Zwölf

»Sir, hier ist Lieutenant Iger aus der Geheimdienstabteilung. Wir haben hier etwas Wichtiges entdeckt, das Sie wissen sollten.«

Geary wurde langsam wieder von Depressionen heimgesucht, da ihm die guten Ideen ausgingen, wie es von Ixion aus weitergehen sollte, und einen Moment lang spielte er mit dem Gedanken, auf die Mitteilung gar nicht zu reagieren. Doch dann siegte sein Pflichtgefühl, und er meldete sich. »Was genau verstehen Sie unter etwas Wichtigem?«, fragte er.

»Ich… das lässt sich schwer sagen, Sir. Es ist etwas völlig Unerwartetes, und was es zu bedeuten hat, wissen wir nicht. Dennoch könnte es von größter Wichtigkeit sein.«

Die Leute vom Geheimdienst arbeiteten gern mit Begriffen wie diesem »könnte«, allerdings war es äußerst ungewöhnlich, dass sie offen zugaben, von einer Sache keine Ahnung zu haben.

»Wir haben alles vorbereitet, um es Ihnen hier unten zu zeigen, aber ich kann damit auch zu Ihnen kommen, Sir«, fuhr Iger fort. »Was Ihnen am liebsten ist.«

Er schaute sich um. Sich der Crew der Dauntless zu stellen, hatte nach wie vor etwas Beängstigendes an sich. Doch in seinem Quartier fühlte er sich zunehmend wie in einer Gefängniszelle, in die er sich auch noch selbst gesperrt hatte. Es war längst an der Zeit, diesen Raum zu verlassen und zu versuchen, wieder wie der Befehlshaber einer Flotte aufzutreten. »Ich komme zu Ihnen runter. Wäre es Ihnen jetzt gleich recht?«

»Ja, Sir. Ich warte hier auf Sie, Sir.«

Nach kurzem Zögern stand Geary auf, betrachtete missmutig sein Erscheinungsbild und zog eine frische Uniform an. Ganz gleich, was bei Lakota geschehen war, er durfte nicht den Eindruck erwecken, dass er sich davon hatte unterkriegen lassen.

Die Besatzungsmitglieder der Dauntless, denen er auf dem Weg begegnete, machten durchweg eine besorgte Miene, die aber sogleich Hoffnung erkennen ließ, sobald sie Geary sahen. Trotz seiner düsteren Stimmung bemühte er sich, Zuversicht auszustrahlen, was die meisten ihm auch ohne zu zögern abnahmen. Als junger Offizier hatte er im Umgang mit seinen Vorgesetzten gelernt, wenn er sich so verhielt, als wisse er ganz genau, was er tue, dann nahm automatisch jeder andere an, dass das tatsächlich der Fall war.

»Was werden wir machen, wenn wir Ixion erreichen?«, platzte ein Matrose heraus. »Sir?«

»Ich habe mich noch nicht entschieden«, erwiderte er, als stehe er vor einer großen Auswahl voll exzellenter Optionen. Der Matrose jedenfalls lächelte hoffnungsvoll und salutierte zackig.

Als er die hinter einer Reihe von Hochsicherheitsluken von ihrer Umgebung abgeschottete Geheimdienstabteilung erreichte, wurde Geary bewusst, dass es dem Geheimdienstoffizier gelungen war, ihn aus seinem Quartier zu locken. Das hatten bis dahin weder Captain Desjani noch die Politikerin Rione geschafft, was dem Ganzen etwas sehr Ironisches verlieh.

Lieutenant Iger erwartete ihn bereits und machte einen nervösen Eindruck, als Geary sich setzte. »Sir, wir haben die Nachrichten analysiert, die zwischen den Schiffen der Syndik-Flotte ausgetauscht wurden, die durch das Hypernet-Portal ins Lakota-Sternensystem kamen.«

»Wie viel davon konnten Sie abfangen und entschlüsseln?«, wollte er wissen.

»Nicht viel, aber ein paar Signale verirren sich immer, und wenn wir lange genug in einem Sternensystem bleiben, bis sie uns erreichen, dann können wir sie auch aufzeichnen und versuchen, den Verschlüsselungscode zu knacken«, erläuterte Iger. »Es ist nicht einmal annähernd eine Quelle für Geheimdienstinformationen. Sollten wir je eine feindliche Nachricht rechtzeitig entschlüsseln, um Einfluss auf einen laufenden Kampf nehmen zu können, dann werden wir Sie das natürlich wissen lassen.«

»Ich darf doch davon ausgehen, dass Sie mir die Entscheidung überlassen, was Einfluss nehmen könnte und was nicht, oder?« Geary wusste, dass die Jungs vom Geheimdienst solche Dinge wahrscheinlich sehr wohl gern selbst in die Hand nahmen.

»Ahm… ja, Sir«, versicherte Lieutenant Iger ihm und nahm sich zweifellos vor, das ab sofort so zu handhaben.

»Ich darf annehmen, dass es mit dem Signal etwas Besonderes auf sich hat, wenn Sie mich dafür herholen.«

»Jawohl, Sir. Etwas Ungewöhnliches, etwas sehr Ungewöhnliches.« Er hielt kurz inne, fuhr mit der Zunge über die Lippen und redete dann hastig weiter: »Sir, wir sind zu der Einschätzung gekommen, dass die Syndiks von ihrem Auftauchen im Lakota-System genauso überrascht waren wie wir.«

Geary überlegte, ob er das richtig verstanden hatte. »Sie reden von den Syndiks, die sich bereits im System befanden, richtig? Die waren überrascht, dass die Verstärkung eintraf?« Warum sollte das einen Geheimdienstoffizier aufhorchen lassen?

»Nein, Sir. Die einzige Auslegung, die zu den von uns entschlüsselten Meldungen passt, läuft darauf hinaus, dass die durch das Hypernet-Portal kommenden Syndik-Schiffe völlig verwundert waren, sich in Lakota zu befinden. Sie hatten eigentlich das Andvari-System anfliegen wollen.«

Geary brauchte ein paar Sekunden, ehe ihm klar wurde, dass er den Lieutenant anstarrte. »Wie oft kommt so etwas bei Hypernet-Reisen vor?« Niemand hatte ihm bislang davon berichtet, dass man sich im Hypernet verfliegen konnte.

»Es kommt nicht vor, Sir«, betonte Lieutenant Iger. »Die Bedienung eines Schlüssels ist so problemlos, dass es nicht noch einfacher sein könnte. Auf dem Kontrollschirm wählt man den Namen des Sternensystems aus, in das man reisen möchte. Sobald Sie im Hypernet unterwegs sind, zeigt der Schirm weiterhin das Zielsystem an. Man müsste schon extrem dumm oder vergesslich sein, um nicht zu wissen, zu welchem Stern man fliegt. In all unseren — äußerst detaillierten — Unterlagen wird nicht ein einziger Fall erwähnt, in dem ein Schiff im Hypernet in ein anderes als das ausgewählte System gelangt ist. Das Prinzip ist so einfach, dass nicht einmal ein völliger Idiot etwas verkehrt machen könnte.«

»Unterschätzen Sie nicht, wozu Idioten in der Lage sind, Lieutenant. Könnte der Hypernet-Schlüssel defekt gewesen sein?«

Iger zuckte frustriert mit den Schultern. »Soweit uns bekannt ist, dürfte ein Schlüssel, der einen solchen Fehler nach sich zieht, gar nicht erst funktionieren.«

Geary lehnte sich zurück und dachte nach, während Lieutenant Iger eine unglückliche Miene machte und wartete. Vermutlich rechnet er damit, dass ich ihn mitsamt seiner Analyse in der Luft zerreiße. Aber warum sollte er mir das alles darlegen, wenn er es nicht für wahr hält? »Angenommen, Ihre Analyse trifft zu«, begann Geary und erntete prompt einen erleichterten Blick. »Wie kann es dann sein, dass diese Schiffe ein anderes Ziel als das vorgesehene erreichten?«

Iger schüttelte den Kopf. »Laut unserer Experten ist das nicht möglich.«

»Haben Sie schon mit Captain Cresida gesprochen?«

Diesmal konnte Iger seine Verwunderung nicht verbergen, dass Geary wusste, dass Cresida eine der Expertinnen der Flotte in Sachen Hypernet-System war. »Nein, Sir, wir können im Sprungraum keine so umfangreiche und komplexe Nachricht an sie senden. Aber wir haben eine Lernsimulation gestartet, die auf den Lehren führender Hypernet-Experten der Allianz basiert, und wir haben ihr die Beobachtung als ein theoretisches Problem zur Bewertung vorgelegt. Die Avatare der Experten dieser Simulation sind der einhelligen Meinung, dass das nicht vorkommen kann.«

»Es ist nicht möglich, während des Flugs das Ziel zu ändern? Auf keinen Fall?«

»Auf keinen Fall, Sir«, beharrte Iger. »Es gibt nur eine Alternative, was stattdessen passiert sein könnte: Es wäre möglich, dass die Syndiks versucht haben uns zu täuschen und absichtlich irreführende Nachrichten gesendet haben, weil sie wussten, wir würden das eine oder andere abfangen und die Verschlüsselung irgendwann knacken.«

»Und warum glauben Sie nicht, dass sie das tatsächlich gemacht haben?«

Iger verzog den Mund. »In erster Linie wegen Ockhams Rasiermesser, Sir. Eine absichtliche Täuschung in diesem Fall wäre eine sehr komplexe und sehr ungewisse Operation. Die einfachste Erklärung ist die beste, nämlich die, dass die Nachrichten echt sind. Und die Übermittlungen fühlen sich auch echt an. Nichts daran erweckt den Eindruck eines Täuschungsmanövers. Alles an ihnen entspricht unseren Erfahrungen mit authentischer Syndik-Kommunikation. Außerdem können wir uns keine Erklärung vorstellen, warum die Syndiks versuchen sollten, uns in diesem Punkt in die Irre zu führen.«

»Vielleicht, weil sie uns davon abhalten wollen, das Hypernet zu benutzen. Sie könnten doch Zweifel säen wollen, dass es gar nicht so zuverlässig ist, wie wir glauben.«

»Aber sie konnten nicht wissen, dass wir ausgerechnet diese Übertragungen abfangen würden, Sir. Einige davon kursierten gleich nach der Ankunft im Lakota-System, also noch bevor sie überhaupt die Tatsache erfasst haben konnten, dass unsere Flotte sich im System befindet.«

Geary nickte bedächtig. »Wie überzeugt sind Sie von Ihrer Einschätzung, dass diese Syndik-Flotte gar nicht nach Lakota hatte fliegen wollen?«

»Es ist die einzige Einschätzung, die zu den gesendeten Nachrichten passt, Sir«, ließ Iger ihn kleinlaut wissen. »Wir hätten gern eine andere Erklärung gefunden, aber nichts sonst ergibt einen Sinn.«

»Okay.« Geary stand auf. »Gute Arbeit, und gut von Ihnen, dass Sie mir die Wahrheit so geschildert haben, wie Sie sie sehen. Allerdings haben Sie da etwas übersehen.«

»Und das wäre, Sir?«, fragte Iger noch eine Spur besorgter.

»Sie sagten, dass es nicht möglich ist, das Ziel eines Schiffs zu ändern, wenn es sich erst einmal im Hypernet befindet. Wenn die Daten zutreffen, die Sie zusammengetragen haben — und daran zweifle ich nicht —, dann muss es aber möglich sein. Wir wissen bloß nicht, wie es geht.«

Iger zuckte zusammen, dann nickte er und begann zu grübeln. »Doch wenn die Syndiks wissen, wie es geht, warum waren sie so erstaunt, dass sie in einem anderen System eingetroffen sind?«

»Vielleicht wissen die Syndiks es ja selbst nicht, Lieutenant.« Geary schwieg einen Moment lang, um Iger Zeit zu lassen, diese Überlegung zu verinnerlichen. »Haben Sie hier noch irgendwelche Daten, auf die ich keinen Zugriff habe? Irgendeine Information, die zu heikel ist, um sie mir zu zeigen?«

»Nein, Sir«, antwortete Iger sofort. »Als Flottenbefehlshaber können Sie auf alles zugreifen. Ich kann natürlich nicht für Informationen sprechen, die sich auf anderen Schiffen befinden. Aber was sich an Bord der Dauntless befindet, steht Ihnen in vollem Umfang zur Verfügung, ganz gleich, welcher Geheimhaltungsstufe es unterliegt.«

In der Nähe eines Schotts trieb ein Sternendisplay in der Luft. Geary ging hin und betrachtete die Darstellung. »Lieutenant, sind Ihnen irgendwelche Informationen bekannt, die auf eine intelligente Spezies hindeutet, die jenseits des Syndik-Territoriums existiert?«

Als er sich umdrehte, sah Iger ihn verdutzt an. »Nein, Sir. Etwas in dieser Art habe ich noch nie zu sehen bekommen.«

Wieder nickte Geary. »Sie können mir einen Gefallen tun, Lieutenant. Suchen Sie alle Daten zusammen, die wir von den Syndiks erbeutet haben und die sich mit der anderen Seite des Syndik-Territoriums befassen. Beziehen Sie bewohnte und aufgegebene Sternensysteme mit ein, außerdem die Positionen der Hypernet-Portale. Und wenn Sie damit fertig sind, würde ich gern Ihre Meinung hören.«

Igers Blick ruhte auf dem Sternendisplay. »Haben Sie das schon gemacht, Sir?«

»Ja, das habe ich. Ich möchte wissen, ob Sie zu den gleichen Schlussfolgerungen kommen wie ich.«


* * *

Rione hielt sich in seinem Quartier auf, als Geary zurückkam. Sie stand auf und betrachtete ihn forschend. »Es fühlte sich hier so anders an, wenn man nicht sieht, wie du in deinem Sessel versunken dasitzt und düstere Stimmung verbreitest. Wie fühlst du dich?«

»Ganz gut, würde ich sagen.«

»Dann konnte Captain Desjani dir etwas geben, wozu ich nicht in der Lage war?«

»Das ist… sie hat mir geholfen. Ihr beide habt mir geholfen.«

»M-hm.« Sie setzte sich wieder hin und wirkte müde und erschöpft. »Gut, gut. Was immer dir geholfen hat. Ich bin kurz davor gewesen, dich zu ohrfeigen, bis du dich endlich rührst.«

»Vielleicht hätte es mir ja gefallen«, erwiderte Geary.

»Ein Witz? Eben noch sitzt du reglos da, und jetzt kannst du Witze machen?«

»Eigentlich nicht.« Er setzte sich zu ihr und machte eine vage Geste. »Ich verstehe selbst nicht, was funktioniert hat. Aber manchmal kann Verantwortung einen erdrücken, und dann wieder kann sie einen zum Handeln antreiben. Und manchmal beides gleichzeitig. Ob das einen Sinn ergibt, weiß ich nicht.«

»Doch, es ergibt einen Sinn«, antwortete sie in untypisch sanftem Tonfall. »Wo warst du?«

»Ich komme gerade von der Geheimdienstabteilung zurück.« Er aktivierte das Sternendisplay und berichtete ihr, was er von Iger erfahren hatte. Rione hörte ihm zu, ließ aber nicht erkennen, was sie davon hielt. »Was glaubst du, wie diese riesige Syndik-Flotte über das Hypernet gerade im richtigen Moment nach Lakota kam, um uns beinahe zu vernichten?«, fragte er schließlich.

Sekundenlang saß sie schweigend da und betrachtete das Display. »Dann hatten wir nicht bloß unsagbares Pech, sondern unsere unbekannten Aliens haben sich entschlossen, sich auf die Seite der Syndiks zu stellen. Ich habe dich ja gewarnt, dass sie dich nicht siegen lassen würden.«

»Ich komme einem Sieg doch gar nicht näher! Ich konzentriere mich nach wie vor darauf, das Überleben dieser Flotte zu gewährleisten, und dabei bin ich mir nicht mal sicher, wie lange mir das noch gelingen wird.«

»Hast du dir durch den Kopf gehen lassen, was das bedeuten könnte?«

»Natürlich habe ich das!« Er warf ihr einen verärgerten Blick zu, dann hielt er inne. »Was meinst du damit?«

Sie deutete auf das Display. »Woher wusste unsere gar nicht mehr so hypothetische fremde Macht, dass unsere Flotte auf dem Weg nach Lakota war, damit sie die Syndik-Flotte noch rechtzeitig dorthin umleiten konnte?«

Geary spürte, wie sich sein Magen verkrampfte. »Entweder sind sie in der Lage, Flottenbewegungen über große interstellare Entfernungen hinweg weitestgehend in Echtzeit mitzuverfolgen. Oder sie haben einen Spion in dieser Flotte. Glaubst du, sie sehen menschlich genug aus, um nicht aufzufallen?«

»Falls sie nicht sowieso menschlich sind. Oder vielleicht haben sie einen Spion angeheuert. Oder wir haben es gar nicht mit einem lebenden Wesen zu tun, sondern mit einem Wurm, der in die Flottensysteme eingeschleust worden ist, um von dort über unsere Aktivitäten zu berichten.«

»Das sind auch denkbare Möglichkeiten, die ich ehrlich gesagt für glaubwürdiger halte als die Fähigkeit, ohne Zeitverzögerung etwas zu sehen, was sich viele Lichtjahre entfernt abspielt. Wenn diese… was immer sie auch sind… wenn sie so etwas können, dann ist die Menschheit in Sachen Technologie bedenklich weit abgeschlagen. So unangenehm der Gedanke auch ist, glaube ich dann doch lieber an einen Spion, der sie mit Informationen versorgt.« Nachdenklich hielt er inne. »Offenbar haben deine Spione in der Flotte nie einen Hinweis auf nichtmenschliche Spione entdeckt, sonst hättest du das sicherlich gesagt.«

Rione seufzte aufgebracht. »Meine Spione wissen von vielen verschiedenen Spionen, die für viele verschiedene Leute arbeiten. Aber viele andere Informanten fallen sicher gar nicht auf, und über die Identität der meisten Auftraggeber können wir bestenfalls Vermutungen anstellen. Kommen wir zur nächsten Überlegung. Wie hat dieser Spion die Information schnell genug an die Aliens weiterleiten können, damit die noch Zeit zum Handeln hatten?«

Geary musterte Rione. »Daran hätte ich denken müssen. Machbar ist das nur, wenn diese Wesen eine Möglichkeit besitzen, mit Überlichtgeschwindigkeit zu kommunizieren, ohne dass ein Schiff diese Nachrichten übermittelt.«

»Wir hatten überlegt, ob die Hypernet-Portale eine solche Möglichkeit bieten.«

»Richtig. Aber im Ixion-System gab es kein Portal, und dabei entschieden wir erst dort, dass wir nach Lakota weiterfliegen würden. Seit Sancere haben wir uns nicht mehr in einem System mit Hypernet-Portal aufgehalten, und selbst das bei Sancere wurde zerstört, bevor wir von dort abgereist sind.«

»Stimmt.« Rione verzog das Gesicht. »Ein Überlicht-Transmitter auf einem unserer Schiffe, der so klein ist, dass er nicht entdeckt werden kann. Wie weit ist uns diese fremde Intelligenz technologisch voraus?«

Geary stierte auf das Display, als ihm auf einmal noch etwas klar wurde. »Verdammt!«

»Was denn?«

»Das folgenschwerste Problem überhaupt. Wir haben darauf gehofft, ein nur schwach verteidigtes Hypernet-Portal zu finden, das wir benutzen können, um ins Territorium der Allianz zurückzukehren.«

Rione nickte zustimmend.

»Aber das können wir jetzt nicht mehr machen, selbst wenn wir ein Portal finden sollten, das überhaupt nicht bewacht wird.«

In dem Moment verstand sie. »Wenn wir ins Hypernet fliegen, und diese Fremden können jedes Schiff hinschicken, wohin sie wollen…«

»Dann könnten wir wer weiß wo landen. Vielleicht im Gebiet jenseits des Allianz-Territoriums. Oder in einem System, in dem sich die komplette Syndik-Flotte versammelt hat und nur auf uns wartet.«

»Oder irgendwo außerhalb des Hypernets«, fügte sie an. »Das soll zwar gar nicht möglich sein, aber wie es scheint, ereignen sich ja schon jetzt einige eigentlich unmögliche Dinge.«

Geary ließ sich in seinen Sessel sinken und lehnte sich nach hinten, während er all die Erkenntnisse zu erfassen versuchte, die offenbar wahr sein mussten. »Ich begreife das nicht. Angenommen, sie besitzen diese Fähigkeiten — und zumindest irgendetwas davon muss für sie machbar sein — warum lassen sie uns gegenüber dann erkennen, wozu sie in der Lage sind?«

»Vielleicht weil die höchste Führungsebene der Syndiks längst von ihrer Existenz weiß und weil ihr bekannt ist, wer ihre Flotte nach Lakota statt nach Andvari geschickt hat.« Rione schüttelte den Kopf. »Und was uns angeht, erwarten die Aliens nicht, dass wir das Ganze überhaupt überleben oder dass wir auch nur in der Lage sind zu erahnen, was sich in Wahrheit abspielt. Aber mich überrascht immer noch, dass sie uns das Wissen über solche Fähigkeiten zukommen ließen.«

»Möglicherweise wissen sie, dass wir damit nichts anfangen können. Wir sitzen nach wie vor hier fest.« Wut regte sich in ihm. Bei allen Problemen, mit denen er sich konfrontiert sah, war es einfach nicht fair, dass sich jetzt auch noch Aliens einmischten und das Ganze umso komplizierter machten. Es war ein alberner Grund, sich zu ärgern, doch es war nun einmal unfair, und das reizte ihn nur noch mehr. »Diese Flotte muss auf die harte Tour nach Hause kommen, oder sie kommt gar nicht nach Hause. Aber ich sage dir, ich bringe sie heim.«

Rione sah ihn ungläubig an, dann begann sie zu lächeln. »Von der tiefsten Verzweiflung zur entschiedenen Entschlossenheit. Was dich angeht, war das heute ein guter Tag für Stimmungsschwankungen.« Dann wurde sie wieder ernst. »Es gibt da noch eine Möglichkeit, die wir bislang nicht in Erwägung gezogen haben.«

»Und zwar?«

»Vielleicht haben die Aliens uns absichtlich wissen lassen, welche Fähigkeit sie mit Blick auf das Hypernet-System besitzen. Vielleicht sind sie davon ausgegangen, dass dir die Flucht aus diesem System gelingen würde, so wie du es zuvor auch schon geschafft hast. Möglicherweise helfen sie den Syndiks gar nicht, sondern versuchen uns etwas mitzuteilen.«

Den Blick wieder auf das Display gerichtet, ließ er sich diese Überlegung durch den Kopf gehen. »Ich habe schon genug Menschen, die glauben, ich könnte das Unmögliche vollbringen. Ich brauche nicht noch Aliens, die das ebenfalls meinen. Warum sollten sie das tun?«

»Ich weiß es nicht«, erklärte Rione unverhohlen frustriert. »Wir kennen die Absichten dieser mysteriösen Wesen nicht. Wir wissen nicht, wie sie denken, wenn sie nichtmenschlich sind. Und von Letzterem ist auszugehen. Was wollen sie? Die Menschheit in einen unendlichen Krieg verstricken? Warten sie, bis eine ausreichend große Anzahl Hypernet-Portale existiert, um sie dann zusammenbrechen zu lassen, damit die Menschheit in allen von ihr kolonisierten Systemen auf einen Schlag ausgelöscht werden kann? Oder sind die Portale eine Rückversicherung für den Fall, dass wir sie jemals bedrohen könnten? Oder steckt etwas ganz anderes dahinter, etwas für uns so völlig Fremdartiges, dass wir es nicht einmal bezeichnen können?«

»Willst du damit sagen, sie sind womöglich gar nicht feindselig? Obwohl sie die Syndik-Flotte nach Lakota umgeleitet haben, was fast unser Ende bedeutet hätte?«

»Ja, genau das will ich damit sagen. Wenn wir morgen auf eine Alien-Flotte stoßen würden, was würdest du dann machen?«

»Ich weiß nicht so genau. Wenn sie das Feuer auf uns eröffnen, wäre die Antwort klar. Aber wenn sie einfach auftauchen würden… Ich schätze, das Beste wäre, mit ihnen zu reden, um zu erfahren, was sie wollen.«

»Und dann abwägen«, fügte Rione entschieden an, »ob die Menschheit mit dem leben kann, was sie wollen.«

»Wer immer die sein mögen und was sie auch von uns wollen, sie schulden uns noch etwas für den Verlust der Audacious, der Indefatigable und der Defiant«, gab Geary mit rauer Stimme zurück. »Dafür müssten sie uns schon einen verdammt guten Grund liefern.«


* * *

Drei weitere Tage, um in Ruhe nachzudenken. Drei weitere Tage, die keine Antworten brachten. Als die Flotte bei Ixion in den Normalraum zurückkehrte, nahm Geary einen bitteren Geschmack im Mund wahr. Diesmal wurden sie nicht von einem Minenfeld empfangen, und so konnte Geary in Ruhe zusehen, wie ein Allianz-Schiff nach dem anderen neben der Dauntless auftauchte. Sein Blick ruhte auf den Statusanzeigen der verschiedenen Schiffe, die nach und nach aktualisiert wurden und Schäden ebenso meldeten wie bereits vorgenommene Reparaturen. Die Angaben zu den Reserven der Brennstoffzellen waren genauso erschreckend wie die Zahlen über die Munitionsvorräte. Das größte Problem bestand aber darin, dass einige Schiffe noch immer darum bemüht waren, ihren Antrieb wieder in Gang zu bekommen. Solange das nicht der Fall war, konnte die Flotte nicht einmal die Flucht antreten, ohne dabei diese Schiffe zurücklassen zu müssen.

Und dann würden sie in die Fänge der Syndik-Wölfe gelangen, die in Kürze aus dem Sprungraum in das System folgten. Es fiel Geary nicht schwer, sich das vorzustellen, immerhin hatte er bereits entsprechende Simulationen durchspielen lassen: die Allianz-Flotte auf der Flucht zum nächsten Sprungpunkt, die schnelleren Syndiks hinter ihnen, Schwärme aus Leichten Kreuzern und Jägern, die sich jene Allianz-Schiffe vornahmen, die zu schwer beschädigt waren, um mit der Flotte mitzuhalten. Und dann ließe sich die Flotte von hinten aufrollen und ein Antrieb nach dem anderen zerstören, sodass die getroffenen Schiffe zurückfielen und von der Syndik-Flotte geschluckt werden konnten.

Er simulierte, was geschehen würde, wenn er seine Flotte hier neu aufstellte, um die überlegene Syndik-Streitmacht in Empfang zu nehmen, die Ixion früher oder später nach Ixion erreichen musste. Angesichts der zahlreichen beschädigten Schiffe, des geringen Ladestands der Brennstoffzellen und der niedrigen Munitionsvorräte lief die Simulation jedes Mal auf eine vollständige Vernichtung der Allianz-Flotte hinaus.

Vorausgesetzt, nach der anstehenden Flottenkonferenz war er überhaupt noch der Befehlshaber der Flotte. Jetzt, da die Bedrohung von außen so ernst war, wusste er, dass ihm aus den eigenen Reihen noch größere Gefahr drohte.

Sie konnten keine Sekunde länger in Ixion bleiben als unbedingt nötig, und sie würden diesem System nicht entfliehen können, ohne weitere Schiffe zu verlieren. Falls die Allianz-Flotte überhaupt noch aus Ixion herauskam, gab es diesmal keine Chance, die Syndik-Verfolger abzuschütteln. Und es gab keine Möglichkeit, die schweren Verluste bei Lakota zu rechtfertigen. Ringsum auf der Brücke der Dauntless sah er, wie die Wachhabenden sich hilflos und verängstigt ansahen, während sie sich ihr eigenes Bild vom Zustand der Flotte machten.

Sie konnten nicht bleiben, und sie konnten nicht fliehen.

Genau in diesem Moment erkannte Geary, was die Allianz-Flotte zu tun hatte. Zum Teufel mit der Flottenkonferenz! Ich habe mich entschieden, und sie alle werden meine Befehle befolgen.

Er holte tief Luft, warf einen letzten Blick auf die lange Liste beschädigter Schiffe seiner Flotte und drückte dann in aller Ruhe auf die Komm-Taste. »An alle Schiffe der Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary. Gehen Sie mit sofortiger Wirkung auf Gegenkurs. Ich wiederhole: Alle Schiffe gehen sofort auf Gegenkurs.«

Captain Desjani gab den Befehl fast reflexartig an ihre Crew weiter, erst dann stutzte sie und sah Geary verwundert an. Er musste außer ihr niemanden ansehen, um zu wissen, dass alle anderen genauso reagierten. »Sir?«, fragte sie. »Kursumkehr? Wenn wir die Minen verteilen wollen, über die wir noch verfügen…«

»Wir werden keine Minen verteilen«, erklärte er. »Wir haben gar nicht mehr genug Minen, um damit noch irgendetwas zu erreichen.«

»Captain Geary«, ging ein Ruf ein. »Hier ist Captain Duellos von der Courageous. Bestätigen Sie bitte Ihren letzten Befehl.«

»Befehl bestätigt. Sofort auf Gegenkurs gehen. Also los.«

Insgeheim fragte er sich, ob wohl irgendwelche Schiffe einfach weiter ins Sternensystem hineinfliegen würden, doch es gab hier kein Versteck, keinen Unterschlupf, nur die weitläufige Leere rund um Ixion. Wie es schien, wollte wohl niemand riskieren, in dieser Leere allein zurückzubleiben, indem er den Befehl ignorierte. Er konnte beobachten, wie seine Schiffe zum Wendemanöver ansetzten. Von einer Formation war ihnen momentan nicht viel anzumerken, dennoch blieb ihm keine Zeit, daran etwas zu ändern. Trotz der relativ niedrigen Geschwindigkeit, mit der die Flotte den Sprungpunkt verlassen hatte, dauerte alles viel länger, als es Geary recht war, schließlich jedoch waren alle Schiffe wieder auf den Sprungpunkt ausgerichtet.

»Hier ist die Colossus. Was haben Sie vor, Captain Geary? Sollten wir nicht erst eine Flottenkonferenz abhalten? Es gibt wichtige Dinge zu besprechen.«

»Hier ist die Conqueror, ich schließe mich der Meinung der Colossus an.«

»Danke für Ihre Meldung«, gab Geary zurück. »Aber es bleibt keine Zeit für eine Konferenz. Wir verlassen dieses System.« Er hielt nur lange genug inne, damit jeder die Worte hören und darüber grübeln konnte, was er damit wohl meinte. »An alle Schiffe der Allianz-Flotte, hier spricht Captain Geary. Wir werden uns nicht mal einen Kilometer weiter zurückziehen. Diese Flotte hat in Lakota noch eine Rechnung offen. Wir kehren nach Lakota zurück und gehen auf jede Syndik-Flotte los, die sich dort noch aufhält. Und dann werden wir sehen, wie viele Crewmitglieder der Audacious, Indefatigable, Defiant, Paladin und Renown und der anderen Schiffe, die wir dort zurücklassen mussten, wir noch bergen können. Danach wird diese Flotte ihren Weg in Richtung Allianz-Territorium fortsetzen, ohne Rücksicht darauf, was die Syndiks uns alles zwischen die Beine zu werfen versuchen.«

Wieder atmete er tief durch und fragte sich, was die anderen jetzt wohl dachten. »Wir gehen so, wie wir sind, in den Sprung über, damit wir die Syndiks überraschen können. Bei der Ankunft in Lakota werden alle Schiffe sofort den Kurs um acht null Grad nach Steuerbord ändern und gefechtsbereit sein. Wir werden Lakota erst verlassen, wenn wir den Syndiks eine Lektion erteilt haben, was es heißt, gegen die Allianz zu kämpfen.« Und vielleicht würde daraus auch eine Lektion werden, die Aliens sehen zu lassen, wie schwierig es sein konnte, die Menschheit zu besiegen. Auch wenn es in der Flotte von deren Spionen wimmelte, blieb denen nicht viel Zeit, ihre Auftraggeber vorzuwarnen, wenn die Schiffe gleich wieder in den Sprungraum zurückkehrten.

»Jawohl, Sir!« Desjani grinste breit und streckte die geballte Faust in die Höhe. Die Wachhabenden, die Geary von seinem Platz aus sehen konnte, jubelten und klopften sich gegenseitig auf die Schultern. Er konnte ein tiefes Grollen hören, und erst nach und nach begriff er, dass das der kollektive Jubel der Crew der Dauntless war.

Er schaute über die Schulter zu Victoria Rione, die das Treiben auf der Brücke mit einem Gesichtsausdruck verfolgte, als sei sie in einem Irrenhaus gelandet. »Captain Geary«, protestierte sie mit erstickter Stimme. »Ihre Flotte verfügt kaum noch über Munition, die Brennstoffzellen sind fast aufgebraucht, und zahlreiche Schiffe sind beschädigt. Und Sie fliegen mit dieser Flotte zurück nach Lakota?«

»Das ist richtig«, bestätigte er. »Wir können nicht hier bleiben und kämpfen. Wir können auch nicht entkommen. Also werden wir angreifen.«

Rione sah von Geary zu den feiernden Besatzungsmitgliedern. »Aber das ist doch Wahnsinn! Was soll denn sein, wenn die Syndiks in erdrückender Überzahl bei Lakota auf unsere Rückkehr warten?«

»Ich würde sagen, dann haben sie schlechte Karten«, entgegnete er. Er wusste, jede seiner Bemerkungen machte auf die eine oder andere Weise in der Flotte die Runde. Das war nicht der richtige Moment, um zu zweifeln oder um jedes Wort auf die Goldwaage zu legen. Ich muss diese Flotte führen. Mögen die lebenden Sterne dafür sorgen, dass ich sie nicht in den Untergang führe. Aber falls doch, dann werden wir im Kampf untergehen, nicht auf der Flucht. Desjani lächelte ihn stolz an, während die Schiffe der Allianz-Flotte wieder den Sprungpunkt erreichten. Als Offizier der Flotte verstand sie etwas, das Rione vermutlich nie würde nachvollziehen können. »An alle Schiffe«, sendete Geary. »Springen Sie jetzt. Wir sehen uns in Lakota.«


ENDE
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