16. Das äußerste Ende der Welt

Neben Drinian, Edmund und Lucy war Riepischiep der einzige an Bord, der die Meermenschen gesehen hatte. Er war sofort ins Wasser gesprungen, als er sah, wie der Meerkönig mit dem Speer drohte, denn er hielt dies für eine Art Warnung oder Herausforderung, und er wollte die Sache an Ort und Stelle klären. Aber die aufregende Entdeckung, daß das Wasser nicht mehr salzig war, hatte ihn abgelenkt, und bevor ihm die Meermenschen wieder in den Sinn kamen, hatten ihn Lucy und Drinian beiseite genommen und ihn gebeten, nichts darüber zu sagen, was er gesehen hatte.

So, wie die Dinge sich entwickelten, hätten sie sich ihre Befürchtungen sparen können, denn inzwischen glitt die »Morgenröte« über einen Teil des Meeres, der unbewohnt zu sein schien. Niemand außer Lucy sah jemals noch etwas von den Meermenschen, und selbst sie erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick. Den ganzen Vormittag des nächsten Tages über segelten sie in flachem Wasser über dichtbewachsenem Grund. Kurz vor Mittag sah Lucy eine große Gruppe von Fischen zwischen den Meerespflanzen weiden. Sie aßen unentwegt und bewegten sich alle in die gleiche Richtung. Genau wie eine Schafherde, dachte Lucy. Plötzlich sah sie inmitten der Fische ein kleines Meermädchen, das etwa genauso alt war wie sie selbst. Es blickte ruhig und einsam und hielt eine Art Hirtenstab in der Hand. Lucy war sicher, daß dies eine Schäferin – oder eher eine Fischhirtin – war. Sowohl die Fische als auch das Mädchen befanden sich ziemlich dicht unter der Oberfläche. Gerade als sich Lucy, die sich über die Reling lehnte, über dem im seichten Wasser dahingleitenden Mädchen befand, schaute das Mädchen auf und blickte Lucy genau ins Gesicht. Keine von beiden konnte etwas zur anderen sagen, und schon einen Augenblick später verschwand das Mädchen nach achtern. Aber das Gesicht vergaß Lucy nie. Es war nicht erschrocken oder ärgerlich wie die Gesichter der anderen Meermenschen. Lucy hatte das Mädchen liebgewonnen, und sie war sicher, daß das Mädchen für sie das gleiche empfunden hatte. In diesem einen Augenblick waren sie Freundinnen geworden.

Danach glitt die »Morgenröte« viele Tage lang ohne Wind in den Segeln und ohne Schaum vor dem Bug über ein wellenloses Meer nach Osten. Jeden Tag und jede Stunde wurde das Licht strahlender, und doch wurde es nicht unerträglich. Keiner aß, keiner schlief, und keiner verspürte den Wunsch dazu. Aber sie zogen viele Eimer des schimmernden Wassers aus dem Meer, das stärker war als Wein und auch irgendwie flüssiger als gewöhnliches Wasser, und mit tiefen Zügen tranken sie sich gegenseitig zu. Und dieser und jener der Matrosen, die zu Beginn der Reise ältere Männer gewesen waren, wurden jetzt von Tag zu Tag jünger. Alle an Bord waren erfüllt von Freude und Erregung, aber es war keine Erregung, die zum Reden verführt. Je weiter sie segelten, desto weniger sprachen sie, und wenn sie sprachen, dann flüsterten sie. Die Stille dieses letzten Meeres hatte von ihnen Besitz ergriffen.

»Mein Lord«, sagte Kaspian eines Tages zu Drinian. »Was seht Ihr vor uns?«

»Herr«, antwortete Drinian. »Ich sehe etwas Weißes. Es reicht über den ganzen Horizont, von Norden nach Süden, so weit meine Augen reichen.«

»Das gleiche sehe auch ich«, sagte Kaspian. »Und ich kann mir nicht vorstellen, was das sein könnte.«

»Wenn wir uns in nördlicheren Breiten befänden, Eure Majestät«, sagte Drinian, »dann würde ich sagen, es sei Eis. Aber das kann es nicht sein; nicht hier. Trotzdem sollten wir Männer an die Ruder schicken, die das Schiff gegen die Strömung anhalten. Was immer das Zeug ist, wir wollen nicht mit dieser Geschwindigkeit hineinfahren!«

Dies geschah, und das Schiff wurde immer langsamer. Das weiße Etwas enthüllte auch beim Näherkommen sein Geheimnis nicht. Wenn es Land war, so mußte es ein sehr seltsames Land sein, denn es schien genauso glatt zu sein wie das Wasser, und es schien auf der gleichen Ebene zu liegen. Als sie ganz nahe herangekommen waren, warf Drinian das Steuer herum und drehte die »Morgenröte« nach Süden, so daß sie der Breite nach im Strom lag. Dann ließ er ein Stück am Rand der weißen Masse entlangrudern. Dabei machten sie eine wichtige Entdeckung: die Strömung war nur etwa zwölf Meter breit, und der Rest des Meeres lag so ruhig wie ein Teich da. Das war eine gute Neuigkeit für die Mannschaft, die schon befürchtet hatte, die Rückfahrt zum Lande Ramandus könne sich als recht unangenehm erweisen, wenn man die ganze Strecke gegen die Strömung rudern mußte.

Und noch immer konnte keiner herausfinden, was diese weiße Masse war. Dann wurde das Boot hinuntergelassen und ausgeschickt, um Nachforschungen anzustellen. Diejenigen, die auf der »Morgenröte« geblieben waren, konnten sehen, daß sich das Boot genau in die weiße Masse hineinschob. Sie hörten über das stille Wasser ganz klar die schrillen und überraschten Stimmen der Gruppe im Boot. Dann herrschte Stille, während Rynelf am Bug eine Tiefenlotung vornahm; und als das Boot danach wieder zurückkam, schien eine Menge von der weißen Masse darin zu liegen. Alle versammelten sich an der Reling, um zu hören, was es zu berichten gab.

»Es sind Lilien, Eure Majestät!« rief Rynelf, der im Bug des Bootes stand.

»Was hast du gesagt?« fragte Kaspian.

»Es sind blühende Wasserlilien, Eure Majestät«, sagte Rynelf. »So wie in einem Gartenteich zu Hause.«

»Schaut!« rief Lucy, die im Heck des Bootes saß. Sie hielt ihre nassen Arme hoch, die voll waren mit weißen Blütenblättern und breiten, glatten Blättern.

»Wie tief ist es, Rynelf?« fragte Drinian.

»Das ist das eigenartige daran, Kapitän«, sagte Rynelf. »Es ist immer noch tief. Dreieinhalb Faden.«

»Dann können es keine richtigen Wasserlilien sein – auf jeden Fall nicht das, was wir so nennen«, sagte Eustachius.

Vermutlich stimmte das auch, aber sie sahen ganz ähnlich aus. Und als die »Morgenröte« nach einigen Diskussionen in die Strömung zurückdrehte und begann, nach Osten durch das Lilienmeer oder das Silbermeer zu gleiten (sie versuchten es mit beiden Namen, aber schließlich blieb der Name Silbermeer hängen, und der steht jetzt auf Kaspians Karte), begann der seltsamste Teil ihrer Reise. Schon bald war das offene Meer hinter ihnen nur noch ein schmaler blauer Streifen am westlichen Horizont. Das Weiß mit einem schwachen goldenen Schimmer erstreckte sich nach allen Seiten, und nur hinter dem Schiff, dort, wo es die Wasserlilien auseinandergeschoben hatte, lag ein offener, wie dunkelgrünes Gras schimmernder Weg. Dieses Meer hier sah ganz ähnlich aus wie die Arktis; und wenn ihre Augen nicht inzwischen so stark geworden wären wie die eines Adlers, dann wäre die Sonne auf all dem Weiß unerträglich gewesen – besonders am frühen Morgen, wo die Sonne am größten war. Am Abend hatte das Weiß zur Folge, daß es länger hell blieb. Die Lilien schienen kein Ende zu nehmen. Tag für Tag entströmte diesem endlosen Blumenteppich ein Geruch, den Lucy kaum beschreiben konnte – er war süß, ja, aber keinesfalls betäubend, es war ein frischer, wilder, einsamer Duft, der ins Gehirn einzudringen schien, so daß man meinte, man könne im Laufschritt Berge besteigen oder mit einem Elefanten einen Ringkampf austragen. Lucy und Kaspian sagten zueinander: »Ich habe das Gefühl, ich kann es nicht mehr lange aushalten, aber ich will auch nicht, daß es aufhört.«

Sie loteten oft die Tiefe, aber erst ein paar Tage später begann das Wasser, allmählich immer flacher zu werden. Schließlich kam ein Tag, an dem sie aus der Strömung herausrudern und sich im Schneckentempo vorwärtstasten mußten. Und schon bald war klar, daß sie mit der »Morgenröte« nicht weiter nach Osten segeln konnten. Tatsächlich schafften sie es nur durch sehr geschicktes Manövrieren, nicht auf Grund zu laufen.

»Setzt das Boot aus!« rief Kaspian. »Und ruft die Männer nach hinten! Ich muß mit ihnen reden.«

»Was hat er vor?« flüsterte Eustachius Edmund zu. »Er hat einen eigenartigen Ausdruck in den Augen.«

»Ich vermute, daß wir alle gleich aussehen«, sagte Edmund.

Sie gesellten sich zu Kaspian auf das Achterdeck, und schon bald hatten sich alle Männer am Fuß der Leiter versammelt, um zu hören, was ihr König ihnen zu sagen hatte.

»Freunde«, sagte Kaspian. »Wir haben jetzt die Aufgabe erfüllt, zu der wir aufgebrochen sind. Das Verbleiben der sieben Lords ist aufgeklärt, und da Sir Riepischiep geschworen hat, nicht mehr zurückzukehren, werden Lord Revilian, Lord Argoz und Lord Mavramorn sicher erwacht sein, wenn ihr zum Lande Ramandus zurückkehrt. Ich vertraue Euch, Lord Drinian, dieses Schiff an und bitte Euch, so schnell wie möglich nach Narnia zurückzusegeln – und vor allem nicht an der Todeswasserinsel zu landen. Und bittet meinen Regenten, den Zwerg Trumpkin, all meinen Schiffsgenossen das zu geben, was ich ihnen versprochen habe. Sie haben es redlich verdient. Und wenn ich nicht zurückkehre, so ist es mein Wille, daß Trumpkin, Meister Cornelius, der Dachs Trüffeljäger und Lord Drinian den König von Narnia wählen, mit der Einwilligung ...«

»Aber Herr!« unterbrach Drinian. »Wollt Ihr abdanken?«

»Ich gehe mit Riepischiep, um das Ende der Welt zu sehen«, antwortete Kaspian.

Ein entsetztes Murmeln lief durch die Reihen der Matrosen.

»Wir werden das Boot nehmen«, sagte Kaspian. »Ihr werdet es in diesen ruhigen Meeren nicht brauchen, und auf der Insel Ramandus könnt ihr ein neues bauen. Und jetzt.«

»Kaspian!« unterbrach Edmund plötzlich mit strenger Stimme. »Das kannst du nicht tun!«

»Ganz gewiß kann Seine Majestät das nicht!« bestätigte Riepischiep.

»Nein, auf keinen Fall«, sagte Drinian.

»Ich kann nicht?« fragte Kaspian scharf und sah einen Moment lang seinem Onkel Miraz recht ähnlich.

»Ich bitte Eure Majestät um Verzeihung«, rief Rynelf, der unten an Deck stand, »aber wenn das einer von uns täte, dann würde man es ›desertieren‹ nennen!«

»Du nimmst dir auf Grund deiner langen Dienstzeit zu viel heraus, Rynelf!« sagte Kaspian.

»Nein, Herr! Er hat vollkommen recht!« sagte Drinian.

»Bei der Mähne Aslans«, erwiderte Kaspian. »Ich habe gedacht, ihr alle wärt meine Untertanen und nicht meine Schulmeister.«

»Ich bin nicht dein Untertan«, widersprach Edmund, »und ich sage, daß du das nicht tun kannst!«

»Ich kann nicht?« fragte Kaspian. »Was meinst du damit?«

»Wenn es Eurer Majestät beliebt, so meinen wir, Ihr dürft nicht!« sagte Riepischiep mit einer tiefen Verbeugung. »Ihr seid der König von Narnia, Ihr verscherzt das Vertrauen Eurer Untertanen und vor allem das von Trumpkin, wenn Ihr nicht zurückkehrt. Ihr dürft Euch nicht mit Abenteuern vergnügen, als wäret Ihr nur eine Privatperson. Und wenn Ihr keine Vernunft annehmt, dann verlangt die Treue, daß mir jeder Mann an Bord dabei hilft, Euch zu entwaffnen und zu fesseln, bis Ihr wieder bei Sinnen seid.«

»Ganz richtig«, sagte Edmund. »Wie man es mit Odysseus machte, als er zu den Sirenen wollte.«

Kaspians Hand lag auf dem Griff seines Schwertes, als Lucy sagte: »Und du hast der Tochter Ramandus fest versprochen, zurückzukehren.«

Kaspian schwieg. »Nun ja. Das mag sein«, sagte er schließlich. Er stand einen Moment lang unentschlossen da, dann rief er allen zu: »Nun, wie ihr wollt. Unsere Mission ist beendet. Wir kehren alle zurück. Holt das Boot wieder ein!«

»Herr«, sagte Riepischiep, »wir kehren nicht alle zurück. Ich werde, wie ich zuvor erklärt habe ...«

»Ruhe!« donnerte Kaspian. »Ich habe mich belehren lassen, aber ich lasse mich nicht noch länger plagen! Kann niemand diese Maus zum Schweigen bringen?«

»Eure Majestät hat versprochen«, sagte Riepischiep, »den Sprechenden Tieren von Narnia ein guter Herr zu sein.«

»Für die Sprechenden Tiere trifft das zu«, entgegnete Kaspian. »Aber über Tiere, die nie aufhören zu reden, habe ich nichts gesagt!« Wutentbrannt stürzte er die Treppe hinunter, ging in die Kabine und schlug die Tür zu.

Aber als die anderen sich ein Weilchen später zu ihm gesellten, war er völlig verändert. Er war ganz weiß im Gesicht und hatte Tränen in den Augen.

»Das war nicht gut«, sagte er, »wie ich mich vorhin benommen habe. Mein Zorn und meine Prahlerei haben zu nichts geführt. Aslan hat zu mir gesprochen. Nein – ich meine damit nicht, daß er wirklich hier war. Er würde ja gar nicht in die Kabine passen. Aber dieser goldene Löwenkopf an der Wand ist zum Leben erwacht und sprach zu mir. Es war schrecklich – seine Augen! Nicht, daß er böse zu mir gewesen wäre – nur am Anfang ein wenig streng. Trotzdem war es schrecklich. Und er sagte ... er sagte ... oh, ich kann es nicht ertragen. Das Schlimmste, was er sagen konnte. Ihr müßt weiterrudern – Riep und Edmund und Lucy und Eustachius; und ich muß zurück. Allein. Und sofort. Wozu soll das bloß gut sein?«

»Kaspian, mein Lieber«, sagte Lucy. »Du wußtest doch, daß wir früher oder später in unsere Welt zurückmüssen!«

»Ja«, sagte Kaspian. »Aber dies ist früher!«

»Du wirst dich besser fühlen, wenn du zum Lande Ramandus zurückkehrst«, sagte Lucy.

Ein Weilchen später wurde er wieder etwas fröhlicher, aber auf beiden Seiten war es ein kummervoller Abschied, und ich will nicht viel darüber sagen. Gut ausgerüstet mit Lebensmitteln und Wasser (obwohl sie der Ansicht waren, sie brauchten weder zu essen noch zu trinken) und mit Riepischieps Weidenboot an Bord, legte das Boot etwa um zwei Uhr nachmittags von der »Morgenröte« ab, um durch den endlosen Lilienteppich zu rudern. Als letzten Gruß zeigte die »Morgenröte« all ihre Flaggen, und die Schilde der Männer wurden hinausgehängt. Von ihrem kleinen Boot aus, umgeben von all den Lilien, erschien ihnen die »Morgenröte« hoch und breit und heimelig. Sie waren noch recht nah, als sie sahen, wie das Schiff wendete und langsam nach Westen gerudert wurde. Aber obwohl Lucy ein paar Tränen vergoß, war sie noch nicht so traurig, wie man vielleicht erwartet hätte. Das Licht, die Stille, der prickelnde Duft des Silbermeeres und (eigenartigerweise) sogar die Einsamkeit selbst war zu aufregend.

Sie mußten nicht rudern, denn die Strömung trieb sie stetig nach Osten. Keiner von ihnen aß oder schlief. Die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag über bewegten sie sich in Richtung Osten, und als der dritte Tag anbrach – mit einer Helligkeit, die weder ihr noch ich ertragen könnten, selbst wenn wir eine dunkle Brille aufhätten –, sahen sie vor sich ein Wunder. Es war, als stünde eine Mauer zwischen ihnen und dem Himmel, eine grüngraue, zitternde, schimmernde Wand. Dann stieg die Sonne auf, und schon beim ersten Auftauchen sahen die vier sie durch die Wand hindurch, und die Wand leuchtete in herrlichen Regenbogenfarben auf. Da wußten sie, daß die Wand in Wirklichkeit eine lange und hohe Welle war – eine Welle, die für immer an einer Stelle steht, so, wie man es oft an der Kante eines Wasserfalls sieht. Sie schien etwa zehn Meter hoch zu sein, und Edmund, Lucy, Eustachius und Riepischiep wurden von der Strömung rasch darauf zugetrieben. Man sollte meinen, sie dächten daran, wie gefährlich das werden konnte. Aber das taten sie nicht. Ich glaube nicht, daß dies irgend jemand in ihrer Lage getan hätte. Denn nicht nur hinter der Welle, sondern auch hinter der Sonne sahen sie jetzt etwas. Wenn das Wasser des letzten Meeres nicht ihre Augen gestärkt hätte, dann hätten sie nicht einmal die Sonne gesehen. Aber jetzt konnten sie die aufgehende Sonne betrachten, und gleichzeitig die Dinge dahinter erkennen. Was sie erblickten – im Osten, hinter der Sonne –, war ein Bergzug. Er war so hoch, daß sie seinen Gipfel entweder nie gesehen haben oder es später vergaßen. Keiner von ihnen erinnerte sich, darüber den Himmel gesehen zu haben. Und die Berge müssen wirklich außerhalb dieser Welt gewesen sein. Denn jeder Berg, der auch nur ein Viertel oder ein Zwanzigstel dieser Höhe hat, müßte eigentlich von Schnee und Eis bedeckt sein. Aber diese Berge waren warm und grün und bedeckt mit Wäldern und Wasserfällen, wie hoch man auch schauen mochte. Und plötzlich kam ein Wind von Osten, verwarf die Kante der Wand vor ihnen zu schaumigen Formen und wirbelte das ruhige Wasser um sie herum auf. Er dauerte nur eine Sekunde oder so, aber was der Wind in dieser Sekunde mit sich gebracht hatte, das vergaß keines der drei Kinder. Er brachte einen Duft und einen Klang – eine Musik. Edmund und Lucy sprachen später nie darüber. Lucy sagte nur: »Es brach einem das Herz.« – »Warum?« fragte ich. »War es so traurig?« – »Traurig? Nein!!« sagte Lucy.

Niemand im Boot bezweifelte, daß sie über das Ende der Welt hinaus in das Land Aslans schauten.

In diesem Augenblick fuhr das Boot knirschend auf Grund. Das Wasser war jetzt selbst für ihr Boot zu flach. »Von hier aus«, sagte Riepischiep, »gehe ich allein weiter.«

Sie versuchten nicht, ihn aufzuhalten, denn jetzt schien es so, als sei alles vom Schicksal bestimmt oder schon einmal geschehen. Sie halfen ihm, sein kleines Weidenboot zu Wasser zu lassen. Dann nahm er sein Schwert ab (»Ich werde es nicht mehr brauchen«, sagte er) und warf es weit hinaus auf das Lilienmeer. Dort, wo es herunterfiel, blieb es mit dem Griff nach oben stecken. Dann sagte er Lebewohl. Um ihretwillen versuchte er, traurig zu sein, aber er bebte vor Glück. Zum ersten und zum letzten Mal tat Lucy das, was sie immer hatte tun wollen – sie nahm ihn in die Arme und streichelte ihn. Dann stieg er hastig in sein Weidenboot und nahm das Paddel. Die Strömung ergriff ihn und trug ihn mit sich, und er hob sich dunkel von den Lilien ab. Doch auf der Wellenwand wuchsen keine Lilien; sie erhob sich glatt und grün. Das Weidenboot wurde schnell und schneller, und es sah wunderschön aus, wie es die Wellenwand emporschoß. Für den Bruchteil einer Sekunde sahen sie das Boot und Riepischiep hoch oben auf dem Kamm der Welle. Dann verschwand er, und seit dieser Zeit hat keiner mehr Riepischiep, die Große Maus, gesehen. Aber ich glaube, daß er sicher das Land Aslans erreicht hat und daß er dort noch immer lebt.

Während die Sonne emporstieg, verblaßten die außerhalb dieser Welt liegenden Berge. Die Wellenwand blieb, doch dahinter erstreckte sich nur noch blauer Himmel.

Die Kinder stiegen aus dem Boot und wateten – nicht auf die Welle zu, sondern nach Süden, mit der Wasserwand zu ihrer Linken. Sie hätten nicht sagen können, warum sie das taten – es war vom Schicksal bestimmt. Und obwohl sie sich auf der »Morgenröte« sehr erwachsen gefühlt hatten und dies auch tatsächlich gewesen waren, empfanden sie jetzt genau das Gegenteil und hielten sich an der Hand, während sie durch die Lilien wateten. Sie spürten keine Müdigkeit. Das Wasser war warm, und es wurde immer flacher. Schließlich gingen sie auf trockenem Sand und dann auf Gras – auf einer mit sehr feinem, kurzem Gras bedeckten Fläche, die fast auf gleicher Höhe mit dem Silbermeer lag und die sich ohne die geringste Erhebung nach allen Richtungen erstreckte.

Und wie immer, wenn alles flach und baumlos ist, sah es so aus, als käme der Himmel vor ihnen herab und berührte das Gras. Aber während sie weitergingen, kam es ihnen eigenartigerweise so vor, als neige sich hier der Himmel wirklich herab und träfe mit der Erde zusammen – eine blaue, sehr helle Wand, aber fest und wirklich. Am ehesten hätte man sie mit einer Glaswand vergleichen können. Und bald darauf waren sie ganz sicher. Die Wand war schon ganz nah.

Aber zwischen ihnen und dem Fuß der Himmelswand befand sich auf dem grünen Gras etwas, was so weiß war, daß sie selbst mit ihren Adleraugen kaum hinsehen konnten. Sie gingen weiter und sahen, daß es ein Lamm war.

»Kommt und frühstückt!« sagte das Lamm mit sanfter Stimme.

Erst jetzt bemerkten sie, daß auf dem Gras ein Feuer flackerte, über dem Fische brieten. Sie setzten sich und aßen den Fisch. Zum ersten Male seit vielen Tagen waren sie hungrig. Und es war die beste Mahlzeit, die sie jemals gegessen hatten.

»Bitte, Lamm«, sagte Lucy. »Ist dies der Weg zum Land Aslans?«

»Nicht für euch«, antwortete das Lamm. »Für euch liegt die Tür zum Land Aslans in eurer eigenen Welt.«

»Was!« sagte Edmund. »Gibt es von unserer Welt auch einen Weg zum Land Aslans?«

»Aus allen Welten führt ein Weg zu meinem Land«, sagte das Lamm.

Doch während es sprach, verwandelte sich das schneeweiße Fell des Lammes in gelbbraunes Gold. Das Lamm wurde größer und größer, und es war Aslan selbst, der über ihnen thronte und aus dessen Mähne Licht fiel.

»O Aslan«, sagte Lucy. »Wirst du uns sagen, wie wir aus unserer Welt in dein Land gelangen können?«

»Ich werde es euch immer wieder sagen«, sagte Aslan. »Aber ich werde euch nicht sagen, wie lang oder wie kurz der Weg sein wird; nur, daß er jenseits eines Flusses liegt! Aber habt keine Angst, denn ich bin der große Brückenbauer. Und jetzt kommt; ich werde die Tür im Himmel öffnen und euch in eure eigene Welt schicken.«

»Bitte, Aslan«, sagte Lucy. »Wirst du uns vorher sagen, wann wir wieder nach Narnia zurückkommen dürfen? Bitte. Und bitte, bitte, laß es bald sein.«

»Meine Liebste«, sagte Aslan sehr sanft. »Du und dein Bruder, ihr werdet nie mehr nach Narnia zurückkehren.«

»Oh, Aslan!« sagten beide ganz entsetzt.

»Ihr seid zu alt, Kinder«, sagte Aslan, »und ihr müßt anfangen, eurer eigenen Welt näherzukommen.«

»Es ist nicht Narnia, weißt du!« schluchzte Lucy. »Du bist es! Wir werden dich nicht mehr sehen! Und wie können wir leben, wenn wir dich nicht mehr sehen?«

»Aber ihr werdet mich sehen, meine Liebe«, sagte Aslan.

»Bist – bist du auch dort?« fragte Edmund.

»Ja«, antwortete Aslan. »Aber dort trage ich einen anderen Namen. Ihr müßt lernen, mich unter diesem Namen zu erkennen. Und dies ist der Grund, warum ihr nach Narnia gelangt seid – da ihr mich in Narnia ein wenig kennengelernt habt, lernt ihr mich vielleicht in eurer Welt noch besser kennen.«

»Und kommt Eustachius auch nie mehr hierher zurück?« fragte Lucy.

»Kind«, sagte Aslan. »Mußt du das wirklich wissen? Kommt, ich öffne die Tür.«

Dann – in einem einzigen Augenblick – erschien ein Riß in der blauen Mauer (wie wenn man einen Vorhang zerreißt), ein schreckliches weißes Licht von jenseits des Himmels leuchtete auf, sie fühlten Aslans Mähne und spürten einen Löwenkuß auf der Stirn, und dann – dann waren sie wieder im Hinterzimmer von Tante Albertas Haus in Cambridge.


Nur noch zwei Dinge müssen erwähnt werden. Erstens erreichten Kaspian und seine Männer sicher die Insel Ramandus. Die drei Lords erwachten aus dem Schlaf. Kaspian heiratete die Tochter Ramandus, alle kehrten schließlich nach Narnia zurück, und Kaspians Gemahlin wurde eine große Königin und die Mutter und Großmutter großer Könige.

Zweitens sagten in unserer Welt alle, wie sehr sich Eustachius gebessert habe und daß er mit einemmal wie ausgewechselt sei. Alle außer Tante Alberta, die meinte, er sei sehr gewöhnlich und unangenehm geworden, und das müsse der Einfluß von Edmund und Lucy gewesen sein.

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