4.

Ross erwachte sehr hungrig, und er freute sich, daß er vor dem Einschlafen erst einen der insgesamt vier Thermosbehälter geleert hatte. Nachdem er gegessen hatte, ging er zu dem Wandschrank, worin seine Kleider aufbewahrt waren. Sie waren nicht mehr bereift und inzwischen getrocknet; Ross konnte sie anziehen, ohne sich der Gefahr einer Lungenentzündung auszusetzen.

Seine nächste Aufgabe war, hinauszugehen und irgend jemand zu finden.

Leider war es mit der Kleidung nicht mehr weit her. Strümpfe und Unterwäsche fielen schon beim leichtesten Druck auseinander. Auch die Bluse teilte sich in zwei Hälften, als er sie über den Kopf ziehen wollte. Die Elastizität seiner Schuhe ließ sehr zu wünschen übrig. Nur die aus reiner Wolle hergestellten Hosen waren noch in guter Verfassung. Wolle war damals im Zeitalter der vorwiegend synthetischen Webstoffe ein Luxus. Der Gürtel zerbröckelte ihm jedoch in den Händen. Sein Hüftumfang hatte sich derart verringert, daß er andererseits auf den Gürtel angewiesen war.

Nach kurzer Suche entdeckte er ein Schubfach, in dem sich die Bettwäsche befand. Er nahm eine Decke heraus, riß mit seinen Zähnen ein so großes Loch hinein, daß er mit den Fingern hindurchgreifen und es weiter aufreißen konnte. Der Stoff ließ sich leicht trennen. Als das Loch groß genug war, schob er seinen Kopf durch und ließ das Tuch über die Schultern fallen. Es reichte bis über seine Knie. Er hob es wieder hoch und nahm einen Kopfkissenbezug aus der Schublade, den er in Streifen riß. Einen davon benutzte er als Gürtel, mit den anderen band er seine Schuhe auf den Füßen fest. Betrachtete er sich im Wandspiegel, erinnerte ihn sein Bild an einen altrömischen Senator.

Ross schnitt sich selber eine Grimasse, murmelte: „Weiße Kleidung steht dir nicht, mein Junge“, und ging zur Tür.

Diesmal brauchte er nicht mehr an den Wänden Halt zu suchen, denn jetzt konnte er aufrecht gehen. Aber nicht lange. Die Rampe am Ende des Korridors stieg nur unmerklich an, aber diese Steigung trieb Ross den Schweiß aus allen Poren; er fühlte sich schwächer als je zuvor. Ross ließ sich wieder auf Knie und Hände nieder. Kriechend und immer wieder eine Pause einlegend erreichte er schließlich die nächste Etage.

Der Korridor war hellerleuchtet und hatte am anderen Ende eine T-strich-ähnliche Verbindung. Alles, was Ross erkennen konnte, glänzte vor Sauberkeit. Die Dame muß sehr gründlich sein, dachte Ross und hoffte, ihr nicht über den Weg zu kriechen. Doch nirgendwo ein Lebenszeichen, keine Bewegung, kein Geräusch — nur sein eigener Atem war deutlich zu hören.

Er richtete sich taumelnd auf und begann die Türklinken auszuprobieren. Als er die Hälfte der Räume besichtigt hatte, blieb er kopfschüttelnd stehen. Sie sahen fast alle gleich aus und hätten sein eigenes Zimmer sein können. Daß die Räume dunkel und ausgestorben waren, konnte man verstehen, doch wenigstens in einigen davon mußte noch Leben oder zumindest Spuren von Leben zu finden sein. Zum Beispiel die Diätküchen, der Raum für die Sicherungsanlagen, die Schwesternzimmer und die Räume für das Aufwartepersonal. Er konnte sich die Inneneinrichtung dieser Zimmer schlecht vorstellen, aber jedenfalls mußten sie größer sein als die einzelnen Behandlungszimmer. Und überall diese makellose Sauberkeit! Irgendwer zeichnete für diese Sauberkeit verantwortlich — aber wer war er und wo? Es wurde immer rätselhafter.

Vielleicht spielt man mit mir Versteck, dachte Ross befremdet, denn zum Versteckspielen verspürte er im Augenblick nicht die geringste Lust.

„Kommt endlich vor!“ schrie er mit lauter Stimme. „Kommt hervor, wer ihr auch seid!“


* * *

Und sie kamen hervor…

Es waren lange, zylinderförmige Objekte, die auf ein Gestell mit vier Gummirädern aufgebaut worden waren. Jedes hatte zehn dicke und doppelt genietete Metallarme, dazu noch verschiedene andere Gliedmaßen unbekannter Funktion. Als diese Schreckenswesen langsam und geräuschlos auf ihn zurollten, erkannte Ross seinen Alptraum wieder — multipliziert mit zwanzig!

Es war eine ganze Prozession, die um die Ecke des nach links abzweigenden Korridorarms auf ihn zugefahren kam. Ross stellte fest, daß jedes dieser Fabelwesen zwei vertikal an der Stirn angebrachte Augenlinsen hatte«und keinen Hals. Die obere Linse drehte sich langsam, die untere blickte geradeaus.

Völlig geräuschlos kamen sie immer näher herangerollt. Ross wollte flüchten, war aber dermaßen erschrocken, daß er keinen Fuß vor den andern brachte.

„Wir hatten die Instruktion, uns zu verstecken, bis Sie eine gewisse Zeit im Behandlungsraum von Doktor Pellew verbracht haben“, sagte eine ruhige weibliche Stimme hinter Ross. „Wir bekamen Anweisung, uns streng nach den Vorschriften zu richten, damit Sie infolge des für Sie noch ungewohnten Anblicks keinen Schock erleiden. Sie haben jedoch so laut nach uns gerufen, daß wir gezwungen waren, vorzeitig in Erscheinung zu treten.“

Hätte ich lieber den Mund gehalten, dachte Ross und wandte sich langsam um. Das gespenstische Ding hinter ihm hatte einen eiförmigen Rumpf. Es stand nur auf drei Rädern und besaß ebenfalls eine starre und eine bewegliche Augenlinse. Die Arme fehlten, dafür wies der Rumpf eine Anzahl schubfachähnlicher Füllungen auf, die möglicherweise Schaltvorrichtungen enthielten. Auf einer Querleiste des Fahrgestells war ein Kasten befestigt, von dem aus ein Kabel zum Hauptkörper führte. Das erweckte den Eindruck, als habe der Erfinder vergessen, die Batterien in den Körper einzubauen und sie erst nachträglich befestigt.

Weg, dachte Ross, nur weg! Dabei war er so schwach, daß er sich kaum auf den Beinen halten konnte. Und er wäre ohnehin nicht weggekommen, denn hinter dem Riesenei rollten neue Zylinder heran, als hätte ihnen jemand ein Kommando erteilt.

Den Kopf hin und her drehend, sah sie Ross auf sich zurollen und einen Meter von ihm entfernt halten. Die oberen Augenlinsen drehten sich langsam um ihre eigene Achse, die unteren starrten ihn an.

Nach mehreren vergeblichen Versuchen konnte Ross endlich ein paar Worte krächzen: „Was… was soll das alles bedeuten?“

Die Zylinder begannen zu ticken wie überspannte Wecker, dann ließ das Ei wieder seine Stimme vernehmen: „Wir verdanken unsere Existenz den Erkenntnissen der Astronomie, Anthropologie, der Kybernetik, höheren Mathematik, Massenpsychologie, Metallurgie, nuklearen Physik und anderen Wissenschaften, die ich Ihnen nicht genau bezeichnen kann, weil sie mein Elektronengehirn nicht registriert hat. Zu Ihrer Information, Sir, wenn Sie Fragen stellen oder Befehle erteilen, dann sprechen Sie bitte klar und präzise. Beschränken Sie sich nach Möglichkeit nur auf- das Wesentliche.“

So waren es also nur Roboter, die Fragen, einfache Fragen beantworten konnten und Befehle ausführten. Diese Erkenntnis beruhigte Ross. Am liebsten hätte er ihnen als erstes den ^Befehl erteilt, auf der Stelle zu verschwinden, aber dann dachte er daran, daß dieser Befehl auch bei ihnen Verwirrung und Kurzschlüsse auslösen könne. Er überlegte einen Augenblick und sagte müde: „Bitte, kehrt auf eure alten Plätze zurück. Wenn ich euch brauche, werde ich rufen.“

Alle Roboter, einschließlich des Eierrumpfes, machten kehrt. „Nicht du“, sagte Ross. „Warte einen Augenblick. Deine Stimme kommt mir irgendwie bekannt vor. Hast du mir nicht das Essen gebracht?“

„Ja, Sir.“

„Ich dachte nur… Was ist mit dem menschlichen Personal…“, stammelte Ross.

„Sie sind tot, Sir.“


* * *

Ross schüttelte den Kopf. Er hatte gehofft, noch Lebewesen aus Fleisch und Blut anzutreffen und fand statt dessen Roboter vor. Doch insgeheim war er über diese Entwicklung gar nicht einmal so überrascht. Schon zu seiner Zeit steuerte die Technik auf dieses Ziel zu und eilte auf dem Gebiet der Automation mit riesigen Schritten vorwärts. Es gab damals schon robotische Hausgehilfen, Diener, Babysitter und sonst dergleichen mehr. Doch nicht einmal in seinen wildesten Träumen hätte sich Ross vorstellen können, daß man Roboter jetzt sogar zur Krankenpflege einsetzte und im Hospital frei herumlaufen ließ. Ross mußte herausfinden, was während seiner Tiefschlafperiode wirklich vor sich gegangen war. Vielleicht waren es die Roboter, die die Reste menschlichen Lebens vernichtet hatten. Kein sehr schönes Gefühl! Doch Ross wollte noch keine voreiligen Urteile fällen, zunächst mußte er sich die Zimmer von Doktor Pellew ansehen.

Der Roboter paßte sich tempomäßig den müden Schritten Ross’ an, führte ihn durch eine Anzahl kleinerer Korridore, eine Rampe hinauf und in eine Sektion, in dem sich das Hauptbüro und die Verwaltungsräume befanden.

Ross fühlte sich wieder ruhiger. Vor wenigen Minuten war eine Horde Roboter ohne Warnung auf ihn zugerollt, und nun unterhielt er sich sogar mit einem, dessen Stimme durchaus menschlich klang. Auf solch eine Erfindung konnte jeder Wissenschaftler stolz sein.

Er hielt die Konversation in Grenzen und stellte nur kurze präzise Fragen. Er erkundigte sich nach dem Verwendungszweck der verschiedenen Räume, und der Roboter gab klare Antworten. Gelegentlich konnte er keine Auskunft geben und sagte dann: „Tut mir leid, Sir, aber diese Angabe ist in meinem Elektronengehirn nicht registriert…“

„Warum nennst du mich,Sir’, wenn du meinen Namen kennst?“ fragte Ross.

Der Roboter tickte ein paar Sekunden, und Ross dachte schon, er wüßte mit dieser Frage nichts anzufangen. So wiederholte er sie noch einmal langsamer und lauter.

Da hörte das Ticken auf, und der Roboter antwortete: „Eine Stationsschwester meines Typs hat zwei Möglichkeiten, sich mit menschlichen Wesen zu unterhalten. Zu Patienten sind wir freundlich, aber vergeben uns nichts. Wir wissen, was für die Patienten am besten ist und setzen ein,Mister’ vor ihren Nachnamen. Wenn ein menschliches Wesen wieder gesund ist, erblicken wir in ihm unseren Gebieter. In Ihrem Fall war die Wahl nicht einfach.“

„Ihr müßt also zwischen einem Boß, der auf den Beinen steht, und einem bettlägerigen Patienten unterscheiden“, sagte Ross trocken. „Und ich bin aufgestanden. Darum sind nämlich die Bettücher zerrissen.“

„Als mein Gebieter“, fuhr der Roboter fort, „brauchen Sie mir über Ihre Handlungsweise keinerlei Rechenschaft ablegen.“

Ross lachte. Krankenschwestern sind überall gleich, dachte er, selbst die mechanischen. Er lachte noch immer, als sie die Zimmer von Doktor Pellew erreichten.

Die Zimmer waren wesentlich kleiner als zu jener Zeit, in der Doktor Pellew noch lebte, doch sie enthielten noch die gleichen Möbelstücke. Nur die Beethovenbüste fehlte und eben die Gestalt des kleinen und leicht jähzornigen Doktor Pellew. Ein umfangreiches Diarium lag genau in der Mitte der Schreibtischplatte, rechts stand ein leerer Aschenbecher, links ein Umschlagkalender. Doktor Pellew hatte es mit der Ordnung auf seinem Schreibtisch nie so genau genommen; so mußten die Roboter aufgeräumt haben, als Doktor Pellew im Tiefschlaf lag. Ross nahm am Schreibtisch Platz, schlug das Diarium auf und erkannte sofort die typische Schrift von Doktor Pellew, die nur Eingeweihte entziffern konnten.

„Wo ist der leitende Arzt?“ fragte Ross. „Wer hat Dienst, meine ich?“

„Sie, Sir“, sagte der Roboter.

„Ich?“ — „Ja, Sir.“

„Du sagst das so selbstverständlich… hm!“ Ross wollte sagen, daß er für diesen Posten noch nicht der richtige Mann sei, denn um i den Doktortitel tragen zu dürfen, hätte er wenigstens noch zwei Jahre die Universität besuchen müssen. Die Personalknappheit mußte sich derart bemerkbar gemacht haben, daß man sogar jungen Studenten wichtige Ressorts zugeteilt hatte. Das Diarium würde über diese Verhältnisse Auskunft geben.

„Haben Sie irgendeinen Auftrag, Sir?“ wollte der Roboter wissen.

Ross versuchte sich in die Gedankenwelt eines leitenden Arztes zu versetzen. Es dauerte eine Weile, dann sagte er: „Meine Empfehlung an die nicht vorhandenen Patienten. Tatsache ist, daß ich schon wieder Hunger habe. Sei so gut und bringe mir was zu essen.“

Der Roboter tickte fragend.

„Ich habe Hunger“, vereinfachte Ross seine Anweisung, und der Roboter verschwand geräuschlos.

Загрузка...