8. Zweimal knapp entronnen

Alle waren fröhlich, als die »Morgenröte« von der Dracheninsel absegelte. Sobald sie die Bucht hinter sich ließen, bekamen sie guten Wind. Früh am nächsten Morgen erreichten sie das unbekannte Land, das einige von ihnen gesehen hatten, als sie mit Eustachius, dem Drachen, über die Berge geflogen waren. Es war eine flache grüne Insel, auf der nur Kaninchen und ein paar Ziegen lebten. Aber aus den Ruinen der steinernen Hütten und aus den geschwärzten Stellen, wo einst Feuer gebrannt hatten, schlossen sie, daß sie vor nicht allzu langer Zeit noch bewohnt gewesen sein mußte. Sie fanden auch ein paar Knochen und einige zerbrochene Waffen. »Die Arbeit von Piraten«, sagte Kaspian.

»Oder eines Drachen«, sagte Edmund.

Das einzige, was sie sonst noch fanden, war ein kleines Boot, das auf dem Sand lag. Es bestand aus Häuten, die über ein Weidengeflecht gespannt waren. Es war ein winziges Boot, nicht einmal eineinhalb Meter lang, und auch das Paddel, das darin lag, war entsprechend winzig. Sie nahmen an, daß das Boot entweder für ein Kind gemacht worden war oder daß die Leute hier Zwerge gewesen sein mußten. Riepischiep entschloß sich, es zu behalten, da es für ihn genau die richtige Größe hatte, und so nahmen sie es an Bord. Sie nannten das Land »Verbrannte Insel« und segelten schon vor Mittag wieder ab.

Fünf Tage lang segelten sie vor einem südsüdöstlichen Wind. Kein Land, kein Fisch und keine Möwe waren zu sehen. Dann kam ein Tag, an dem es bis nachmittag stark regnete. Eustachius verlor zwei Schachspiele an Riepischiep und begann gerade, sich in den alten unangenehmen Eustachius zurückzuverwandeln. Edmund beklagte sich, daß sie nicht mit Suse nach Amerika hatten fahren dürfen. Dann schaute Lucy aus den Fenstern am Heck und sagte:

»Oh! Ich glaube, es hört auf. Und was ist das!«

Sie stolperten alle hinauf auf das Achterdeck. Der Regen hatte aufgehört, und Drinian, der Wache hielt, starrte ebenfalls angestrengt auf ein Ding hinter dem Schiff. Oder vielmehr auf mehrere Dinge. Sie sahen wie glatte, abgerundete Felsen aus – und eine ganze Reihe davon war zu sehen, mit einem Zwischenraum von jeweils zehn Metern.

»Aber es können keine Felsen sein«, sagte Drinian, »denn vor fünf Minuten waren sie noch nicht da.«

»Und eben ist einer davon verschwunden«, rief Lucy.

»Ja, und da kommt gerade ein anderer«, sagte Edmund.

»Er kommt näher!« rief Eustachius.

»Verdammt!« stieß Kaspian hervor. »Das ganze Ding kommt in unsere Richtung!«

»Und es bewegt sich um einiges schneller, als wir segeln können, Herr«, fügte Drinian hinzu. »Es wird uns in einer Minute eingeholt haben.«

Sie hielten alle den Atem an, denn es ist gar nicht schön, wenn man von etwas Unbekanntem verfolgt wird, sei es nun auf dem Land oder auf dem Meer. Aber es war etwas viel Schrecklicheres, als sie angenommen hatten. Plötzlich, nur einen Heuschreckensprung vom Backbord entfernt, erhob sich ein abscheulicher Kopf aus dem Meer. Er war grün und zinnoberrot mit lila Flecken – außer an den mit Schalentieren bedeckten Stellen –, und er hatte die Form eines Pferdekopfes; allerdings fehlten die Ohren. Er hatte riesige Augen, Augen, die dafür geschaffen waren, die dunklen Tiefen des Ozeans zu durchdringen, und ein offenes Maul mit einer doppelten Reihe scharfer Fischzähne. Der Kopf saß auf einem riesigen Nacken – zumindest dachten sie das zuerst. Doch als dieser weiter und weiter hervorkam, wurde ihnen klar, daß dies nicht der Nacken, sondern der Körper war und daß sie das sahen, was viele Leute törichterweise gerne gesehen hätten – die große Seeschlange. Die Krümmungen ihres riesigen Schwanzes, die sich hier und da über die Wasseroberfläche erhoben, konnte man bis weit in die Ferne sehen. Und jetzt überragte ihr Kopf schon den Mast.

Alle Männer rannten zu ihren Waffen. Doch es war zwecklos – gegen die Seeschlange konnten sie nichts ausrichten. »Schießt! Schießt!« rief der oberste Pfeilschütze, und einige gehorchten, doch die Pfeile prallten an der Haut der Seeschlange ab, als wäre sie aus Stahl. Dann standen alle eine schreckliche Minute lang reglos da, starrten zu den Augen und dem Maul des Ungeheuers empor und fragten sich bange, wo es sich wohl herabstürzen mochte.

Aber es stürzte sich nicht herab. Am Mast, in der Höhe der Rah, schoß sein Kopf über das Schiff. Jetzt ragte er genau neben der Kampfplattform auf. Die Schlange reckte sich immer weiter vorwärts, bis ihr Kopf schließlich über der Steuerbordwand schwebte. Dann bewegte sich ihr Kopf wieder nach unten – nicht auf das bevölkerte Deck zu, sondern ins Wasser. Dadurch ruhte das ganze Schiff unter dem nach oben gewölbten Schlangenleib. Und fast sofort begann dieser Bogen kleiner zu werden: auf der Steuerbordseite lag die Seeschlange schon fast auf der Bordwand der »Morgenröte« auf.

Eustachius (der sich wirklich sehr angestrengt hatte, sich zu bessern, bis ihn der Regen und das Schachspielen wieder in sein altes Verhalten zurückgeworfen hatten) zeigte jetzt die erste mutige Tat seines Lebens. Er trug ein Schwert, das ihm Kaspian geliehen hatte. Sobald der Körper der Schlange auf der Steuerbordseite in Reichweite war, sprang er auf die Bordwand und begann mit aller Kraft, auf den Schlangenkörper einzuhacken. Es stimmt zwar, daß er dadurch nichts erreichte, abgesehen davon, daß er Kaspians zweitbestes Schwert ruinierte, aber für einen Anfanger war es immerhin eine schöne Leistung.

Die anderen hätten ihm beigestanden, wenn nicht Riepischiep in diesem Moment gerufen hätte: »Nicht kämpfen! Schieben!« Es war so ungewöhnlich, daß die Maus befahl, nicht zu kämpfen, daß sich ihr selbst in diesem schrecklichen Moment alle Augen zuwandten. Und als Riepischiep vor der Schlange auf die Reling sprang und sich mit seinem kleinen pelzigen Rücken gegen den riesigen, schuppigen und schlüpfrigen Körper stemmte und mit aller Kraft preßte, begriffen viele, was er meinte, und verteilten sich auf beiden Seiten des Schiffes, um das gleiche zu tun. Und als einen Augenblick später der Kopf der Schlange wieder erschien – diesmal an der Backbordseite und mit dem Rücken zu ihnen –, da verstanden es alle.

Das Ungeheuer hatte sich zu einer Schleife um die »Morgenröte« gelegt und begann jetzt, die Schleife festzuziehen.

Sobald die Schleife festgezogen war – schwupp –, würde das Schiff, zu hundert Einzelteilen zerbrochen, dahintreiben, und die Seeschlange könnte einen nach dem anderen aus dem Wasser fischen. Die einzige Möglichkeit war, die Schleife nach hinten zu schieben, bis sie über das Heck glitt; oder – so könnte man es auch ausdrücken – das Schiff nach vorne aus der Schleife herauszuschieben.

Allein hätte Riepischiep natürlich genausogut versuchen können, eine Kathedrale anzuheben, aber er hatte sich in seiner Anstrengung schon fast umgebracht, bevor ihn die anderen zur Seite stießen. Schon bald stand die ganze Schiffsmannschaft außer Lucy und der Maus (die war nämlich bewußtlos) in zwei langen Reihen an den beiden Bordwänden entlang. Jeder Mann stand mit der Brust gegen den Rücken seines Vordermannes gepreßt, so daß die ganze Last auf dem letzten Mann ruhte. Alle schoben um ihr Leben. Ein paar schreckliche Sekunden lang (die ihnen wie Stunden vorkamen) schien nichts zu geschehen. Gelenke knackten, Schweiß tropfte, keuchend wurde der Atem ausgestoßen. Dann spürten sie, daß das Schiff sich bewegte. Sie sahen, daß die Schlangenschleife weiter vom Mast entfernt war als zuvor. Aber sie sahen auch, daß die Schleife kleiner geworden war. Und jetzt drohte eine weitere Gefahr. Konnten sie die Schleife über das Achterdeck hinwegschieben, oder war sie schon zu eng? Ja. Sie paßte gerade noch darüber. Sie ruhte auf dem Geländer des Achterdecks. Ein Dutzend Männer oder mehr stürzten auf das Achterdeck. Jetzt ging es viel besser. Der Körper der Seeschlange lag nun so tief, daß die Männer sich nebeneinander aufstellen und Seite an Seite schieben konnten. Sie begannen Hoffnung zu schöpfen, bis ihnen das hochgezogene geschnitzte Heck, der Drachenschwanz, einfiel. Es war völlig unmöglich, das Ungeheuer darüber hinwegzuschieben.

»Eine Axt!« schrie Kaspian heiser. »Und weiterschieben!«

Lucy, die auf dem Hauptdeck stand und zum Achterdeck hinaufschaute, hörte ihn. Sie wußte, wo alles verstaut war. In Sekundenschnelle war sie unter Deck, ergriff die Axt und raste die Leiter zum Achterdeck hinauf. Aber gerade als sie oben ankam, erklang ein lautes Krachen wie von einem umfallenden Baum. Das Schiff schwankte und schoß vorwärts. Denn im selben Augenblick war der ganze geschnitzte Teil des Hecks abgebrochen, und das Schiff war frei – entweder weil sie die Seeschlange so fest geschoben hatten oder weil diese törichterweise beschlossen hatte, die Schleife zuzuziehen.

Die anderen waren zu erschöpft, um zu sehen, was Lucy sah. Dort, ein paar Meter hinter dem Schiff, wurde die Schleife des Seeschlangenkörpers immer kleiner und verschwand im aufspritzenden Wasser. Lucy behauptete hinterher, sie hätte auf dem Gesicht des Ungeheuers einen Ausdruck von idiotischer Befriedigung gesehen. (Aber natürlich war sie in diesem Augenblick sehr aufgeregt, und vielleicht bildete sie sich das nur ein.) Doch es ist sicher, daß die Seeschlange ein sehr dummes Tier war, denn anstatt das Schiff zu verfolgen, drehte sie den Kopf nach hinten und beschnupperte ihren ganzen Körper, als erwarte sie, dort das Wrack der »Morgenröte« zu finden. Aber die »Morgenröte« segelte vor einem frischen Wind und war schon weit weg. Die Männer lagen und saßen keuchend und stöhnend an Deck, bis sie in der Lage waren, über das ganze Abenteuer zu reden und dann auch darüber zu lachen. Und als ein wenig Rum verteilt worden war, erklang sogar ein Hurraruf. Alle lobten den Mut von Eustachius (obwohl er nichts genutzt hatte) und den von Riepischiep.

Danach segelten sie drei Tage lang weiter, ohne etwas zu sehen außer Meer und Himmel. Am vierten Tag drehte sich der Wind nach Norden, und die Wellen wurden höher. Bis zum Nachmittag war der Wind schon fast zum Sturm geworden. Aber zu dieser Zeit sichteten sie Land in Richtung Backbord.

»Wenn Ihr gestattet, Herr«, sagte Drinian, »werden wir versuchen, in den Windschatten der Insel zu rudern und dort vor Anker zu liegen, bis der Sturm vorbei ist.«

Kaspian stimmte zu. Aber sie mußten mühsam gegen den Sturm rudern, und so erreichten sie die Insel erst am Abend. Im letzten Licht des Tages steuerten sie in einen natürlichen Hafen und ankerten. Doch in dieser Nacht ging keiner an Land. Am Morgen fanden sie sich in der grünen Bucht einer zerklüfteten, einsamen Insel, die sich zu einem felsigen Gipfel erhob. Aus dem windigen Norden hinter dem Gipfel wurden rasch Wolken angetrieben. Sie ließen das Boot ab und beluden es mit all den Wasserfässern, die inzwischen leer waren.

»In welchem Bach sollen wir Wasser fassen, Drinian?« fragte Kaspian, als er im Heck des Bootes Platz nahm. »Es scheint zwei Bäche zu geben, die in die Bucht münden.«

»Es macht nicht viel Unterschied, Herr«, sagte Drinian. »Aber ich glaube, der Bach in Richtung Steuerbord, dort im Osten, liegt näher.«

»Es fängt an zu regnen!« bemerkte Lucy.

»Und ob!« bestätigte Edmund, denn es hatte schon angefangen, kräftig zu schütten. »Ich würde vorschlagen, zu dem anderen Bach zu rudern. Dort gibt es Bäume, und wir können uns unterstellen.«

»Ja, das sollten wir tun«, sagte Eustachius. »Wir brauchen nicht nasser zu werden als unbedingt nötig.«

Doch Drinian steuerte unentwegt nach steuerbord, so wie starrköpfige Autofahrer, die mit sechzig Stundenkilometern weiterfahren, während man ihnen erklärt, daß sie falsch gefahren sind.

»Mein Freund hat recht, Drinian«, sagte Kaspian.

»Warum wendet Ihr nicht und haltet auf den westlichen Bach zu?«

»Wie Eure Majestät wünscht«, entgegnete Drinian kurz angebunden. Von Landratten ließ er sich nicht gerne Ratschläge erteilen. Aber er änderte den Kurs, und später stellte sich heraus, daß er damit gut beraten gewesen war.

Ehe sie mit dem Wasserfassen fertig waren, hatte der Regen aufgehört, und Kaspian, Eustachius, Edmund, Lucy und Riepischiep faßten den Entschluß, zur Bergspitze hochzusteigen und sich umzuschauen. Es war eine anstrengende Kletterei durch grobes Gras und Heidekraut. Sie sahen keine Menschenseele und auch keine Tiere, abgesehen von ein paar Seemöwen. Als sie die Spitze erreichten, stellten sie fest, daß es nur eine kleine Insel war, die sich höchstens über zwanzig Morgen erstreckte. Von dieser Höhe sah das Meer größer und verlassener aus als vom Deck und selbst von der Kampfplattform der »Morgenröte« aus.

»Es ist verrückt«, sagte Eustachius leise zu Lucy und blickte zum östlichen Horizont. »Wir segeln und segeln weiter und haben keine Ahnung, wohin uns das führt.«

Aber er sagte das nur aus einer alten Gewohnheit heraus, und er meinte es nicht so böse wie noch vor einiger Zeit.

Es war zu kalt, um lange auf dem Bergkamm zu bleiben, denn der Wind blies noch immer kräftig von Norden.

»Laßt uns auf einem anderen Weg zurücklaufen«, sagte Lucy, als sie sich zum Gehen wandten. »Laßt uns noch ein Stück weitergehen und zu dem anderen Bach hinunterklettern, zu dem Drinian rudern wollte.«

Alle waren einverstanden, und nach etwa fünfzehn Minuten erreichten sie den Ursprung des anderen Baches. Es war eine interessantere Gegend, als sie erwartet hatten. Sie befanden sich an einem tiefen kleinen Bergsee, der – bis auf einen schmalen Durchlaß an der dem Meer zugewandten Seite, durch den das Wasser abfloß – ringsum von Felsen eingerahmt war. Hier war es endlich windstill, und so setzten sie sich ins Heidekraut, um sich auszuruhen.

Alle setzten sich, und nur einer (es war Edmund) sprang rasch wieder auf.

»Scharfkantige Steine gibt es hier auf der Insel!« rief er und suchte im Heidekraut herum. »Wo ist denn das blöde Ding?. Ach, da ist es ... Hoppla! Es ist gar kein Stein –es ist eine Schwertschneide. Nein, ach du liebe Güte, es ist ein ganzes Schwert oder zumindest das, was der Rost übriggelassen hat! Es muß schon ewig hier liegen!«

»Und ist sogar narnianisch, so, wie es aussieht«, sagte Kaspian, als sie es alle umstanden.

»Ich sitze auch auf etwas«, sagte Lucy. »Auf etwas Hartem.« Es entpuppte sich als die Überreste eines Harnischs. Inzwischen krochen alle auf Händen und Füßen herum und tasteten in allen Richtungen das dichte Heidekraut ab. Nach und nach kam folgendes zum Vorschein: ein Helm, ein Dolch und ein paar Münzen – keine kalormenischen Kreszents, sondern original narnianische »Löwen« und »Bäume«, wie man sie jeden Tag auf dem Marktplatz von Biberdamm oder Beruna sieht.

»Scheint so, als wäre das alles, was von einem unserer sieben Lords übriggeblieben ist«, sagte Edmund.

»Das habe ich auch gerade gedacht«, sagte Kaspian. »Welcher von ihnen es wohl gewesen sein mag? Auf dem Dolch ist nichts, woran man es erkennen könnte. Ich frage mich, wie er wohl gestorben ist.«

»Und wie wir ihn rächen können«, fügte Riepischiep hinzu.

Edmund, der einzige der Gruppe, der schon mehrere Kriminalromane gelesen hatte, hatte in der Zwischenzeit nachgedacht.

»Schaut mal!« sagte er. »Irgend etwas an dieser Sache ist sehr eigenartig. Er kann nicht im Kampf gestorben sein.«

»Warum nicht?« fragte Kaspian.

»Keine Knochen«, sagte Edmund. »Ein Feind würde vielleicht die Rüstung mitnehmen und den Körper liegen lassen. Aber hat schon irgend jemand etwas davon gehört, daß der Sieger in einem Kampf den Körper wegträgt und die Rüstung liegen läßt?«

»Vielleicht ist er von einem wilden Tier getötet worden?« schlug Lucy vor.

»Das müßte aber ein kluges Tier sein«, sagte Edmund, »wenn es einem Mann erst den Harnisch auszieht.«

»Vielleicht war es ein Drache?« schlug Kaspian vor.

»Unmöglich«, entgegnete Eustachius. »Ein Drache kann das nicht. Ich muß es ja schließlich wissen.«

»Laßt uns auf jeden Fall von hier weggehen«, meinte Lucy. Seit Edmund die Sache mit den Knochen angesprochen hatte, war ihr die Lust vergangen, sich hinzusetzen.

»Wenn du meinst«, sagte Kaspian und stand auf. »Ich glaube nicht, daß es sich lohnt, von diesen Sachen etwas mitzunehmen.«

Sie kletterten hinab zu dem kleinen Durchlaß, wo der Bach aus dem Teich trat, und schauten auf das tiefe, rundum von Felsen eingerahmte Wasser. Wenn es heiß gewesen wäre, dann wären einige bestimmt in Versuchung geraten, ein Bad zu nehmen, und alle hätten getrunken. Eustachius wollte sich gerade hinabbeugen und ein wenig Wasser mit den Händen herausschöpfen, als Riepischiep und Lucy im gleichen Moment riefen: »Schaut!« So vergaß er das Trinken und schaute.

Der Grund des Sees bestand aus großen graublauen Steinen, und das Wasser war vollkommen klar. Auf dem Grund lag eine lebensgroße Männergestalt, die offensichtlich aus Gold war. Sie lag mit dem Gesicht nach unten und hatte die Arme über den Kopf gestreckt. Und gerade als sie ihn anschauten, teilten sich die Wolken, die Sonne trat hervor und erleuchtete die goldene Figur in ihrer ganzen Länge. Es war die schönste Statue, die Lucy jemals gesehen hatte.

»Meine Güte!« Kaspian stieß einen Pfiff aus. »Der weite Weg hat sich doch gelohnt! Ob wir sie wohl herausbekommen?«

»Wir können danach tauchen, Herr«, sagte Riepischiep.

»Das geht nicht«, wandte Edmund ein. »Zumindest nicht, wenn es tatsächlich Gold – massives Gold – ist. Dann ist es viel zu schwer. Und dieser Teich ist mindestens vier oder fünf Meter tief. Aber Moment mal! Gut, daß ich einen Jagdspeer mitgenommen habe. Laßt sehen, wie tief es hier wirklich ist. Halte meine Hand fest, Kaspian, während ich mich vorbeuge.«

Kaspian nahm seine Hand, und Edmund lehnte sich vor und begann, seinen Spieß ins Wasser hinabzulassen.

Bevor er noch zur Hälfte verschwunden war, sagte Lucy: »Ich glaube nicht, daß die Statue aus Gold ist. Es ist nur das Licht. Dein Speer hat genau die gleiche Farbe.«

»Was ist los?« fragten mehrere Stimmen auf einmal, denn Edmund hatte den Speer ganz plötzlich losgelassen.

»Ich konnte ihn nicht mehr halten«, keuchte Edmund. »Er schien plötzlich so schwer zu sein.«

»Da liegt er jetzt auf dem Grund«, sagte Kaspian. »Und Lucy hat recht. Er hat genau die gleiche Farbe wie die Statue.«

Edmund, der offensichtlich mit seinen Stiefeln Schwierigkeiten hatte – er bückte sich gerade und untersuchte sie –, richtete sich plötzlich auf und rief mit scharfer Stimme:

»Zurück! Weg vom Wasser! Alle! Sofort!«

Sie gehorchten und starrten ihn an.

»Seht her!« sagte Edmund. »Schaut euch die Spitzen meiner Stiefel an!«

»Sie sehen ein bißchen gelblich aus«, begann Eustachius.

»Sie sind ganz und gar golden!« unterbrach Edmund.

»Schaut sie euch an! Befühlt sie! Das Leder hat sich schon abgelöst. Und sie sind so schwer wie Blei.«

»Bei Aslan!« rief Kaspian. »Du willst doch wohl nicht sagen ...«

»Doch, das will ich«, sagte Edmund. »Das Wasser verwandelt die Dinge in Gold. Es hat den Speer in Gold verwandelt, deshalb wurde er so schwer. Es ist lediglich gegen meine Füße geschwappt (glücklicherweise war ich nicht barfuß!), und schon haben sich die Stiefelspitzen in Gold verwandelt. Und dieser arme Kerl am Grund – na ja, ihr könnt euch ja vorstellen, was mit ihm geschehen ist.«

»Also ist es gar keine Statue«, sagte Lucy leise.

»Nein. Jetzt ist alles klar. Er war an einem heißen Tag hier. Er hat sich oben auf den Felsen ausgezogen – dort, wo wir gesessen haben. Die Kleider sind zerfallen, oder die Vögel haben sie mitgenommen, um ihr Nest damit auszupolstern; die Rüstung ist noch da. Dann ist er ins Wasser gesprungen und ...«

»Hör auf!« sagte Lucy. »Wie schrecklich!«

»Um ein Haar hätte es uns auch erwischt«, sagte Edmund.

»Sehr richtig«, meinte Riepischiep. »Jedermanns Finger, jedermanns Schnurrbart oder jedermanns Schwanz hätte jederzeit mit dem Wasser in Berührung kommen können.«

»Wir können es trotzdem einmal nachprüfen«, schlug Kaspian vor. Er bückte sich und riß ein Büschel Heidekraut aus. Dann kniete er sich sehr vorsichtig an den Teich und tauchte es ein. Das Heidekraut, das er herauszog, war aus reinstem Gold und so schwer und so weich wie Blei.

»Der König, dem diese Insel gehörte, wäre schon bald der reichste König dieser Welt«, sagte Kaspian langsam, und sein Gesicht wurde ganz rot, während er sprach. »Ich erkläre diese Insel hiermit als zu Narnia gehörig. Sie soll den Namen Goldwasserinsel erhalten. Ich verlange absolutes Stillschweigen von euch. Keiner darf davon wissen.

Nicht einmal Drinian – jede Zuwiderhandlung wird mit dem Tode bestraft!«

»Wem sagst du das eigentlich?« fragte Edmund. »Ich bin keiner deiner Untertanen. Eher ist es umgekehrt. Ich bin einer der vier Könige von Narnia, und du stehst unter dem Eid meines Bruders, des höchsten Königs.«

»So weit ist es also gekommen, König Edmund!« sagte Kaspian und legte die Hand auf den Griff seines Schwertes.

»Oh, hört auf, alle beide!« rief Lucy. »Das ist das Schlimmste, wenn man mit Jungen etwas unternimmt. Ihr seid angeberische und brutale Idioten – oooh! ...« Ihre Stimme verwandelte sich in ein Keuchen. Und alle anderen sahen ebenfalls, was sie sah.

Über dem grauen Berg vor ihnen – er war grau, weil das Heidekraut noch nicht blühte –, geräuschlos und ohne sie anzusehen und so strahlend, als wäre er in leuchtendes Sonnenlicht gebadet, obwohl die Sonne untergegangen war, ging langsam der größte Löwe entlang, den je ein menschliches Auge erblickt hat. Später sagte Lucy: »Er war so groß wie ein Elefant«, und ein anderes Mal sagte sie nur: »So groß wie ein Kutschergaul.« Aber auf die Größe kam es nicht an. Niemand wagte zu fragen, wer das gewesen sein mochte. Sie wußten, daß es Aslan gewesen war.

Keiner von ihnen sah, wohin er ging. Sie blickten einander an wie Leute, die eben aus tiefem Schlaf erwachen.

»Worüber haben wir geredet?« fragte Kaspian. »Habe ich mich furchtbar schlecht benommen?«

»Herr«, sagte Riepischiep. »Dies ist ein Ort, auf dem ein Fluch liegt. Laßt uns sofort an Bord zurückkehren. Und wenn mir die Ehre zukäme, dieser Insel einen Namen zu geben, dann würde ich sie Todeswasserinsel nennen.«

»Das scheint mir ein sehr guter Name zu sein, Riep«, sagte Kaspian. »Obwohl ich nicht weiß, warum, wenn ich mir’s recht überlege. Aber das Wetter scheint sich zu beruhigen, und ich nehme an, daß Drinian gerne aufbrechen würde. Wir werden ihm eine Menge zu erzählen haben!«

Aber in Wirklichkeit hatten sie nicht viel zu erzählen, denn ihre Erinnerung an die letzte halbe Stunde war ganz verschwommen.

»Ihre Majestäten schienen alle ein wenig behext zu sein, als sie an Bord kamen«, sagte Drinian ein paar Stunden später zu Rhince, als die »Morgenröte« wieder unter Segel stand und die Todeswasserinsel hinter dem Horizont verschwunden war. »Irgend etwas ist ihnen dort zugestoßen. Das einzige, was ich begriffen habe, ist, daß sie den Körper von einem dieser Lords gefunden haben, die wir suchen.«

»Was Ihr nicht sagt, Kapitän«, antwortete Rhince. »Das macht also drei. Jetzt sind es nur noch vier. Wenn wir mit dieser Geschwindigkeit weitermachen, dann wäre es möglich, daß wir schon bald nach Neujahr zu Hause sind. Und das trifft sich gut. Mein Tabak wird langsam ein wenig knapp! Gute Nacht, Herr.«

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