»FEAR steht für Face Everything And Recover
(Blicke allem ins Auge, und genese).«
Alter AA-Spruch
1
Das in Frazier an jedem Samstagmittag stattfindende AA-Treffen war eines der ältesten in New Hampshire. Es existierte seit 1946 und war von Fat Bob D. initiiert worden, der Bill Wilson, den Gründer des Programms, noch persönlich gekannt hatte. Nun lag Fat Bob schon lange im Grab, ein Opfer von Lungenkrebs – früher hatten die meisten genesenden Alkoholiker gequalmt wie Schlote und Neulinge regelmäßig zu hören bekommen, sie sollten erst mal die Klappe halten und die Aschenbecher ausleeren –, aber das Treffen war immer noch gut besucht. Heute waren sogar alle Plätze belegt, anschließend würde es Pizza und Blechkuchen geben. Das war bei fast allen Jubiläumstreffen so, und heute feierte einer der Teilnehmer fünfzehn Jahre Trockenheit. Früher war er unter dem Namen Dan oder Dan T. bekannt gewesen, aber inzwischen hatte sich herumgesprochen, was er im Hospiz leistete, deshalb nannte man ihn meistens Doc. Da seine Eltern ihn ebenfalls so genannt hatten, fand Dan diesen Spitznamen irgendwie komisch … aber auf gute Art und Weise. Das Leben war ein Rad, dessen einzige Aufgabe darin bestand, sich zu drehen, und es kehrte immer wieder zu seiner Ursprungsposition zurück.
Ein echter Doktor, er hieß John, führte auf Dans Bitte hin den Vorsitz, und das Treffen nahm seinen gewohnten Gang. Es gab Gelächter, als Randy M. erzählte, wie er dem Cop, von dem er bei seiner letzten Trunkenheitsfahrt festgenommen worden sei, auf die Uniform gekotzt habe, und weiteres Gelächter, als er fortfuhr, ein Jahr später habe er entdeckt, dass der Cop selbst am Programm teilnehme. Maggie M. weinte, als sie erzählte (oder, wie es im AA-Jargon hieß, mit den anderen teilte), dass man ihr erneut das gemeinsame Sorgerecht für ihre beiden Kinder verweigert habe. Man reagierte mit den üblichen Klischees – alles braucht seine Zeit; es klappt schon, wenn du es nur willst; gib nicht auf, bis das Wunder geschieht –, und schließlich beruhigte Maggie sich schniefend. Wie üblich rief jemand: Ausschalten, sagt die höhere Macht!, als ein Handy läutete. Eine Frau mit zittrigen Händen verschüttete eine Tasse Kaffee; es kam wirklich sehr selten vor, dass bei einem Treffen nicht mindestens eine Tasse verschüttet wurde.
Um zehn vor eins reichte John D. das Körbchen herum (»AA-Gruppen sollten sich vollkommen selbst erhalten durch freiwillige Spenden ihrer Mitglieder«) und fragte, ob es Ankündigungen gebe. Trevor K., der das Treffen eröffnet hatte, erhob sich und bat – wie immer – um Unterstützung beim Reinigen der Küche und beim Wegräumen der Stühle. Yolanda V. verteilte die fälligen Chips, diesmal zwei weiße (für vierundzwanzig Stunden) und einen violetten (für fünf Monate). Wie immer endete sie mit dem Spruch: »Wenn du heute nichts getrunken hast, dann klatsch dir und deiner höheren Macht Beifall!«
Das taten alle.
Als der Beifall verebbt war, sagte John: »Heute feiern wir einen fünfzehnten Geburtstag. Casey K. und Dan T., kommt ihr bitte her?«
Die Teilnehmer applaudierten, während Dan nach vorn ging – langsam, um mit Casey Schritt zu halten, der inzwischen einen Stock zu Hilfe nahm. John überreichte Casey die Medaille mit der Zahl XV, und Casey hielt sie hoch, damit alle sie sehen konnten. »Ich hätte nie gedacht, dass dieser Kerl es schafft«, sagte er. »Weil er nämlich von Anfang an AA war. Womit ich ein Arschloch mit Allüren meine.«
Der Kalauer wurde pflichtschuldig belacht. Dan lächelte immerhin, aber er hatte heftiges Herzklopfen. Er hoffte inständig, das, was als Nächstes kam, zu überstehen, ohne dabei umzukippen. Als er das letzte Mal so große Angst gehabt hatte, da hatte er am Dach der Welt gestanden, zu Rose the Hat hinaufgeblickt und versucht, sich nicht eigenhändig zu erwürgen.
Beeil dich, Casey. Bitte. Sonst verliere ich entweder den Mut, oder das Frühstück kommt mir hoch.
Man hätte meinen können, dass Casey auch Shining besaß … aber vielleicht hatte er auch nur etwas in Dans Augen gesehen. Jedenfalls kürzte er seine Ansprache ab. »Aber er hat meine Erwartungen übertroffen und ist genesen. Von sieben Alkoholikern, die durch unsere Tür treten, gehen sechs wieder raus, um sich zu besaufen. Der siebte ist das Wunder, für das wir alle leben. Eines dieser Wunder steht hier neben mir, in voller Lebensgröße und frech wie Oskar. Hier, Doc, bitte sehr – du hast es dir verdient!«
Er überreichte Dan die Medaille. Der dachte einen Augenblick, sie würde ihm durch die klammen Finger gleiten und auf den Boden fallen. Casey schloss seine Hand darum, bevor das passieren konnte, dann zog er Dan in eine feste Umarmung. »Wieder ein Jahr, du Bastard«, flüsterte er ihm ins Ohr. »Glückwunsch!«
Casey stapfte durch den Mittelgang nach hinten, wo er aufgrund seiner langen Zugehörigkeit neben den anderen Oldtimern saß. Damit stand Dan allein vorn. Er umklammerte seine Fünfzehnjahresmedaille so fest, dass an seinem Handgelenk die Sehnen hervortraten. Die versammelten Alkis betrachteten ihn aufmerksam und warteten auf das, was man sich durch langjährige Trockenheit angeblich aneignete: Erfahrung, Kraft und Hoffnung.
»Vor einigen Jahren …«, fing er an und musste sich dann erst einmal räuspern. »Vor einigen Jahren, als ich mit dem fußlahmen Gentleman, der sich da hinten gerade auf den Hosenboden setzt, Kaffee trank, da hat er mich gefragt, ob ich den fünften Schritt getan hätte – ob ich Gott, mir selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt meine Fehler zugegeben hätte. Mehr oder weniger, hab ich geantwortet. Für Leute, die nicht mit unserem speziellen Problem zu tun haben, hätte das wahrscheinlich ausgereicht … was einer der Gründe ist, weshalb wir sie als Erdlinge bezeichnen.«
Das Publikum kicherte. Dan holte tief Luft und sagte sich, wenn er schon Rose und ihrem Wahren Knoten entgegengetreten sei, dann könne er auch das hier jetzt schaffen. Allerdings war das hier etwas anderes. Hier war Dan kein Held, sondern ein Drecksack. Er hatte zwar lange genug gelebt zu wissen, dass in jedem ein kleiner Drecksack steckte, aber das half nicht viel, wenn man vor aller Augen den eigenen Dreck ausbreiten musste.
»Casey hat geahnt, dass es einen Fehler gibt, über den ich nicht ganz hinwegkomme, weil ich mich zu sehr schäme, darüber zu sprechen. Und dass ich damit aufhören soll. Er hat mich an etwas erinnert, was man bei fast jedem Treffen zu hören bekommt – wir sind nur so krank wie unsere Geheimnisse. Und er hat gesagt, wenn ich meines nicht erzähle, dann würde ich mich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden. Hab ich das einigermaßen richtig wiedergegeben, Casey?«
Hinten im Raum nickte Casey, die Hände auf seinem Gehstock gefaltet.
Hinten in den Augen spürte Dan ein Brennen, das baldige Tränen ankündigte. Gott, hilf mir, das durchzustehen, ohne loszuplärren, dachte er. Bitte.
»Ich habe mein Geheimnis niemand verraten. Viele Jahre lang habe ich mir gesagt, dass es das Einzige ist, was ich nie irgendjemand erzählen würde. Aber ich glaube, Casey hatte recht, und wenn ich wieder anfangen würde zu trinken, dann würde ich sterben. Das will ich nicht. Inzwischen habe ich nämlich viel, wofür es sich zu leben lohnt. Deshalb …«
Die Tränen waren gekommen, die verfluchten Tränen, aber er hatte sich bereits zu weit vorgewagt, als das er einen Rückzieher machen konnte. Deshalb wischte er die Tränen mit der Hand, die nicht um die Medaille geballt war, weg.
»Ihr wisst ja, wie es in den Zwölf Versprechen heißt. Dass wir lernen wollen, die Vergangenheit weder zu beklagen noch uns zu wünschen, wir könnten die Tür hinter ihr zuschlagen. Entschuldigt meine Wortwahl, aber wenn es einen Brocken Schwachsinn in diesem Programm voller Wahrheiten gibt, dann das. Ich bereue viel, aber es ist an der Zeit, die Tür zu öffnen, so wenig ich das will.«
Die anderen warteten. Selbst die beiden Frauen, die damit beschäftigt gewesen waren, Pappteller mit Pizzastücken zu verteilen, standen nun in der Küchentür und beobachteten ihn.
»Nicht lange bevor ich mit dem Trinken aufgehört habe, bin ich einmal neben einer Frau aufgewacht, die ich in einer Kneipe aufgegabelt hatte. Wir lagen in ihrer Wohnung, einer richtig miesen Bude, weil sie fast nichts besaß. Ich konnte ihre Situation nachempfinden, weil ich selber fast nichts besaß, und wahrscheinlich waren wir beide aus demselben Grund pleite. Ihr wisst ja alle, was dieser Grund war.« Er zuckte die Achseln. »Wenn du zu uns gehörst, nimmt die Flasche dir weg, was du besitzt. Erst ein wenig, dann viel, dann alles.
Der Name dieser Frau war Deenie. Sonst weiß ich nicht mehr viel von ihr, aber das Folgende weiß ich noch. Ich bin in die Klamotten gestiegen und abgehauen, aber zuerst hab ich ihr Geld eingesteckt. Dabei stellte sich raus, dass sie mindestens etwas besaß, was ich nicht hatte, denn während ich in ihrem Portemonnaie gestöbert habe, hab ich mich umgeschaut, und da stand ihr Sohn. Ein kleiner Junge, noch in Windeln. Diese Frau und ich hatten nachts eine Tüte Koks gekauft, und das lag noch auf dem Tisch. Der Junge hat’s gesehen und danach gegriffen. Er dachte, es wär Zucker.«
Dan wischte sich abermals die Augen.
»Ich hab das Zeug vom Tisch genommen und an eine Stelle gelegt, wo er nicht rankam. Das hab ich immerhin getan. Es war nicht genug, aber immerhin das hab ich getan. Dann hab ich ihr Geld eingesteckt und bin aus der Wohnung rausmarschiert. Ich würde alles geben, wenn ich das ungeschehen machen könnte. Aber das kann ich nicht.«
Die beiden Frauen an der Tür waren wieder in die Küche gegangen. Mehrere Teilnehmer warfen einen Blick auf ihre Armbanduhr. Ein Magen knurrte. Während Dan die versammelten neun Dutzend Alkis betrachtete, wurde ihm etwas Verblüffendes klar: Was er getan hatte, weckte keinen Abscheu in ihnen. Es überraschte sie nicht einmal. Sie hatten schon Schlimmeres gehört. Er natürlich auch.
»Okay«, sagte er. »Das ist es. Das ist mein großes Geheimnis. Danke fürs Zuhören.«
Vor dem Applaus rief einer der Oldtimer in der hintersten Reihe die traditionelle Frage: »Wie hast du es geschafft, Doc?«
Dan grinste und gab die traditionelle Antwort: »Schritt für Schritt.«
2
Nach dem Vaterunser, der Pizza und dem Schokoladenkuchen, auf dem groß die Zahl XV stand, half Dan Casey dabei, zu dessen Tundra zu kommen. Schneeregen fiel.
»Frühling in New Hampshire«, sagte Casey säuerlich. »Wunderbar.«
»Regnet Tropfen, schmutzet Schlick«, deklamierte Dan. »Und wie der Wind uns rammt! Rutscht der Bus und nässet uns, verdammich, sing: Verdammt!«
Casey starrte ihn an. »Hast du dir das etwa gerade ausgedacht?«
»Nee. Ist von Ezra Pound. Wann hörst du eigentlich endlich auf, die Sache aufzuschieben, und lässt dir ’ne neue Hüfte einsetzen?«
Casey grinste. »Nächsten Monat. Ich dachte, wenn du dein größtes Geheimnis verraten kannst, dann überstehe ich auch eine Hüftoperation.« Er hielt inne. »Übrigens war dein Geheimnis in Wirklichkeit nicht gar so gewaltig, Danno.«
»Das ist mir auch aufgefallen. Ich dachte, wenn die anderen das hören, ergreifen sie schreiend die Flucht. Stattdessen haben sie herumgestanden, Pizza gefuttert und sich übers Wetter unterhalten.«
»Selbst wenn du denen erzählt hättest, du hast ’ne blinde Oma auf dem Gewissen, wären sie dageblieben, weil es Pizza und Kuchen gab. Umsonst ist umsonst.« Er öffnete die Fahrertür. »Schubs mich mal rein, Danno.«
Dan schubste.
Casey setzte sich schwerfällig zurecht, dann ließ er den Motor an und schaltete die Scheibenwischer ein, die gegen den nassen Schnee ankämpfen mussten. »Alles ist kleiner, wenn es heraus ist«, sagte er. »Ich hoffe, das wirst du auch an deine Schützlinge weitergeben.«
»Gewiss, o Weiser unter den Weisen.«
Casey warf ihm einen schiefen Blick zu. »Du kannst mich mal, Süßer.«
»Stattdessen gehe ich lieber wieder rein und helfe dabei, die Stühle aufzuräumen«, sagte Dan.
Und das tat er dann auch.
1
In diesem Jahr gab es bei Abra Stones Geburtstagsparty keine Luftballons und keinen Magier. Schließlich wurde sie fünfzehn.
Stattdessen dröhnte aus den Lautsprechern, die Dave Stone – fachmännisch unterstützt von Billy Freeman – aufgestellt hatte, Rockmusik und ließ die Fensterscheiben der Nachbarschaft erzittern. Die Erwachsenen vergnügten sich in der Küche mit Kuchen, Eiscreme und Kaffee, während die Kids das Wohnzimmer und den Garten in Beschlag genommen hatten. So, wie sie sich anhörten, hatten sie einen Mordsspaß. Gegen fünf verzogen sich die Gäste, nur Emma Deane, Abras beste Freundin, blieb zum Abendessen. Abra, die sich in einen schicken, roten Rock und eine schulterfreie Bauernbluse geworfen hatte, war ausgesprochen guter Laune. Sie jauchzte begeistert, als sie das Bettelarmband sah, das Dan für sie gekauft hatte, umarmte ihn und gab ihm einen Kuss auf die Wange. Er roch Parfüm. Das war etwas Neues.
Als Abra verschwand, um Emma nach Hause zu bringen, und man die beiden fröhlich plappernd durch den Vorgarten gehen sah, beugte Lucy sich zu Dan. Ihr Mund war leicht gerunzelt, an den Augen bildeten sich Krähenfüße, in ihren Haaren zeigten sich erste Spuren von Grau. Abra schien den Wahren Knoten hinter sich gelassen zu haben, aber Lucy würde das wohl nie können, dachte Dan. »Kannst du mit ihr sprechen?«, fragte sie. »Über die Sache mit den Tellern?«
»Ich gehe gleich in den Garten, um mir den Sonnenuntergang hinter dem Fluss anzuschauen. Schick sie doch einfach raus zu mir, wenn sie von den Deanes zurückkommt.«
Lucy sah erleichtert aus und Dave ebenfalls. Für die beiden würde Abra immer ein Geheimnis bleiben. Ob es ihnen wohl geholfen hätte zu erfahren, dass sie auch für ihn immer eines bleiben würde? Wahrscheinlich nicht.
»Viel Glück, Junge«, sagte Billy.
Als Dan auf der Treppe zum Garten stand, wo Abra einmal in einem scheinbar bewusstlosen Zustand gelegen hatte, trat John Dalton neben ihn. »Ich würde dir ja gern meine moralische Unterstützung anbieten, aber ich glaube, das musst du jetzt allein durchziehen.«
»Hast du eigentlich versucht, mit ihr zu sprechen?«
»Ja. Auf Lucys Bitte hin.«
»Ohne Erfolg?«
John zuckte die Achseln. »Sie ist ziemlich verschlossen, wenn es um dieses Thema geht.«
»Das war ich auch«, sagte Dan. »In ihrem Alter, meine ich.«
»Aber du hast nie sämtliche Teller in der antiken Vitrine deiner Mutter zertrümmert, oder?«
»Meine Mutter hatte keine Vitrine«, sagte Dan.
Außerdem, dachte er, hatte ich nie solche Kräfte wie meine Nichte.
Er ging zum Ende des schräg abfallenden Gartens und blickte auf den Saco, der dank der untergehenden Sonne zu einer rot glühenden Schlange geworden war. Bald würden die Berge das letzte Sonnenlicht schlucken, und dann wurde der Fluss grau. Wo früher ein Maschendrahtzaun gestanden hatte, um kleine Kinder an potenziell lebensgefährlichen Forschungsunternehmungen zu hindern, wuchs nun eine Reihe Ziersträucher. Den Zaun hatte Dave im vorangegangenen Oktober abgebaut, weil er zu der Überzeugung gelangt war, dass Abra und ihre Freundinnen keinen solchen Schutz mehr brauchten; sie konnten alle schwimmen wie die Fische.
Aber natürlich gab es andere Gefahren.
2
Das Wasser wies nur noch eine zarte altrosa Färbung auf, als Abra sich zu ihm gesellte. Er musste sich nicht umschauen, um zu wissen, dass sie da war und dass sie einen Pullover angezogen hatte, um ihre bloßen Schultern zu verhüllen. In der Mitte von New Hampshire kühlte die Luft an Frühlingsabenden rasch ab, auch wenn es nun bestimmt nicht mehr schneien würde.
(das Armband ist wirklich toll Dan)
Auf den »Onkel« verzichtete sie inzwischen meistens.
(freut mich)
»Sie wollen, dass du mit mir über die Teller sprichst«, sagte sie. Die gesprochenen Worte hatten nichts von der Wärme an sich, die in ihren Gedanken gelegen hatte, aber diese Gedanken waren fort. Nachdem sie sich sehr nett und ehrlich bedankt hatte, hatte sie ihr inneres Selbst vor ihm verschlossen. Das konnte sie jetzt gut und wurde täglich besser darin. »Stimmt doch, oder?«
»Willst du denn darüber sprechen?«
»Ich hab ihr gesagt, dass es mir leidtut. Und dass ich es nicht absichtlich gemacht hab. Aber sie hat mir offenbar nicht geglaubt.«
(ich glaube dir)
»Weil du weißt, wie es ist. Die wissen das nicht.«
Dan sagte nichts und sandte ihr stattdessen nur einen einzelnen Gedanken:
(?)
»Die glauben mir überhaupt nichts!«, brach es aus ihr heraus. »Es ist so unfair! Ich wusste überhaupt nicht, dass es auf Jennifers blöder Party was zu trinken gibt, und außerdem hab ich sowieso nichts getrunken! Trotzdem darf ich zwei volle Wochen nicht ausgehen!«
(? ? ?)
Nichts. Der Fluss war inzwischen fast vollständig grau geworden. Er wagte einen Seitenblick und sah, dass sie ihre Sneakers betrachtete – rote, passend zu ihrem Rock. Auch ihre Wangen passten jetzt zum Rock.
»Na gut«, sagte sie schließlich. Dabei sah sie ihn zwar immer noch nicht an, aber ihre Mundwinkel bogen sich zu einem leichten, widerstrebenden Lächeln nach oben. »Dich kann ich nicht reinlegen, oder? Ja, ich hab einen Schluck genommen, bloß um zu sehen, wie es schmeckt. Wieso man so ein Theater darum macht. Wahrscheinlich hat sie das in meinem Atem gerochen, als ich nach Hause gekommen bin. Und weißt du, was? Das Theater ist komplett unnötig. Es hat furchtbar geschmeckt.«
Darauf erwiderte Dan nichts. Hätte er ihr gesagt, dass sein erster Schluck auch scheußlich geschmeckt und er damals ebenfalls gefunden habe, das Zeug sei nicht der Rede und schon gar kein Geheimnis wert, dann hätte sie das wohl als typisches Erwachsenengeschwafel abgetan. Man konnte Jugendliche nicht mit moralischen Sprüchen davon abhalten, erwachsen zu werden. Oder ihnen beibringen, wie man das am besten anstellte.
»Ich wollte die Teller ja nicht kaputtmachen«, sagte sie mit leiser Stimme. »Es war ein Unfall, was ich ihr auch gesagt habe. Ich war einfach so zornig.«
»Das bist du von Natur aus.« Er erinnerte sich daran, wie Abra auf Rose the Hat geblickt hatte, als diese gekreist hatte. Na, tut es weh, hatte Abra die sterbende Kreatur gefragt, die wie eine Frau ausgesehen hatte (von dem einen grässlichen Zahn einmal abgesehen). Das hoffe ich jedenfalls. Ich hoffe, es tut anständig weh.
»Willst du mir etwa eine Predigt halten?« Und mit einer Spur Verachtung: »Ich weiß jedenfalls, dass sie das will.«
»Predigten fallen mir keine ein, aber ich könnte dir eine Geschichte erzählen, die meine Mutter mir mal erzählt hat. Sie handelt von deinem Urgroßvater auf meiner Seite der Familie. Der Seite meines Vaters Jack. Willst du sie hören?«
Abra zuckte die Achseln. Sollte heißen: Bringen wir es hinter uns.
»Er hieß Don Torrance und hatte fast dieselbe Arbeit wie ich. Allerdings war er ein richtiger Krankenpfleger. Am Ende seines Lebens ging er am Stock, weil eines seiner Beine bei einem Autounfall lädiert worden war. Und eines Abends hat er am Esstisch den Stock genommen und damit auf seine Frau eingeschlagen. Grundlos, er fing einfach an zu prügeln. Er hat ihr die Nase gebrochen, außerdem ist ihre Kopfhaut aufgeplatzt. Als sie von ihrem Stuhl auf den Boden gesunken ist, stand er auf und hat sich richtig über sie hergemacht. Nach dem, was mein Vater meiner Mama erzählt hat, hätte er sie totgeschlagen, wenn Brett und Mike – das waren meine Onkel – ihn nicht von ihr weggezogen hätten. Als der Arzt kam, kniete dein Urgroßvater mit seinem Erste-Hilfe-Koffer vor ihr und tat, was er konnte. Er hat behauptet, sie wäre die Treppe hinuntergefallen. Deine Urgroßmutter – die Momo, die du nie kennengelernt hast, Abra – hat ihn gedeckt. Die zwei Jungen ebenfalls.«
»Weshalb?«, hauchte Abra.
»Weil sie Angst hatten. Später – als Don schon lange tot war – hat dein Großvater mir den Arm gebrochen. Und dann, im Overlook – das an dem Ort stand, wo heute das Dach der Welt steht –, hat dein Großvater meine Mutter fast totgeprügelt. Statt eines Gehstocks hat er zwar einen Roque-Schläger zum Prügeln benutzt, aber im Grunde war es dasselbe.«
»Ich hab kapiert.«
»Jahre später, in einer Kneipe in St. Petersburg …«
»Hör auf! Ich hab gesagt, ich hab’s kapiert!« Sie zitterte.
»… hab ich einen Mann mit einem Billardstock bewusstlos geschlagen, weil er über eine Ungeschicklichkeit von mir gelacht hat. Anschließend musste der Sohn von Jack und der Enkel von Don neunzig Tage lang einen orangefarbenen Overall tragen und am Rand vom Highway 41 Müll aufsammeln.«
Sie wandte sich ab und brach in Tränen aus. »Danke, Onkel Dan. Vielen Dank, dass du mir meinen Geburtstag verdorben …«
Ein Bild machte sich in seinem Kopf breit und schob sich einen Moment lang vor den Fluss: ein verkohlter, qualmender Geburtstagskuchen. Unter anderen Umständen wäre dieses Bild lustig gewesen. Jetzt war es das nicht.
Er nahm sie sanft bei den Schultern und drehte sie wieder zu sich. »Es gibt nichts zu kapieren. Es gibt keine Lehre. Das ist nichts als eine Familiengeschichte. Es ist dein Leben, wie es so schön heißt, also nimm es in die eigenen Hände.«
»Was willst du damit sagen?«
»Vielleicht schreibst du eines Tages Gedichte wie Concetta. Oder du schiebst mit deinen Gedanken noch mal jemand von einer Plattform.«
»Das würde ich nie tun … aber Rose hatte es verdient.« Abra wandte ihm ihr nasses Gesicht zu.
»Das will ich nicht bestreiten.«
»Wieso träume ich dann davon? Wieso wünsche ich mir, ich könnte es ungeschehen machen? Sie hätte uns doch umgebracht, wieso wünsche ich mir dann so was?«
»Was möchtest du ungeschehen machen – dass du sie umgebracht hast oder nur die Freude, die es dir bereitet hat?«
Abra ließ den Kopf hängen. Dan hätte sie am liebsten in die Arme genommen, verkniff sich das aber.
»Keine Predigt und keine Moral. Es geht nur darum, was dir durch unsere Familie im Blut liegt. Um den dummen Drang, den auch wachsame Menschen verspüren. Und du hast jetzt in deinem Leben einen Zeitpunkt erreicht, an dem du vollständig wach bist. Es ist schwer für dich. Das weiß ich. Es ist für alle schwer, aber den meisten Teenagern fehlen deine Fähigkeiten. Deine Waffen.«
»Was soll ich nur tun? Was kann ich überhaupt tun? Manchmal werde ich so zornig … nicht nur auf sie, sondern auch auf irgendwelche Lehrer … oder auf bestimmte Tussen in der Schule, die sich für was ganz Besonderes halten … die einen auslachen, wenn man nicht gut in Sport ist oder die falschen Klamotten trägt und so …«
Dan dachte an einen Rat, den Casey Kingsley ihm einmal gegeben hatte. »Geh auf die Müllkippe.«
»Hä?« Sie sah ihn mit großen Augen an.
Er sandte ihr ein Bild: Abra, die ihr außergewöhnliches Shining – das, so unglaublich es war, immer noch nicht seinen Höhepunkt erreicht hatte – dazu benutzte, ausrangierte Kühlschränke umzukippen, erloschene Fernseher explodieren zu lassen und Waschmaschinen durch die Gegend zu schleudern, dass ein Schwarm Möwen erschrocken aufflog.
Jetzt kicherte sie. »Meinst du, das hilft?«
»Besser die Müllkippe als die Teller deiner Mutter.«
Sie legte den Kopf schräg und sah ihn mit fröhlichem Blick an. Jetzt waren sie wieder Freunde, und das war schön. »Aber diese Teller waren echt hässlich.«
»Wirst du’s versuchen?«
»Klar.« Man sah ihr an der Nasenspitze an, dass sie es kaum erwarten konnte.
»Noch etwas.«
Sie wurde wieder ernst.
»Du musst dir von niemand was bieten lassen.«
»Das ist doch gut, oder?«
»Ja. Denk bloß immer daran, wie gefährlich dein Zorn sein kann. Halt ihn …«
Sein Handy läutete.
»Du solltest drangehen.«
Er hob die Augenbrauen. »Weißt du etwa, wer das ist?«
»Nein, aber ich glaube, es ist wichtig.«
Er zog das Telefon aus der Tasche und blickte aufs Display. RIVINGTON HOUSE.
»Hallo?«
»Ich bin’s. Claudette Albertson. Danny, kannst du sofort herkommen?«
Er ging im Geiste die Hospizgäste durch, deren Namen momentan auf seiner Tafel standen. »Amanda Ricker? Jeff Kellogg?«
Es stellte sich heraus, dass es keiner von den beiden war.
»Wenn du kommen kannst, solltest du es wirklich gleich tun«, sagte Claudette. »Solange er noch bei Bewusstsein ist.« Sie zögerte. »Er fragt nach dir.«
»Ich komme.« Falls es allerdings so schlimm ist, wie du sagst, ist er wahrscheinlich längst tot, wenn ich da bin. Dan legte auf. »Ich muss los, Kleines.«
»Obwohl er nicht dein Freund ist. Obwohl du ihn nicht einmal magst.« Abra blickte gedankenvoll drein.
»Trotzdem.«
»Wie heißt er? Das hab ich nämlich nicht verstanden.«
(Fred Carling)
Er schickte ihr den Namen, dann umarmte er sie ganz, ganz fest. Abra erwiderte die Umarmung.
»Ich versuch’s«, sagte sie. »Ich versuch’s mit aller Kraft.«
»Das weiß ich«, sagte er. »Ganz bestimmt. Hör mal, Abra, ich hab dich ganz arg lieb.«
»Da bin ich froh«, sagte sie.
3
Claudette saß im Schwesternzimmer, als er eine Dreiviertelstunde später eintraf. Er stellte die Frage, die er schon so oft gestellt hatte: »Ist er noch bei uns?« Als befänden sie sich auf einer Busfahrt.
»Mehr oder weniger.«
»Bei Bewusstsein?«
Sie wedelte mit der Hand. »Immer mal wieder.«
»Und Azzie?«
»Der war eine Weile bei ihm im Zimmer und ist nur rausgeflitzt, als Dr. Emerson gekommen ist. Jetzt ist der weg, er kümmert sich um Roberta Jackson. Sobald er gegangen war, ist Azzie wieder rein.«
»Wird er ins Krankenhaus verlegt?«
»Das geht nicht. Noch nicht. Bei Castle Rock sind auf der Route 119 vier Wagen ineinandergekracht. Viele Verletzte. Dahin sind vier Rettungswagen unterwegs, der Hubschrauber ebenfalls. Die Leute dort ins Krankenhaus zu bringen wird wahrscheinlich manchen von ihnen etwas nützen. Aber was Fred angeht …« Sie zuckte die Achseln.
»Was ist eigentlich passiert?«
»Du kennst ja unseren Fred – Junkfood ist sein Ein und Alles und McDonald’s sein zweites Zuhause. Wenn er über die Cranmore Avenue rennt, dann schaut er manchmal links und rechts, und manchmal tut er’s nicht. Erwartet einfach, dass die Leute wegen ihm anhalten.« Sie rümpfte die Nase und streckte die Zunge heraus wie ein kleines Kind, das gerade etwas Unappetitliches in den Mund genommen hatte. Rosenkohl zum Beispiel. »Was für eine Einstellung!«
Dan kannte Freds Tagesablauf, und seine Einstellung kannte er ebenfalls.
»Wie jeden Abend wollte er sich einen Cheeseburger holen«, fuhr Claudette fort. »Die Cops haben die Frau, die ihn überfahren hat, ins Gefängnis gesteckt – soweit ich gehört hab, war sie so besoffen, dass sie kaum noch stehen konnte. Fred haben sie hierhergebracht. Sein Gesicht ist verwüstet, Brust und Becken sind zertrümmert, ein Bein ist fast abgetrennt. Wenn Emerson nicht zufällig gerade hier gewesen wäre, um Visite zu machen, wäre Fred sofort gestorben. Wir haben getan, was wir konnten, auch die Blutungen gestoppt, aber selbst wenn er in bester Verfassung gewesen wäre … was der gute, alte Freddy definitiv nicht war …« Wieder zuckte sie die Achseln. »Dr. Edwards sagt, sie werden einen Rettungswagen schicken, sobald sie in Castle Rock fertig sind, aber bis dahin ist Fred wahrscheinlich hinüber. Edwards war sich da nicht ganz sicher, aber ich vertraue Azreel. Du solltest jetzt gleich zu ihm gehen, falls du das tatsächlich willst. Ich weiß, du hast ihn nie besonders leiden können …«
Dan dachte an die Fingerspuren, die der Pfleger auf dem Arm des armen, alten Charlie Hayes hinterlassen hatte. Schade, hatte er gesagt, als Dan ihm mitgeteilt hatte, dass der alte Mann tot war. Und sich dabei auf seinem Lieblingsstuhl gefläzt und Schokodragees gefuttert. Aber dafür sind die ja hier, nicht wahr?
Und jetzt lag Fred in demselben Zimmer, in dem Charlie gestorben war. Das Leben war ein Rad, und es drehte sich immer wieder zu seiner Ursprungsposition zurück.
4
Die Tür der Shepard Suite stand halb offen, aber aus Höflichkeit klopfte Dan trotzdem. Schon im Flur hörte er das raue Pfeifen und Gurgeln von Fred Carlings Atmung. Azzie, der sich am Fußende des Bettes zusammengerollt hatte, schien sich nicht daran zu stören. Carling lag auf einer Gummiunterlage und trug nichts als mit Blut befleckte Boxershorts und massenhaft Bandagen, durch die an vielen Stellen Blut sickerte. Sein Gesicht war entstellt, sein Körper in mindestens drei unterschiedliche Richtungen verdreht.
»Fred? Ich bin’s, Dan Torrance. Kannst du mich hören?«
Das eine verbliebene Auge öffnete sich. Die Atmung stockte. Man hörte ein kurzes Krächzen, bei dem es sich um ein Ja gehandelt haben konnte.
Dan ging ins Bad, tränkte ein Tuch mit warmem Wasser und wrang es aus. Das hatte er schon oft getan. Als er wieder an Carlings Bett trat, erhob sich Azzie, dehnte genüsslich den gewölbten Rücken, wie Katzen es gern taten, und sprang auf den Boden. Im nächsten Moment war er verschwunden, um seine abendliche Patrouille wieder aufzunehmen. Inzwischen hinkte er ein wenig. Er war mittlerweile ein sehr alter Kater.
Dan setzte sich auf die Bettkante und rieb mit dem Tuch sanft über den Teil von Fred Carlings Gesicht, der relativ unbeschädigt geblieben war.
»Tut es sehr weh?«
Wieder dieses Krächzen. Carlings linke Hand war ein verdrehtes Durcheinander aus gebrochenen Fingern, weshalb Dan die rechte ergriff. »Du musst nicht sprechen, sag’s mir einfach so.«
(jetzt nicht mehr so sehr)
Dan nickte. »Gut. Das ist gut.«
(aber ich hab Angst)
»Es gibt nichts, wovor du Angst haben müsstest.«
Er sah Fred im Alter von sechs Jahren mit seinem Bruder im Saco schwimmen. Fred griff sich immer hinten an die Badehose, um sie nicht zu verlieren, weil sie zu groß war; er hatte sie gebraucht bekommen wie fast alles, was er besaß. Dann sah Dan ihn mit fünfzehn, wie er im Autokino von Bridgton ein Mädchen küsste und Parfüm roch, während er ihre Brüste berührte und sich wünschte, diese Nacht würde niemals enden. Er sah ihn mit fünfundzwanzig im Pulk der Road Saints zum Hampton Beach fahren, auf einer Harley FXB, dem Modell »Sturgis«. Fred fühlt sich toll, er ist aufgeputscht mit Benzos und Rotwein, und der Tag ist ein echter Hammer, alle glotzen, während die Saints in einer langen, glitzernden Karawane vorbeidonnern; das Leben ist wie ein Feuerwerk. Und er sah die Wohnung, in der Carling mit seinem kleinen Hund namens Brownie lebte oder vielmehr gelebt hatte. Brownie war nichts Besonderes, bloß ein ganz normaler Köter, aber er war klug. Manchmal sprang er seinem Herrchen auf den Schoß, und dann sahen sie zusammen fern. Jetzt war Fred bekümmert wegen Brownie, weil der darauf wartete, dass Fred nach Hause kam, mit ihm ein wenig spazieren ging und ihm dann den Futternapf füllte.
»Mach dir keine Sorgen um Brownie«, sagte Dan. »Ich kenne ein Mädchen, das sich gern um ihn kümmern wird. Es ist meine Nichte, und sie hat heute Geburtstag.«
Carling blickte mit seinem funktionierenden Auge zu ihm hoch. Sein Atem rasselte nun sehr laut; es hörte sich an wie eine Maschine, in die Staub geraten war.
(kannst du mir helfen bitte Doc kannst du mir helfen)
Ja. Er konnte helfen. Das war seine Aufgabe, dafür war er geschaffen worden. Es war jetzt still im Rivington House, ganz still. Irgendwo in der Nähe schwang eine Tür auf. Sie waren an die Grenze gekommen. Fred Carling blickte zu ihm hoch und fragte: Was? Er fragte: Wie? Aber es war so einfach.
»Du brauchst nur einzuschlafen.«
(lass mich nicht allein)
»Bestimmt nicht«, sagte Dan. »Ich bin da. Ich bleibe hier, bis du schläfst.«
Nun nahm er Carlings Hand in beide Hände. Und lächelte.
»Bis du schläfst«, sagte er.
1. Mai 2011 bis 17. Juli 2012