft zu denken.

Er hatte den Bau eines Robot-Hubschraubers ursprünglich geplant, um die Suche nach Überlebenden zu intensivieren. Jetzt entschied der Besitz einer solchen Maschine bei ihm über Leben und Tod. Wenn die Suchtrupps Lebensmittel fanden und sie ihm nicht auf dem Landweg zuführen konnten, so war ein Hubschrauber unbedingt erforderlich. Aus diesem Grunde baute er Modelle und las Werke über Aerodynamik und Flugzeugbau. Weil er keine Zeit zu verlieren hatte, nahm er mit dem Beginn der Lektüre gleichzeitig die Konstruktion auf.

Die ersten Flugversuche verliefen kläglich; die Luftschraube bewegte sich zwar, aber der Hubschrauber blieb stehen, wo er stand. Doch eines Tages erhob er sich bis auf eine Höhe von hundert Fuß. Ross sah von seinem Zelt aus gleichmütig zu. Er war nicht sehr begeistert, denn er hatte immerhin dreizehn Tage gebraucht. Selbst bei gekürzten Rationen blieben ihm nur noch wenige Tage.

Der Hubschrauber taumelte noch immer in der Luft herum, als eine Funkmeldung durchgegeben wurde. Einer der Suchroboter teilte ihm mit, daß seine Geräte nicht empfindlich genug wären, um den Unterschied zwischen Konservenbüchsen und gewöhnlichem Blech festzustellen. Die einzige Lösung war, Probetunnel in die Erde einzulassen und das Blech näher in Augenschein zu nehmen. Das sei allerdings ein langwieriger Prozeß, meinte der Roboter, der kaum Erfolg verspreche. Keiner der Bunkeranlagen unter der Stadt wäre so tief gelegen wie die Räume des Hospitals. Darum bestünde kaum Hoffnung, noch eßbare Lebensmittel zu finden.

„Pech!“ sagte Ross und unterbrach die Verbindung. Aber er entdeckte auf dem Bildschirm noch ein anderes Signal, das von dem Schlepper Nummer eins herrührte. Ross drehte an einem Knopf, und das Bild wurde deutlicher. „Sir“, hörte er eine Stimme im Lautsprecher, „wir haben siebenundvierzig Testbohrungen vorgenommen, die mich zu der folgenden Mitteilung veranlassen: Während des Krieges sind viele nukleare Bomben’ in den Polarregionen detoniert, weil sich viele Abschußbasen und Munitionslager unter dem Eis befanden. Gerade deshalb wurden diese Regionen besonders stark mit radioaktiven Strahlen verseucht, deren Wirksamkeit bereits nachgelassen hat und für den Menschen kaum noch gefährlich ist.“

„Und was ist mit den Erdproben?“ Ross wagte kaum diese Frage auszusprechen.

„Die Erdproben zeigen keine Spuren von organischem Leben, Sir“, war die Antwort.

Ross wußte nicht mehr, was er erwidern sollte. Alle Hoffnungen waren verschwunden, und er fühlte plötzlich eine fürchterliche Angst in sich aufsteigen. Die Welt, die er wiederbeleben wollte, blieb tot; das Land war ein Krematorium und der Ozean ein schwarzer Friedhof. Ross selbst war das einzige Lebewesen, das durch einen Zufall das Grauen überlebt hatte und nun wußte, daß auch seine Stunde gekommen war.

Ross war nicht der Menschentyp, der zu Selbstmord neigte. Natürlich hatte er in den zwei bereits verstrichenen Jahren daran gedacht, aber diesen Gedanken letzten Endes nicht ernst genommen. Doch nun war ihm zumute, als wäre es vielleicht richtiger, seinem Leben ein Ende zu setzen; er wollte nicht noch einmal enttäuscht werden. Er konnte sich in den Liftschacht stürzen oder ins Meer hinausschwimmen und nicht mehr wiederkehren. Zur gleichen Zeit war er sich darüber im klaren, daß die Robotschwester auf jeden seiner Schritte achtete. Er war also dazu verdammt, einen langsamen Hungertod zu sterben.

„Haben Sie neue Anweisungen, Sir?“ fragte die Robotschwester wieder.

„Nein!“

„Sir, können Sie über die Zukunft sprechen?“ fragte die Robotschwester, und Ross glaubte in ihrer Stimme erstmals so etwas wie Sorge zu hören. Sie mußte sich auch Gedanken über die Zukunft machen. Ross erinnerte sich an eine der früheren Diskussionen mit ihr. Wenn er starb, so hatten die Roboter keine Aufgabe mehr. Kein Wunder, daß sie alle neue Anweisungen von ihm haben wollten und die Robotschwester ihn zwei Stunden länger arbeiten ließ. Er wußte nicht, was die Roboter unter dem Begriff,Tod’ verstanden, aber sie schienen doch irgendwie erschrocken zu sein. Es ging ja auch um ihre eigene Existenz.

Ross räusperte sich und sprach: „Die Suche nach Überlebenden wird eine sehr lange Zeit in Anspruch nehmen, und dieser Auftrag bleibt bestehen, was auch geschieht. Wir haben unsere Suche auch noch nicht auf alle Gebiete ausgedehnt. Ich denke an den Weltraum. Es hat schon seit langem eine bemannte Raumfahrt gegeben mit einer Basis auf dem Mond und vielleicht auch auf anderen Planeten. All diese interplanetarischen Stützpunkte müssen von der Erde aus versorgt werden. Es besteht kaum Hoffnung, dort noch Leben anzutreffen. Doch mittels der Technik des Tiefschlafs könnte vielleicht…“ Er machte eine wegwerfende Geste. „Wie dem auch sei, ich gebe den Auftrag, überlebende Menschen zu suchen und nicht früher aufzuhören, bis ihr jemand gefunden habt. Und du wirst mir solange dienen, bis du einen neuen Herrn gefunden hast. So, ich denke, damit wäre unser Problem gelöst.“

„Danke, Sir.“

„Auf dem Mond und dem Mars dürften am ehesten Stützpunkte anzutreffen sein“, sagte Ross mehr zu sich selbst. „Über Astronautik verstehe ich so gut wie nichts, aber vielleicht werden Bücher gefunden und unvollendete Raketen, deren Beschaffenheit uns wertvolle Hinweise liefern kann. Und Vorsicht mit dem Druckunterschied der Luft. Menschen können nicht im luftleeren Raum leben, was euch ja nichts ausmacht. Und wenn ihr jemand gefunden habt, dann sagt ihm, daß ich…“

Ross wußte es nicht sofort. Die Nachricht mußte kurz und bündig sein, denn zweifellos hatte sie historische Bedeutung und würde später in einem Atemzug mit dem Wiedererwachen der Menschheit genannt werden. Ross überlegte. Kein Satz war ihm gut genug. Natürlich sollte es nicht der verzweifelte Hilferuf eines Einsamen sein. Verärgert schüttelte er den Kopf. Dann fiel ihm die Losung von Doktor Pellew ein und er sagte: „Alles andere wird jetzt deine Aufgabe sein. Und viel Glück!“

Ross machte kehrt, ging aus dem Zelt und den zum Elevator führenden Korridor entlang. Er fluchte. Dieses Fluchen bewahrte ihn vor einem Tränenausbruch. Er dachte an Doktor Pellew und seine selbstlose Mannschaft, die alles getan hatte, um sein Leben zu erhalten — und das war die größte Tragödie der Weltgeschichte. Er dachte an Doktor Hanson, Courtland und die vielen andern, dachte an den endlosen Kampf um das Leben eines unheilbar erkrankten Patienten. Sie standen und arbeiteten ganz allein, während ihre Kollegen und die Patienten im Tiefschlaf lagen. Sie wurden wiederbelebt, arbeiteten weiter, lösten sich ab, ließen sich wieder in Tiefschlaf versetzen. Ein verzweifeltes Rennen gegen die Zeit — und alles umsonst? Hatten ihre viele Jahrzehnte dauernden Versuche nur den Erfolg gehabt, das Leben eines einzigen Menschen nur zwei Jahre hinauszuzögern?

Загрузка...