Acht

Fünfeinhalb Tage bis Lakota. Weitere fünfeinhalb Tage, in denen es nichts anderes zu sehen gab als das endlose graue Nichts des Sprungraums.

»Wie fühlst du dich?«, fragte Rione ihn.

»Besorgt«, erwiderte Geary, ohne den Blick vom Display zu nehmen.

Sie setzte sich neben ihn und schaute ebenfalls auf die Darstellung der Umgebung. »Erzähl mir doch mal, wie das Leben im Sprungraum so war.«

»Sehr witzig.«

»Oh, ganz so witzig ist das gar nicht gemeint.« Sie atmete tief durch. »Erinnerst du dich an irgendetwas?«

Er sah sie an. »Du meinst den Kälteschlaf.«

»Ja. Hundert Jahre. Es gibt nicht viele Menschen, die das so lange Zeit überlebt haben. Genau genommen kenne ich nur einen.«

»Ich Glückspilz.« Er dachte über ihre Frage nach. »Ich weiß es nicht. Manchmal glaube ich, dass ich mich an Träume erinnere, aber das können auch Erinnerungen an Träume vor der Schlacht bei Grendel sein. Ich sprang in die Rettungskapsel, als mein Schiff kurz vor der Explosion stand, ohne dass mir noch Zeit blieb, an die Schlacht zu denken. Und als die Flottenärzte mich aufweckten, da hatte ich das Gefühl, nur ein paar Minuten geschlafen zu haben. Zuerst habe ich ihnen kein Wort geglaubt. Ich hielt das für irgendeinen Syndik-Trick. Ich konnte nicht fassen, dass jeder, den ich mal gekannt hatte, tot war. Alles, was ich gekannt hatte, lag hundert Jahre hinter mir.«

»Und dann musstest du erfahren, dass aus dir Black Jack Geary geworden war, der mythische Held der Allianz«, fügte Rione mit sanfter Stimme an.

»Ja. Das Einzige, was mich gerettet hat, war dieses Kommando, das ich übernehmen musste. Dadurch war ich gezwungen, aus dem Schneckenhaus hervorzukommen, in das ich mich zum Schutz vor allem zurückgezogen hatte.« Er erinnerte sich an das Eis, das anfangs in ihm existiert hatte, an die Kälte, die versucht hatte, einen Wall zu errichten, damit die Welt um ihn herum nicht bis zu ihm vordringen konnte. »Wäre das nicht gewesen…« Geary schüttelte den Kopf.

»Glück für uns, und Glück für dich.«

»Und bist du glücklich?«, fragte er sie.

»Ich?« Rione seufzte leise. »Ich frage mich immer, ob mein Ehemann eines dieser Lichter ist. Ich frage mich, wie meine Vorfahren über mich denken. Ich frage mich, was uns bei Lakota erwartet und was aus der Allianz werden wird. Kann man von Glück reden, wenn man in solchen Zeiten lebt und mit solchen Fragen konfrontiert wird?«

»Da würde ich eher von Unglück reden.«

»Ja, das sehe ich auch so.«

Wenigstens gab es Papierkram zu erledigen, mit dem er sich die Zeit vertreiben und sich von seinen ständigen Überlegungen ablenken konnte, was sie wohl erwartete, wenn sie Lakota erreichten. Das Eigenartige daran war, dass von allem Papierkram kaum etwas auf Papier ausgedruckt wurde, weshalb er sich zwangsläufig die Frage stellte, woher dieser Begriff eigentlich kam. Geary stutzte, als er eine Nachricht von der Furious entdeckte. Routinemäßige Versetzungen von Personal sollten ihn eigentlich nicht mal als Kopien zur Information erreichen. Wenn das auch anfing, würde er in Papierkram untergehen.

Dann aber las er den Namen auf der Versetzungsliste und nahm mit Captain Desjani Kontakt auf. »Ich habe hier einen Versetzungsbefehl von der Furious und…«

»Jawohl, Sir, ich komme sofort runter, um mit Ihnen darüber zu reden, Sir.«

Geary wartete und grübelte bis zu Captain Desjanis Eintreffen, was nun wieder los war. Er bedeutete ihr, Platz zu nehmen, und sie setzte sich wie üblich in Habachthaltung hin. Seit die Gerüchte über sie beide zu kursieren begonnen hatten, bat er sie längst nicht mehr, sich zu entspannen. Er fragte sich, ob diese Versetzung in einem Zusammenhang mit den Gerüchten stand. »Mir liegt hier der Befehl vor, dass Lieutenant Casell Riva von der Furious auf die Vambrace versetzt werden soll.«

Desjani verzog keine Miene, während sie nickte. »Ein Schwerer Kreuzer mag ihm lieber sein, aber die Bedürfnisse der Flotte haben in jedem Fall Priorität.«

»Ich verstehe.« Nein, eigentlich nicht. »Wussten Sie darüber Bescheid?«


* * *

»Captain Cresida hat mich davon in Kenntnis gesetzt, dass sie beabsichtigte, Lieutenant Riva zu versetzen, Sir.«

»Und das ist für Sie in Ordnung?«

»Sir, ich kann mich nicht mit dem Schicksal jedes Junioroffiziers auf anderen Schiffen der Flotte befassen.«

Geary gab sich Mühe, sich seine Verwunderung nicht anmerken zu lassen. »Normalerweise haben Sie damit sicher recht. Mich sollte es auch nicht kümmern, wenn ich in diesem speziellen Fall nicht wüsste, dass Sie gehofft hatten, mit Lieutenant Riva wieder eine persönliche Beziehung aufzubauen.« Wie lange war das eigentlich her, dass er mit ihr darüber gesprochen hatte? Er konnte es nicht sagen. So viel Zeit galt seiner eigenen Beziehung zu Rione, hinzu kamen die Gerüchte über sein angebliches Verhältnis mit Desjani. Es war eindeutig zu lange her, dass er irgendwelches Interesse daran gezeigt hatte, was sich eigentlich in ihrem Privatleben abspielte.

Desjani zuckte mit den Schultern. »Co-Präsidentin Rione und ich haben gewisse Dinge gemeinsam, Sir.«

Das überraschte ihn nun wirklich.

Sie musste es seinem Gesichtsausdruck angesehen haben, da sie behutsam erklärte: »Geister aus unserer Vergangenheit, die alte Emotionen aufrühren und in ihrem Kielwasser Trümmer hinterlassen.«

»Ich verstehe nicht. Ich dachte, Sie und Lieutenant Riva…«

»Lieutenant Riva entwickelte großes Interesse an einer Offizierin an Bord der Furious, und er beschloss, im Sinne dieses Interesses zu handeln.«

»Aber das ist…«

»Jawohl, Sir. Captain Cresida musste energisch durchgreifen, weil er die Ordnung und Disziplin an Bord nachhaltig gestört hatte. Deshalb habe ich auch nur davon erfahren. Lieutenant Riva hielt es nicht für nötig, mich von seinen neuen Interessen in Kenntnis zu setzen.«

Lieutenant Casell Riva war offenbar für Desjani nicht länger »Casell«, doch das konnte Geary ihr auch nicht verübeln. Verdammt! Und ich habe ihr auch noch vorgeschlagen, dass sie Riva auf ein Schiff wie die Furious schicken soll. »Das tut mir leid.«

Sie zuckte mit den Schultern, als sei sie davon gar nicht persönlich betroffen. »Er ist hier der Verlierer, Sir.«

»Da haben Sie recht.«

»Eigenartig ist es dennoch«, redete Desjani weiter und starrte an Geary vorbei ins Leere. »In der Zeit, in der er sich in Gefangenschaft befand, kam es mir manchmal so vor, als würde er im Kälteschlaf liegen. Er ist derselbe geblieben, seine Karriere und sein Leben befanden sich in einer Warteschleife. Alles verharrte in dem Stadium, in dem es sich befunden hatte, als er in Syndik-Gefangenschaft geriet. Von seinem Alter abgesehen war er so, wie ich ihn in Erinnerung hatte.« Grübelnd hielt sie einen Moment lang inne. »Nachdem er den Schock der Rettung überwunden hatte und wusste, dass ich noch lebte, hat er sich meiner Meinung nach daran gestört, dass ich mich in der Zwischenzeit verändert hatte. Ich war nicht mehr der Lieutenant, nicht mehr die Frau, die er vor seiner Gefangennahme gekannt und in Erinnerung behalten hatte.«

»Wenn er im Arbeitslager so oft an Sie gedacht hat, dann wundert es mich, dass er Ihnen untreu geworden ist, kaum dass er in Freiheit war.«

Desjani verzog den Mund zu einem humorlosen Grinsen. »Ich habe nicht gesagt, dass er mir in dieser Zeit treu war, Sir. Im Arbeitslager gab es zahlreiche Frauen. Lieutenant Riva hatte einige kurzlebige Beziehungen. Er gestand mir das ein, und ich konnte es ihm nicht mal verdenken. Allerdings hätte ich mich schon fragen müssen, wieso diese Beziehungen alle so kurzlebig waren.«

»Glauben Sie, er ist eifersüchtig?«, fragte Geary. »Darauf, dass Sie inzwischen Captain sind und Ihr eigenes Schiff haben?«

»Das ist mir auch aufgefallen. Es macht Lieutenant Riva zu schaffen, dass er von so vielen Offizieren umgeben ist, die alle jünger sind als er, aber einen höheren Dienstgrad innehaben. Ich habe ihm gesagt, dass er sehr bald mit einer Beförderung rechnen kann, doch er scheint der Ansicht zu sein, man müsse ihn bevorzugt behandeln, bis er wieder Anschluss an die Welt gefunden hat, die sich ohne ihn weiterentwickelt hat.« Sie verzog den Mundwinkel. »Diese Frau an Bord der Furious war ein Ensign… und nur gut halb so alt wie er.«

»Das ist eigentlich keine gute Idee, um seinem Ego Auftrieb zu geben«, meinte Geary dazu. »Naja, leid tut es mir trotzdem.«

Diesmal präsentierte Desjani ein ehrliches Lächeln. »Ich finde, ich verdiene etwas Besseres als ihn, Sir.«

»Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Danke, Tanya. Tut mir leid, dass ich Sie damit behelligt habe.«

»Ich weiß Ihre Fürsorge zu schätzen, Sir.« Ihre Miene nahm einen wehmütigen Ausdruck an. »Ich hätte wissen sollen, dass in meinem Leben kein Platz ist für eine Beziehung. Schließlich habe ich schon eine Vollzeitbeziehung zu einer Lady namens Dauntless, die meine komplette Aufmerksamkeit erfordert.«

»Mit dem Gefühl bin ich vertraut«, stimmte Geary ihr zu. »Einem befehlshabenden Offizier bleibt wenig Zeit für ein Privatleben. Aber Sie sind ein guter Captain.«

»Vielen Dank, Sir.« Sie stand auf und wollte sich wegdrehen, sah dann jedoch wieder Geary an. »Sir, darf ich Ihnen eine persönliche Frage stellen?«

»Das Recht haben Sie sich allemal verdient«, erklärte Geary. »Wir haben uns schließlich die ganze Zeit über Ihr Privatleben unterhalten. Also, was möchten Sie wissen?«

»Wie läuft es zwischen Ihnen und Co-Präsidentin Rione?«

Geary war sich nicht sicher, wie er seine Antwort formulieren sollte. Schließlich lächelte er, zog aber gleichzeitig auch die Stirn in Falten. »Ich glaube, es läuft ganz gut.«

»Es… es hat mich gewundert, Sir. Ich hatte nicht damit gerechnet, dass sie zu Ihnen zurückkehren würde.«

»Ich auch nicht«, erwiderte er und nickte bekräftigend.

Desjani zögerte einen Moment lang. »Ist es Ihnen ernst, Sir?«

»Ich glaube schon«, gab er zurück und lachte kurz auf. »Verdammt, ich weiß es nicht. Aber ich glaube schon.«

»Und ist es ihr auch ernst?«

»Da bin ich mir nicht sicher.« Wenn es jemanden gab, mit dem er offen darüber reden konnte, dann war es Desjani. »Ich weiß nicht. Sie zeigt ihre Gefühle nicht allzu deutlich.«

»Einmal hat sie es gemacht, Sir«, sagte sie leise. »Was sie momentan fühlt, kann ich Ihnen nicht sagen, aber ich glaube, die Entdeckung, dass ihr Mann womöglich noch lebt, hätte sie nicht so tief getroffen, wenn sie nichts für Sie empfinden würde. Allerdings ist das natürlich nur meine persönliche Meinung.«

Dieser Gedanke war Geary auch schon gekommen. »Danke, dass Sie das erwähnt haben. Ich weiß nicht immer, ob… na ja…«

»Sie wissen nicht immer, ob sie die Wahrheit sagt?«, führte sie versuchsweise seinen Satz zu Ende.

Geary lächelte sie an. »Ja. Rione ist Politikerin, aber das wusste ich von Anfang an.«

»Manche Politiker sind schlimmer als andere, was bedeuten muss, dass manche besser sind als andere. Und so schlimm Politiker auch sein mögen, es gibt immer noch schlimmere Berufe.«

»Tatsächlich? Ach ja, stimmt. Zum Beispiel Anwälte.«

»Ja, Sir«, bestätigte Desjani. »Oder Literaturagenten. Das hätte ich werden können.«

»Ist das wahr?« Geary betrachtete sie und versuchte sich vorzustellen, wie sie nicht auf der Brücke der Dauntless, sondern auf irgendeinem Planeten hinter ihrem Schreibtisch saß und Abenteuergeschichten las und verkaufte, anstatt diese Abenteuer selbst zu leben.

»Bevor ich zur Flotte ging, bot mein Onkel mir einen Job in seiner Agentur an«, erzählte sie. »Aber von allen anderen Faktoren einmal abgesehen, hätte dieser Job für mich bedeutet, mit Autoren zusammenarbeiten zu müssen, und Sie wissen sicher, wie diese Leute sind.«

»Ich hab so einiges darüber gehört.« Geary konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. »Stimmt das, was Sie mir da gerade erzählt haben?«

Desjani erwiderte sein Grinsen. »Kann schon sein, Sir.«

Lange, nachdem sie sein Quartier verlassen hatte, sah Geary immer noch auf die Luke, die sich hinter ihr geschlossen hatte. Es tat gut, mit Desjani einfach mal über etwas anderes zu reden. Sie teilte ihre Erfahrungen mit ihm, die zum Teil aus ganz verschiedenen Karrieren in der Flotte herrührten, und trotz eines Jahrhunderts Zeitunterschied doch Parallelen aufwiesen, mit denen sich wohl jeder Offizier und jeder Matrose der Menschheitsgeschichte auf die eine oder andere Weise identifizieren konnte. Anderes wiederum stammte aus ihrer gemeinsamen Zeit auf diesem Schiff und drehte sich um die Last des Kommandos und die gemeinsamen Kämpfe gegen den Feind. Ihm fiel auf, dass es ihm erstaunlich leichtfiel, sich mit Desjani zu unterhalten.

Ich frage mich, was wohl geschehen wäre, wenn ich nicht Desjanis Vorgesetzter geworden wäre und ich mich trotzdem auf diesem Schiff befinden würde. Wenn nicht Ehre und Pflichtgefühl unser Verhalten bestimmen würden…

Nein, fang gar nicht erst damit an. Denk nicht über so was nach. So ist es nicht gelaufen, und so wird es auch nie laufen…


* * *

Als er wach wurde, wusste er, dass Mitternacht jenes künstlichen Tagesablaufs auf dem Schiff, der dem menschlichen Biorhythmus möglichst gerecht zu werden versuchte, noch nicht lange verstrichen war. Im Idealfall würde die Flotte Lakota zu einer humanen Uhrzeit erreichen, wenn jeder von ihnen ausgeschlafen war und gefrühstückt hatte. Vorausgesetzt, irgendjemand konnte überhaupt gut schlafen, wenn er doch wusste, dass auf ihn ein feindliches System mit einer unbekannten Anzahl gegnerischer Schiffe wartete. Nicht viel besser sah es da mit dem Frühstück aus, denn die Aussicht auf eine drohende Schlacht schlug manchem schnell auf den Magen. Aber es wäre einfach schön gewesen, diese Gelegenheit zu bekommen.

Doch auch wenn die Menschheit einen Weg gefunden hatte, um unter bestimmten Umständen manche Regeln des Universums zu überlisten, und so zum Beispiel in der Lage war, mit dem Sprungantrieb schneller als das Licht zu reisen, folgte das Überlisten der Regeln wiederum bestimmten Regeln. Die Reise durch den Sprungraum von Ixion nach Lakota dauerte nun einmal eine bestimmte Zeit. Damit war klar, dass die Allianz-Flotte den Sprungraum etwa gegen 04.00 Uhr am Morgen verlassen würde.

Vier Stunden waren eine lange Zeit, um neben Victoria Rione wach im Bett zu liegen, die fest und friedlich zu schlafen schien. Das allein war schon so außergewöhnlich, dass Geary sie auf keinen Fall aufwecken wollte. Was immer sie auch denken und fühlen mochte, kam nachts zum Vorschein, wenn sie sich wie sonst üblich im Bett hin und her wälzte.

Vorsichtig stand er auf und zog sich an. Als er an der Luke stand, warf er ihr noch einen Blick zu, und im nächsten Moment hörte er sie rufen: »Wir sehen uns auf der Brücke.«

»Okay.« Verdammt. Er wusste nicht mal, wann sie wirklich schlief — oder warum sie sich schlafend stellte, um ihn erst in der allerletzten Sekunde wissen zu lassen, dass sie ihn an der Nase herumgeführt hatte.

Dass Captain Desjani wach war, daran gab es wenigstens keinen Zweifel. Sie saß in ihrem Kommandosessel und überwachte die Gefechtsvorbereitungen ihres Schiffs. Voller Selbstvertrauen lächelte sie ihn an, als er die Brücke betrat. »Sie sind etwas zu früh dran, Sir.«

»Ich kann nicht schlafen.« Er verbrachte ein paar Minuten damit, sich die Anzeigen anzusehen, mit denen er sich schon seit Tagen beschäftigte, dann stand er wieder auf. »Ich werde eine Weile durchs Schiff spazieren.«

Wie erwartet, war fast die gesamte Crew bereits auf den Beinen. Sogar diejenigen, die erst um Mitternacht ihre Schicht beendet hatten, waren wach geblieben und hielten sich in den Messen oder weiterhin an ihren Stationen auf. Geary setzte eine hoffentlich ruhige und zuversichtliche Miene auf, grüßte Besatzungsmitglieder und unterhielt sich mit dem einen oder anderen, um jeden wissen zu lassen, dass sie die Syndiks auch im Lakota-System schlagen würden. Sobald in einem Gespräch die Frage aufkam, wann denn die Flotte wohl zu Hause ankommen werde, versuchte Geary so ehrlich wie möglich zu sein. Er wusste nicht, wie lange es noch dauern würde, aber er tat alles in seiner Macht Stehende, um dieses Ziel zu erreichen.

Und die Leute vertrauten ihm, wenn er ihnen das sagte. Sie vertrauten ihm mit ihrem Leben, und auf eine sehr reale Weise vertrauten sie ihm, dass er die Allianz retten würde, auch wenn darunter nicht jeder das Gleiche verstand.

Dabei achtete er besonders darauf, wie die Besatzungsmitglieder der Dauntless über ihr Zuhause und über die Allianz sprachen, weil er herausfinden wollte, ob sie auch so unzufrieden mit den Politikern waren und ob sie auch glaubten, dass die Schuld am verfahrenen Zustand dieses Kriegs bei ihnen zu suchen war. Vielleicht war er bloß mit einem Mal für dieses Thema sensibilisiert, doch Geary glaubte, mehr in dieser Richtung zu hören, als ihm bislang bewusst gewesen war. Es ist ganz so, wie Rione mir gesagt hat. Was man sagt, ist nicht wichtig. Es zählt nur, was die Leute hören wollen. Ich habe diese Dinge nicht gehört.

Kein Wunder, dass sie sich so sehr über die »wundersame« Rückkehr von Black Jack Geary gefreut haben. Sie warteten nicht auf einen neuen militärischen Führer, sondern auf jemanden, der die Allianz insgesamt führt. Vorfahren, steht mir bei!

Gut eine Stunde vor Verlassen des Sprungraums kehrte er auf die Brücke zurück und traf dort auf Rione, die ihren Beobachterposten eingenommen hatte. Sie und Desjani gingen zumindest rein äußerlich zivil und höflich miteinander um.

Die einzige noch verbliebene Option, wie sich Zeit totschlagen ließ, bestand darin, die lokalen Sternensysteme auf dem Display darstellen zu lassen, damit er sich Gedanken darüber machen konnte, wohin die Flotte weiterfliegen sollte, wenn es ihr nicht möglich war, das Hypernet-Portal bei Lakota zu benutzen — wovon er vorsichtshalber ausging. Wie üblich war der Mangel an aktuellen Daten über die umgebenden Sternensysteme äußerst ärgerlich. Branwyn schien relativ sicher zu sein, aber er wusste nicht, ob man die dortigen Siedlungen und die angeschlossenen Bergbaueinrichtungen mittlerweile aufgegeben hatte, waren doch die verfügbaren Angaben mehrere Jahrzehnte alt. Vielleicht hielten sich dort auch Syndiks auf, was es seiner Flotte nur unnötig erschweren würde, mehr Rohstoffe für die Hilfsschiffe zu plündern. Außerdem lag Branwyn in Richtung Grenze zur Allianz, was die Frage aufwarf, ob man die Sprungpunkte inzwischen vielleicht schon vermint hatte oder ob sogar Syndik-Streitmächte dort bereits in Stellung gegangen waren.

Blieben die anderen Möglichkeiten: T'negu war von Lakota genauso zu erreichen wie von Ixion. Würde dieser Sprungpunkt frei von Minen und feindlichen Schiffen sein, weil die Syndiks davon ausgingen, dass Gearys Flotte durch den Sprungpunkt eintraf, der von Ixion aus in das System führte? Seruta, als weitere Möglichkeit, schien ein durchschnittliches System zu sein, das vom Hypernet übergangen worden war und das über eine einzelne raue, aber bewohnbare Welt verfügte, auf der zig Millionen Menschen lebten. Von dieser Welt und den Anlagen abseits des Planeten ging keine Gefahr für die Flotte aus, doch der Weg nach Seruta führte wieder fort vom Allianz-Gebiet. Und dann war da natürlich noch Ixion, allerdings kamen sie da ja gerade erst her.

Keine dieser Möglichkeiten sagte ihm so richtig zu, aber sie waren immer noch besser als alles, was ihm in den anderen Systemen zur Auswahl gestanden hätte.

»Fünf Minuten bis zum Verlassen des Sprungraums«, meldete ein Wachhabender und holte Geary aus seinen Gedanken.

Captain Desjani tippte auf eine schiffsinterne Komm-Taste. »Alle Mann bereithalten, um sofort nach dem Wiedereintritt in den Normalraum zum Gefecht überzugehen. Denken Sie daran, dass Captain Geary uns beobachtet.«

Er versuchte, keine Reaktion zu zeigen, doch etwas veranlasste ihn, zu Rione zu schauen. Die musterte ihn mit einem reglosen Gesichtsausdruck, aber die Augen verrieten ihre Nervosität.

»Noch eine Minute.«

Indem er sich auf das Display konzentrierte, das das Lakota-Sternensystem zeigte, versuchte Geary, sich zur Ruhe zu zwingen. Das war nicht so leicht, wusste er doch, dass die Darstellung auf alten Aufzeichnungen beruhte. In wenigen Sekunden würde eine hektische Aktualisierung dieser Daten erfolgen, denn sobald die Flotte zurück im Normalraum war, konnten die Schiffssensoren alles erfassen, was bislang nicht bekannt war.

»Bereithalten. Wiedereintritt.«

Das Grau wich dem vertrauten Schwarz, und im nächsten Augenblick wurde Geary zur Seite gedrückt, da die Dauntless eine scharfe seitliche Kehre beschrieb, die so in die Steuersysteme einprogrammiert worden war. Auch die Schiffe rings um die Dauntless flogen dieses Manöver. Die Vorhut war dem Kurs bereits ein Stück weit gefolgt, und auch die Formationen an beiden Flanken drehten sich mit dem Pulk zur Seite. Augenblicke später tauchte die Nachhut auf und folgte dem voraus fliegenden Teil der Flotte.

»Wo sind die Minen?«, wollte Desjani wissen und begann finster zu lächeln, als auf den Displays auf einmal die ersten Warnungen aufflammten. Ein dichtes Minenfeld trieb vor dem Sprungpunkt, und wären sie wie allgemein üblich auf einer schnurgeraden Flugbahn aus dem Sprungraum gekommen, dann hätten die Minen genau den gewünschten verheerenden Effekt gehabt. Die Allianz-Flotte hatte sich aber in sich gedreht und die Schiffe flogen in ihren Münzenformationen seitwärts, als ob fünf Münzen aufrecht im Raum stünden und sich auf der Kante rollend über eine glatte Fläche bewegten. Auf der Steuerbordseite der Allianz-Flotte trieb das Minenfeld im All, ohne Schaden anzurichten.

Geary wandte den Blick von der Darstellung der Minen ab und hielt Ausschau nach feindlichen Kriegsschiffen. Vor dem Sprungpunkt war nichts zu entdecken, und auch in der unmittelbaren Umgebung wurde nichts angezeigt. Er wollte seinen Augen kaum trauen, da er nirgends ein feindliches Schiff ausmachen konnte, bis der Bildschirm schließlich beim Hypernet-Portal angekommen war.

Dort hielt sich die erwartete Syndik-Flotte auf und flog gemächlich am Portal vorbei, als befinde sie sich auf einem routinemäßigen Patrouillenflug. »Die Syndik-Flotte Alpha besteht aus sechs Schlachtschiffen, neun schweren Kreuzern, dreizehn leichten Kreuzern und zwanzig Jägern«, meldete der Wachhabende der Gefechtssysteme in dem gleichen Moment, als die Displays diese Informationen ebenfalls anzeigten.

»Jetzt haben wir sie«, freute sich Desjani. »Mit dieser Streitmacht können wir es mühelos aufnehmen.« Sie drehte sich zu Geary um und grinste wie jemand, der soeben entdeckt hatte, dass der Gegenseite ein gravierender Fehler unterlaufen war und der Sieg so gut wie sicher schien.

Geary versuchte, die Ruhe zu bewahren, und suchte das Display gründlich nach weiteren Syndik-Kriegsschiffen im Lakota-System ab. Doch von ein paar Syndik-Jägern in der Nähe der bewohnten Welt abgesehen, die von der gegenwärtigen Position der Flotte fünf Stunden entfernt war, schien sich kein weiteres gegnerisches Schiff im System zu befinden.

»Das ist mehr als genug Feuerkraft für die Syndiks, um das Portal zu zerstören, bevor wir es erreichen können«, merkte Rione an.

»Ja«, stimmte Geary ihr zu. Doch eine solche potenzielle Gelegenheit sollte man nicht ungenutzt lassen. Man durfte sie gar nicht ungenutzt lassen. Desjani war ganz sicher nicht die Einzige in der Flotte, die davon überzeugt wurde, dass die Syndiks in diesem System eine leichte Beute darstellten. »Wenn wir geradewegs auf das Portal zusteuern, dann bleiben die Syndiks einfach dort und zerstören es, bevor wir eintreffen. Wir müssen sie von ihrer Position weglocken und dann zum Portal gelangen, ehe sie dorthin zurückkehren können.«

»Wenn wir sie vernichten…«, begann Desjani.

»Ich weiß. Aber unsere oberste Priorität ist es, das Portal zu erreichen, solange es noch intakt ist.«

Desjani nickte widerwillig.

»Wie wollen Sie sie weglocken?«, fragte Rione.

»Was würden Sie vorschlagen?«, gab er zurück.

Sie überlegte einen Moment lang. »Dass wir ihnen etwas bieten. Ein Ziel, dem sie nicht widerstehen können.«

»Ganz genau«, stimmte Desjani ihr zu. »Wir müssen sie glauben machen, dass wir am Portal nicht interessiert sind, und ihnen ein Ziel präsentieren, das sie einfach ins Visier nehmen müssen.«

Bedauerlicherweise gab es innerhalb der Flotte nur ein Ziel, das diese Wirkung erzielen würde. »Formation Echo Five Five. Die Hilfsschiffe und die beschädigten Kriegsschiffe.« Sie waren wie kranke, schwache Tiere, die der Herde hinterherliefen. Aber er wollte keines dieser Schiffe verlieren. Die Hilfsschiffe spielten eine entscheidende Rolle für das Überleben der Flotte, und die beschädigten Kriegsschiffe besaßen zum einen immer noch eine gewisse Kampfkraft, zum anderen waren sie der Beweis für Gearys Aussage, dass er kein Schiff und keine Crew aufgeben und zurücklassen würde. Diese Schiffe nun als Köder zu benutzen, würde dem Gedanken zweifellos abträglich sein.

Wieder betrachtete er das Gesamtbild, das sich ihm bot. Nach den spärlich bevölkerten Systemen, die die Allianz-Flotte zuletzt aufgesucht hatte, wirkte das Lakota-System vergleichsweise wohlhabend. Der vorrangig bewohnte Planet, der sich momentan neun Lichtstunden jenseits des Sterns befand, ließ alle Anzeichen für eine wachsende, dynamische Welt erkennen. Größere Kolonien waren auf mehreren anderen Planeten auszumachen, und etliche Einrichtungen kreisten in festgelegtem Orbit um die diversen Himmelskörper. Dazwischen wimmelte es von zivilem Raumschiffverkehr, Handelsschiffe durchquerten das System, verließen es oder trafen von anderen Sternen kommend hier ein. Große Erzfrachter transportierten Rohstoffe von den Minen auf den Asteroiden und den unbewohnbaren Planeten. Antiorbital-Verteidigungsanlagen kreisten um ein paar Einrichtungen, doch denen schenkte Geary wenig Beachtung. Sie und die militärischen Stationen im Orbit um die bewohnte Welt saßen für eine Langstreckenbombardierung durch seine Flotte auf dem Präsentierteller.

Wenn sie bloß bleiben könnten, um einen Teil der Fracht von diesen Erzfrachtern auf ihre Hilfsschiffe umzuladen!

Die Steuersysteme hatten keine Probleme damit, die Manöver auszuführen, die Geary von ihnen sehen wollte. »Zweites und Siebtes Zerstörergeschwader, Sie lösen sich von der Formation und fangen die Syndik-Erzfrachter ab, die sich in der Nähe des Gasriesen 1,2 Lichtstunden von Ihrer Steuerbordseite entfernt aufhalten. Nehmen Sie die Frachter in Gewahrsam und eskortieren Sie sie zur Flotte, damit wir ihre Fracht auf die Hilfsschiffe umladen können.«

Er hielt inne und überlegte, ob das für den Augenblick alle notwendigen Befehle waren, dann beschloss er, seine Probleme in diesem System auf ein Minimum zu reduzieren. Geary teilte den Gefechtssystemen der Dauntless mit, was zerstört werden sollte, indem er die Ziele markierte und die entsprechenden Waffensysteme benannte. Nachdem die Systeme für den Bruchteil einer Sekunde über die Anforderungen nachgedacht hatten, präsentierten sie ihm ihren Vorschlag, wie das am besten zu erledigen war. Geary sah sich den Plan in Ruhe an, dann leitete er ihn an die Reprisal weiter. »Achtes Schlachtschiffgeschwader, führen Sie das kinetische Bombardement der Militäreinrichtungen der Syndiks durch, wie es im angehängten Plan vorgeschlagen wird.«

Während Geary sich bereits den nächsten Berechnungen widmete, spien die vier Kriegsschiffe die massiven Metallprojektile aus, die auf dem Weg zu ihrem Ziel noch deutlich an Energie zulegen würden. Durch die Geschwindigkeit, mit der sie schließlich auf ihr jeweiliges Ziel trafen, würden nicht nur die Projektile und ihre Ziele, sondern auch die Umgebung verdampft werden. Schiffe konnten solchen Geschossen mühelos ausweichen, da nur eine winzige Kurskorrektur erforderlich war, um sich aus ihrer Flugbahn zu begeben, während sie noch etliche Millionen Kilometer entfernt waren. Aber Einrichtungen und Anlagen auf Objekten in einem festen Orbit waren in ihren Bewegungen berechenbar, was sie zu leichten Zielen machte, seit die Menschheit ihre Waffen auch im All einsetzte.

»Alle Einheiten«, befahl Geary. »Drehen Sie bei Zeit eins sechs um sieben zwei Grad nach Steuerbord und null drei Grad nach unten.« Dieser Befehl hatte zur Folge, dass jedes Schiff sich auf seinem Platz in der Formation drehte, die dadurch in ihrem Aufbau unverändert blieb, dafür aber in eine andere Richtung unterwegs war, sodass nun wieder die Breitseite der Münzen nach vorn wies.

Desjani brauchte nur einen Moment, um den Befehl zu analysieren. »Damit steuern wir genau auf die Mitte zwischen den Sprungpunkten nach Branwyn und T'negu zu.«

»Die Syndiks sollen erst mal eine Weile darüber grübeln, was wir vorhaben.« Geary erhob sich von seinem Platz. »Bereit für eine weitere Flottenkonferenz?«

»Wenn Sie sich den anderen stellen können, dann kann ich es auch«, erwiderte sie.

Desjani folgte Geary von der Brücke, doch als er an Rione vorbeiging, stand die abrupt auf und stellte sich zwischen die beiden. »Sie wollen bei der Konferenz persönlich anwesend sein?«, fragte er überrascht, da sie ihn aus seinen Gedanken geholt hatte.

»Vielleicht«, antwortete Rione mit einem frostigen Unterton. »Ich würde gern im Voraus wissen, was Sie sagen werden, außer das soll ein Geheimnis bleiben.«

»Meinetwegen.«

Sie ging neben ihm her in Richtung Konferenzraum. Desjani folgte den beiden schweigend.

»Ich werde ihnen sagen, dass ich beabsichtige, die Syndiks vom Hypernet-Portal wegzulocken. Unser momentaner Kurs lässt sie im Unklaren, welches Ziel wir tatsächlich ansteuern, und sie werden glauben, dass wir dieses System nur durchqueren und so schnell wie möglich wieder verlassen wollen.«

»Ist das nicht auch das, was Sie in Wahrheit beabsichtigen?«, hakte Rione nach.

»Das ja, aber wenn es uns gelingt, die Syndiks weit genug von ihrer Position wegzulocken, dann können wir es vielleicht zum Portal schaffen. Diese Möglichkeit will ich mir auf jeden Fall offenhalten.«

»Glauben Sie ernsthaft, die werden es riskieren, sich vom Portal zu entfernen?« Rione machte keinen Hehl aus ihrer Skepsis.

»Möglicherweise. Und falls nicht, nehmen wir Kurs auf Branwyn.«

Der Konferenzraum war durch die Software bereits erweitert worden und der größte Teil der Captains hatte sich eingefunden. Ein kleiner Warnhinweis schwebte vor Geary in der Luft, als er sich setzte, und machte ihn darauf aufmerksam, dass die Flotte im Moment relativ breit gefächert unterwegs war und es bei den Antworten von weiter entfernten Schiffen zu deutlichen Verzögerungen kommen konnte.

»Willkommen in Lakota«, sagte Geary in die Runde und bemerkte dabei, dass er sich bei Gelegenheit eine andere Eröffnung einfallen lassen sollte. »Wie es aussieht, waren wir den Syndiks wieder mal einen Schritt voraus.«

»Warum nehmen wir nicht Kurs auf das Hypernet-Portal?«, wollte Captain Casia prompt wissen.

Er war es wirklich leid, immer wieder von Casia unterbrochen zu werden, also sah er den Mann so lange und so eindringlich an, bis der sichtlich unruhig wurde. »Ich wäre Ihnen dankbar«, erklärte Geary in einem Tonfall, der so emotionslos wie irgend möglich war, »wenn Sie in Zukunft abwarten, bis ich meine Ausführungen beendet habe, bevor Sie meine Pläne kommentieren. Habe ich mich klar ausgedrückt, Captain Casia?«

»Ich wollte nur…«

»Habe ich mich klar ausgedrückt, Captain Casia? Haben Sie verstanden, was ich soeben gesagt habe?« O ja, Black Jack kam mit so was durch. Und es fühlte sich gut an. Er musste nur aufpassen, dass er es nicht übertrieb und es immer noch zu John Geary passte.

»Ich habe verstanden.« Als Geary ihn weiter mit versteinerter Miene musterte, fügte er schließlich noch ein »Sir« hinzu.

»Danke.« Er ließ seinen Blick über den Tisch schweifen und musste einen Moment lang überlegen, wo er unterbrochen worden war. »In diesem System hält sich nur eine kleine Syndik-Flotte auf. Aber die ist dennoch schlagkräftig genug, um das Hypernet-Portal zu zerstören, wenn wir versuchen sollten, darauf Kurs zu nehmen. Solange die Flotte ihre Position nicht verlässt, können wir nicht darauf hoffen, das Portal zu nutzen.«

Er deutete auf das Display, auf dem die Allianz-Formation dargestellt war. Eine lange Linie zog sich durch das Lakota-System bis zu einem Punkt, der sich genau in der Mitte zwischen den beiden Sprungpunkten auf der anderen Seite des Sterns befand. »Wenn wir die Syndiks nicht vom Portal weglocken können, müssen wir weiter den Sprungraum benutzen. Falls das erforderlich wird, ist Branwyn unser nächstes Ziel.« Das löste allgemeines Lächeln aus, da Branwyn sie der Allianz ein Stück näher brachte. »Aber wir können die Syndiks bis zum letzten Moment im Unklaren darüber lassen, ob wir nicht vielleicht doch nach T'negu springen wollen.«

»Die werden das Portal nicht unbewacht zurücklassen«, ließ Captain Tulev verlauten. »Die haben zweifellos den Befehl, uns daran zu hindern, das Portal zu nutzen.«

»Vermutlich ja«, stimmte Geary ihm zu. »Aber es gibt eine Chance, dass sie sich doch dazu verleiten lassen, wenn sie davon überzeugt sind, dass wir auf dem Weg zum Sprungpunkt sind und sich ihnen die Gelegenheit bietet, uns einen schweren Schlag zuzufügen.«

Ein Stück weiter den Tisch entlang verzog Captain Tyrosian den Mund. Als Geary das letzte Mal einen Köder benötigt hatte, war dafür eines der Hilfsschiffe benutzt worden. Es würde ihr noch weniger gefallen, wenn sie erfuhr, dass er diesmal alle vier Hilfsschiffe als Lockvogel einsetzen wollte.

Geary veränderte die Darstellung des Displays und zoomte die Allianz-Formation heran. »Die Syndiks können erkennen, dass Echo Five Five in erster Linie aus unseren vier Hilfsschiffen und den am schwersten beschädigten Schiffen besteht. Ich habe die Flotte bereits so angeordnet, dass Echo Five Five hinter allen anderen Schiffen hinterherfliegt. Während wir das System durchqueren, wird Echo Five Five nach und nach den Anschluss verlieren, so als sei die Formation nicht in der Lage, mit der Flotte mitzuhalten.«

»Wie weit soll die Formation den Anschluss verlieren?«, wollte Captain Midea wissen, die sich diesmal spürbar anders verhielt. In Ermangelung einer unmittelbaren Bedrohung war sie zuvor extrem unangenehm aufgetreten, aber im Angesicht einer Syndik-Streitmacht schien sie sich mehr darauf zu konzentrieren, wie mit dem Feind umzugehen war, als Geary das Leben schwer machen zu wollen.

»Echo Five Five wird in Reichweite der Flotte bleiben«, versicherte er ihr.

»Wenn das der Fall ist, werden die Syndiks den Köder nicht schlucken«, wandte Midea ein. »Wir müssen schon eine ganze Strecke weiter sein, um den Eindruck zu erwecken, der Rest der Flotte sei zu weit entfernt, um uns beizustehen.«

Duellos warf Midea einen kritischen Blick zu, während Casia die Stirn runzelte und Captain Cresida zustimmend nickte. »Sie hat völlig recht, Sir.«

Energisch schüttelte Geary den Kopf. »Ich kann nicht riskieren, dass…«

»Die Paladin kann kämpfen«, beharrte Midea. »Verlegen Sie sie zur Orion, Majestic und Warrior, nehmen Sie die Schiffe der Siebten Schlachtschiffdivision dazu, und dann haben wir in dieser Formation sieben Schlachtschiffe. Das genügt, um es mit den Syndik-Kriegsschiffen aufzunehmen.«

Commander Yin von der Orion sah Midea voller Entsetzen an, während die Befehlshaberin der Majestic bedauernd den Kopf schüttelte. »Ein Fronteinsatz übersteigt unsere Möglichkeiten. Und das gilt auch für die Warrior.«

»Die Warrior ist bereit, ins Gefecht zu ziehen«, widersprach Commander Suram entschieden.

Geary schaute Suram an und ließ ganz bewusst erkennen, wie beeindruckt er von dessen Einstellung war.

»Seit wann muss die Allianz-Flotte zahlenmäßig überlegen sein, um sich dem Feind zu stellen?«, wollte Midea wissen. »Die Warrior ist bereit zum Kampf, und selbst wenn die Majestic und die Orion nicht eingesetzt werden können, haben wir immer noch halb so viele schwere Schiffe wie die Syndiks. Ein Allianz-Schiff kann es mühelos mit zwei gegnerischen Schiffen aufnehmen.« Sie warf Geary einen vorwurfsvollen Blick zu. »Black Jack Geary hat sogar eine zehnfache Übermacht geschlagen.«

Hatte er bei Grendel tatsächlich einer zehnfachen Übermacht gegenübergestanden? Eigenartig, dass er sich an solche generellen Dinge nicht erinnern konnte, sondern nur an viele kleine Details dieser Schlacht.

Mit einem Mal wurde Geary bewusst, dass Captain Midea das Potenzial besaß, jeden Flottenkommandanten verrückt zu machen. Wenn sie nicht mit einer unmittelbaren Bedrohung durch den Feind konfrontiert wurde, verhielt sie sich schwierig und aufsässig, und wenn der Feind in Reichweite war, wollte sie am liebsten geradewegs auf ihn losstürmen. An ihrem Mut war nichts auszusetzen, aber gedankenloses Vorpreschen unter allen Umständen war nichts, was einen guten Offizier auszeichnete. Er fragte sich, wie Numos es wohl geschafft hatte, diese Frau zu bändigen.

War die Chance, das Hypernet-Portal zu erreichen, es wert, eines oder mehrere seiner Hilfsschiffe aufs Spiel zu setzen? Wenn die Flotte durch das Portal nach Hause zurückkehren konnte, wäre sie auf die Versorgung durch die Hilfsschiffe nicht länger angewiesen.

Ach verdammt! Wenn er es tatsächlich für eine so gute Idee hielt, Schiffe zu opfern, warum sollte er sich überhaupt noch die Mühe machen, drei gut erhaltene Schlachtschiffe der Siebten Division zu riskieren? Dann konnte er doch auch gleich die Hilfsschiffe und die beschädigten Kriegsschiffe sich selbst überlassen, damit die Syndiks sie zerstörten, während Geary mit dem größten Teil der Flotte heimkehrte!

Er schüttelte energisch den Kopf. »Ich will die Syndiks anlocken, aber ich kann nicht die Hilfsschiffe und die beschädigten Schiffe der Formation Echo Five Five sich selbst überlassen. Wir müssen sicherstellen, dass sie angemessen beschützt werden.«

»Die Matrosen der Allianz sind bereit, für ihre Heimatwelten zu sterben«, beharrte Captain Midea, was ihr etliche Blicke der anderen Offiziere einbrachte, die damit zu verstehen gaben, dass wohl nicht alle Matrosen so sehr darauf brannten, für ihre Heimatwelten zu sterben.

»Mein Ziel ist es sicherzustellen«, betonte Geary, »dass allen Syndiks, die zum Sterben bereit sind, dieser Wunsch erfüllt wird.« Von allen Seiten erntete er Lächeln und auch einige erleichterte Blicke. Er fragte sich, was er wohl tat und wie er sich verhielt, dass diese erleichtert dreinblickenden Offiziere geglaubt haben mussten, er würde die Schiffe tatsächlich sich selbst überlassen. »Ich werde einige Simulationen durchführen, um zu sehen, welche Möglichkeiten wir haben. Für den Augenblick will ich aber auf keinen Fall, dass Echo Five Five weiter als drei Lichtminuten zurückfällt. Haben Sie verstanden?«

»Darf sich die Paladin dieser Formation anschließen?«, wollte Captain Midea wissen. »Zwei Schiffe aus meiner Division befinden sich ja bereits dort.«

Geary sah zu Captain Casia. »Sie befehligen die Division, zu der die Paladin gehört. Was sagen Sie dazu?«

Casia warf Midea einen finsteren Blick zu. »Aber sicher. Die Paladin kann sich der Orion und der Majestic anschließen.«

»Captain Mosko?«, fragte Geary weiter. »Sie haben das Kommando über Echo Five Five. Benötigen Sie

die Paladin?«

Mosko zuckte mit den Schultern. »Wir benötigen sie nicht. Aber die Indefatigable, die Audacious und die Defiant heißen ein Schwesterschiff in ihren Reihen stets willkommen. Natürlich unter meinem Kommando«, fügte er in einem Tonfall an, der Midea dazu veranlasste, Mosko argwöhnisch zu betrachten. Einen Kommentar verkniff sie sich allerdings.

»Was ist mit der Conqueror?«, warf Captain Duellos mit Unschuldsmiene ein. »Wenn sie sich ebenfalls Echo Five Five anschließt, dann wäre die gesamte Dritte Schlachtschiffdivision wieder zusammen.«

Hätte Casias Blick töten können, dann wäre Duellos in diesem Moment tot umgefallen. »Die Conqueror sollte in einer Position bleiben, in der sie… in der sie mit dem Flottenkommandanten eng zusammenarbeiten kann.«

Nachdenklich betrachtete Geary den Mann und überlegte, ob es eine gute Idee war, so viele Unruhestifter in die Dritte Schlachtschiffdivision zu stecken, oder ob damit nicht Arger vorprogrammiert war. Einerseits fragte er sich, ob es mit Casia in dieser Formation nicht noch mehr Probleme geben würde, andererseits hatte Duellos durchaus recht: Es war tatsächlich nicht sehr sinnvoll, die Paladin nach Echo Five Five zu schicken und die Conqueror in Echo Five Four zurückzulassen.

Nein. Wenn ich Casia auch noch rüberschicke, muss ich ihn unentwegt im Auge behalten, und eine solche Ablenkung kann ich mir nicht leisten.

Captain Mosko zog die Brauen zusammen. »Wenn Captain Casia auch noch in die Formation kommt, könnte das bei Five Five zu Unklarheiten in der Kommandostruktur führen.«

Geary nickte bedächtig und war insgeheim dankbar für einen Grund, um Duellos' schlitzohrigen Vorschlag abzulehnen. »Ja, das stimmt. Außerdem kann Echo Five Five nicht zu gut verteidigt sein, sonst werden sie nicht darauf anspringen. Die Paladin wird dafür sorgen, dass die Formation zahlenmäßig nicht zu unterlegen dasteht. Noch irgendwelche Fragen?«

»Was ist mit den Syndiks, die wir bei Ixion hinter uns gelassen haben?«, wollte Commander Neeson von der Implacable wissen, der in dieser Runde zur Abwechslung mal eine Frage stellte, die nicht mit Rangordnung und Befehlsgewalt zu tun hatte, sondern die einen wirklich wichtigen Punkt betraf. »Vier Schlachtschiffe und vier Schlachtkreuzer. Bislang sind sie noch nicht eingetroffen, aber das dürfte nur eine Frage der Zeit sein.«

»Die warten ab«, entgegnete Captain Tulev. Alle sahen ihn an und wunderten sich erkennbar, wie er eine solche Aussage mit solcher Überzeugung von sich geben konnte. Schließlich fuhr er schulterzuckend fort: »Es sprach ja eigentlich nichts dafür, dass wir als Nächstes Kurs auf Lakota nehmen würden, richtig? Also denken sie womöglich, dass wir nur zum Schein in dieses System springen und gleich wieder nach Ixion zurückkehren, um die Syndiks zu verwirren.«

Duellos nickte. »Also warten sie.«

»Ja«, bekräftigte Tulev. »Der Sprung hierher dauert fünfeinhalb Tage, der Rückweg ebenfalls. Wenn sie insgesamt ungefähr zwölf Tage warten, dann sehen sie ja, ob wir wieder in Ixion auftauchen. Falls nicht, folgen sie uns eben dann hierher.«

»Bis dahin könnten wir Lakota längst wieder verlassen haben«, hielt Captain Cresida dagegen.

»Na und? Am Hypernet-Portal wartet eine Syndik-Flotte. Es gibt hier Einrichtungen und Anlagen der Syndiks, außerdem eine bewohnte Welt. Wenn wir das System nur durchqueren und zu einem neuen Ziel springen, erfahren sie, wohin wir unterwegs sind. Und wenn wir eine Weile hier bleiben, um ihnen Probleme zu bereiten, holen sie uns ein.«

»Sie könnten bei Ixion auch auf Verstärkung warten, die sich ihnen dort anschließen soll«, gab Captain Badaya zu bedenken.

Tulev dachte kurz nach und nickte dann. »Stimmt. In jedem Fall werden sie früher oder später hier auftauchen, nur eben nicht gleich in unserem Kielwasser.«

»Das hört sich nach einer guten Einschätzung der Situation an«, urteilte Geary. »Wir dürfen diese Streitmacht nicht vergessen, allerdings wissen wir nicht, wann sie hier eintreffen wird. Wenn der Moment gekommen ist, sollten wir auf jeden Fall so weit wie möglich vom Sprungpunkt entfernt sein. Sonst noch was?«

Captain Tyrosian meldete sich unübersehbar verhalten zu Wort, als wollte sie nicht die Aufmerksamkeit auf sich und den Zustand der Hilfsschiffe lenken. »Der Vorrat an Rohstoffen ist deutlich gesunken, aber für die Kriegsschiffe stehen neue Brennstoffzellen und Munition bereit.«

»Können wir deren Transfer zu den anderen Schiffen wagen, wenn die Syndiks in der Nähe sind?«, wollte Tulev wissen.

Geary tippte auf ein paar Tasten und ließ sich den Zustand seiner Kriegsschiffe anzeigen. Überragend war der zwar nicht, aber immer noch ganz passabel. »Verteilen Sie Brennstoffzellen und Munition an die Schiffe in Ihrer Formation«, wies er Tyrosian an. »Diese Aktivität wird erklären, warum Sie den Anschluss an den Rest der Flotte verlieren, und es lässt Sie etwas verwundbarer aussehen. Captain Tyrosian, nicht weit von unserem Kurs sind derzeit zwei Zerstörergeschwader unterwegs, um ein paar Erzfrachter der Syndiks abzufangen. Ich hoffe, das gelingt uns, und dann können Sie sich bei deren Ladung bedienen, um Ihre Vorräte aufzustocken.«

Er hatte gedacht, damit sei alles gesagt, doch dann meldete sich noch einmal Midea zu Wort. »Captain Geary, wenn Sie den Syndiks einen interessanten Köder hinwerfen wollen, sollten Sie von der Dauntless auf eines der Schiffe in Echo Five Five überwechseln, und zwar in einer Weise, dass die das auch mitbekommen. Die Chance, Black Jack Geary töten zu können, dürfte auf die Syndiks einen unwiderstehlichen Reiz ausüben.«

Grundsätzlich war das eine berechtigte Überlegung, zumal er von einigen seiner Matrosen schließlich auch erwartete, dass sie Köder spielten und damit ihr Leben riskierten. Aber an Bord der Dauntless befindet sich der Hypernet-Schlüssel. Das ist vielen nicht bekannt, mir dagegen schon. Und deshalb muss ich auf diesem Schiff bleiben. In gewisser Weise war er dankbar, dass dieser Schlüssel für ihn ein stichhaltiger Grund war, nicht auf ein anderes Schiff zu wechseln. Die Dauntless war nicht zwangsläufig sicherer als eines der Schiffe in der rückwärtigen Formation, aber dieser Schlachtkreuzer und seine Crew waren ihm vertraut. Sie waren das einzig Vertraute in diesem Universum, das sich ohne Geary hundert Jahre weiterentwickelt hatte. Vermutlich war es ein Zeichen von Schwäche, doch er wollte sich einfach nicht an eine andere Umgebung und an andere Leute gewöhnen müssen, erst recht nicht, wenn das nächste Gefecht bevorstand und es so viele andere Dinge gab, um die er sich kümmern musste — zwei wesentliche Gründe, um auf der Dauntless zu bleiben, die er beide nicht in dieser Runde diskutieren wollte. »Ich danke Ihnen für diesen Vorschlag, Captain Midea, aber ich bin der Ansicht, dass ich der Flotte am besten diene, indem ich auf der Dauntless bleibe, die weiterhin Teil der Hauptformation sein wird.«

Zu Gearys Verwunderung strahlte Midea einen Moment lang, als hätte er genau das Richtige geantwortet. Ihre nächste Bemerkung erklärte dann auch sofort diese Reaktion. »Ist der Flotte wirklich mit einem Kommandanten am besten gedient, der seine Entscheidungen aus den falschen Gründen trifft?«

Desjani warf Midea einen vernichtenden Blick zu.

»Erklären Sie, was Sie damit meinen, Captain Midea«, forderte Geary sie auf.

Sie zuckte flüchtig mit den Schultern. »Uns ist klar, dass Sie gewichtige Gründe dafür haben, an Bord der Dauntless bleiben zu wollen.« Dabei betonte sie den Schiffsnamen mit so offensichtlicher Ironie, als stehe der in Wahrheit für etwas anderes.

Desjani lief vor Wut rot an, und Geary verstand genau, was gemeint war. Aber um auf Mideas geschickte Anspielung zu reagieren, müssten Desjani oder Geary auf jene Gerüchte zu sprechen kommen, wonach ihnen beiden ein Verhältnis nachgesagt wurde.

»Ich werde nicht…«, begann Desjani, weiter kam sie jedoch nicht.

Victoria Rione meldete sich mit frostiger Stimme zu Wort. »Captain Midea, wissen Sie irgendwas, was ich nicht weiß? Oder beziehen Sie sich mit Ihrer Bemerkung auf mich?«

In ihrer Uniform und mit ihrer Haltung mochte Midea an eine Syndik-CEO erinnern, aber Co-Präsidentin Rione trug dagegen die kühle Autorität und Arroganz zur Schau, mit der Geary bei seinen ersten Begegnungen mit ihr auch Bekanntschaft gemacht hatte. Einschüchternd war dabei ein Begriff, der Riones Auftreten nicht annähernd gerecht wurde.

Captain Midea erging es offenbar nicht anders, da sie krampfhaft nach einem Weg suchte, das nicht aussprechen zu müssen, was sie soeben verschleiert angedeutet hatte. Casia warf Midea unterdessen einen Blick von der Art zu, auf die ein Vorgesetzter reagierte, wenn einer seiner Untergebenen mit beiden Füßen gleichzeitig ins Fettnäpfchen getreten war. Zu Gearys großer Verärgerung saßen seine engsten Verbündeten, wie beispielsweise Duellos, Tulev und Cresida, nur schweigend da und weideten sich mit kaum verhohlener Freude an Mideas Verlegenheit. Keiner von ihnen wechselte das Thema, obwohl sich die allgemeine Verstimmung so nur noch verschlechtern würde.

Glücklicherweise mischte sich Captain Badaya ein und sprach wie ein Lehrer, der seinen Schülern eine Lektion erteilte, die jeder von ihnen längst wissen sollte. »Jeder Offizier dieser Flotte weiß, dass Captain Geary eine gute dienstliche Beziehung zum befehlshabenden Offizier seines Flaggschiffs entwickelt hat. So etwas ist wichtig und nützlich. Von daher ist es nur allzu verständlich, dass Captain Geary an dieser Situation nichts ändern möchte. Andernfalls wäre er gezwungen, zunächst einmal eine ähnlich gute Beziehung zum Kommandanten seines neuen Flaggschiffs aufzubauen, und das in einem Augenblick, da sich die Flotte in einem feindlichen Sternensystem befindet und möglicherweise ins Gefecht ziehen wird.«

Badayas Worte hatten den Vorteil, dass sie voll und ganz der Wahrheit entsprachen und es keinen Ansatzpunkt für irgendeine Form von Widerspruch gab. Und sie gaben Midea die Gelegenheit zu einer Ausflucht, die sie auch prompt nutzte. »Natürlich stimmt das. Ich wollte nur meine Meinung zum Ausdruck bringen, dass der Flottenkommandant davon profitieren könnte, wenn die derzeitige Situation auf den Kopf gestellt wird. Aber wie Sie ganz richtig sagten, ist dies dafür nicht der geeignete Zeitpunkt.«

Daraufhin entspannte sich die Atmosphäre im Konferenzsaal ganz beträchtlich, doch als Geary eben dachte, die Angelegenheit sei nun erledigt, sah er den frostigen Blick, den Rione Midea zuwarf. Es gelang ihm, Riones Aufmerksamkeit auf sich zu lenken und ihr mit seiner Mimik zu verstehen zu geben, sie solle die Sache bitte auf sich beruhen lassen. Ihr Blick ließ ihn selbst ebenfalls frösteln, doch sie lenkte ein.

»Das wäre alles«, merkte Geary rasch an. »Wir sind nicht mehr ganz sieben Tage vom Sprungpunkt nach Branwyn entfernt. Für den Fall, dass die Syndiks auf unseren ausgeworfenen Köder reagieren, werden wir sehen, was passiert und wie wir darauf reagieren können. Vielen Dank.«

Innerhalb weniger Augenblicke verschwanden die virtuellen Teilnehmer der Konferenz, lediglich Badaya blieb noch lange genug zurück, um Geary zuzuzwinkern. Er hoffte, dass Desjani nichts davon mitbekommen hatte. »Tut mir leid, was da gerade passiert ist, Captain Desjani.«

»Das ist nicht Ihre Schuld, Sir«, gab sie entschieden zurück. »Wenn Sie mich entschuldigen würden, ich muss zurück auf die Brücke.« Dann eilte sie aus dem Raum. Als sie dabei an Rione vorbeiging, drückte sie den Rücken durch und straffte die Schultern.

Damit blieben nur Rione und der virtuelle Captain Duellos bei ihm zurück. Duellos verneigte sich respektvoll vor Rione und wandte sich an Geary. »Tut mir leid. Mein harmloser Spaß hat die Dinge für Sie etwas schwieriger gemacht.«

»Das ist mir nicht entgangen. Aber denken Sie an Folgendes: Wenn ich sterbe und Sie mich als Kommandant der Flotte beerben, wird mein Geist über Sie wachen und sich köstlich amüsieren, wenn Sie versuchen, mit diesen Leuten klarzukommen.«

Duellos lächelte flüchtig. »Ich werde es mir merken. Die Tatsache, dass Ihr Geist dann über mich wacht, wird ein Trost sein, auch wenn der sich in erster Linie auf meine Kosten amüsieren will.« Er wurde wieder ernst. »Kommt es Ihnen eigentlich nicht viel zu ruhig vor?«

»Jetzt, da Sie's erwähnen«, stimmte Geary ihm zu. »Ich frage mich, ob es uns nur so vorkommt, weil wir mit viel mehr Arger gerechnet haben, der sich dann nicht eingestellt hat.«

»Jedenfalls bis jetzt nicht«, warnte Duellos ihn. »Ich habe so eine Vorahnung, dass sich unser Arger in diesem System nicht allein auf die Flottenbesprechungen beschränken wird.«

»Wir sollten eigentlich in der Lage sein, uns gegen alles zu behaupten, was uns jetzt noch vorgesetzt wird«, meinte Geary. »Aber etwas besorgt bin ich auch. Apropos Captain Midea. Haben Sie irgendeine Idee, wie man sie dazu bringt, den Mund zu halten, ohne ihr gleich das Kommando entziehen zu müssen?«

»Darüber hatte ich auch schon nachgedacht«, räumte Duellos ein. »Sie war Numos' XO, bevor sie zum Captain befördert wurde und das Kommando über die Paladin erhielt. Wie wir schon bei Ixion gesagt haben, muss er gewusst haben, wie man ihr den Mund verbietet. Wir könnten Numos fragen.«

»Nein, danke. Ich glaube nicht, dass ich ihm auch nur ein Wort abnehmen würde. Er könnte ihr Nachrichten zukommen lassen!«

»Durchaus möglich«, überlegte Duellos. »Numos stachelt sie womöglich dazu an, sich so aufzuführen. Wollen wir hoffen, dass er sie nicht zu mehr antreibt als ein paar unüberlegten Worten.«

»Ja, das ist wirklich etwas, das Anlass zur Sorge gibt. Allerdings wüsste ich nicht, was ich dagegen unternehmen sollte.« Geary sah Duellos frustriert an. »Übrigens, was das Anstacheln anderer Offiziere angeht, möchte ich Sie bitten, beim nächsten Mal nicht noch einmal Ihre Widersacher aufzuziehen, okay?«

Duellos grinste, salutierte und verschwand.

Rione saß noch immer an ihrem Platz, und nun drehte sie sich zu Geary um. »Du solltest mir Leute wie diese Midea überlassen. Ich bin kein Offizier dieser Flotte, und ich kann bei diesen Treffen nicht dabei mitreden, welches Schiff wo platziert sein soll. Aber sie treibt politische Spielchen, und auf dem Gebiet ist sie mir hoffnungslos unterlegen.«

Er dachte kurz darüber nach und nickte dann zustimmend.

»Und es sollte dir mehr Sorgen bereiten, wenn du diese Frau so weit außerhalb deiner Kontrolle einsetzt«, fügte sie warnend an. »Wie Captain Duellos bereits gesagt hat, geht sie entweder mehr und mehr aus sich heraus, weil Numos sie nicht mehr unter seiner Fuchtel hat, oder sie wird zu diesem Verhalten angestachelt. Tatsache ist, dass sie seit Numos' Verhaftung mit jeder Konferenz aggressiver und streitsüchtiger geworden ist.«

»Du meinst, auf ihrem Schiff führt sie sich genauso auf?«

»Ganz sicher sogar. Du hättest sie nicht zu dieser anderen Formation wechseln lassen dürfen. Sie wird sich da über deine Befehle hinwegsetzen, davon bin ich überzeugt. Und wenn das passiert, könnte sie andere Schiffe mit sich reißen.«

Damit veränderte sich Riones Beurteilung der Lage von ärgerlich hin zu besorgniserregend. »Verdammt, du könntest recht haben. Ich wünschte…« Es gelang ihm noch eben, den Rest seines Satzes hinunterzuschlucken.

Doch Rione wusste längst, was er hatte sagen wollen. »Dass ich diese Bedenken während der Besprechung geäußert hätte? Bei der Besprechung, bei der du mich unmissverständlich aufgefordert hast, ich solle die Klappe halten?«

»Das habe ich nicht zu dir gesagt!«

»Du hast mir deutlich zu verstehen gegeben, dass ich das Reden einstellen sollte«, antwortete sie kühl. »Ich kann es dir nicht verübeln. Ich hätte dich damit in die Zwickmühle gebracht.«

»Wieso?«, fragte er.

»Nun, wenn ich mich gegen Mideas Wechsel in die andere Formation ausgesprochen hätte und du wärst damit einverstanden gewesen, dann wäre das für jeden die Bestätigung gewesen, dass ich, die unnahbare Politikerin, zu viel Einfluss auf dich ausübe.« Rione machte eine wütende Geste. »Aber wenn ich nichts sage, so wie beispielsweise gerade jetzt, dann entgeht dir eine Sichtweise der Dinge, die dir von Nutzen sein könnte. Du kannst nicht auf eine Meinung reagieren, wenn ich sie nicht ausspreche.«

Nachdenklich setzte er sich hin. »Das ist genau das, was meine Widersacher innerhalb der Flotte wollen, nicht wahr? Sie treiben einen Keil zwischen mich und die Leute, deren Rückhalt und Ratschlag ich benötige. Du bist dafür ein Musterbeispiel, sogar das Musterbeispiel.« Rione deutete eine spöttische Verbeugung an. »Und dann diese Gerüchte über Desjani und mich, die uns davon abhalten, vernünftig zusammenzuarbeiten. Wie soll ich damit umgehen?«

»Meinst du das mit Bezug auf mich oder Desjani?« Ihr Tonfall war wieder reserviert geworden.

»Ich meine euch beide damit. Sie ist Captain meines Flaggschiffs, und du bist meine Beraterin und… und… ähm…«

»Liebhaberin. Das ist die höfliche Formulierung. Wenn du auf die Idee kommst, mich als deine Geliebte zu bezeichnen, dann wird dir das noch leid tun.«

»Ich werd's mir merken. Also, was schlägst du vor?«

»Du musst sicherstellen, dass du dich Captain Desjani gegenüber so tadellos verhältst, dass es keinerlei Nahrung für irgendwelche Gerüchte gibt, die ein vernünftiger Mensch glauben würde. Ich nehme an, es gibt ja zumindest ein paar vernünftige Offiziere unter den Befehlshabern deiner Flotte. Was mich angeht, zeig in der Öffentlichkeit ganz deutlich, dass du von mir unabhängig bist. Ich kann dir versichern, nicht nur ich habe deinen Befehl bemerkt, dass ich den Mund halten soll.«

»Ich habe nicht…«

»Und ich bin mir sicher, die meisten, die es mitbekommen haben, werden es so deuten, wie ich es beschrieben habe.« Sie zog einen Mundwinkel hoch. »Der Beweis, dass du mich dominierst, wird die besorgten Gemüter beruhigen, die der Ansicht sind, ich hätte dich unter meiner Fuchtel.«

»Ich soll dich dominieren?« Geary musste unwillkürlich lachen. »Auf den Gedanken bin ich wirklich noch nie gekommen.«

Rione zog fragend eine Augenbraue hoch.

»Du bist nicht der Typ, der sich dominieren lässt«, ließ er sie wissen.

»Na, wenigstens ist dir das schon deutlich geworden«, kommentierte sie ironisch.

»Mir wurden ja auch ein paar Lektionen erteilt.« Er stand wieder auf. »Ich glaube, ich gehe jetzt zurück zur Brücke, beschäftige mich mit den Statusmeldungen der Flotte und lasse noch ein paar Simulationen laufen.«

»Warum auf der Brücke? Das kannst du auch in deinem Quartier erledigen.«

»Das stimmt.« Er musterte sie und fragte sich, warum sie diese Alternative betonte. »Bist du auch in die Richtung unterwegs?«

»Später«, erwiderte sie schulterzuckend. »Erst muss ich noch ein paar Dinge erledigen.«

»Falls Captain Midea tot mit einem Messer im Leib gefunden wird, werde ich die Tatwaffe nach deinen Fingerabdrücken und deinen DNS-Spuren untersuchen lassen«, merkte Geary an, um die Atmosphäre aufzulockern, die plötzlich wieder aus unerfindlichen Gründen gereizt war.

Sie lächelte ihn an und entgegnete halb im Scherz, halb im Ernst: »Wäre ich die Täterin, würdest du auf dem Messer keine Fingerabdrücke und keine DNS-Spuren finden, John Geary.«

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