»FEAR steht für Fuck Everything And Run
(Scheiß auf alles und hau ab).«
Alter AA-Spruch
1
Am zweiten Dezember eines Jahres, in dem ein Erdnussfarmer aus Georgia die Geschäfte im Weißen Haus führte, brannte das Overlook, eines der großen Urlaubshotels von Colorado, bis auf die Grundmauern nieder. Es wurde zum Totalverlust erklärt. Nach seiner Untersuchung stellte der Brandinspektor von Jicarilla County fest, die Ursache sei ein defekter Heizkessel gewesen. Zur Zeit des Vorfalls war das Hotel über Winter geschlossen, und nur vier Personen waren vor Ort. Drei überlebten. John Torrance, der für die Schließungszeit eingestellte Hausmeister des Hotels, kam bei dem erfolglosen (und heroischen) Versuch ums Leben, den Dampfdruck des Kessels zu senken, der wegen einem nicht funktionierenden Überdruckventil katastrophal angestiegen war.
Zwei der Überlebenden waren die Frau und der kleine Sohn des Hausmeisters. Der dritte war Richard Hallorann, der Küchenchef des Overlooks, der seine Saisonstelle in Florida verlassen hatte, um nach den Torrances zu sehen, weil ihn, wie er sagte, eine starke Ahnung ergriffen habe, dass die Familie in Schwierigkeiten stecke. Die beiden überlebenden Erwachsenen wurden bei der Explosion ziemlich schwer verletzt. Nur das Kind blieb unversehrt.
Zumindest körperlich.
2
Wendy Torrance und ihr Sohn erhielten von der Firma, der das Hotel Overlook gehörte, eine Abfindung. Die war zwar nicht riesig, reichte aber aus, die drei Jahre zu überstehen, in denen Wendy wegen ihren Rückenverletzungen nicht arbeiten konnte. Der Anwalt, von dem sie sich beraten ließ, hatte ihr gesagt, wenn sie bereit sei, durchzuhalten und sich stur zu stellen, könne sie wesentlich mehr herausschlagen, weil die Besitzerfirma unbedingt ein Gerichtsverfahren vermeiden wolle. Doch wie die Firma wollte auch Wendy jenen verheerenden Winter in Colorado hinter sich lassen. Sie werde schon wieder gesund werden, sagte sie, und dem war auch so, wenngleich ihre Rückenverletzungen sie bis an ihr Lebensende plagten. Zertrümmerte Wirbel und gebrochene Rippen heilten zwar, aber sie hörten nie auf, sich zu melden.
Eine Weile lebten Winifred und Daniel Torrance im mittleren Süden, dann zogen sie nach Tampa weiter. Gelegentlich kam Dick Hallorann (der Mann mit den starken Ahnungen) aus Key West angefahren und besuchte sie. Vor allem wegen dem jungen Danny. Zwischen den beiden bestand eine besondere Verbindung.
Eines frühen Morgens im März 1981 rief Wendy bei Dick an und bat ihn zu kommen. Danny, sagte sie, habe sie mitten in der Nacht aufgeweckt und ihr gesagt, sie solle nicht ins Bad gehen.
Danach habe er sich geweigert, auch nur ein einziges weiteres Wort von sich zu geben.
3
Er wachte auf, weil er pinkeln musste. Draußen wehte ein starker Wind. Es war warm – in Florida war es das fast immer –, aber er mochte das Geräusch nicht, und daran würde sich wahrscheinlich auch nie etwas ändern. Es erinnerte ihn an die Zeit im Hotel Overlook, wo der defekte Kessel die geringste Gefahr dargestellt hatte.
Danny und seine Mutter lebten in einer engen Wohnung im ersten Stock eines Mietshauses. Er verließ sein kleines Zimmer neben dem seiner Mutter und überquerte den Flur. Eine Windbö fuhr in die sterbende Palme neben dem Haus und ließ die Blätter rascheln, was wie das Klappern von Knochen klang. Wenn niemand die Dusche oder die Toilette benutzte, stand die Badezimmertür immer offen, weil das Schloss kaputt war. In dieser Nacht war die Tür geschlossen. Allerdings nicht weil seine Mutter drinnen war. Wegen den Gesichtsverletzungen, die sie im Overlook erlitten hatte, schnarchte sie beim Schlafen immer – ein leises, pfeifendes Geräusch, das er aus ihrem Zimmer kommen hörte.
Ach, bestimmt hat sie die Tür versehentlich geschlossen, dachte er. Das ist alles.
Er wusste es besser, schon damals (auch er hatte starke Ahnungen und Eingebungen), aber manchmal musste man es eben ganz genau wissen. Manchmal musste man es sehen. Das hatte er im Hotel Overlook herausgefunden, in einem Zimmer im ersten Stock.
Mit einem Arm, der ihm viel zu lang vorkam, zu dehnbar, zu knochenlos, drehte er den Knauf und öffnete die Tür.
Da war die Frau aus Zimmer 217, womit er auch gerechnet hatte. Sie saß mit gespreizten Beinen und prallen, bleichen Oberschenkeln nackt auf der Toilette. Ihre grünlichen Brüste hingen wie schlaffe Luftballons herab. Das Haarbüschel unter ihrem Bauch war grau. Auch die Augen waren grau, wie Aluminiumspiegel. Als sie ihn sah, verzog sie die Lippen zu einem Grinsen.
Mach die Augen zu, hatte Dick Hallorann ihm einmal geraten. Wenn du etwas Schlimmes siehst, mach einfach die Augen zu, und sag dir, dass es nicht da ist, und wenn du sie wieder aufmachst, ist es fort.
Aber das hatte schon damals, als er fünf Jahre alt gewesen war, in ebenjenem Zimmer 217 nicht funktioniert, und jetzt funktionierte es sicherlich auch nicht. Das wusste er. Er konnte die Frau riechen. Sie verweste gerade.
Die Frau – er kannte ihren Namen, es war Mrs. Massey – erhob sich schwerfällig auf ihre violetten Beine und streckte die Hände nach ihm aus. Das Fleisch an den Armen hing herab, als würde es heruntertropfen. Sie lächelte, als sähe sie einen alten Freund. Oder vielleicht etwas Gutes zu essen.
Mit einem Ausdruck, den man fälschlich für Gelassenheit hätte halten können, schloss Danny leise die Tür und trat einen Schritt zurück. Er sah, wie der Knauf sich drehte, nach rechts … nach links … wieder nach rechts … und dann innehielt.
Inzwischen war er acht Jahre alt und trotz diesem Horror zumindest einiger rationaler Gedanken fähig. Teilweise deshalb, weil er so etwas in einem tiefen Winkel seines Denkens erwartet hatte. Allerdings hatte er immer gedacht, wenn irgendwann jemand auftauchte, würde es Horace Derwent sein. Oder vielleicht der Barkeeper, den sein Vater Lloyd genannt hatte. Aber schon bevor es endlich so weit war, hätte er wissen müssen, dass es Mrs. Massey sein würde. Weil sie von allen untoten Dingen im Overlook am schlimmsten gewesen war.
Der rationale Teil seines Denkens sagte ihm, dass die Frau nur ein Bruchstück irgendeines schlimmen Traums war, an den er sich nicht mehr erinnerte und der ihm aus dem Schlaf durch den Flur bis ins Bad gefolgt war. Dieser Teil behauptete steif und fest, wenn er die Tür wieder öffne, werde nichts dahinter sein. Natürlich nicht, denn jetzt war er ja wach. Ein anderer Teil von ihm, der hellsichtige Teil, wusste es jedoch besser. Das Overlook war noch längst nicht mit ihm fertig. Mindestens einer der rachsüchtigen Geister aus dem Hotel war ihm bis nach Florida gefolgt. Einmal war er auf die Frau gestoßen, während sie in einer Badewanne gelegen hatte. Sie war herausgestiegen und hatte ihn mit ihren fischigen (aber schrecklich starken) Fingern erwürgen wollen. Wenn er die Badezimmertür jetzt öffnete, würde sie das zu Ende bringen.
Er ging einen Kompromiss ein, indem er das Ohr an die Tür legte. Zuerst war da nichts. Dann hörte er ein leises Geräusch.
Tote Fingernägel, die an Holz kratzten.
Auf nicht vorhandenen Beinen ging Danny in die Küche, wo er sich auf einen Stuhl stellte und ins Spülbecken pinkelte. Dann weckte er seine Mutter und sagte ihr, sie solle nicht ins Bad gehen, weil da etwas Schlimmes drin sei. Sobald das erledigt war, ging er wieder ins Bett und verkroch sich unter der Decke. Dort wollte er für immer bleiben und nur aufstehen, um ins Spülbecken zu pinkeln. Nachdem er seine Mutter gewarnt hatte, war er nicht mehr daran interessiert, mit ihr zu sprechen.
Seine Mutter kannte das bereits. Es war schon einmal geschehen, nämlich nachdem Danny sich ins Zimmer 217 des Overlooks gewagt hatte.
»Aber mit Dick wirst du sprechen, ja?«
In seinem Bett liegend, sah er zu ihr hoch und nickte. Seine Mutter ging ans Telefon, obwohl es vier Uhr morgens war.
Am späten Nachmittag des nächsten Tages kam Dick. Er hatte etwas mitgebracht. Ein Geschenk.
4
Nachdem Wendy Dick angerufen hatte – sie hatte dafür gesorgt, dass Danny das mitbekam –, schlief Danny wieder ein. Obwohl er schon acht Jahre alt war und die dritte Klasse besuchte, nuckelte er noch am Daumen. Es tat ihr weh, das zu sehen. Sie ging zur Badezimmertür und starrte sie an. Sie hatte Angst – Danny hatte ihr Angst gemacht –, aber sie musste aufs Klo, und sie brachte es nicht über sich, wie er in die Spüle zu pinkeln. Bei der Vorstellung, wie sie auf dem Rand der Spüle hocken würde, während ihr Hintern schwankend über dem Becken hing (auch wenn niemand da war, der zusehen konnte), rümpfte sie unwillkürlich die Nase.
In der Hand hielt sie den Hammer aus ihrem kleinen Witwenwerkzeugkasten. Als sie den Knauf drehte und die Badezimmertür aufdrückte, hob sie ihre Waffe. Das Bad war natürlich leer, wenngleich die Klobrille heruntergeklappt war. Wendy ließ sie nie unten, bevor sie zu Bett ging, weil sie wusste, dass Danny irgendwann hereingetappt käme. Nicht mal halb wach, würde er wahrscheinlich vergessen, das Ding hochzuklappen, und es beim Pinkeln vollspritzen. Außerdem roch sie etwas. Etwas Übles. Als wäre zwischen den Wänden eine Ratte krepiert.
Sie tat einen Schritt hinein, dann noch einen. Sie sah eine Bewegung und fuhr herum, den Hammer erhoben, bereit zum Schlag, wer immer
(was immer)
sich hinter der Tür versteckt haben mochte. Aber es war nur ihr Schatten. Was, du hast Angst vor dem eigenen Schatten, fragten manche Leute spöttisch, aber wer hatte mehr Recht dazu als Wendy Torrance? Nach allem, was sie gesehen und durchgemacht hatte, wusste sie, dass Schatten gefährlich sein konnten. Sie konnten Zähne haben.
Im Bad war zwar niemand, aber auf der Klobrille war ein Fleck zu sehen und auf dem Duschvorhang noch einer. Scheißeflecken, dachte sie zuerst, aber die waren nicht gelblich violett. Sie sah genauer hin und erkannte kleine Stücke Fleisch und verweste Haut. Auf der Badematte war mehr von dem Zeug, in Form von Fußabdrücken. Die waren zu klein – zu zierlich –, als dass sie von einem Mann stammten.
»O Gott«, flüsterte sie.
Zu guter Letzt entschied sie sich doch für die Spüle.
5
Gegen Mittag trieb Wendy ihren Sohn aus dem Bett. Es gelang ihr, ihm etwas Suppe und ein halbes Erdnussbuttersandwich aufzudrängen, aber dann ging er wieder ins Bett. Er sprach immer noch nicht. Kurz nach fünf Uhr nachmittags traf Hallorann ein, in seinem inzwischen uralten (aber perfekt gepflegten und auf Hochglanz polierten) roten Cadillac. Wendy hatte am Fenster gestanden und Ausschau gehalten, so wie sie früher auf ihren Mann gewartet hatte, in der Hoffnung, dass Jack in guter Laune nach Hause kam. Und nüchtern.
Sie hastete die Treppe hinab und öffnete die Tür, gerade als Dick auf die Klingel mit der Aufschrift TORRANCE 2A drücken wollte. Er streckte die Arme aus, und sie warf sich sofort hinein. Am liebsten wäre sie mindestens eine Stunde in dieser Umarmung geblieben. Vielleicht sogar zwei.
Er ließ sie los und hielt sie auf Armeslänge an den Schultern. »Gut siehst du aus, Wendy. Wie geht’s dem Kleinen? Sagt er wieder was?«
»Nein, aber mit dir wird er reden. Und wenn er es am Anfang nicht laut tut, kannst du …« Statt den Satz zu vollenden, formte sie mit der Hand eine Pistole und richtete sie auf seine Stirn.
»Nicht nötig«, sagte Dick. Bei seinem Grinsen wurde ein neues Paar falsche Zähne sichtbar. In der Nacht, als der Kessel explodiert war, hatte das Overlook ihm den Großteil seiner ersten Garnitur geraubt. Zwar hatte Jack Torrance den Schläger geschwungen, der Dicks Zähne ruiniert und dafür gesorgt hatte, dass Wendy nur noch leicht hinkend gehen konnte, aber sie wussten beide, dass es in Wirklichkeit das Overlook gewesen war. »Er hat viel Kraft, Wendy. Wenn er mich abblocken will, tut er es. Das weiß ich aus eigener Erfahrung. Außerdem wäre es besser, wenn wir uns mit dem Mund unterhalten. Besser für ihn. Jetzt erzähl mal, was passiert ist. Von Anfang an.«
Nachdem Wendy das getan hatte, führte sie ihn ins Bad. Wie eine Polizistin, die den Tatort eines Verbrechens für die Spurensicherung bewahrte, hatte sie die Flecke gelassen, damit er sie sehen konnte. Schließlich hatte tatsächlich ein Verbrechen stattgefunden. Eines gegen ihren Sohn.
Dick betrachtete alles lange, ohne etwas anzufassen, dann nickte er. »Sehen wir mal nach, ob Danny sich erhoben hat.«
Das war zwar nicht der Fall, aber Wendy wurde trotzdem leichter ums Herz, denn als Danny sah, wer neben ihm auf der Bettkante saß und ihn an der Schulter rüttelte, trat ein freudiger Ausdruck auf sein Gesicht.
(he Danny ich hab dir was mitgebracht)
(aber ich hab doch gar nicht Geburtstag)
Wendy beobachtete die beiden und wusste, dass sie miteinander sprachen, aber nicht, worüber.
»Jetzt steh mal auf, Kleiner«, sagte Dick. »Wir gehen runter zum Strand.«
(Dick sie ist zurückgekommen Mrs. Massey aus Zimmer 217 ist zurückgekommen)
Dick rüttelte ihn noch einmal an der Schulter. »Sag’s laut, Dan. Du machst deiner Mutter Angst.«
»Was hast du denn mitgebracht?«, fragte Danny.
Dick strahlte. »Besser so. Ich will dich nämlich hören, und Wendy will das auch.«
»Ja.« Mehr wagte sie nicht zu sagen. Sonst hätten die beiden das Zittern in ihrer Stimme gehört und sich Sorgen gemacht. Das wollte sie nicht.
»Während wir draußen sind, solltest du wohl das Badezimmer putzen«, sagte Dick zu ihr. »Hast du Küchenhandschuhe?«
Sie nickte.
»Gut. Zieh sie an.«
6
Bis zum Strand waren es zwei Meilen. Rund um den Parkplatz standen geschmacklose Buden, in denen Gebäck, Hotdogs und Souvenirs verhökert wurden, doch jetzt zum Ende der Saison war nirgendwo viel los. Die beiden hatten den Strand fast für sich allein. Auf der Herfahrt hatte Danny sein Geschenk – ein längliches Päckchen, ziemlich schwer und in Silberpapier verpackt – auf dem Schoß gehalten.
»Du darfst es aufmachen, nachdem wir uns ein bisschen unterhalten haben«, sagte Dick.
Sie gingen am Rand der Wellen entlang, wo der Sand hart war und glänzte. Danny ging langsam, weil Dick schon ziemlich alt war. Irgendwann würde er sterben. Vielleicht sogar bald.
»Ich werd’s schon noch ein paar Jahre schaffen«, sagte Dick. »Darum brauchst du dir keine Sorgen machen. Und jetzt erzähl mir, was heute Nacht passiert ist. Lass nichts aus.«
Es dauerte nicht lange. Schwer wäre es allerdings gewesen, die richtigen Worte zu finden, um den Schrecken zu erklären, den er jetzt spürte, und das erstickende Gefühl einer Gewissheit, die sich damit verband: Da sie ihn nun gefunden hatte, würde sie nie wieder verschwinden. Aber weil es sich um Dick handelte, brauchte er keine Worte.
»Sie wird wiederkommen«, sagte er am Ende. »Das weiß ich. Sie wird immer, immer wiederkommen, bis sie mich geschnappt hat.«
»Weißt du noch, wie wir uns kennengelernt haben?«
Der Themawechsel überraschte Danny, aber er nickte. Es war Hallorann gewesen, der ihn und seine Eltern am ersten Tag durch das Overlook geführt hatte. Das schien ewig her zu sein.
»Und weißt du noch, wie ich das erste Mal in deinem Kopf gesprochen habe?«
»Na klar.«
»Was hab ich da gesagt?«
»Du hast mich gefragt, ob ich mit dir nach Florida will.«
»Genau. Wie hat sich das angefühlt? Zu wissen, dass du nicht mehr allein warst? Dass du nicht der Einzige bist?«
»Das war toll«, sagte Danny. »Richtig toll.«
»Und ob«, sagte Hallorann. »Und ob es das war!«
Schweigend gingen sie eine Weile weiter. Kleine Vögel – Dannys Mutter nannte sie Piepmatze – rannten in die Wellen hinein und wieder heraus.
»Kam es dir jemals komisch vor, dass ich gerade dann aufgetaucht bin, als du mich gebraucht hast?« Hallorann blickte auf Danny hinunter und grinste. »Nein. Kam es nicht. Wieso auch. Allerdings warst du noch sehr klein, und jetzt bist du ein wenig älter. In mancher Hinsicht sogar viel älter. Deshalb hör mir gut zu, Danny. Die Welt hat es so an sich, die Dinge im Gleichgewicht zu halten. Daran glaube ich jedenfalls. Es gibt da einen Spruch: Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer. Ich war dein Lehrer.«
»Du warst viel mehr als das«, sagte Danny. Er griff nach Dicks Hand. »Du warst mein Freund. Du hast uns gerettet.«
Dirk ignorierte das … jedenfalls tat er so. »Meine Oma hatte auch das Shining – weißt du noch, wie ich dir davon erzählt hab?«
»Klar. Du hast gesagt, ihr hättet euch lange unterhalten, ohne den Mund aufzumachen.«
»Genau. Sie hat mir das beigebracht. Und es war ihre Urgroßmutter, die es ihr beigebracht hatte, damals zur Zeit der Sklaverei. Irgendwann, Danny, wirst du mal der Lehrer sein. Es wird ein Schüler kommen.«
»Wenn Mrs. Massey mich nicht vorher erwischt«, sagte Danny missmutig.
Sie kamen zu einer Bank. Dick setzte sich. »Ich gehe lieber nicht weiter, sonst schaffe ich es womöglich nicht zurück. Setzt dich neben mich. Ich will dir eine Geschichte erzählen.«
»Ich will aber keine Geschichten hören«, sagte Danny. »Sie wird wiederkommen, verstehst du das nicht? Sie wird immer und immer und immer wiederkommen.«
»Halt den Mund und sperr die Ohren auf. Lass dir was sagen.« Dick grinste und stellte seine funkelnden neuen Zähne zur Schau. »Ich glaube, du wirst es kapieren. Du bist nämlich alles andere als dämlich, Kleiner.«
7
Seine Großmutter mütterlicherseits – die mit dem Shining – hatte in Clearwater gelebt. Sie war die Weiße Oma. Natürlich nicht weil sie weiße Haut gehabt hätte, sondern weil sie gut war. Sein Großvater väterlicherseits lebte in Dunbrie, Mississippi, einem ländlichen Kaff nicht weit von Oxford. Seine Frau war schon lange vor Dicks Geburt gestorben. Für einen damals in einer solchen Gegend lebenden Schwarzen war er wohlhabend. Er besaß ein Bestattungsinstitut. Dick und seine Eltern besuchten ihn viermal im Jahr, und der junge Dick Hallorann hasste diese Besuche. Er hatte furchtbare Angst vor Andy Hallorann und nannte ihn – nur für sich, denn hätte er es laut ausgesprochen, hätte man ihm eine Ohrfeige verpasst – den Schwarzen Opa.
»Weißt du über Kinderschänder Bescheid?«, fragte Dick. »Über Kerle, die mit Kindern Sex haben wollen?«
»So in etwa«, sagte Danny vorsichtig. Er wusste auf jeden Fall, dass er nicht mit Fremden sprechen und erst recht nicht zu einem ins Auto steigen sollte. Weil die einem was antun konnten.
»Tja, der alte Andy war nicht bloß ein Kinderschänder. Er war außerdem ein verfluchter Sadist.«
»Was ist das denn?«
»Jemand, dem es Spaß macht, anderen Schmerzen zuzufügen.«
Danny nickte, weil er das sofort begriff. »Wie Frankie Listrone bei mir in der Schule. Der verdreht einem den Arm und nimmt einen in den Schwitzkasten. Wenn er’s nicht schafft, einen zum Weinen zu bringen, hört er auf. Aber wenn er es schafft, hört er nie auf.«
»So was ist schlimm, aber das war schlimmer.«
Dick verfiel in einen Zustand, den ein Passant als Schweigen interpretiert hätte, aber die Geschichte ging weiter, mit einer Reihe von Bildern und Sätzen, die jene miteinander verbanden. Danny sah den Schwarzen Opa, einen hochgewachsenen Mann in einem Anzug, der so schwarz war wie er selbst, und mit einem eigenartigen
(Filzhut)
Hut auf dem Kopf. Er sah, dass dieser Mann immer Speichelbläschen in den Mundwinkeln hatte und dass seine Augen rot gerändert waren, als wäre er müde oder hätte gerade geweint. Danny sah, wie der Mann Dick – jünger, als Danny jetzt war, etwa so alt, wie er in jenem Winter im Overlook gewesen war – auf den Schoß nahm. Wenn die beiden nicht allein waren, beschränkte er sich aufs Kitzeln. Sonst griff er Dick mit der Hand zwischen die Beine und drückte ihm die Eier zusammen, bis Dick dachte, er würde vor Schmerz in Ohnmacht fallen.
»Na, magst du das?«, keuchte der Schwarze Opa Dick ins Ohr. Er roch nach Zigaretten und Whiskey. »Klar magst du das, jeder Junge mag das. Aber selbst wenn du’s nicht magst, erzählst du niemand was, klar? Sonst tu ich dir weh. Ich werde dich verbrennen.«
»Scheiße«, sagte Danny. »Das ist krass.«
»Das ist noch lange nicht alles«, sagte Dick. »Aber ich werd dir nur noch eines erzählen. Nachdem seine Frau gestorben war, hat der Schwarze Opa eine andere Frau angestellt, die ihm im Haushalt helfen sollte. Sie hat geputzt und gekocht. Beim Essen hat sie alles zusammen auf den Tisch geknallt, vom Salat bis zum Nachtisch, das hat dem alten Schwarzen Opa nämlich so gepasst. Zum Nachtisch gab’s immer Kuchen oder Pudding. Der kleine Teller damit stand neben dem großen Teller, damit man ihn ansehen und Hunger drauf bekommen sollte, während man das andere Zeug runtergewürgt hat. Bei Opa galt die eiserne Regel, dass man den Nachtisch zwar ansehen, aber nicht essen durfte, bis man jeden Bissen gebratenes Fleisch und gekochtes Gemüse und Kartoffelpüree aufgegessen hatte. Man musste sogar die Soße verputzen, die klumpig war und nach nichts geschmeckt hat. Wenn die nicht ganz weg war, hat der Schwarze Opa mir ein Stück Brot gegeben und gesagt: ›Saug sie damit auf, Dickie-Bird, mach deinen Teller blitzblank, wie wenn der Hund ihn abgeschleckt hätte.‹ So hat er mich genannt, Dickie-Bird.
Manchmal hab ich es einfach nicht geschafft aufzuessen, und dann hab ich den Kuchen oder den Pudding nicht bekommen. Er hat das Zeug genommen und selber gegessen. Und manchmal, wenn ich es doch geschafft hab, hab ich gemerkt, dass er eine Zigarettenkippe in mein Stück Kuchen oder meinen Vanillepudding gesteckt hat. Das konnte er tun, weil er immer neben mir gesessen hat. Er hat es als tollen Scherz ausgegeben. ›Ach, da hab ich wohl den Aschenbecher nicht getroffen‹, hat er gesagt. Meine Mutter und mein Vater haben nie was dagegen unternommen, obwohl ihnen sicher klar war, dass man so was mit einem Kind nicht macht, selbst wenn es ein Scherz sein soll. Stattdessen haben sie einfach mitgespielt und auch getan, als wäre es ein Scherz.«
»Das ist echt schlimm«, sagte Danny. »Deine Eltern hätten dich beschützen sollen. Meine Mama tut das. Mein Daddy würde es auch tun.«
»Sie haben sich vor ihm gefürchtet, und das hatte gute Gründe. Andy Hallorann war ein richtig übler Typ. Er hat gesagt: ›Los, Dickie, iss einfach drum herum, es wird dich schon nicht vergiften.‹ Wenn ich einen Bissen gegessen hab, musste Nonnie – so hieß seine Haushälterin – mir einen neuen Nachtisch bringen. Und wenn nicht, blieb das Zeug einfach stehen. Nach einer Weile konnte ich nie mehr aufessen, weil mir immer ganz übel geworden ist.«
»Du hättest deinen Nachtisch auf die andere Seite von deinem Teller stellen sollen«, sagte Danny.
»Das hab ich schon versucht, ich bin ja nicht blöd. Dann hat er den Teller einfach zurückgestellt und gesagt, der Nachtisch steht immer rechts.« Dick schwieg und blickte aufs Wasser hinaus, wo ein langes, weißes Schiff langsam über die Trennlinie zwischen dem Himmel und dem Golf von Mexiko zog. »Wenn er mich allein erwischt hat, dann hat er mich manchmal gebissen. Und einmal, als ich gesagt hab, wenn er mich nicht in Ruhe lässt, sag ich’s meinem Vater, da hat er seine Zigarette auf meinem nackten Fuß ausgedrückt. ›Erzähl ihm das doch auch gleich, und sieh mal, was dir das bringt‹, hat er gesagt. ›Dein Daddy kennt mich schon, und der sagt nie ein Wort, weil er die Hosen voll hat und weil ich Geld auf der Bank hab. Das will er haben, wenn ich ins Gras beiße, aber da kann er noch ’ne Weile warten.‹«
Danny lauschte mit weit aufgerissenen Augen. Er hatte immer gedacht, die gruseligste Geschichte wäre die von Blaubart, so gruselig, wie es nur sein konnte, aber diese Geschichte war schlimmer. Weil sie wahr war.
»Manchmal hat er gesagt, er kennt einen schlechten Kerl namens Charlie Manx, und wenn ich nicht tue, was er will, dann ruft er ihn an, damit der mit seinem schicken Auto kommt und mich an einen Ort für unartige Kinder bringt. Und dann hat Opa mir wieder mit der Hand zwischen die Beine gegriffen und zugedrückt. ›Deshalb wirst du kein Wort sagen, Dickie-Bird. Wenn du’s doch tust, kommt der alte Charlie und sperrt dich zu den anderen Kindern, die er geklaut hat, bis du stirbst. Außerdem kommst du in die Hölle, wo du für immer brennen musst. Weil du gepetzt hast. Ganz egal ob jemand dir glaubt oder nicht, Petzen ist Petzen.‹
Lange hab ich dem alten Bastard geglaubt. Nicht mal meiner Weißen Oma hab ich was erzählt, der mit dem Shining, weil ich Angst hatte, dass sie glaubt, es ist meine eigene Schuld. Wenn ich älter gewesen wäre, hätte ich’s besser gewusst, aber ich war noch ein Kind.« Er schwieg. »Außerdem war da noch etwas anderes. Weißt du, was es war, Danny?«
Danny blickte Dick lange ins Gesicht, um die Gedanken und Bilder hinter dessen Stirn zu erforschen. Schließlich sagte er: »Du wolltest, dass dein Vater das Geld kriegt. Aber er hat’s nie bekommen.«
»Genau. Der Schwarze Opa hat alles in Alabama einem Waisenheim für Farbige hinterlassen, und ich glaube, ich weiß, warum. Aber das tut nichts zur Sache.«
»Und deine gute Oma hat nie was erfahren? Sie hat’s nie erraten?«
»Sie wusste, dass irgendwas los ist, aber ich hab’s abgeblockt, also hat sie mich in Ruhe gelassen. Hat mir bloß gesagt, wann immer ich bereit bin zu reden, ist sie bereit, mir zuzuhören. Danny, als Andy Hallorann gestorben ist – nach einem Schlaganfall –, war ich der glücklichste Junge auf Erden. Meine Ma hat gesagt, ich muss nicht zur Beerdigung gehen und kann bei Oma Rose – meiner Weißen Oma – bleiben, wenn ich will, aber ich wollte hin. Auf jeden Fall. Ich wollte auf Nummer sicher gehen, dass der alte Schwarze Opa wirklich tot ist.
An dem Tag hat’s geregnet. Alle standen mit schwarzen Regenschirmen um das Grab herum. Ich hab zugesehen, wie sein Sarg – der größte und beste in seinem Laden, ganz bestimmt – im Boden verschwunden ist, und ich hab an all die Male gedacht, wo er mir die Eier gequetscht hat, an die ganzen Kippen in meinem Nachtisch und an die, die er auf meinem Fuß ausgedrückt hat, und daran, wie er am Esstisch gethront hat wie der irre alte König in diesem Stück von Shakespeare. Aber vor allem hab ich an Charlie Manx gedacht – den er sich mit Sicherheit aus den Fingern gesaugt hatte – und dass er nie mehr bei Charlie Manx anrufen konnte, damit der nachts kam, um mich in seinem schicken Wagen abzuholen und zu den anderen Jungen und Mädchen zu sperren, die er gestohlen hatte.
Ich hab über den Rand vom Grab gespäht – ›Lass den Jungen‹, hat mein Pa gesagt, als meine Ma versucht hat, mich zurückzuziehen –, und da hab ich den Sarg unten in dem feuchten Loch gesehen und gedacht: Da unten bist du zwei Meter näher an der Hölle, Schwarzer Opa, und bald bist du ganz da, und ich hoffe, der Teufel gibt dir tausend Hiebe mit einer Hand, die in Flammen steht.«
Dick griff in die Hosentasche und zog eine Packung Marlboro mit einem Streichholzbriefchen unter der Zellophanhülle hervor. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund und musste sie dann mit dem Streichholz verfolgen, weil seine Hand zitterte und seine Lippen ebenfalls. Danny sah erstaunt, dass in Dicks Augen Tränen standen.
Da er nun wusste, wo die Geschichte hinführte, fragte er: »Wann ist er wiedergekommen?«
Dick nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und lächelte, als er den Rauch ausstieß. »Um das zu kapieren, musstest du mir nicht mal in den Kopf schauen, was?«
»Nein.«
»Sechs Monate später. Irgendwann bin ich von der Schule heimgekommen, und er lag nackt auf meinem Bett. Sein halb verfaulter Schwanz war in die Höhe gereckt. ›Los, komm, setzt dich da drauf, Dickie-Bird‹, hat er gesagt. ›Wenn du mir tausend Hiebe verpasst, kriegst du von mir zweitausend.‹ Ich hab geschrien, aber es war niemand da, der mich gehört hat. Meine Eltern waren beide bei der Arbeit, meine Ma in einem Restaurant und mein Dad in einer Druckerei. Ich bin rausgerannt und hab die Tür zugeknallt. Da hab ich gehört, wie der Schwarze Opa aufsteht … rums … und durchs Zimmer geht … rums-rums-rums … und was ich als Nächstes gehört hab, waren …«
»Fingernägel«, sagte Danny mit kaum vorhandener Stimme. »Die an der Tür gekratzt haben.«
»Genau. Ich bin nicht wieder reingegangen, bis abends, als meine Eltern beide zu Hause waren. Da war er fort, aber es gab … Überreste.«
»Klar. Wie in unserem Bad. Weil er am Verfaulen war.«
»Genau. Ich hab das Bett alleine frisch bezogen. Das konnte ich, weil meine Mutter es mir schon zwei Jahre vorher gezeigt hat. Sie hat gesagt, ich wär zu alt, um noch eine Haushälterin zu brauchen; Haushälterinnen wären bloß was für kleine weiße Jungs und Mädchen wie die, um die sie sich gekümmert hatte, bevor sie den Job in Berkin’s Steak House bekommen hat. Etwa eine Woche später sehe ich den alten Schwarzen Opa im Park auf einer Schaukel sitzen. Er hatte seinen Anzug an, aber der war von oben bis unten mit grauem Zeug bedeckt – wahrscheinlich Schimmel, der in seinem Sarg darauf gewachsen ist.«
»Ja«, sagte Danny. Es war ein schwaches Flüstern. Mehr brachte er nicht heraus.
»Sein Hosenladen stand offen, und sein Ding hat rausgeragt. Tut mir leid, dass ich dir das alles erzähle, Danny, du bist eigentlich zu jung, so was zu hören, aber du musst es erfahren.«
»Bist du dann zu deiner Weißen Oma gegangen?«
»Das musste sein. Ich wusste nämlich, was du auch weißt: Er wäre einfach immer wiedergekommen. Nicht wie … Danny, hast du schon mal Tote gesehen? Normale Tote, meine ich.« Er lachte, weil sich das komisch anhörte, für ihn und für Danny ebenfalls. »Geister.«
»Ein paarmal. Einmal standen drei davon an einem Bahnübergang. Zwei Jungen und ein Mädchen. Teenager. Ich glaube … vielleicht sind sie da gestorben.«
Dick nickte. »Meistens bleiben sie in der Nähe von dem Ort, wo sie übergewechselt sind, bis sie sich endlich daran gewöhnt haben, tot zu sein, und weiterziehen. Einige von den Leuten, die du im Overlook gesehen hast, waren auch so.«
»Ich weiß.« Die Erleichterung, über solche Dinge sprechen zu können – mit jemand, der Bescheid wusste –, war unbeschreiblich. »Und dann war einmal eine Frau in einem Restaurant. Also in so einem, wo Tische draußen stehen.«
Wieder nickte Dick.
»Durch die konnte ich nicht hindurchsehen, aber außer mir hat niemand sie gesehen, und als eine Kellnerin den Stuhl, auf dem sie saß, an den Tisch geschoben hat, ist die Geisterfrau verschwunden. Siehst du denn manchmal welche?«
»Schon seit Jahren nicht mehr, aber dein Shining ist stärker, als meins es je war. Außerdem nimmt es ein bisschen ab, wenn man älter wird …«
»Toll«, sagte Danny mit Inbrunst.
»… aber ich glaube, du wirst noch massenhaft davon haben, wenn du erwachsen bist, weil du am Anfang so viel hattest. Normale Geister sind nicht wie die Frau, die du in Zimmer 217 und jetzt in eurem Bad gesehen hast. Das stimmt doch, oder?«
»Ja«, sagte Danny. »Mrs. Massey ist echt. Sie lässt Stücke von sich selbst zurück. Die hast du ja selber gesehen. Mama auch. Und sie leuchtet nicht.«
»Gehen wir zurück«, sagte Dick. »Du sollst jetzt sehen, was ich dir mitgebracht habe.«
8
Auf dem Rückweg zum Parkplatz gingen sie noch langsamer, weil Dick außer Atem war. »Zigaretten«, sagte er. »Fang bloß nicht damit an, Danny.«
»Mama raucht. Sie glaubt, ich weiß es nicht, aber ich hab’s gemerkt. Dick, was hat deine Weiße Oma getan? Irgendwas muss sie doch getan haben, weil dein Schwarzer Opa dich nie erwischt hat.«
»Sie hat mir ein Geschenk gemacht, dasselbe, das ich auch dir geben werde. Das tut ein Lehrer, wenn der Schüler bereit ist. Zu lernen ist schon ein Geschenk an sich, weißt du? Das Beste, was man machen oder bekommen kann.
Sie hat Opa Andy nicht beim Namen genannt, sie hat ihn bloß« – Dick grinste – »den Preversling genannt. Ich hab ihr das erzählt, was du gerade gesagt hast, dass er kein Geist war, sondern echt. Und sie sagt, ja, das stimmt, weil ich ihn echt mache. Mit meinem Shining. Sie hat gesagt, manche Geister – vor allem zornige Geister – ziehen aus dieser Welt nicht weiter, weil sie wissen, dass das, was sie erwartet, noch schlimmer ist. Die meisten verhungern irgendwann, aber manche finden Futter. ›Das ist Shining für die, Dick‹, hat sie zu mir gesagt. ›Futter. Du fütterst diesen Preversling. Das willst du zwar nicht, aber du tust es. Er ist wie eine Stechmücke, die dich ständig umkreist und dann landet, um wieder Blut zu saugen. Daran kannst du nichts ändern. Aber du kannst was tun, nämlich das, wegen dem er gekommen ist, gegen ihn wenden.‹«
Sie waren wieder beim Cadillac. Dick schloss die Türen auf, dann schob er sich mit einem erleichterten Seufzer hinters Lenkrad. »Früher konnte ich zehn Meilen gehen und weitere fünf laufen. Inzwischen braucht’s bloß einen kleinen Strandspaziergang, und mein Rücken fühlt sich an wie nach ’nem Pferdetritt. Los, Danny. Pack dein Geschenk aus!«
Danny riss das Silberpapier auf und entdeckte eine Kassette aus grün lackiertem Metall. Vorn, unter dem Verschluss, befand sich eine kleine Tastatur.
»He, cool!«
»Ja? Gefällt sie dir? Gut. Hab ich bei Western Auto besorgt. Echter amerikanischer Stahl. Das Ding, das ich von meiner Weißen Oma Rose bekommen hab, hatte ein Vorhängeschloss mit einem kleinen Schlüssel, den ich um den Hals getragen hab, aber das ist lange her. Jetzt haben wir die Achtzigerjahre, die moderne Zeit. Siehst du die Tastatur? Also, da drückst du auf fünf Zahlen, die du bestimmt nicht vergessen wirst, und dann drückst du die kleine Taste da. Danach gibst du, jedes Mal wenn du die Kassette öffnen willst, deinen Code ein.«
Danny war begeistert. »Danke, Dick! Da werd ich meine wichtigen Sachen drin aufheben!« Dazu gehörten seine besten Baseballkarten, sein Kompassabzeichen von den Pfadfindern, sein grüner Glücksstein und ein Bild von ihm und seinem Vater, aufgenommen auf dem Rasen vor dem Mietshaus, in dem sie in Boulder gewohnt hatten, in der Zeit vor dem Overlook. Bevor alles eine schlechte Wendung genommen hatte.
»In Ordnung, Danny, das kannst du gern machen, aber du sollst noch etwas anderes tun.«
»Was denn?«
»Ich will, dass du die Kassette so gut kennenlernst wie deine Westentasche. Sieh sie nicht bloß an, berühr sie. Betaste sie überall. Steck dann deine Nase rein, und stell fest, ob du was riechst. Sie muss dein bester Freund werden, zumindest für eine Weile.«
»Warum?«
»Weil du dir eine zweite, genau wie die da, in den Kopf stecken wirst. Eine, die noch spezieller ist, weil du sie nämlich als Schließfach benutzt. Und wenn dieses Miststück das nächste Mal anrückt, bist du bereit dafür. Ich erklär dir, wie du das machst, so wie meine alte Weiße Oma es mir erklärt hat.«
Auf der Rückfahrt zur Wohnung sagte Danny nicht viel. Er musste über allerhand nachdenken. Sein Geschenk – eine Kassette aus starkem Metall – hielt er auf dem Schoß.
9
Eine Woche später kehrte Mrs. Massey zurück. Sie war wieder im Badezimmer, diesmal in der Wanne. Was Danny nicht überraschte, schließlich war sie in einer gestorben. Diesmal lief er nicht davon. Diesmal ging er hinein und schloss die Tür hinter sich. Lächelnd winkte Mrs. Massey ihn zu sich. Danny gehorchte, ebenfalls lächelnd. Aus dem Nebenzimmer hörte er den Fernseher. Seine Mutter sah Herzbube mit zwei Damen.
»Hallo, Mrs. Massey«, sagte Danny. »Ich hab Ihnen was mitgebracht.«
Im letzten Augenblick begriff sie und begann zu schreien.
10
Wenige Momente später klopfte seine Mutter an die Badezimmertür. »Danny? Alles in Ordnung da drin?«
»Klar, Mama.« Die Wanne war leer. Es war etwas Glibber darin, aber von dem würde er sie auch noch befreien. Mit etwas Wasser konnte er ihn einfach in den Abfluss spülen. »Musst du aufs Klo? Ich bin bald fertig.«
»Nein. Ich hab bloß … Ich dachte, ich hab dich rufen hören.«
Danny griff nach seiner Zahnbürste und öffnete die Tür. »Mir geht’s super. Siehst du?« Er strahlte sie an. Was ihm nicht schwerfiel, da Mrs. Massey ja jetzt verschwunden war.
Der besorgte Blick schwand aus ihrem Gesicht. »Gut. Denk dran, auch die ganz hinten zu putzen. Da verstecken sich Essensreste.«
»Mach ich, Mama.«
Aus dem Innern seines Kopfes, tief drinnen, wo der Zwilling seines speziellen Schließfachs auf einem speziellen Regal stand, hörte Danny gedämpfte Schreie. Das machte ihm nichts aus. Das würde bald aufhören, dachte er, und damit lag er richtig.
11
Zwei Jahre später, am Tag vor den Herbstferien, tauchte bei Danny Torrance mitten auf einer verlassenen Treppe der Alafia-Grundschule eine andere Erscheinung auf: Horace Derwent. Auf den Schultern seines Anzugs lag Konfetti. An einer seiner verwesenden Hände hing eine kleine, schwarze Maske. Er stank nach Grab. »Tolle Party, was?«, sagte er.
Danny drehte sich um und machte sich ganz schnell aus dem Staub.
Als die Schule aus war, rief er Dick in dem Restaurant in Key West an, in dem er arbeitete. »Jetzt hat noch jemand von den Leuten aus dem Hotel Overlook mich gefunden. Wie viele Schließfächer kann ich haben, Dick? In meinem Kopf, meine ich.«
Dick gluckste. »So viele, wie du brauchst, Kleiner. Das ist das Schöne am Shining. Meinst du, mein Schwarzer Opa war der Einzige, den ich jemals wegsperren musste?«
»Sterben die eigentlich da drin?«
Diesmal kam kein Glucksen. Diesmal lag in Dicks Stimme eine Kälte, wie sie der Junge noch nie bei ihm gehört hatte. Es störte ihn nicht. »Ist das so wichtig?«
Nein, war es nicht, dachte Danny.
Als der frühere Eigentümer des Overlooks kurz nach Neujahr wiederauftauchte, diesmal im Schrank von Dannys Zimmer, war Danny bereit. Er schlüpfte in den Schrank und zog die Tür zu. Kurze Zeit später kam auf das Regal hoch oben in seinem Kopf ein zweites mentales Schließfach neben das, in dem Mrs. Massey eingesperrt war. Wieder hörte Danny Klopfgeräusche und ein paar einfallsreiche Flüche, die er sich für den späteren Gebrauch merkte. Das Ganze endete jedoch ziemlich bald, worauf in dem Schließfach mit Derwent ebenso Schweigen herrschte wie in dem mit Mrs. Massey. Ob die beiden noch am Leben waren (auf ihre untote Weise), war nicht mehr wichtig.
Wichtig war, dass sie nie mehr herauskonnten. Danny war in Sicherheit.
Das dachte er damals jedenfalls. Natürlich dachte er auch, er würde niemals Alkohol trinken, nachdem er erlebt hatte, was der aus seinem Vater gemacht hatte.
Manchmal kapieren wir es einfach nicht.
1
Sie hieß Andrea Steiner, und sie mochte Filme, wohingegen sie Männer nicht mochte. Was nicht weiter überraschend war, da ihr Vater sie im Alter von acht Jahren zum ersten Mal vergewaltigt hatte. Anschließend hatte er sie dieselbe Zahl von Jahren weiter vergewaltigt. Schließlich hatte sie dem ein Ende gemacht, indem sie ihm mit einer aus dem Vorrat ihrer Mutter stammenden Stricknadel zuerst nacheinander die Eier durchbohrt und dann dieselbe Nadel, rot und tropfend, in den linken Augapfel ihres Vergewaltigers und Erzeugers gestochen hatte. Das mit den Eiern war leicht gewesen, weil er gerade geschlafen hatte, doch trotz ihrem besonderen Talent hatte der Schmerz ausgereicht, ihn aufzuwecken. Allerdings war sie ein kräftiges Mädchen, und er war besoffen gewesen. Sie hatte ihn mit ihrem Körper gerade lange genug niederhalten können, dass sie ihm den Gnadenstoß verpassen konnte.
Nun war sie vier mal acht Jahre alt und streifte durch Amerika. Ein früherer Schauspieler hatte den Erdnussfarmer im Weißen Haus abgelöst. Der Neue hatte die unnatürlich schwarzen Haare und das charmante, unglaubwürdige Lächeln eines Hollywood-Mimen. Im Fernsehen hatte Andi einen seiner Filme gesehen. Darin spielte der Mann, der später Präsident werden sollte, einen Kerl, der seine Beine verlor, als ein Zug darüberfuhr. Die Vorstellung eines Mannes ohne Beine gefiel ihr; ein Mann ohne Beine konnte einem nicht nachstellen, um einen zu vergewaltigen.
Filme, die waren ihr Ding. Filme konnten einen woandershin entführen. Bei denen gab es Popcorn und ein Happy End. Wenn man einen Mann dabeihatte, war es ein Rendezvous, und er zahlte. Der Film, den sie gerade sah, war ein guter, mit Kämpfen und Küssen und lauter Musik. Er hieß Jäger des verlorenen Schatzes. Ihr momentaner Begleiter hatte seine Hand unter ihrem Rock, ganz oben auf ihrem nackten Oberschenkel, aber das war in Ordnung; eine Hand war kein Schwanz. Sie hatte ihn in einer Kneipe kennengelernt. Die meisten Männer, mit denen sie ausging, hatte sie in einer Kneipe getroffen. Er hatte ihr einen Drink spendiert, aber so was war noch kein Rendezvous, das war bloß eine zufällige Bekanntschaft.
Was ist denn das, hatte er sie gefragt und war ihr mit der Fingerspitze über den linken Oberarm gefahren. Sie trug eine ärmellose Bluse, weshalb das Tattoo sichtbar war. Das ließ sie gern aufblitzen, wenn sie es auf ein Rendezvous abgesehen hatte. Sie wollte, dass die Männer es sahen. Die fanden es nämlich sexy. Sie hatte es sich in San Diego stechen lassen, ein Jahr nachdem sie ihren Vater getötet hatte.
Das ist eine Schlange, sagte sie. Eine Klapperschlange. Siehst du die Zähne nicht?
Natürlich sah er die. Es waren große Zähne, die in keinem Verhältnis zum Kopf standen. An einem hing ein Tropfen Gift.
Er war vom Typ Geschäftsmann mit teurem Anzug und massenhaft zurückgekämmtem Präsidentenhaar und hatte den Nachmittag frei. Sonst erledigte er wahrscheinlich irgendwelchen Papierkram. Seine Haare waren allerdings eher weiß als schwarz, und dem Aussehen nach war er etwa sechzig. Fast zweimal so alt wie sie. Aber Männern war so was egal. Es hätte ihn nicht mal geschert, wenn sie sechzehn statt zweiunddreißig gewesen wäre. Oder acht. Sie erinnerte sich an etwas, was ihr Vater einmal gesagt hatte: Wer alt genug zum Pinkeln ist, kann auch gefickt werden.
Natürlich sehe ich die, hatte der Mann, der jetzt neben ihr saß, gesagt. Aber was hat das Ding zu bedeuten?
Vielleicht kriegst du’s später ja raus, erwiderte Andi und legte die Zungenspitze an die Oberlippe. Ich hab noch ein zweites Tattoo. Woanders.
Darf ich es sehen?
Vielleicht. Magst du Filme?
Er hatte die Stirn gerunzelt. Wieso?
Du willst doch mit mir ausgehen, oder?
Er wusste, was das bedeutete – oder was es hätte bedeuten sollen. In der Kneipe befanden sich noch andere junge Frauen, und wenn die so etwas sagten, meinten sie etwas ganz Bestimmtes. Aber das war es nicht, was Andi meinte.
Klar. Du bist süß.
Dann geh doch mit mir aus. Aber in echt. Im Rialto läuft Jäger des verlorenen Schatzes.
Ich hab eher an das kleine Hotel zwei Straßen weiter gedacht, Süße. Ein Zimmer mit Bar und Balkon, was hältst du davon?
Sie hatte die Lippen nah an sein Ohr gebracht und dafür gesorgt, dass ihre Brüste sich an seinen Arm drückten. Später vielleicht. Geh erst mal mit mir ins Kino. Lad mich ein, und kauf mir Popcorn. Die Dunkelheit bringt mich in Stimmung.
Und da saßen sie und sahen auf der Leinwand Harrison Ford, groß wie ein Wolkenkratzer und mit einer Peitsche, die er im Wüstenstaub krachen ließ. Der alte Typ mit dem Präsidentenhaar hatte seine Hand unter ihrem Rock, aber sie hatte ihren Becher Popcorn so auf dem Schoß platziert, dass er mit der Hand zwar ziemlich weit kam, aber eben doch nicht ganz bis zum Ziel. Trotzdem versuchte er, sich vorbeizumogeln, was ärgerlich war, weil sie den Film zu Ende sehen und herausbekommen wollte, was sich in der Bundeslade befand. Deshalb …
2
Wie üblich an einem Nachmittag mitten in der Woche war das Kino fast leer, aber zwei Reihen hinter Andi Steiner und ihrem Verehrer saßen drei weitere Zuschauer. Zwei Männer, einer ziemlich alt, der andere dem Anschein nach kurz vor dem mittleren Alter (wenngleich der Anschein trügen konnte), dazwischen eine Frau von erstaunlicher Schönheit. Sie hatte hohe Wangenknochen, graue Augen und einen cremefarbenen Teint. Ihr üppiges schwarzes Haar war mit einem breiten Seidenband zurückgebunden. Normalerweise trug sie einen Hut – einen alten, ramponierten Zylinder –, aber den hatte sie an diesem Tag in ihrem Wohnmobil gelassen. Im Kino trug man kein Ofenrohr. Eigentlich hieß sie Rose O’Hara, aber die Familie von Nomaden, mit der sie reiste, nannte sie Rose the Hat.
Der Mann, der allmählich ins mittlere Alter kam, hieß Barry Smith. Er war zwar zu hundert Prozent europäischer Herkunft, in der betreffenden Familie jedoch als Barry the Chink bekannt, und zwar wegen seinen leicht mandelförmigen Augen, die an einen Chinesen erinnerten.
»Jetzt seht euch das mal an«, sagte er. »Das ist ja interessant.«
»Der Film ist interessant«, knurrte der alte Mann, Grampa Flick. Aber das lag nur daran, dass er gern widersprach. Auch er beobachtete das Pärchen zwei Reihen weiter vorn.
»Gut so«, sagte Rose. »Die Frau ist nämlich nicht besonders scharf. Ein bisschen schon, aber …«
»Jetzt legt sie los, jetzt legt sie los«, sagte Barry, als Andi sich zur Seite neigte und die Lippen ans Ohr ihres Verehrers brachte. Barry grinste und hatte die Schachtel Gummibären in seiner Hand ganz vergessen. »Da hab ich nun schon dreimal gesehen, wie sie es macht, und hab noch immer meine Freude dran.«
3
Das Ohr von Mr. Geschäftsmann war mit einem Gestrüpp aus drahtigen weißen Härchen gefüllt und mit kackbraunem Ohrenschmalz verstopft, aber davon ließ Andi sich nicht abhalten. Sie wollte aus dieser Stadt verschwinden, und in ihrer Kasse herrschte gefährliche Ebbe. »Bist du nicht müde?«, flüsterte sie in das ekelhafte Ohr. »Willst du denn nicht einschlafen?«
Sofort sank dem Mann der Kopf auf die Brust, und er begann zu schnarchen. Andi griff unter den Rock, nahm die erschlaffte Hand und legte sie auf die Armlehne. Dann griff sie in die teuer aussehende Anzugjacke von Mr. Geschäftsmann und wühlte darin herum. Seine Brieftasche steckte in der linken Innentasche. Das war gut. Sie musste ihn also nicht dazu bringen, sich von seinem fetten Arsch zu erheben. Sobald die Typen schliefen, war es schwierig, sie zu bewegen.
Sie klappte die Brieftasche auf, warf die Kreditkarten auf den Boden und betrachtete die Fotos eine Weile – Mr. Geschäftsmann mit ein paar ebenfalls übergewichtigen Kollegen auf dem Golfplatz, Mr. Geschäftsmann mit seiner Frau, ein wesentlich jüngerer Mr. Geschäftsmann, der mit seinem Sohn und seinen zwei Töchtern vor einem Weihnachtsbaum stand. Die Töchter trugen Weihnachtsmannmützen und passende Kleidchen. Vergewaltigt hatte er sie wahrscheinlich nicht, wenngleich das nicht völlig ausgeschlossen war. Männer neigten zu Vergewaltigungen, wenn sie damit davonkamen, das hatte sie selbst erfahren. Auf den Knien ihres Vaters sozusagen.
Im Scheinfach steckten über zweihundert Dollar. Sie hatte sich noch mehr erhofft – die Bar, in der sie ihn getroffen hatte, wurde von einer besseren Sorte Huren frequentiert als die Kneipen draußen in der Nähe des Flughafens –, aber für einen Donnerstagnachmittag war es nicht schlecht, und es gab immer Männer, die eine gut aussehende Frau ins Kino einladen wollten, wo ein wenig Fummeln nur als Aperitif diente. Das erhofften sie sich jedenfalls.
4
»Okay«, sagte Rose leise und erhob sich. »Jetzt bin ich überzeugt. Probieren wir’s.«
Barry legte ihr die Hand auf den Arm, um sie aufzuhalten. »Nein, wart noch ein bisschen. Schauen wir zu. Jetzt kommt das Beste.«
5
Andi beugte sich wieder nah an das eklige Ohr und flüsterte: »Schlaf tiefer. So tief du kannst. Der Schmerz, den du spürst, wird nur ein Traum sein.« Sie öffnete ihre Handtasche und zog ein Messer mit Perlmuttgriff hervor. Es war zwar klein, aber die Schneide war scharf wie eine Rasierklinge. »Was wird der Schmerz sein?«
»Nur ein Traum«, murmelte Mr. Geschäftsmann in seinen Krawattenknoten.
»Genau, Süßer.« Sie legte den Arm um ihn und schlitzte ohne Umstände ein doppeltes V in seine rechte Wange – eine Wange, die so fett war, dass sie sich bald zur Hängebacke entwickeln würde. Sie gönnte sich einen Moment, ihr Werk in dem launischen Licht zu betrachten, das der farbige Traumstrahl des Projektors verbreitete. Dann strömte das Blut herab. Sobald er aufwachte, würde sein Gesicht wie Feuer brennen, der rechte Ärmel seines teuren Anzugs durchnässt sein und er einen Rettungswagen brauchen.
Und wie wirst du das deiner Frau erklären? Du wirst dir schon was ausdenken, klar. Aber falls du nicht zum Schönheitschirurgen gehst, wirst du bei jedem Blick in den Spiegel mein Zeichen sehen. Und jedes Mal wenn du dich in einer Bar nach einer kleinen Fremden umsiehst, wirst du dich daran erinnern, wie du von einer Klapperschlange gebissen wurdest. Von einer Schlange in einem blauen Rock und einer weißen, ärmellosen Bluse.
Sie steckte die zwei Fünfziger und die fünf Zwanziger in ihre Handtasche, klappte diese zu und wollte schon aufstehen, als sich eine Hand auf ihre Schulter legte und eine Frau ihr ins Ohr murmelte: »Hallo, meine Liebe. Das Ende des Films kannst du ein andermal sehen. Jetzt kommst du erst mal mit uns mit.«
Andi wollte sich umdrehen, aber jemand packte ihren Kopf fest mit den Händen. Das Schreckliche daran war, dass diese Hände in ihrem Innern waren.
Danach – bis sie auf einem verwahrlosten Campingplatz am Rand dieser Stadt im Mittleren Westen in Rose’ EarthCruiser wieder zu sich kam – war alles Dunkelheit.
6
Als sie erwachte, reichte Rose ihr eine Tasse Tee und redete lange auf sie ein. Andi hörte alles, aber ihre Aufmerksamkeit war von der Frau gefesselt, die sie entführt hatte. Die hatte eine besondere Ausstrahlung, vorsichtig ausgedrückt. Rose the Hat war gut ein Meter achtzig groß, hatte lange Beine in taillierten, weißen Hosen und knackig hohe Brüste in einem T-Shirt mit dem UNICEF-Logo und dem Motto: Whatever It Takes to Save a Child. Ihr Gesicht war das einer ruhigen Königin, heiter und unbeschwert. Ihr nun gelöstes Haar fiel ihr über den halben Rücken. Der ramponierte Zylinder auf dem Kopf störte das Bild, aber sonst war sie die schönste Frau, die Andi Steiner je zu Gesicht bekommen hatte.
»Verstehst du, was ich dir gesagt habe? Ich biete dir eine Gelegenheit, Andi, und die solltest du nicht einfach ignorieren. Es ist zwanzig oder mehr Jahre her, dass wir jemand das angeboten haben, was ich dir jetzt anbiete.«
»Und wenn ich nein sage? Was dann? Bringt ihr mich dann um? Und nehmt euch den …« Wie hatte Rose das genannt? »Diesen Steam?«
Rose lächelte. Ihre Lippen waren voll und korallenrosa. Andi, die sich für asexuell hielt, fragte sich dennoch, wie dieser Lippenstift wohl schmeckte.
»Du hast nicht genug Steam, als dass es sich lohnen würde, meine Liebe, und der, den du hast, wäre nicht besonders lecker. Er würde so schmecken, wie ’ne zähe alte Kuh ’nem Tölpel schmeckt.«
»Einem was?«
»Nicht weiter wichtig, hör einfach zu. Wir werden dich nicht umbringen. Wenn du nein sagst, werden wir einfach alle Erinnerungen an dieses kleine Gespräch auslöschen. Du wirst dich am Straßenrand in der Nähe irgendeiner Stadt wiederfinden – vielleicht Topeka oder Fargo –, ohne Geld, ohne Ausweis und ohne Erinnerung, wie du dorthin gelangt bist. Das Letzte, woran du dich erinnern wirst, ist der Moment, in dem du mit dem Mann, den du ausgeraubt und entstellt hast, in dieses Kino gegangen bist.«
»Er hatte es verdient, entstellt zu werden!«, stieß Andi hervor.
Rose stellte sich auf die Zehenspitzen und streckte sich, bis sie mit den Fingern das Dach des Wohnmobils berührte. »Das ist deine Sache, Schätzchen, ich bin nicht dein Psychiater.« Sie trug keinen BH; Andi konnte die beweglichen Punkte sehen, die ihre Brustwarzen in das T-Shirt stanzten. »Aber du solltest etwas bedenken: Wir werden dir nicht nur dein Geld und deinen zweifellos gefälschten Ausweis wegnehmen, sondern auch dein Talent. Wenn du das nächste Mal in einem dunklen Kino sitzt und einem Mann sagst, er soll einschlafen, wird er dich ansehen und fragen, was zum Teufel das soll.«
Andi spürte, wie es ihr kalt über den Rücken lief. »Das könnt ihr doch gar nicht«, sagte sie. Aber sie erinnerte sich an die schrecklich starken Hände, die ihr ins Gehirn gegriffen hatten, und war sich ziemlich sicher, dass diese Frau sehr wohl dazu in der Lage war. Vielleicht brauchte sie ein wenig Hilfe von ihren Freunden in den Wohnmobilen, die sich wie Ferkel an den Zitzen einer Sau um ihre Behausung versammelt hatten, aber doch – sie würde es können.
Rose ignorierte die Bemerkung. »Wie alt bist du, Liebes?«
»Achtundzwanzig.« Seit sie die Null hinter der Drei überlebt hatte, schwindelte sie bezüglich ihres Alters.
Rose sah sie lächelnd an, ohne etwas zu sagen. Andi erwiderte den Blick dieser wunderschönen grauen Augen ganze fünf Sekunden lang, dann musste sie nach unten sehen. Doch als sie das tat, fiel ihr Blick auf diese ebenmäßigen Brüste, die trotz fehlendem BH überhaupt nicht durchhingen. Und als sie wieder aufsah, kam ihr Blick nur bis zu den Lippen der Frau. Bis zu diesen korallenrosa Lippen.
»Du bist zweiunddreißig«, sagte Rose. »Ach, das zeigt sich eben ein bisschen – weil du ein hartes Leben geführt hast. Ein Leben auf der Flucht. Aber du bist immer noch hübsch. Bleib bei uns, leb mit uns zusammen, und in zehn Jahren wirst du wirklich achtundzwanzig sein.«
»Das ist unmöglich.«
Rose lächelte. »In hundert Jahren wirst du in den Spiegel sehen und dich wie fünfunddreißig fühlen. Aber nur, bis du dir wieder Steam nimmst. Dann wirst du wieder achtundzwanzig sein, nur wirst du dich zehn Jahre jünger fühlen. Und du wirst dir oft Steam nehmen. Lange zu leben, jung zu bleiben und gut zu essen, das ist es, was ich dir anbiete. Na, wie hört sich das an?«
»Zu schön, um wahr zu sein«, sagte Andi. »Wie diese Anzeigen, die einem sagen, wie man für zehn Dollar eine Lebensversicherung kriegt.«
Damit hatte sie nicht ganz unrecht. Rose hatte zwar nicht gelogen (zumindest vorerst nicht), aber einiges verschwiegen. Zum Beispiel, dass der Steam manchmal knapp war. Und dass nicht jeder die Umwandlung überlebte. Rose war zwar der Ansicht, Andi würde sie überleben, und Walnut, der Quacksalber des Wahren Knotens, hatte ihr vorsichtig zugestimmt, aber eine Garantie gab’s nicht.
»Und du und deine Freunde, ihr nennt euch …?«
»Das sind nicht meine Freunde, das ist meine Familie. Wir sind der Wahre Knoten.« Rose schlang die Finger ineinander und hielt sie Andi vors Gesicht. »Und was gebunden ist, kann nie wieder gelöst werden. Das musst du dir klarmachen.«
Andi, die bereits wusste, dass ein vergewaltigtes Mädchen bis an ihr Lebensende ein vergewaltigtes Mädchen blieb, begriff das vollkommen.
»Habe ich überhaupt irgendeine andere Wahl?«
Rose zuckte die Achseln. »Nicht so richtig, Liebes. Aber es ist besser, wenn du es wirklich willst. Das macht die Umwandlung leichter.«
»Tut sie weh? Diese Umwandlung?«
Rose lächelte und erzählte die erste Lüge. »Überhaupt nicht.«
7
Eine Sommernacht an der Peripherie einer Stadt im Mittleren Westen.
Irgendwo sahen Leute zu, wie Harrison Ford seine Peitsche krachen ließ; irgendwo lächelte der Schauspielerpräsident zweifellos sein wenig vertrauenswürdiges Lächeln; hier auf dem Campingplatz lag Andi Steiner auf einer billigen Gartenliege im Licht der Scheinwerfer von Rose’ EarthCruiser und irgendeinem Winnebago. Rose hatte ihr erklärt, der Wahre Knoten besitze zwar mehrere eigene Campingplätze, dieser gehöre allerdings nicht dazu. Aber der Scout der Gruppe schaffe es, Plätze wie diesen, die am Rande des Bankrotts standen, exklusiv zu mieten. Amerika litt unter einer Rezession, doch für den Knoten war Geld kein Problem.
»Wer ist dieser Scout?«, hatte Andi gefragt.
»Ach, das ist ein sehr einnehmender Kerl«, hatte Rose lächelnd erwidert. »Mit seinem Charme könnte der die Vöglein von den Bäumen herunterlocken. Du wirst ihn bald kennenlernen.«
»Ist er dein Freund?«
Darüber hatte Rose gelacht und Andi anschließend zärtlich über die Wange gestrichen. Die Berührung ihrer Finger hatte in Andis Magen einen kleinen, heißen Wurm der Erregung geweckt. Irre, aber so war es. »Du hast ein Funkeln in den Augen, was? Ich glaube, es wird alles gut laufen.«
Schon möglich, aber während Andi so dalag, war sie nicht mehr erregt, sondern nur noch verängstigt. Storys aus den Nachrichten kamen ihr in den Sinn, Storys über Leichen, die man in Straßengräben, auf Waldlichtungen oder am Grund von ausgetrockneten Brunnen gefunden hatte. Frauen und Mädchen. Fast immer waren es die von Frauen und Mädchen. Angst machte ihr nicht Rose – jedenfalls nicht richtig –, und es waren noch andere Frauen da, aber da waren auch Männer.
Rose kniete sich neben sie. Das grelle Scheinwerferlicht hätte ihr Gesicht eigentlich in eine raue, hässliche Landschaft aus Schwarz und Weiß verwandeln sollen, jedoch das Gegenteil war der Fall: Es machte sie nur noch schöner. Wieder strich sie Andi zärtlich über die Wange. »Keine Angst«, sagte sie. »Keine Angst.«
Sie wandte sich an eine der anderen Frauen, ein bleiches, hübsches und vor allem stilles Wesen, das sie Silent Sarey genannt hatte, und nickte. Sarey erwiderte das Nicken und stieg in Rose’ monströses Wohnmobil. Die anderen bildeten inzwischen einen Kreis rund um die Gartenliege. Das gefiel Andi nicht. Das hatte was von einer Opferung.
»Keine Angst. Bald wirst du eine von uns sein, Andi. Eine, die zu uns gehört.«
Es sei denn, dachte Rose, du kreist aus. In diesem Fall verbrennen wir einfach deine Kleider in dem Müllofen hinter den Toiletten und ziehen morgen weiter. Wer nicht wagt, der nicht gewinnt.
Allerdings hoffte sie, dass es nicht so kam. Sie mochte Andi, und jemand mit einem Schläfertalent zu haben war eindeutig von Nutzen.
Sarey kam mit einem Behälter aus Stahl zurück, der wie eine dieser Trinkflaschen aus Aluminium aussah. Sie gab ihn Rose, die die rote Kappe abnahm. Zum Vorschein kamen eine Düse und ein Ventil. Das Ding erinnerte Andi irgendwie auch an eine Dose Insektenspray ohne Etikett. Sie dachte daran, aufzuspringen und wegzurennen, doch dann fiel ihr das Kino wieder ein. Die Hände, die ihr in den Kopf gegriffen und sie festgehalten hatten.
»Grampa Flick?«, sagte Rose. »Leitest du uns an?«
»Aber gern.« Das war der Alte aus dem Kino. Inzwischen trug er schlabberige, rosa Bermudashorts, weiße Socken, die an seinen dürren Schienbeinen bis zu den Knien hinaufreichten, und Jesuslatschen. Andi fand, dass er aussah wie der Großvater aus den Waltons nach zwei Jahren im Konzentrationslager. Er hob die Hände, und die anderen taten es ihm nach. So miteinander verbunden, wurden ihre Silhouetten im Licht der sich kreuzenden Scheinwerfer zu einer Kette aus bizarren Papierpuppen.
»Wir sind der Wahre Knoten«, sagte er. Die aus der eingesunkenen Brust kommende Stimme zitterte nicht mehr; sie war die tiefe, tönende Stimme eines wesentlich jüngeren und kräftigeren Mannes.
»Wir sind der Wahre Knoten«, erwiderten die anderen. »Was gebunden ist, darf nie gelöst werden.«
»Hier ist eine Frau«, sagte Grampa Flick. »Will sie sich uns anschließen? Will sie ihr Leben an unser Leben binden und eins mit uns sein?«
»Sag ja«, sagte Rose.
»J-ja«, brachte Andi heraus. Ihr Herz schlug nicht mehr nur, es vibrierte wie ein gespannter Draht.
Rose drehte an dem Ventil ihres Behälters. Man hörte ein leises, klagendes Seufzen, dann entwich eine kleine Wolke aus silbernem Dunst. Statt sich im sanften Abendwind aufzulösen, schwebte sie direkt über dem Behälter, bis Rose sich vorbeugte, ihre faszinierenden Korallenlippen spitzte und behutsam blies. Die Dunstwolke, die ein wenig wie eine Sprechblase ohne Worte aussah, setzte sich in Bewegung, bis sie über Andis nach oben gewandtem Gesicht und deren weit aufgerissenen Augen stehen blieb.
»Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort«, verkündete Grampa Flick.
»Sabbatha hanti«, erwiderten die anderen.
Ganz langsam senkte sich der Dunst.
»Wir sind die Auserwählten.«
»Lodsam hanti«, war die Antwort.
»Tief atmen«, sagte Rose und küsste Andi sanft auf die Wange. »Auf der anderen Seite sehen wir uns wieder.«
Vielleicht.
»Wir sind die Glückseligen.«
»Cahanna risone hanti.«
Dann alle gemeinsam: »Wir sind der Wahre Knoten, und wir …«
Aber da verlor Andi den Kontakt. Das silbrige Zeug legte sich auf ihr Gesicht, und es war kalt, sehr kalt. Als sie einatmete, erwachte es zu einer Art dunklem Leben und begann in ihr zu schreien. Ein aus Dunst geschaffenes Kind – ob Junge oder Mädchen, wusste sie nicht – wollte fliehen, aber irgendjemand schlitzte es auf. Das war Rose, während die anderen sie umringten (in Form eines Knotens) und sich ein Dutzend Taschenlampen nach unten richteten, um einen Mord in Zeitlupe zu beleuchten.
Andi versuchte, von der Liege aufzuspringen, besaß aber keinen Körper, mit dem sie hätte springen können. Ihr Körper war verschwunden. An seiner Stelle war nur noch Schmerz in Form eines menschlichen Wesens. Der Schmerz eines sterbenden Kindes und ihr eigener.
Nimm es an. Der Gedanke war wie ein kühles Tuch, das sich auf die brennende Wunde ihres Körpers drückte. Das ist der einzige Weg hindurch.
Ich kann nicht, ich bin mein ganzes Leben lang vor diesem Schmerz davongerannt.
Mag sein, aber jetzt hast du keinen Platz mehr zum Rennen. Nimm es an. Schluck es. Nimm den Steam oder stirb.
8
Die Wahren standen mit erhobenen Händen da und rezitierten die alten Worte: Sabbatha hanti, lodsam hanti, cahanna risone hanti. Sie sahen, wie die Bluse von Andi Steiner da, wo ihre Brüste gewesen waren, flach wurde, während ihr Rock sich wie ein sich schließender Mund abrupt senkte. Sie sahen, wie ihr Gesicht sich in Milchglas verwandelte. Nur die Augen blieben erhalten und schwebten wie winzige Luftballons an hauchdünnen Nervenfäden.
Aber die werden auch verschwinden, dachte Walnut. Sie ist nicht stark genug. Ich dachte, vielleicht ist sie es, aber ich habe mich geirrt. Möglich, dass sie ein- oder zweimal zurückkommt, aber dann wird sie auskreisen. Bis nichts mehr übrig ist als ihre Kleider. Er versuchte, sich an seine eigene Umwandlung zu erinnern, aber ihm fiel nur noch ein, dass Vollmond gewesen war und dass statt Scheinwerfern ein Feuer gebrannt hatte. Ein großes Feuer, das Wiehern von Pferden … und der Schmerz. Konnte man sich wirklich an Schmerz erinnern? Wahrscheinlich nicht. Man wusste, dass es so etwas gab und dass man es erlitten hatte, aber das war nicht dasselbe.
Andis Gesicht kam wieder zum Vorschein wie das Gesicht eines Geistes, das bei einer Séance über dem Tisch schwebt. Die Vorderseite ihrer Bluse wölbte sich; ihr Rock schwoll an, während ihre Hüften und Oberschenkel in die Welt zurückkehrten. Andi schrie in Todesqualen.
»Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort«, rezitierten sie im sich kreuzenden Schweinwerferlicht der Wohnmobile. »Sabbatha hanti. Wir sind die Auserwählten, lodsam hanti. Wir sind die Glückseligen, cahanna risone hanti.« Das würde so weitergehen, bis es vorüber war. Egal wie es ausging, es dauerte nie lange.
Andi begann wieder zu verschwinden. Ihr Fleisch wurde zu trübem Glas, durch das die Wahren ihr Skelett und das knochige Grinsen ihres Schädels sehen konnten. In diesem Grinsen glänzten ein paar silberne Plomben. Andis entkörperlichte Augen rollten wie wild in Höhlen, die nicht mehr vorhanden waren. Sie schrie immer noch, doch nun war das Geräusch dünn und hallend, als käme es aus einem weit entfernten Saal.
9
Rose dachte erst, Andi würde aufgeben, weil sie das taten, wenn der Schmerz zu stark wurde, aber die da war ganz schön taff. Unablässig schreiend, trieb sie wieder an die Oberfläche. Ihre neu entstandenen Hände packten die von Rose mit irrer Kraft und zogen sie nach unten. Rose beugte sich vor, ohne den Schmerz richtig wahrzunehmen.
»Ich weiß, was du willst, Zuckerpuppe. Komm zurück, und du wirst es bekommen.« Sie senkte den Mund zu dem von Andi und liebkoste deren Oberlippe mit der Zunge, bis die Lippe sich in Dunst verwandelte. Ihre Augen jedoch, starr auf die von Rose gerichtet, blieben.
»Sabbatha hanti«, rezitierte der Chor. »Lodsam hanti. Cahanna risone hanti.«
Andi kam zurück. Um ihre starren, schmerzerfüllten Augen herum wuchs ein Gesicht. Ihr Körper folgte. Einen Moment lang konnte Rose die Knochen der Arme sehen, die Knochen in den Fingern, die ihre umklammerten, dann war Andi wieder von Fleisch umhüllt.
Rose küsste sie ein weiteres Mal auf den Mund. Trotz ihren Schmerzen reagierte Andi, und Rose hauchte ihre eigene Essenz in die Kehle der jüngeren Frau.
Die will ich haben. Und was ich will, das kriege ich.
Andi verblasste wieder, aber Rose spürte, wie sie dagegen ankämpfte. Sich durchsetzte. Sich von der kreischenden Lebenskraft nährte, die sie durch ihren Hals in die Lunge eingesogen hatte, statt zu versuchen, sie abzuwehren.
Andi hatte sich zum ersten Mal Steam genommen.
10
Die folgende Nacht verbrachte das neueste Mitglied des Wahren Knotens im Bett von Rose O’Hara, und zum ersten Mal in ihrem Leben empfand sie beim Sex etwas anderes als Abscheu und Schmerz. Andis Kehle war von den Schreien, die sie auf der Gartenliege ausgestoßen hatte, ganz wund, doch nun schrie sie wieder, als das neue Gefühl – so genüsslich, wie ihre Umwandlung schmerzhaft gewesen war – ihren Körper ergriff und ihn abermals durchscheinend zu machen schien.
»Schrei, so viel du willst«, sagte Rose und blickte zwischen ihren Oberschenkeln zu ihr hoch. »Das haben die anderen schon oft gehört. Die guten wie die schlimmen Schreie.«
»Ist Sex für jeden so?« Wenn dem so war, was hatte sie da nur versäumt! Was hatte ihr Vater, dieser Dreckskerl, ihr da nur geraubt! Und da hielten die Leute sie für eine Diebin?
»Für uns ist Sex so, wenn wir uns Steam genommen haben«, sagte Rose. »Mehr brauchst du nicht zu wissen.«
Sie senkte den Kopf, und es ging von vorn los.
11
Kurz vor Mitternacht saßen Token-Charlie und Baba the Red auf der unteren Stufe von Charlies Bounder-Wohnmobil, rauchten gemeinsam einen Joint und betrachteten den Mond. Aus Rose’ EarthCruiser hörte man weitere Schreie.
Charlie und Baba sahen sich an und grinsten.
»Da genießt es aber jemand«, bemerkte Baba.
»Wieso auch nicht«, sagte Charlie.
12
Als Andi im ersten Tageslicht aufwachte, lag ihr Kopf auf Rose’ Brüsten. Sie fühlte sich völlig anders; sie fühlte sich überhaupt nicht anders. Sie hob den Kopf und sah, dass Rose sie mit ihren bemerkenswerten grauen Augen beobachtete.
»Du hast mich gerettet«, sagte Andi. »Du hast mich zurückgeholt.«
»Alleine hätte ich das nicht geschafft. Du wolltest kommen.« In mehr als einer Hinsicht, Zuckerpuppe.
»Was wir danach gemacht haben … das können wir nicht wieder tun, stimmt’s?«
Rose schüttelte lächelnd den Kopf. »Nein. Und das ist in Ordnung so. Manche Erfahrungen können absolut nicht getoppt werden. Außerdem will mein Typ mich heute wiederhaben.«
»Wie heißt der?«
»Offiziell Henry Rothman, aber nur für die Tölpel. Sein Wahrer Name ist Crow Daddy.«
»Liebst du ihn? Das tust du nicht, stimmt’s?«
Rose lächelte, zog Andi zu sich heran und küsste sie. Aber sie gab keine Antwort.
»Rose?«
»Ja?«
»Bin ich … bin ich noch ein Mensch?«
Darauf gab Rose dieselbe Antwort, die Dick Halloran einmal dem jungen Danny Torrance gegeben hatte, im selben kalten Ton: »Ist das so wichtig?«
Andi beschloss, dass dem nicht so war. Sie beschloss, zu Hause angekommen zu sein.
1
Ein Kuddelmuddel schlechter Träume – jemand verfolgte ihn hammerschwingend durch endlose Flure, ein sich selbst in Gang setzender Aufzug, Hecken in Tierform, die zum Leben erwachten und ihn in die Enge trieben – und endlich ein klarer Gedanke: Ich wünschte, ich wäre tot.
Dan Torrance schlug die Augen auf. Durch sie hindurch schoss Sonnenlicht in seinen schmerzenden Kopf und drohte sein Gehirn in Brand zu setzen. Das war der übelste Kater aller Zeiten. Sein Gesicht pochte. Seine Nasenlöcher waren verstopft bis auf ein winziges Loch im linken, durch das ein Fädchen Luft eindringen konnte. Im linken? Nein, es war das rechte. Er konnte zwar auch durch den Mund atmen, doch in dem lag ein übler Geschmack nach Whiskey und Zigaretten. Sein Magen war eine Bleikugel und voller Dinge, die da nicht hineingehörten. Als Müllbauch am Morgen hatte irgendein alter Saufkumpan dieses elende Gefühl bezeichnet. Wer? Daran erinnerte er sich nicht. Er konnte sich gerade noch an den eigenen Namen erinnern.
Lautes Schnarchen neben ihm. Dan drehte den Kopf in die entsprechende Richtung, obwohl sein Hals dagegen protestierte und ihm ein neuer, qualvoller Schmerz in die Schläfe schoss. Er öffnete wieder die Augen, aber nur einen Spalt; bitte nicht mehr diese grelle Sonne. Noch nicht. Er lag auf einer nackten Matratze auf einem nackten Boden. Neben ihm lag eine nackte Frau platt auf dem Rücken. Dan blickte an sich hinunter und sah, dass er ebenfalls al fresco war.
Sie heißt … Dolores? Nein. Debbie? Schon wärmer, aber noch nicht heiß …
Deenie. Sie hieß Deenie. Er hatte sie in einer Kneipe namens Milky Way kennengelernt, und es war alles sehr amüsant gewesen, bis …
Er konnte sich nicht mehr erinnern, und ein Blick auf seine Hände – beide geschwollen, die Knöchel der rechten verkratzt und schorfig – überzeugte ihn davon, dass er sich auch nicht erinnern wollte. Letztlich war es auch egal. Das Grundmuster änderte sich nie. Er besoff sich, jemand sagte etwas Falsches, Chaos und Kneipengemetzel folgten. In seinem Kopf lebte ein bissiger Hund. Wenn er nüchtern war, konnte er den an der Leine halten. Wenn er trank, verschwand die Leine. Früher oder später bringe ich noch jemand um. Womöglich hatte er das letzte Nacht schon getan.
Deenie, mein Engel, drück mir den Schwengel.
Hatte er das tatsächlich gesagt? Ja, hatte er, war er sich leider ziemlich sicher. Einzelne Teile von der ganzen Sache kamen ihm wieder ins Gedächtnis, und selbst die waren ihm zu viel. Sie hatten Billard gespielt, 8-Ball. Er hatte versucht, dem Queue etwas mehr Drall zu geben, und dabei so über den Filz gekratzt, dass das mit Kreide verschmierte Scheißding auf den Boden gefallen und hüpfend bis zur Jukebox gerollt war, in der – was sonst? – Countrymusic lief. Irgendwie erinnerte er sich an Joe Diffie. Wieso hatte er bloß so bescheuert gekratzt? Weil er besoffen war und weil Deenie hinter ihm stand. Deenie hatte ihm direkt unter der Tischkante den Schwengel gedrückt, und er zog für sie eine Show ab. Alles spaßig, alles cool. Aber dann hatte der Typ mit dem Case-Käppi und dem schicken, glänzenden Cowboyhemd gelacht, und das war sein Fehler gewesen.
Chaos und Kneipengemetzel.
Dan betastete seinen Mund und spürte fleischige Würstchen an der Stelle, wo noch normale Lippen gewesen waren, als er gestern Nachmittag mit knapp über fünfhundert Dollar in der vorderen Hosentasche den Laden verlassen hatte, wo man Schecks einlösen konnte.
Wenigstens sind anscheinend noch alle meine Zähne …
Sein Magen zog sich zusammen. Er rülpste einen Mundvoll sauren Schleim hoch, der nach Whiskey schmeckte, und schluckte ihn wieder hinunter. Dabei brannte das Zeug in der Kehle. Er wälzte sich von der Matratze auf die Knie, kam taumelnd auf die Beine und stand schwankend da, während das Zimmer einen leichten Tango tanzte. Er hatte einen üblen Kater, sein Kopf platzte, sein Magen war gefüllt mit irgendwelchem billigen Fraß, den er sich abends hineingestopft hatte, um eine Grundlage für den Alkohol zu schaffen … aber abgesehen davon war er immer noch betrunken.
Er angelte seine Unterhose vom Boden und hielt sie umklammert, während er das Schlafzimmer verließ, nicht richtig hinkend, aber doch eindeutig so, dass er das linke Bein schonte. Er hatte vage Bilder im Kopf – die sich hoffentlich nie scharfstellen würden –, davon, wie der Case-Cowboy einen Stuhl geschleudert hatte. Daraufhin waren er und Deenie-Engel-drück-den-Schwengel abgehauen, nicht im Laufschritt, sondern wiehernd wie zwei Esel.
Wieder zog sich sein missgestimmter Magen zusammen, diesmal begleitet von einer Enge, die sich wie eine Hand in einem schlüpfrigen Gummihandschuh anfühlte. Das betätigte sämtliche Kotzauslöser: den Essiggeruch der hart gekochten Eier aus dem großen Glasgefäß auf der Theke, den Geschmack von Schweineschwarte mit Barbecue-Aroma, den Anblick von Pommes, die in blutigem Ketchup ersoffen. Der ganze Mist, den er sich zwischen jeweils zwei Schlucken Whiskey in den Mund gestopft hatte. Er wollte kotzen, aber die Bilder strömten immer weiter auf ihn ein; drehten sich wie auf einem Glücksrad in einer albtraumhaften Fernsehshow.
Na, was haben wir da für unseren nächsten Kandidaten, Johnny? Tja, Bob, das ist ein riesengroßer Teller FETTIGE SARDINEN!
Das Badezimmer war direkt auf der anderen Seite des kurzen Flurs. Die Tür stand offen, die Klobrille war hochgeklappt. Dan stürzte darauf zu, fiel auf die Knie und kotzte eine gewaltige Flut aus bräunlich gelbem Glibber auf eine im Wasser schwimmende Kackwurst. Er wandte den Blick ab, grapschte nach dem Spülhebel, fand ihn, drückte ihn. Das Wasser rauschte, aber es fehlte das begleitende Gurgeln von im Ablauf verschwindendem Wasser. Er sah wieder hin und erblickte etwas Alarmierendes: Die Wurst, wahrscheinlich seine eigene, stieg auf einem Meer aus halb verdautem Kneipenfutter zum mit Urin bespritzten Rand der Toilettenschüssel empor. Kurz bevor die Schüssel überlief und den banalen Horror dieses Morgens vervollkommnete, räusperte sich etwas im Abfluss, und der ganze Schlamassel rauschte davon. Dan erbrach sich ein zweites Mal, dann hockte er mit gesenktem Kopf auf den Fersen da, den Rücken an die Badezimmerwand gelehnt, und wartete, bis der Spülkasten sich gefüllt hatte, damit er noch einmal spülen konnte.
Nie wieder. Das schwöre ich. Kein Schnaps mehr, keine Kneipen mehr, keine Schlägereien mehr. Das versprach er sich zum hundertsten Mal. Oder zum tausendsten.
Eines war sicher: Er musste diese Stadt verlassen, oder er bekam womöglich Probleme. Ernste Probleme waren nicht völlig ausgeschlossen.
Na, Johnny, was haben wir für den heutigen Gewinner unseres Hauptpreises? Bob, das sind ZWEI JAHRE IM STAATSGEFÄNGNIS WEGEN BELEIDIGUNG UND KÖRPERVERLETZUNG!
Und … das Studiopublikum flippt aus.
Der Spülkasten hatte sich geräuschvoll wieder gefüllt und war verstummt. Dan griff nach der Taste, um Der Morgen danach, zweiter Teil wegzuspülen, hielt jedoch inne und konzentrierte sich auf das schwarze Loch seines Kurzzeitgedächtnisses. Kannte er den eigenen Namen? Ja! Daniel Anthony Torrance. Kannte er den Namen der Frau, die auf der Matratze im anderen Zimmer schnarchte? Ja! Deenie. An ihren Nachnamen erinnerte er sich zwar nicht, aber wahrscheinlich hatte sie ihm den auch gar nicht verraten. Kannte er den Namen des derzeitigen Präsidenten?
Zu Dans Schrecken war das zuerst nicht der Fall. Der Typ hat eine coole Elvis-Frisur und spielte Saxofon – ziemlich schlecht. Aber sein Name …?
Weißt du überhaupt, wo du bist?
In Cleveland? In Charleston? Entweder das eine oder das andere.
Während er die Spülung betätigte, tauchte in seinem Kopf mit fantastischer Klarheit der Namen des Präsidenten auf. Und Dan war weder in Cleveland noch in Charleston. Er war in Wilmington, North Carolina. Dort arbeitete er als Krankenpfleger im Grace of Mary Hospital. Beziehungsweise er hatte da gearbeitet. Es war an der Zeit weiterzuziehen. Wenn er irgendwo anders hinkam, in eine gute Stadt, dann war er vielleicht in der Lage, mit dem Trinken aufzuhören und von vorn anzufangen.
Er erhob sich und blickte in den Spiegel. Der Schaden war nicht so schlimm, wie er befürchtet hatte. Die Nase war geschwollen, aber nicht gebrochen – zumindest hatte er den Eindruck. Getrocknete Blutkrusten über seiner geschwollenen Oberlippe. An seinem rechten Wangenknochen war ein blauer Fleck (der Cowboy war Linkshänder gewesen), in dessen Mitte sich der blutige Eindruck eines Rings befand. Ein weiterer Bluterguss, ein großer, breitete sich oberhalb der linken Achselhöhle aus. Der stammte, meinte er sich zu erinnern, von einem Billardstock.
Er warf einen Blick in das Arzneischränkchen. Zwischen Tuben mit Schminke und diversen Gläschen mit rezeptfreien Medikamenten fand er drei verschreibungspflichtige Präparate. Das erste war ein Zeug, das häufig gegen Hefepilzinfektionen verschrieben wurde. Als er es sah, war er froh, dass er beschnitten war. Das zweite war eine Mischung aus Aspirin, Koffein und einem starken Schmerzmittel. Er öffnete es, sah ein halbes Dutzend Kapseln und steckte sich drei zur späteren Verwendung in die Tasche. Das letzte war eine weitere Kombination aus zwei Schmerzmitteln und Koffein, und das Gläschen war – zum Glück – fast voll. Er schluckte drei Kapseln mit kaltem Wasser. Als er sich übers Waschbecken beugte, wurden seine Kopfschmerzen noch schlimmer, aber er rechnete mit baldiger Erleichterung. Das Zeug, das er geschluckt hatte, sollte Migräne und Spannungskopfschmerz beseitigen, war aber auch ein todsicherer Katerkiller. Na gut … ein fast todsicherer.
Er wollte das Schränkchen schon schließen, blickte jedoch noch einmal hinein. Dann kramte er darin herum. Kein Pessar. Vielleicht war so ein Ding in ihrer Handtasche. Das hoffte er jedenfalls, denn er hatte kein Kondom benutzt. Wenn er sie gefickt hatte – woran er sich zwar nicht definitiv erinnerte, aber wahrscheinlich hatte er –, dann war’s kein Safer Sex gewesen.
Er zog seine Unterhose an und trottete zum Schlafzimmer zurück, wo er einen Moment in der Tür stehen blieb und die Frau betrachtete, die ihn nachts mit nach Hause genommen hatte. Ihre Arme und Beine waren ausgebreitet, alles war sichtbar. Nachts hatte sie in ihrem kurzen Lederrock, den Korksandaletten, dem bauchfreien Oberteil und den riesigen Ohrringen wie die Göttin des Westens ausgesehen. Jetzt am Morgen sah er die schlaffe, weiße Haut eines wachsenden Bierbauchs, und das Kinn zeigte erste Anzeichen einer Verdoppelung.
Außerdem sah er etwas Schlimmeres: Sie war gar keine richtig erwachsene Frau. Wahrscheinlich zwar nicht mehr minderjährig (bitte, lieber Gott, nicht minderjährig), aber bestimmt nicht älter als zwanzig, vielleicht sogar erst siebzehn oder achtzehn. An einer Wand hing ein ernüchternd kindisches Poster von KISS, auf dem Gene Simmons Feuer spuckte. An einer anderen sah man ein süßes Kätzchen, das mit erschrockenem Blick an einem Ast hing. DURCHHALTEN, BABY ermunterte das Poster seine Betrachter.
Er musste hier raus.
Die Kleider der beiden lagen durcheinander am Fuß der Matratze. Er trennte sein T-Shirt von ihrem Slip, zerrte es sich über den Kopf und stieg in seine Jeans. Als er den Reißverschluss schon halb zugezogen hatte, erstarrte er, weil ihm klar wurde, dass die linke Vordertasche wesentlich flacher war als nach dem Einlösen des Schecks am vergangenen Nachmittag.
Nein. Das kann nicht sein.
Sein Kopf, der sich ein winziges bisschen besser angefühlt hatte, begann wieder zu pochen, während sein Herzschlag sich beschleunigte, und als er die Hand in die Hosentasche schob, kam nichts zum Vorschein als ein Zehndollarschein und zwei Zahnstocher, von dem sich einer in das empfindliche Fleisch unter dem Nagel seines Zeigefingers gebohrt hatte. Was er allerdings kaum spürte.
Wir haben doch keine fünfhundert Dollar versoffen. Unmöglich. Wenn wir so viel gesoffen hätten, wären wir tot.
Sein Portemonnaie steckte noch in der Gesäßtasche. Ohne echte Hoffnung zog er es heraus, aber es bot keine freudige Überraschung. Offenbar hatte er den Zehner, der da normalerweise drin war, irgendwann in die Vordertasche gesteckt. Dort konnte das Ding in der Kneipe nicht so leicht geklaut werden, was ihm jetzt wie ein Witz vorkam.
Er betrachtete die schnarchende, ausgestreckt auf der Matratze liegende Mädchenfrau und wollte sich schon auf sie stürzen, um sie wach zu rütteln und zu fragen, was zum Teufel sie mit seinem Geld gemacht habe. Aber wenn sie es ihm geklaut hatte, wieso hatte sie ihn dann mit nach Hause genommen? Und war da nicht noch was gewesen? Irgendein weiteres Abenteuer, nachdem sie die Kneipe verlassen hatten? Da sein Kopf allmählich klarer wurde, kam ihm eine Erinnerung – verschwommen, aber wahrscheinlich korrekt –, dass sie mit dem Taxi zum Bahnhof gefahren waren.
Ich kenne einen Typ, der da abhängt, Süßer.
Hatte sie das wirklich gesagt, oder fantasierte er nur?
Sie hat es gesagt, ganz klar. Ich bin in Wilmington, der Präsident heißt Bill Clinton, und wir sind zum Bahnhof gefahren. Wo tatsächlich ein Typ war. Die Sorte, die ihre Geschäfte am liebsten auf der Männertoilette abwickelt, besonders wenn der Kunde ein etwas lädiertes Gesicht hat. Als er wissen wollte, wer mir eins übergezogen hat, hab ich ihm gesagt …
»Ich hab ihm gesagt, er soll sich um seinen eigenen Scheißdreck kümmern«, murmelte Dan.
Als sie die Toilette betreten hatten, hatte Dan ein Gramm kaufen wollen, damit die Kleine zufrieden war, nicht mehr als ein Gramm, und das auch nur, wenn das Zeug nicht zur Hälfte mit Mannitol gestreckt war. Deenie stand offenbar auf Koks, er jedoch nicht. Er hatte mal gehört, wie jemand dieses Zeug als Aspirin des reichen Mannes bezeichnet hatte, und er selbst war ganz und gar nicht reich. Dann jedoch war jemand aus einer der Kabinen gekommen. Ein Geschäftsmann mit einer Aktentasche, die ihm ans Knie schlug. Und als Mr. Geschäftsmann zu einem Waschbecken gegangen war, um sich die Hände zu waschen, hatte Dan Fliegen über sein Gesicht krabbeln sehen.
Todesfliegen. Mr. Geschäftsmann war ein lebender Toter und wusste es nicht.
Und danach hatte er offenbar richtig zugegriffen, anstatt sich wie geplant zu beschränken. Vielleicht hatte er es sich auch im letzten Augenblick anders überlegt. Möglich war das; er konnte sich nur an so wenig erinnern.
An die Fliegen erinnere ich mich allerdings.
Ja. An die erinnerte er sich. Der Alkohol hatte sein Shining gedämpft, es bewusstlos geschlagen, aber er war sich nicht sicher, ob die Fliegen überhaupt mit seinem Shining zu tun hatten. Sie kamen, wann immer sie wollten, egal ob er besoffen oder nüchtern war.
Wieder dachte er: Ich muss hier raus.
Wieder dachte er: Ich wünschte, ich wäre tot.
2
Deenie gab ein leises Schnarchen von sich und drehte sich von dem erbarmungslosen Morgenlicht weg. Mit Ausnahme der Matratze auf dem Boden war das Zimmer völlig unmöbliert; es enthielt nicht mal eine Second-Hand-Kommode. Der begehbare Kleiderschrank stand offen, und Dan sah, dass der größere Teil von Deenies spärlicher Garderobe in zwei Wäschekörben aus Plastik lagerte. Die wenigen Sachen auf Kleiderbügeln sahen aus wie Klamotten, in denen man durch die Kneipen zog. Er sah ein rotes T-Shirt, auf dem in Pailletten SEXY GIRL stand, und einen Jeansrock mit modisch ausgefranstem Saum. Unten standen zwei Paar Sneakers, zwei Paar flache Treter und ein Paar aufreizende, hochhackige Riemchensandaletten. Ohne Korksohle allerdings. Und keine Spur von seinen ramponierten Reeboks.
Dan konnte sich nicht daran erinnern, ob sie die Schuhe abgestreift hatten, als sie hereingekommen waren, aber wenn, dann waren die Dinger im Wohnzimmer, an das er sich tatsächlich erinnern konnte – vage. Vielleicht lag da auch ihre Handtasche. Womöglich hatte er ihr den Rest seines Bargelds gegeben, damit sie es sicher verwahrte. Das war zwar unwahrscheinlich, aber nicht unmöglich.
Er steuerte seinen pochenden Kopf durch den kurzen Flur in das wohl einzige andere Zimmer der Wohnung. Die Küchenzeile an der gegenüberliegenden Wand war mit einer Kochplatte und einem Minikühlschrank unter der Arbeitsfläche ausgestattet. Im Wohnbereich stand ein Sofa mit hervorquellender Polsterung. An einer Seite war es mit mehreren Ziegelsteinen abgestützt. Der große Fernseher davor hatte einen in der Mitte der Röhre herablaufenden Sprung, ursprünglich geflickt mit einem Streifen Packband, der inzwischen nur noch an einer Ecke baumelte. Auf dem Band klebten ein paar Fliegen, von denen eine noch schwach zappelte. Dan betrachtete sie mit morbider Faszination und dachte (nicht zum ersten Mal) darüber nach, dass der verkaterte Blick die merkwürdige Eigenschaft besaß, in jeder beliebigen Umgebung das Hässlichste zu entdecken.
Vor dem Sofa stand ein Couchtisch. Darauf befanden sich ein mit Kippen gefüllter Aschenbecher, ein mit weißem Pulver gefüllter Plastikbeutel und eine Ausgabe von People, auf der weiteres Pulver verstreut war. Vervollständigt wurde das Bild von einem noch halb zusammengerollten Dollarschein. Er wusste nicht, wie viel sie geschnupft hatten, aber angesichts der Menge, die noch übrig war, konnte er seine fünfhundert Dollar in den Wind schreiben.
Scheiße. Dabei mag ich Koks nicht mal. Wie hab ich es überhaupt geschnupft? Ich kann ja kaum atmen.
Er hatte es gar nicht geschnupft. Das hatte sie getan. Er hatte es sich aufs Zahnfleisch gerieben. Langsam fiel ihm alles wieder ein. Es wäre ihm lieber gewesen, wenn es weggeblieben wäre, aber zu spät.
Die Todesfliegen auf der Toilette, die den Mund von Mr. Geschäftsmann als Ein- und Ausgang benutzt hatten und über die feuchte Oberfläche seiner Augen gekrochen waren. Der Dealer, der Dan gefragt hatte, was er da anstarre. Dan, der ihm sagte, ach, nichts Besonderes, nicht weiter wichtig, sehen wir mal, was du da hast. Es stellte sich heraus, dass der Kerl eine Menge hatte. Das war meistens so. Als Nächstes kam die Fahrt mit einem anderen Taxi zu Deenies Wohnung, bei der sie schon von ihrem Handrücken geschnupft hatte, zu gierig – oder zu bedürftig –, abwarten zu können. Dabei hatten sie beide versucht, »Mr. Roboto« zu singen.
Er erspähte ihre Sandaletten und seine Reeboks direkt hinter der Tür, begleitet von weiteren goldenen Erinnerungen. Sie hatte ihre Schuhe nicht weggeschleudert, sondern nur von den Füßen fallen lassen, weil er seine Hände inzwischen fest auf ihrem Hintern platziert und sie ihm die Beine um die Taille geschlungen hatte. Ihr Hals hatte nach Parfüm gerochen, ihr Atem nach Schweineschwarte mit Barbecue-Aroma. Die hatten sie ausgiebig verschlungen, bevor sie zum Pooltisch gegangen waren.
Dan zog seine Sneakers an, dann ging er zur Küchenzeile, weil er dachte, im Schrank wäre vielleicht Instantkaffee. Den fand er zwar nicht, aber auf dem Weg dorthin sah er ihre Handtasche auf dem Boden liegen. Er glaubte sich daran zu erinnern, wie sie diese in Richtung Sofa geworfen und gelacht hatte, weil der Wurf danebenging. Der halbe Inhalt war herausgequollen, darunter ein Portemonnaie aus rotem Kunstleder. Er schaufelte alles wieder hinein und nahm die Tasche mit zur Küchenzeile. Obwohl er verdammt gut wusste, dass sein Geld nun in der Tasche der Designerjeans dieses Dealers steckte, beharrte etwas in ihm darauf, dass noch ein bisschen übrig war, wenn auch nur, weil er zumindest dieses bisschen so nötig hatte. Zehn Dollar reichten für drei Glas Whiskey oder zwei Sixpacks Bier, aber heute brauchte er mehr als das.
Er fischte Deenies Portemonnaie heraus und öffnete es. Es enthielt mehrere Fotos – einige von Deenie mit einem Typen, der ihr zu ähnlich sah, als das er nicht mit ihr verwandt war, einige von Deenie mit einem Baby auf dem Arm, eines von Deenie in einem Ballkleid neben einem jungen Typen mit vorstehenden Zähnen und einem fürchterlichen blauen Smoking. Das Scheinfach war prall gefüllt. Das machte ihm Hoffnung, bis er den Reißverschluss aufzog und ein Bündel Lebensmittelmarken sah. Etwas Bargeld war auch vorhanden: zwei Zwanziger und drei Zehner.
Das ist mein Geld. Genauer gesagt das, was davon übrig ist.
Er wusste es besser. Nie hätte er einer zugedröhnten Tusse, die er gerade aufgerissen hatte, seinen Wochenlohn zur Aufbewahrung anvertraut. Dieses Geld gehörte ihr.
Gut, aber war das mit dem Koks nicht ihr Einfall gewesen? War sie nicht der Grund, weshalb er heute Morgen nicht nur einen Kater hatte, sondern auch pleite war?
Nein. Du hast einen Kater, weil du ein Säufer bist. Und du bist pleite, weil du die Todesfliegen gesehen hast.
Das mochte stimmen, aber wenn sie nicht darauf bestanden hätte, zum Bahnhof zu fahren, um Koks zu besorgen, hätte er die Todesfliegen nicht gesehen.
Womöglich braucht sie die siebzig Dollar, um sich was zu essen zu kaufen.
Genau. Ein Glas Erdnussbutter und ein Glas Erdbeermarmelade. Außerdem ein Laib Brot als Unterlage.
Oder für die Miete. Womöglich braucht sie es dafür.
Wenn sie Geld für die Miete brauchte, konnte sie ja den Fernseher verscherbeln. Vielleicht nahm den ja ihr Dealer in Zahlung, trotz dem Sprung. Siebzig Dollar reichten sowieso bei Weitem nicht für eine Monatsmiete aus, nicht mal für ein Loch wie dieses.
Das gehört dir nicht, Doc. Es war die Stimme seiner Mutter, das Letzte, was er hören wollte, wenn er einen brutalen Kater hatte und unbedingt was zu trinken brauchte.
»Du kannst mich mal, Ma.« Seine Stimme klang leise, aber ehrlich. Er nahm das Geld, stopfte es sich in die Hosentasche, steckte das Portemonnaie wieder in die Handtasche und drehte sich um.
Ein kleiner Junge stand vor ihm.
Er war etwa achtzehn Monate alt und trug ein T-Shirt mit dem Logo der Atlanta Braves. Das reichte ihm bis zu den Knien, aber die Windel, die er darunter trug, war trotzdem sichtbar, denn sie war voll und hing knapp über den Knöcheln. Dans Herz machte einen gewaltigen Sprung in der Brust, und in seinem Kopf tat es plötzlich einen so furchtbaren Schlag, als hätte Thor seinen Hammer darin geschwungen. Einen Moment lang war er sich völlig sicher, einen Schlaganfall oder Herzinfarkt oder beides zu erleiden.
Dann sog er tief die Luft ein und atmete wieder aus. »Wo kommst du denn her, kleiner Held?«
»Mama«, sagte der Junge.
Was in gewisser Weise den Nagel auf den Kopf traf – schließlich war auch Dan aus seiner Mama gekommen –, aber keine hilfreiche Antwort war. Eine schreckliche Schlussfolgerung versuchte sich in Dans dröhnendem Kopf zu bilden, aber damit wollte er überhaupt nichts zu tun haben.
Er hat gesehen, wie du das Geld genommen hast.
Schon möglich, aber das war nicht die betreffende Folgerung. Wenn der Kleine das gesehen hatte, na und? Er war noch nicht mal zwei. So kleine Kinder nahmen alles hin, was Erwachsene taten. Wenn er gesehen hätte, wie seine Mama mit feuersprühenden Fingern an der Zimmerdecke entlanghangelte, hätte er auch das hingenommen.
»Wie heißt du denn, Kleiner?« Dans Stimme pulsierte im Takt mit seinem Herzen, das sich immer noch nicht beruhigt hatte.
»Mama?«
Tatsächlich? Das wird deine Mitschüler aber freuen, wenn du in die Highschool kommst.
»Kommst du aus der Wohnung nebenan? Oder von gegenüber?«
Bitte sag ja. Denn die Schlussfolgerung lautet: Wenn der Kleine das Kind von Deenie ist, dann ist sie auf Kneipentour gegangen, während der Junge in dieser beschissenen Wohnung eingesperrt war. Allein.
»Mama!«
Dann sah der Junge das Koks auf dem Couchtisch und tapste darauf zu. Seine feuchte Windel schwang hin und her.
»Zucka!«
»Nein, das ist kein Zucker«, sagte Dan, obwohl es tatsächlich welcher war: Nasenzucker.
Ohne auf ihn zu achten, griff der Junge mit einer Hand nach dem weißen Pulver. Als er das tat, sah Dan auf seinem Oberarm blaue Flecke. Solche, die entstanden, wenn man mit der Hand zudrückte.
Er packte den Kleinen um die Taille und zwischen den Beinen. Während er ihn aufhob und vom Tisch wegschwenkte (aus der nassen Windel tropfte durch seine Finger Urin auf den Boden), kam ihm ein Bild in den Sinn, kurz, aber qualvoll klar: der Deenie ähnelnde Typ auf dem Foto im Portemonnaie, wie er den Jungen hochhob und schüttelte. Und dabei die Abdrücke seiner Finger hinterließ.
(he Tommy ich hab dir doch gesagt du sollst abhauen ist das so schwer zu kapieren oder was?)
(hör auf Randy er ist doch noch ein Baby)
Dann war es vorüber. Aber die zweite, schwach protestierende Stimme war die von Deenie gewesen, und er begriff, dass es sich bei Randy um ihren älteren Bruder handelte. Das war einleuchtend. Nicht immer war es der Freund, der ein Kind missbrauchte. Manchmal war es der Bruder. Manchmal der Onkel. Manchmal
(komm raus da du freches Balg und hol dir was du verdienst)
war es sogar der liebe alte Papa.
Er trug den Kleinen – Tommy, er hieß Tommy – ins Schlafzimmer. Als das Kind seine Mutter sah, begann es sofort, sich zu winden. »Mama! Mama! Mama!«
Dan setzte Tommy ab, der zur Matratze tapste und neben seine Mutter kroch. Obwohl Deenie schlief, legte sie den Arm um ihn und zog ihn an sich. Dabei rutschte sein T-Shirt hoch, und Dan sah an seinen Beinen weitere blaue Flecke.
Der Bruder heißt Randy. Ich könnte ihn aufspüren.
Dieser Gedanke war so kalt und klar wie die Eisdecke eines Sees im Januar. Wenn er das Foto aus dem Portemonnaie in die Hand nahm und sich konzentrierte, ohne auf das Hämmern in seinem Kopf zu achten, konnte er den großen Bruder wahrscheinlich aufspüren. So etwas hatte er schon mehrmals getan.
Ich könnte ihm selbst ein paar Blutergüsse verschaffen. Und ihm drohen, ihn beim nächsten Mal umzubringen.
Nur würde es kein nächstes Mal geben. Mit Wilmington war er fertig. Er würde Deenie und diese desolate kleine Wohnung nie wiedersehen. Er würde nie wieder an die vergangene Nacht und an diesen Morgen denken.
Diesmal war es die Stimme von Dick Hallorann. Falsch, Kleiner. Die Dinger aus dem Overlook kannst du in deinen Schließfächern unterbringen, aber Erinnerungen nicht. Niemals. Das sind die echten Geister.
Auf der Türschwelle stehend, betrachtete er Deenie und ihren mit blauen Flecken übersäten Jungen. Der war wieder eingeschlafen, und in der Morgensonne sahen die beiden fast wie zwei Engel aus.
Sie ist kein Engel. Selbst wenn die blauen Flecke nicht von ihr stammen, ist sie einfach um die Häuser gezogen und hat ihn allein gelassen. Wenn ich nicht da gewesen wäre, als er aufgewacht und ins Wohnzimmer gekommen ist …
Zucka, hatte der Junge gesagt und nach dem Koks gegriffen. Nicht gut. Es musste etwas unternommen werden.
Mag sein, aber nicht von mir. Wie würde das wohl aussehen, wenn ich mit einer derartigen Visage im Jugendamt aufkreuze, um ein verwahrlostes Kind zu melden? Nach Schnaps und Kotze stinkend. Ein wahrhaft aufrechter Bürger, der seine Pflicht tut.
Du kannst das Geld zurückstecken, sagte Wendy. Wenigstens das kannst du tun.
Fast hätte er es getan. Tatsächlich. Er nahm das Geld aus der Tasche und hielt es in der Hand. Er schlenderte sogar zu Deenies Handtasche, und der kleine Spaziergang tat ihm offenbar gut, jedenfalls brachte er ihn auf eine Idee.
Nimm das Koks, wenn du schon was mitgehen lassen musst. Das, was noch da ist, kannst du für hundert Dollar verscherbeln. Vielleicht sogar für zweihundert, wenn es noch einigermaßen nach was aussieht.
Falls der potenzielle Käufer sich allerdings als Cop entpuppte – was bei seinem Pech fast zu erwarten war –, dann landete er im Knast. Wo man ihn womöglich auch für den Schwachsinn zur Rechnung ziehen würde, den er in der Kneipe angezettelt hatte. Das Geld war wesentlich sicherer. Insgesamt siebzig Dollar.
Ich werde es aufteilen, beschloss er. Vierzig für sie und dreißig für mich.
Allerdings brachten dreißig Dollar ihm nicht viel. Außerdem waren da noch die Lebensmittelmarken – ein Bündel, fett genug, ein Schwein damit zu füttern. Damit konnte sie doch Essen für das Kind kaufen, oder etwa nicht?
Er nahm den Beutel Koks und die bestäubte Zeitschrift, um beides auf die Arbeitsfläche der Küchenzeile zu legen, wo der Junge es nicht erreichen konnte. Im Spülbecken lag ein Schwamm, mit dem er die Reste auf dem Couchtisch entfernte. Dabei sagte er sich, wenn Deenie inzwischen angestolpert kam, würde er ihr das verfluchte Geld zurückgeben. Und wenn sie weiterpennte, dann hatte sie es nicht anders verdient.
Deenie kam aber nicht angestolpert. Sie schnarchte einfach weiter.
Nachdem Dan den Tisch abgewischt hatte, warf er den Schwamm ins Spülbecken zurück und überlegte kurz, ob er ein paar Zeilen hinterlassen sollte. Aber was sollte er schreiben? Sorg besser für dein Kind – ach, übrigens hab ich dein Geld eingesteckt?
Okay, keine Nachricht.
Er verließ die Wohnung mit dem Geld in der linken Vordertasche und achtete darauf, die Tür beim Hinausgehen nicht laut zuzuschlagen. Aus Rücksicht, redete er sich ein.
3
Gegen Mittag – sein Kater war dank den zwei Kombinationspräparaten aus Deenies Arzneischränkchen vorüber – steuerte Dan einen Laden namens Golden’s Discount Liquors & Import Beers an. Dieser befand sich im alten Teil der Stadt, wo die Geschäftshäuser aus Backstein erbaut, die Bürgersteige eher leer und die Pfandhäuser (die alle eine bewundernswerte Auswahl an Rasiermessern zur Schau stellten) zahlreich waren. Er hatte die Absicht, eine sehr große Flasche sehr billigen Whiskey zu erwerben. Aber was er vor dem Laden sah, brachte ihn auf eine andere Idee. Es war ein Einkaufswagen, beladen mit dem irren Sammelsurium eines Penners. Der Besitzer war im Laden damit beschäftigt, den Verkäufer vollzuquatschen. Ganz oben auf dem Wagen lag eine zusammengerollte und mit Schnur umwickelte Decke. Dan bemerkte ein paar Flecken, aber alles in allem sah das Ding nicht schlecht aus. Er steckte es sich unter den Arm und ging zügig davon. Nachdem er eine alleinerziehende Mutter mit einem Drogenproblem gerade um siebzig Dollar erleichtert hatte, kam es ihm ziemlich belanglos vor, einem Penner seinen fliegenden Teppich abzunehmen. Womöglich war genau das der Grund, weshalb er sich kleiner denn je fühlte.
Ich schrumpfe immer weiter, dachte er, während er mit seiner neuen Beute um die Ecke eilte. Wenn ich noch ein paar Sachen klaue, bin ich überhaupt nicht mehr sichtbar.
Er lauschte, weil er das empörte Gezeter des Penners erwartete – je ausgeflippter die waren, desto lauter zeterten sie –, hörte jedoch nichts. Noch eine Ecke, dann konnte er sich zu einer problemlosen Flucht vom Tatort gratulieren.
Er bog in die nächste Straße ein.
4
Am Abend hockte er an der Mündung eines großen Regenkanals am Abhang unter der Cape Fear Memorial Bridge. Er hatte zwar ein Zimmer, aber es gab da auch das kleine Problem der rückständigen Miete, deren Zahlung er hoch und heilig für gestern siebzehn Uhr versprochen hatte. Außerdem war das noch nicht alles. Wenn er in sein Zimmer ging, forderte man ihn womöglich auf, einen gewissen festungsähnlichen Behördenbau in der Bess Street aufzusuchen, um Fragen bezüglich einer gewissen Auseinandersetzung in einer Kneipe zu beantworten. Alles in allem kam es ihm sicherer vor wegzubleiben.
Im Stadtzentrum gab es ein Obdachlosenasyl namens Haus der Hoffnung (das die Penner natürlich Haus der Hoffnungslosen nannten), doch auch da wollte Dan nicht hin. Dort konnte man zwar kostenlos übernachten, aber wenn man eine Flasche dabeihatte, bekam man die abgenommen. Wilmington war voller billiger Absteigen und Motels, wo sich niemand einen Scheißdreck darum scherte, was man trank, schnupfte oder sich spritzte, aber wieso sollte er sein gutes Geld für ein Dach über dem Kopf statt für Schnaps ausgeben, wenn es draußen warm und trocken war? Sich um ein Obdach Sorgen machen konnte er, wenn er nach Norden fuhr. Außerdem war da noch die Frage, wie er seine paar Habseligkeiten aus seinem Zimmer in der Birney Street holen konnte, ohne dass die Vermieterin etwas davon mitbekam.
Über dem Fluss ging der Mond auf. Die Decke hatte Dan schon hinter sich ausgebreitet. Bald würde er sich drauflegen, sich damit wie in einen Kokon einwickeln und einschlafen. Er schwebte so weit in den Wolken, dass er glücklich war. Der Start und der Steigflug waren holprig gewesen, aber nun hatte er die ganzen Turbulenzen hinter sich gelassen. Wahrscheinlich führte er kein Leben, das ein guter amerikanischer Bürger als vorbildlich bezeichnet hätte, aber vorläufig war alles in bester Ordnung. Er hatte eine Flasche Old Sun (erworben in einem Schnapsladen, der sich in einer vernünftigen Entfernung vom Golden’s Discount befand) und für morgen zum Frühstück ein halbes belegtes Baguette. Die Zukunft war umwölkt, doch heute schien der Mond hell. Alles war, wie es sein sollte.
(Zucka)
Plötzlich war der Junge bei ihm. Tommy. Direkt neben ihm. Er griff nach dem Koks. Blutergüsse am Arm. Blaue Augen.
(Zucka)
Das sah er mit einer quälenden Klarheit, die nichts mit dem Shining zu tun hatte. Und noch mehr. Deenie, die schnarchend auf dem Rücken lag. Das Portemonnaie aus rotem Kunstleder. Das Bündel Lebensmittelmarken mit dem Aufdruck des Landwirtschaftsministeriums. Das Geld. Die siebzig Dollar. Die er eingesteckt hatte.
Denk an den Mond. Denk daran, wie ruhig und heiter der über dem Wasser aufgeht.
Eine Weile gelang ihm das, aber dann sah er wieder Deenie auf dem Rücken liegen, das rote Portemonnaie aus Kunstleder, das Bündel Lebensmittelmarken, die erbärmlich zerknüllten Geldscheine (die er inzwischen großteils wieder los war). Am deutlichsten aber sah er den Jungen, der mit einer Hand, die wie ein Seestern aussah, nach dem Koks griff. Blaue Augen. Blutergüsse am Arm.
Zucka, sagte er.
Mama, sagte er.
Dan hatte sich das Kunststück beigebracht, seinen Schnaps so aufzuteilen, dass das Zeug länger reichte, der Rausch sanfter war und sich die eher schwachen Kopfschmerzen am nächsten Tag beherrschen ließen. Manchmal klappte das allerdings nicht so gut, und irgendein Mist passierte. Wie im Milky Way. Das war mehr oder weniger ein Unfall gewesen, aber heute Abend war alles im grünen Bereich. Er leerte die Flasche mit vier langen Zügen. Seine Gedanken waren eine leere Schultafel. Der Schnaps war ein Schwamm.
Er legte sich hin und wickelte sich in die gestohlene Decke. Dann wartete er auf die Bewusstlosigkeit, die auch kam, doch zuerst kam Tommy. Mit seinem Atlanta-Braves-T-Shirt. Seiner herunterhängenden Windel. Den blauen Augen, dem malträtierten Arm, der Seesternhand.
Zucka. Mama.
Darüber werde ich niemals sprechen, sagte er sich. Mit niemand.
Während der Mond über Wilmington, North Carolina, aufging, versank Dan Torrance in Bewusstlosigkeit. Er träumte vom Hotel Overlook, aber beim Aufwachen würde er sich nicht daran erinnern. Woran er sich beim Aufwachen erinnerte, waren die blauen Augen, der malträtierte Arm, die nach dem Koks greifende Hand.
Es gelang ihm, seinen Kram zu holen, dann fuhr er nach Norden, zuerst ins Hinterland von New York State und von dort weiter nach Massachusetts. Zwei Jahre vergingen. Manchmal half er Leuten, vor allem alten Leuten. Er hatte ein Talent dafür. In zu vielen besoffenen Nächten war der Junge das Letzte, woran er dachte, und das Erste, was ihm an dem verkaterten Morgen danach in den Sinn kam. Es war der Junge, an den er immer dachte, wenn er sich sagte, er werde mit dem Saufen aufhören. Vielleicht schon nächste Woche, auf jeden Fall nächsten Monat. Der Junge. Die Augen. Der Arm. Die ausgestreckte Seesternhand.
Zucka.
Mama.