Teil zwei LEERE TEUFEL

Kapitel sieben »HAST DU MICH GESEHEN?«

1

An einem Augustmorgen des Jahres 2013 erwachte Concetta Reynolds früh in ihrer Bostoner Eigentumswohnung. Wie immer nahm sie als Erstes wahr, dass in der Ecke neben der Kommode kein Hund lag. Betty war nun schon jahrelang tot, aber Chetta vermisste sie immer noch. Sie schlüpfte in ihren Bademantel und ging in die Küche, wo sie sich ihren Morgenkaffee machen wollte. Das war ein Weg, den sie schon Tausende Male zurückgelegt hatte, und sie hatte keinen Grund zu der Annahme, diesmal würde irgendetwas anders sein. Erst recht nicht kam ihr in den Sinn, dies könnte sich als erstes Glied in einer Kette unheilvoller Ereignisse entpuppen. Sie sei nicht gestolpert, erzählte sie ihrer Enkeltochter Lucy noch am selben Tag, auch habe sie sich nirgendwo angestoßen. Sie hörte einfach ein belangloses schnappendes Geräusch an der rechten Seite ihres Körpers, dann lag sie auf dem Boden und spürte, wie ein warmer, qualvoller Schmerz ihr Bein hinauf- und hinunterzuckte.

Etwa drei Minuten lag sie so da, starrte auf ihr undeutliches Spiegelbild in dem polierten Parkettboden und zwang den Schmerz nachzulassen. Gleichzeitig führte sie ein Selbstgespräch. Was für ein Blödsinn, in dem Alter allein zu leben. David sagt dir schon seit fünf Jahren, dass du zu alt dafür bist, und jetzt wird er dir endlos damit in den Ohren liegen.

Allerdings würde eine Betreuerin das Zimmer belegen, das sie für Lucy und Abra reserviert hatte, und Chetta lebte für die Besuche der beiden. Jetzt mehr denn je, seit Betty tot war und sie sich anscheinend an Gedichten sattgeschrieben hatte. Und auch wenn sie schon siebenundneunzig war, war sie bisher gut zurechtgekommen und fühlte sich wohl. Gute Gene mütterlicherseits. Hatte nicht ihre eigene Großmutter vier Ehemänner und sieben Kinder zu Grabe getragen, und war sie nicht hundertundzwei geworden?

Um die Wahrheit zu sagen (wenn auch nur sich selbst gegenüber), hatte sie sich im vorangegangenen Sommer allerdings nicht ganz so wohlgefühlt. In diesem Sommer war es etwas … schwierig gewesen.

Als der Schmerz endlich nachließ – ein wenig –, kroch sie durch den kurzen Flur auf die Küche zu, in der sich nun die Morgendämmerung ausbreitete. Vom Boden aus, fand Chetta, war dieses wunderschöne rosafarbene Licht schwerer zu genießen. Jedes Mal wenn die Schmerzen zu stark wurden, hielt sie keuchend inne und legte den Kopf auf ihrem knochigen Arm ab. Während dieser Ruhepausen dachte sie über die sieben Lebensalter des Menschen nach und kam zu dem Schluss, dass diese einen vollkommenen (und vollkommen dämlichen) Kreislauf beschrieben. So wie jetzt hatte sie sich schon einmal vor langer Zeit fortbewegt, im vierten Jahr des Ersten Weltkriegs, den man anschließend – wie lustig – als »letzten aller Kriege« bezeichnet hatte. Damals war sie als Concetta Abruzzi über die Türschwelle des elterlichen Bauernhofs in Davoli gekrabbelt, in der Absicht, draußen die Hühner zu fangen, die ihr jedoch mühelos entwischten. Nach diesem staubigen Anfang hatte sie ein fruchtbares und interessantes Leben geführt. Sie hatte zwanzig Gedichtbände veröffentlicht, mit Graham Greene Tee getrunken und mit zwei amerikanischen Präsidenten diniert. Vor allem war ihr eine goldige, blitzgescheite und mit einer merkwürdigen Gabe ausgestattete Urenkelin geschenkt worden. Und wohin führten all diese wunderbaren Dinge?

Wieder zum Krabbeln, dazu führten sie. Zurück zum Anfang. Dio mi benedica.

Sie erreichte die Küche und schlängelte sich durch ein besonntes Rechteck zu dem Tischchen, an dem sie meistens ihre Mahlzeiten einnahm. Darauf lag ihr Mobiltelefon. Chetta packte ein Tischbein und rüttelte daran, bis das Telefon zur Kante rutschte und herunterfiel. Und zwar – meno male – ohne kaputtzugehen. Sie wählte die Nummer, die man wählen sollte, wenn so ein Mist wie dieser passierte, dann wartete sie, während eine Computerstimme die ganze Absurdität des 21. Jahrhunderts zum Ausdruck brachte, indem sie ihr mitteilte, der Anruf werde aufgezeichnet.

Und endlich, gelobt sei Maria, eine echte menschliche Stimme.

»Notrufzentrale, was kann ich für Sie tun?«

Die Frau auf dem Boden, die in Süditalien einst den Hühnern hinterhergekrabbelt war, sprach trotz ihren Schmerzen klar und zusammenhängend. »Mein Name ist Concetta Reynolds, ich wohne im zweiten Stock einer Anlage in der Marlborough Street 219. Wahrscheinlich habe ich mir die Hüfte gebrochen. Können Sie mir einen Krankenwagen schicken?«

»Ist jemand bei Ihnen, Mrs. Reynolds?«

»Zu meiner Schande leider nicht. Sie sprechen mit einer dummen alten Dame, die darauf bestanden hat, sie könnte prima alleine leben. Ach, übrigens, inzwischen werde ich lieber mit Ms. angesprochen.«

2

Lucy erhielt den Anruf ihrer Großmutter, kurz bevor diese in den Operationssaal geschoben wurde. »Ich hab mir die Hüfte gebrochen, aber das kriegen sie wieder hin«, sagte Concetta. »Ich glaube, sie setzen Schrauben und so Zeug ein.«

»Momo, bist du hingefallen?« Lucy dachte sofort an Abra, die noch eine Woche lang im Sommerlager war.

»O ja, aber der Bruch, der den Sturz verursacht hat, war völlig spontan. Offenbar kommt das bei Leuten in meinem Alter ziemlich häufig vor, und da es heutzutage wesentlich mehr Leute in meinem Alter gibt als früher, haben die Ärzte oft damit zu tun. Es ist nicht nötig, dass du sofort kommst, aber ich glaube, du wirst ziemlich bald kommen wollen. Ich denke, wir werden uns über verschiedene Vorkehrungen unterhalten müssen.«

Lucy spürte Kälte in der Magengrube. »Was für Vorkehrungen denn?«

Da sie mit Valium, Morphin oder irgendeinem anderen Mittel vollgepumpt worden war, fühlte Concetta sich recht gelassen. »Es sieht so aus, dass die gebrochene Hüfte das geringste meiner Probleme ist.« Sie erläuterte die Einzelheiten, was nicht lange dauerte. Am Ende sagte sie: »Sag Abra nichts, cara. Ich hab Dutzende E-Mails von ihr bekommen, sogar einen richtigen Brief, und es hört sich ganz so an, dass sie im Sommerlager viel Spaß hat. Später hat sie noch genügend Zeit zu erfahren, dass ihre alte Momo den Löffel abgibt.«

Wenn du wirklich glaubst, dass ich ihr das erst sagen muss …, dachte Lucy.

»Auch ohne übersinnliche Fähigkeiten kann ich mir schon vorstellen, was du denkst, Liebes, aber vielleicht wird sie diesmal von schlechten Nachrichten verschont.«

»Vielleicht«, sagte Lucy.

Sie hatte kaum aufgelegt, als das Telefon läutete. »Mama? Mami?« Es war Abra. Sie weinte. »Ich will nach Hause kommen. Momo hat Krebs, und ich will nach Hause kommen.«

3

Nach ihrer Rückkehr aus Camp Tapawingo in Maine bekam Abra eine Vorstellung davon, wie es wäre, zwischen geschiedenen Eltern hin- und herzupendeln. Gemeinsam mit ihrer Mutter verbrachte sie die letzten beiden Augustwochen und die erste Septemberwoche in Chettas Wohnung in der Marlborough Street. Ihre Hüftoperation hatte die alte Dame ganz gut überstanden, und sie hatte sich gegen einen längeren Krankenhausaufenthalt und gegen jede Behandlung des Bauchspeicheldrüsenkrebses entschieden, den die Ärzte entdeckt hatten.

»Keine Tabletten, keine Chemotherapie. Siebenundneunzig Jahre sind genug. Und was dich angeht, Lucia, erlaube ich dir einfach nicht, die nächsten sechs Monate damit zu verbringen, mich mit Essen, Pillen und der Bettpfanne zu versorgen. Du hast eine Familie, und ich kann mir eine Ganztagespflege leisten.«

»Du wirst das Ende deines Lebens bestimmt nicht unter Fremden verbringen«, sagte Lucy mit ihrer Befehlsstimme. Wie Abra und deren Vater wussten, war es sinnlos, dieser Stimme zu widersprechen. Nicht einmal Concetta war in der Lage dazu.

Dass Abra dablieb, war unmöglich; am 9. September sollte sie in die achte Klasse der Anniston Middle School eintreten. David Stone befand sich in seinem Sabbatjahr, das er dazu nutzte, ein Buch zu schreiben, in dem er die wilden Zwanziger mit den hippen Sechzigern verglich, und deshalb pendelte Abra eben – wie eine ganze Reihe der Mädchen, mit denen sie im Sommerlager gewesen war – zwischen den beiden Elternteilen hin und her. Die Woche über war sie bei ihrem Vater. Am Wochenende reiste sie nach Boston, um bei ihrer Mama und ihrer Momo zu sein. Sie dachte, schlimmer könne es nicht mehr werden … aber es konnte immer schlimmer werden, und oft tat es das auch.

4

Obwohl er nun zu Hause arbeitete, machte David Stone sich nie die Mühe, zum Briefkasten zu gehen, um die Post zu holen. Seiner Meinung nach handelte es sich bei der amerikanischen Post um eine rein bürokratische Institution, die zur Jahrtausendwende endgültig jede Bedeutung verloren hatte. Ab und zu kam zwar ein Päckchen, manchmal Bücher, die er für seine Arbeit brauchte, öfter etwas, was Lucy aus einem Katalog bestellt hatte, aber abgesehen davon war alles nur Werbemist.

Wenn Lucy zu Hause war, holte sie die Post aus dem Briefkasten am Gartentor und sah sie während ihrer Kaffeepause am Vormittag durch. Tatsächlich war das meiste Mist und kam direkt in die Rundablage, wie David den Papiermüll bezeichnete. In diesem Jahr war Lucy Anfang September allerdings nicht daheim, weshalb Abra – nun nominell Frau des Hauses – den Briefkasten leerte, nachdem sie aus dem Schulbus gestiegen war. Außerdem spülte sie Geschirr, wusch für sich und ihren Dad zweimal pro Woche die Wäsche und stellte den Staubsaugerroboter an, wenn sie es nicht vergaß. Diese Aufgaben erledigte sie klaglos, weil sie wusste, dass ihre Mutter ihrer Momo half und dass das Buch ihres Vaters eine sehr wichtige Sache war. Diesmal war es, wie er sagte, ein populärwissenschaftliches, kein akademisches Werk. Wenn es erfolgreich werden würde, könne er vielleicht mit dem Unterrichten aufhören und sich ganz dem Schreiben widmen, zumindest eine Weile.

An diesem Tag, dem 17. September, enthielt der Briefkasten einen Prospekt von Walmart, eine Postkarte zur Eröffnung einer neuen Zahnarztpraxis in der Stadt (STRAHLENDES LÄCHELN GARANTIERT!) und zwei Hochglanzbroschüren von örtlichen Immobilienmaklern, die Teilzeiteigentum am Ski-Resort Mount Thunder anpriesen.

Außerdem steckte eine Gratiszeitung im Kasten, die sich The Anniston Shopper nannte. Auf den ersten zwei Seiten enthielt sie ein paar Agenturberichte und in der Mitte allerhand Lokales (vor allem über das regionale Sportgeschehen). Der Rest bestand aus Anzeigen und Coupons. Wäre Lucy zu Hause gewesen, so hätte sie einige der Coupons aufgehoben und den Rest des Blättchens in die Papiermülltonne befördert. Ihre Tochter hätte das Ding nie zu Gesicht bekommen. Da Lucy an diesem Tag jedoch in Boston war, sah Abra es.

Sie blätterte es durch, während sie die Einfahrt entlangschlenderte, dann drehte sie es um. Die Rückseite zeigte vierzig oder fünfzig Fotos, nicht viel größer als Briefmarken, die meisten in Farbe, einige in Schwarz-Weiß. Darüber stand:

HABEN SIE MICH GESEHEN?

Wöchentlicher Service in Ihrem Anniston Shopper

Einen Moment lang dachte Abra, es ginge um einen Wettbewerb, eine Art Schnitzeljagd. Dann wurde ihr klar, dass es sich um die Fotos vermisster Kinder handelte, und es war, als würde sich eine Hand um die weiche Wand ihres Magens legen und ihn wie einen Waschlappen auswringen. Beim Mittagessen hatte sie in der Cafeteria eine Dreierpackung Oreos gekauft und sich für die Busfahrt nach Hause aufgehoben. Nun hatte sie das Gefühl, als würden die Kekse von der umklammernden Hand nach oben in ihre Kehle gepresst.

Sieh nicht hin, wenn es dir Kummer macht, sagte sie sich. Es war die strenge, belehrende Stimme, mit der sie sich oft selber zur Räson brachte, wenn sie bestürzt oder durcheinander war (eine Momo-Stimme, was sie jedoch bisher nicht bewusst erkannt hatte). Wirf es einfach mit dem anderen Mist in die Tonne in der Garage. Nur dass sie anscheinend unfähig war, nicht hinzusehen.

Da war Cynthia Abelard, geb. 9. Juni 2005. Abra rechnete nach und stellte fest, dass Cynthia jetzt acht Jahre alt sein musste. Falls sie überhaupt noch am Leben war. Sie wurde seit 2009 vermisst. Wie kann man denn eine Vierjährige aus den Augen verlieren, fragte sich Abra. Die muss echt beschissene Eltern haben. Aber natürlich hatten die Eltern sie wahrscheinlich nicht aus den Augen verloren. Wahrscheinlich war irgendein Perverser durch die Nachbarschaft geschlichen, hatte seine Chance gesehen und das Kind gestohlen.

Da war Merton Askew, geb. 4. September 1998. Er war 2010 verschwunden.

Da, in der Mitte der Seite, war das Foto eines wunderschönen hispanischen Mädchens namens Angel Barbera, das im Alter von sieben Jahren aus seinem Elternhaus in Kansas City verschwunden und nun schon seit neun Jahren vermisst war. Abra fragte sich, ob die Eltern wirklich dachten, dieses winzige Bild könnte ihnen dabei helfen, ihr Kind zurückzubekommen. Und wenn sie es zurückbekamen, hätten sie es dann überhaupt noch erkannt? Und hätte das Mädchen sie erkannt?

Wirf das weg, sagte die Momo-Stimme. Du hast schon genug Sorgen, auch ohne dir massenhaft vermisste Ki…

Ihr Blick fiel auf ein Bild in der untersten Reihe, und sie stieß einen kaum hörbaren Laut aus. Wahrscheinlich war es ein Stöhnen. Zuerst wusste sie gar nicht, warum; vielmehr wusste sie es fast, es war wie ein Wort, das man in einem Schulaufsatz verwenden wollte, ohne dass es einem richtig einfiel, das verflixte Ding lag einem einfach bloß auf der Zunge.

Das Foto zeigte einen weißen Jungen mit kurzem Haar und einem breiten, albernen Grinsen. Es sah so aus, als hätte er Sommersprossen auf den Wangen. Das Bild war zu klein, das richtig beurteilen zu können, aber

(es sind Sommersprossen das weißt du doch)

irgendwie war sie sich trotzdem sicher. Ja, es waren Sommersprossen; seine großen Brüder hatten ihn deshalb gehänselt, und seine Mutter hatte ihm gesagt, die würden mit der Zeit verschwinden.

»Sie hat ihm gesagt, dass Sommersprossen Glück bringen«, flüsterte Abra.

Bradley Trevor, geb. 2. März 2000. Vermisst seit 12. Juli 2011. Hautfarbe: weiß. Ort: Bankerton, Iowa. Heutiges Alter: 13. Und darunter – unter all den Bilder meist lächelnder Kinder: Wenn Sie glauben, Bradley Trevor gesehen zu haben, wenden Sie sich bitte an das Nationale Zentrum für vermisste und ausgebeutete Kinder.

Nur das niemand sich wegen Bradley an das Zentrum wenden würde, weil niemand ihn mehr sehen konnte. Sein heutiges Alter war auch nicht dreizehn. Bradley Trevors Leben war mit elf Jahren stehen geblieben. Es war stehen geblieben wie eine kaputte Armbanduhr, die vierundzwanzig Stunden täglich dieselbe Zeit zeigte. Abra überlegte unwillkürlich, ob Sommersprossen unter der Erde wohl verblassten.

»Der Baseballjunge«, flüsterte sie.

Entlang der Einfahrt standen Blumen. Abra beugte sich vor, stützte sich mit den Händen auf die Knie, weil ihr der Rucksack plötzlich viel zu schwer geworden war, und erbrach ihre Oreos und den unverdauten Teil ihres Mittagessens in die Astern ihrer Mutter. Als sie sich sicher war, nicht noch einmal kotzen zu müssen, ging sie in die Garage und warf die Post in den Müll. Die gesamte Post.

Ihr Vater hatte recht, es war alles Mist.

5

Die Tür zu dem kleinen Zimmer, das ihr Vater zum Arbeiten benutzte, stand offen, und als Abra in der Küche am Spülbecken ein Glas Wasser einlaufen ließ, um sich den sauren Schokoladengeschmack der Oreos aus dem Mund zu spülen, hörte sie die Tastatur seines Computers kontinuierlich klicken. Das war gut. Wenn das Klicken sich verlangsamte oder ganz aufhörte, wurde ihr Vater oft brummig. Außerdem nahm er dann mehr Notiz von ihr, und heute wollte sie das vermeiden.

»Abba-Doo, bist du das?«, rief ihr Vater fast singend.

Normalerweise hätte sie ihn gebeten, diesen Babynamen bitte nicht mehr zu verwenden, aber jetzt tat sie das lieber nicht. »Ja, ich bin’s.«

»Wie war’s in der Schule?«

Das kontinuierliche Klick-klick-klick hatte aufgehört. Bitte komm nicht aus deinem Zimmer, flehte Abra lautlos. Komm nicht raus, um mich anzuschauen und zu fragen, wieso ich so bleich bin oder was mit mir los ist.

»Gut. Wie läuft es mit dem Buch?«

»Heute ist ein toller Tag«, sagte ihr Vater. »Ich schreibe über den Charleston und den Black Bottom. Wo-doh-di-oh-doh.« Was immer das heißen sollte. Wichtig war, dass das Klick-klick-klick wieder einsetzte. Gott sei Dank.

»Super«, sagte sie, spülte ihr Glas aus und stellte es in den Ablaufkorb. »Ich gehe jetzt rauf, um meine Hausaufgaben zu machen.«

»So ist’s recht. Denk dran, 2018 bist du in Harvard.«

»Alles klar, Dad.« Vielleicht würde sie tatsächlich daran denken. Oder an sonst was, was ihre Gedanken von Bankerton, Iowa, im Jahr 2011 fernhielt.

6

Nur dass sich diese Gedanken nicht fernhalten ließen.

Weil.

Weil was? Weil warum? Weil … tja …

Weil es etwas gibt, was ich tun kann.

Sie chattete eine Weile mit ihrer Freundin Jessica, doch dann fuhr die mit ihren Eltern zum Einkaufszentrum in North Conway, um im Panda Garden zu Abend zu essen, worauf Abra ihr Gemeinschaftskundebuch aufschlug. Eigentlich wollte sie sich mit dem vierten Kapitel beschäftigen, das aus extrem langweiligen zwanzig Seiten mit dem Titel »Wie unsere Regierung funktioniert« bestand, doch stattdessen hatte sich das Buch am Anfang des fünften Kapitels geöffnet: »Unsere Verantwortung als Staatsbürgerinnen und Staatsbürger«.

Oje, wenn es ein Wort gab, das sie an diesem Nachmittag nicht sehen wollte, dann lautete es Verantwortung. Sie ging ins Bad, um sich ein weiteres Glas Wasser zu holen, weil in ihrem Mund immer noch ein bitterer Geschmack lag, und starrte im Spiegel unwillkürlich auf ihre eigenen Sommersprossen. Es waren genau drei, eine auf der linken Wange und zwei auf der Nase. Nicht schlecht. Was Sommersprossen anging, hatte sie Dusel gehabt. Sie hatte auch kein Muttermal wie Bethany Stevens, kein schiefes Auge wie Norman McGinley, sie stotterte nicht wie Ginny Whitlaw und hatte keinen grässlichen Namen wie der arme Pence Effersham, der deshalb immer gehänselt wurde. Obwohl natürlich etwas eigenartig, war der Name Abra trotzdem ganz in Ordnung, weil die Leute ihn interessant fanden statt bloß schräg wie den von Pence, der unter den Jungs (aber die Mädchen bekamen so was irgendwie immer raus) als Pence der Penis bekannt war.

Und vor allem bin ich nicht von irgendwelchen wahnsinnigen Leuten zersäbelt worden, die sich nicht drum gekümmert haben, dass ich geschrien und gebettelt hab, sie sollen aufhören. Ich hab nicht sehen müssen, wie manche von diesen Irren sich mein Blut von den Handflächen geleckt haben, bevor ich gestorben bin. Abba-Doo ist schon ein echter Glückspilz.

Aber eigentlich war sie doch kein Glückspilz. Richtige Glückspilze wussten nichts von Dingen, die sie nichts angingen.

Sie klappte den Klodeckel herunter, setzte sich darauf, schlug die Hände vors Gesicht und weinte leise. Gezwungen zu sein, wieder an Bradley Trevor zu denken und daran, wie er gestorben war, war schlimm genug, aber das war noch nicht alles. Sie musste auch an all die anderen Kinder denken, an so viele Bilder, dass man sie wie eine Schulklasse aus der Hölle auf die letzte Seite vom Shopper gequetscht hatte. All dieses zahnlückige Grinsen und all diese Augen, die noch weniger von der Welt gewusst hatten, als Abra wusste, und was wusste die schon? Nicht einmal, »wie unsere Regierung funktioniert«.

Was dachten wohl die Eltern dieser vermissten Kinder? Wie schafften sie es, mit dem Leben fortzufahren? Waren Cynthia oder Merton oder Angel das Erste, woran sie morgens dachten, und das Letzte, was ihnen abends in den Sinn kam? Hielten sie das Zimmer ihres Kindes bereit, falls es nach Hause kam, oder hatten sie all seine Kleider und Spielsachen einer Wohlfahrtseinrichtung gespendet? Abra hatte gehört, dass die Eltern von Lennie O’Meara so gehandelt hatten, als Lennie vom Baum gefallen, mit dem Kopf auf einem Stein aufgeschlagen und gestorben war. Lennie O’Meara, der es bis zur fünften Klasse geschafft hatte, als sein Leben einfach … stehen geblieben war. Aber Lennies Eltern wussten natürlich, dass er tot war, es gab ein Grab, das sie aufsuchen konnten, um Blumen daraufzulegen, und vielleicht änderte das die Sache. Vielleicht auch nicht, aber Abra dachte, es müsste eigentlich so sein. Sonst müssten die Eltern sich ja ständig Fragen stellen, oder etwa nicht? Wenn sie zum Beispiel beim Frühstück saßen, würden sie sich fragen, ob ihr vermisstes Kind

(Cynthia Merton Angel)

ebenfalls irgendwo beim Frühstück saß oder seinen Drachen steigen ließ oder zusammen mit einem Haufen Einwanderer Orangen pflückte oder wer weiß was. Im Hinterkopf waren sie sich wohl ziemlich sicher, dass ihr Kind tot war, denn das war mit den meisten passiert (um das zu wissen, musste man nur die Nachrichten einschalten), aber ganz sicher konnten sie sich nicht sein.

An der Ungewissheit, die die Eltern von Cynthia Abelard und Merton Askew empfanden, konnte Abra nichts ändern, weil sie keine Ahnung hatte, was mit den beiden geschehen war, aber bei Bradley Trevor verhielt es sich anders.

Sie hatte ihn fast vergessen gehabt, aber dann hatte sie diese dämliche Zeitung gesehen … diese dämlichen Bilder … und alles war wieder zurückgekommen, sogar Sachen, von denen sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie sie wusste. Als ob die Bilder aus ihrem Unterbewusstsein aufgeschreckt worden wären …

Und dann das, was sie tun konnte. Dinge, von denen sie ihren Eltern nie erzählt hatte, weil die sich sonst Sorgen gemacht hätten, so wie sie auch besorgt gewesen wären, wenn sie gewusst hätten, dass Abra eines Tages nach der Schule mit Bobby Flannagan geknutscht hatte – bloß ein bisschen, keine Zungenküsse oder sonst was Ekliges. Das war etwas, was sie bestimmt nicht wissen wollten. Abra vermutete (womit sie nicht ganz unrecht hatte, obgleich keinerlei Telepathie beteiligt war), dass sie nach Ansicht ihrer Eltern sozusagen im Alter von acht Jahren eingefroren war und wahrscheinlich mindestens so lange nicht auftauen würde, bis sie Busen bekam, was definitiv noch nicht der Fall war – jedenfalls merkte man nichts davon.

Bisher hatten sie noch nicht einmal über DAS THEMA mit ihr gesprochen. Julie Vandover behauptete, es sei fast immer die Mutter, die einen aufklärte, aber die einzige Aufklärung, die Abra in letzter Zeit bekommen hatte, bezog sich darauf, wie wichtig es sei, dass sie am Donnerstagmorgen die Mülltonnen rausstelle, bevor der Bus komme. »Du musst ja sonst nicht viel im Haushalt helfen«, hatte Lucy gesagt. »Und in diesem Herbst ist es besonders wichtig, dass wir uns alle am Riemen reißen.«

Momo hatte sich immerhin DEM THEMA angenähert. Im Frühjahr hatte sie Abra eines Tages beiseitegenommen und gefragt: »Weißt du, was die Jungs von den Mädchen wollen, sobald Jungs und Mädchen in dein Alter kommen?«

»Sex wahrscheinlich«, hatte Abra gesagt … obwohl der demütige, verhuschte Pence Effersham anscheinend nichts anderes von ihr wollte als einen ihrer Kekse futtern, einen Quarter für den Verkaufsautomaten leihen oder ihr erzählen, wie oft er schon The Avengers gesehen habe.

Momo hatte genickt. »Das kann man der menschlichen Natur nicht übel nehmen, die ist, wie sie ist, aber lass die Finger davon. Basta. Weitere Diskussionen überflüssig. Wenn du neunzehn bist, kannst du wieder darüber nachdenken, wenn du willst.«

Das war irgendwie peinlich gewesen, aber zumindest geradeheraus und klar. An dem Ding in ihrem Kopf war überhaupt nichts klar. Das war ihr Muttermal, unsichtbar, aber real. Ihre Eltern sprachen nicht mehr über das abgedrehte Zeug, das während Abras ersten Lebensjahren passiert war. Vielleicht meinten sie, das Ding, das dieses Zeug verursacht habe, sei inzwischen so gut wie verschwunden. Klar, Abra hatte gewusst, dass Momo krank war, aber das war nicht dasselbe wie diese irre Klaviermusik, das im Badezimmer laufende Wasser und die Geburtstagsparty (an die sie sich kaum erinnerte), bei der sie massenhaft Löffel an die Küchendecke gehängt hatte. Sie hatte eben gelernt, es zu beherrschen. Nicht vollständig, aber doch weitgehend.

Außerdem hatte es sich verändert. Nun sah sie kaum noch Dinge, bevor sie geschahen, und sie bewegte auch kein Zeug mehr durch die Gegend. Mit sechs oder sieben Jahren hätte sie sich nur auf ihren Stapel Schulbücher konzentrieren müssen, um ihn bis zur Decke zu heben. Ohne jede Anstrengung. Das war nicht schwerer, als Nudeln zu kochen, wie Momo es gern ausdrückte. Nun musste sie sich selbst bei einem einzigen Buch konzentrieren, bis es sich anfühlte, als würde ihr das Gehirn aus den Ohren spritzen, und auch dann schaffte sie es nur, das Ding ein paar Zentimeter weit über den Tisch zu schieben. So lief es an guten Tagen. Oft schaffte sie es nicht einmal, die Seiten zum Flattern zu bringen.

Aber es gab andere Dinge, zu denen sie durchaus fähig war, in vielen Fällen sogar wesentlich besser als damals als kleines Kind. Zum Beispiel in den Kopf anderer Leute zu schauen. Das klappte nicht bei jedem – manche Leute waren vollständig abgeriegelt, andere sandten nur unregelmäßige Blitze aus –, aber viele waren wie Fenster mit offenen Vorhängen. In die konnte sie jederzeit hineinblicken, wenn sie Lust dazu hatte. Meistens wollte sie das allerdings gar nicht, denn das, was sie dort entdeckte, war manchmal traurig und oft schockierend. Herauszufinden, dass Mrs. Moran, ihre geliebte Lehrerin in der sechsten Klasse, eine AFFÄRE hatte, war bislang der größte Knaller gewesen, und zwar keiner von der angenehmen Sorte.

Inzwischen ließ sie den sehenden Teil ihres Geistes meistens abgeschaltet. Zu lernen, das zu tun, war zuerst schwierig gewesen, so etwa wie zu lernen, rückwärts Schlittschuh zu laufen oder mit der linken Hand zu schreiben, aber sie hatte es geschafft. Perfekt war sie durchs Üben zwar nicht geworden (zumindest noch nicht), aber es half. Sie blickte zwar immer noch manchmal in andere Menschen hinein, aber immer ganz vorsichtig und jederzeit bereit, sich beim ersten Anzeichen von etwas Bizarrem oder Ekligem zurückzuziehen. In den Kopf ihrer Eltern oder den von Momo spähte sie grundsätzlich nie. Das wäre falsch. Wahrscheinlich war es bei jedem Menschen falsch, aber wie Momo selbst gesagt hatte: Man konnte der menschlichen Natur nichts übel nehmen, und nichts war menschlicher als Neugier.

Manchmal gelang es Abra, Leute dazu zu bringen, bestimmte Dinge zu tun. Nicht jeden, nicht einmal die Hälfte von allen, aber viele Leute waren sehr empfänglich für Suggestionen. (Wahrscheinlich waren das dieselben, die meinten, der Kram, den man im Fernsehen verkaufe, würde tatsächlich ihre Falten glätten oder ihnen neue Haare wachsen lassen.) Abra wusste, dass sie diese Gabe fördern konnte, wenn sie sie wie einen Muskel trainierte, doch das tat sie nicht. Sie machte ihr Angst.

Es gab noch andere Dinge, für die sie teilweise keinen Namen wusste, aber das, woran sie jetzt gerade dachte, hatte einen. Sie nannte es Weitsehen. Wie die anderen Aspekte ihrer besonderen Gabe war es manchmal vorhanden und manchmal nicht, aber wenn sie es wirklich wollte – und wenn es ein Objekt gab, auf das sie es richten konnte –, dann war sie normalerweise in der Lage, es zu aktivieren.

Das könnte ich auch jetzt tun.

»Halt die Klappe, Abba-Doo«, sagte sie mit leiser, angestrengter Stimme. »Halt die Klappe, Abba-Doo-Doo.«

Sie schlug in ihrem Algebra-Buch die Seite mit den heutigen Hausaufgaben auf, die sie mit einem Blatt Papier gekennzeichnet hatte. Auf dieses Blatt hatte sie mindestens zwanzigmal die Namen Boyd, Steve, Cam und Pete geschrieben. Das waren die vier Mitglieder von ’Round Here, ihrer liebsten Boygroup. Unheimlich geil waren die, besonders Cam. Emma Deane, ihre beste Freundin, fand das auch. Diese blauen Augen, dieses strubbelige blonde Haar!

Vielleicht könnte ich helfen. Seine Eltern wären traurig, aber sie wüssten dann wenigstens Bescheid.

»Klappe, Abba-Doo. Klappe, du hirnlose Pflaume!«

Wenn 5x – 4 = 26, wie groß ist dann x?

»Sechzig Zillionen!«, sagte sie. »Wen interessiert das schon groß.«

Ihr Blick fiel auf die Namen der süßen Jungs von ’Round Here, geschrieben in der rundlichen Kursivschrift, die Abra und Emma bevorzugten (»Das sieht romantischer aus«, hatte Emma verfügt), und ganz plötzlich sah das alles dämlich und kindisch und total daneben aus. Sie haben ihn aufgeschlitzt und sein Blut geleckt, und dann haben sie ihm etwas noch Schlimmeres angetan. In einer Welt, in der so etwas geschehen konnte, war es sogar mehr als total daneben, derart für eine Boygroup zu schwärmen.

Abra schlug ihr Buch zu, ging ins Erdgeschoss (das Klick-klick-klick aus dem Arbeitszimmer ihres Vaters setzte sich kontinuierlich fort) und von dort in die Garage. Sie holte den Shopper aus dem Müll, nahm ihn mit auf ihr Zimmer mit und strich ihn auf dem Schreibtisch glatt.

All diese Gesichter, nur dass sie sich jetzt ausschließlich um ein einziges kümmerte.

7

Ihr Herz pochte laut-laut-laut. Sie hatte früher schon manchmal Angst gehabt, wenn sie bewusst versucht hatte, weitzusehen oder Gedanken zu lesen, aber niemals solche Angst. Nicht einmal annähernd.

Was wirst du tun, wenn du es herausbekommst?

Das war eine Frage für später, vielleicht schaffte sie es ja gar nicht. Ein kriecherischer, feiger Teil ihres Denkens hoffte das sogar.

Abra legte Zeige- und Mittelfinger ihrer linken Hand auf das Foto von Bradley Trevor, weil ihre linke Hand diejenige war, die besser sah. Lieber hätte sie alle Finger daraufgelegt (und wenn es ein Gegenstand gewesen wäre, hätte sie ihn in die Hand genommen), doch dafür war das Bild zu klein. Sobald ihre Finger sich darauf befanden, konnte sie es nicht einmal mehr sehen. Oder vielmehr konnte sie das sehr wohl. Sie sah es sogar sehr gut.

Blaue Augen wie die von Cam Riley von ’Round Here. Auf dem Foto sah man das nicht, aber sie hatten dieselbe tiefe Färbung. Das wusste Abra.

Rechtshändig wie ich. Aber auch linkshändig wie ich. Es war die linke Hand, die wusste, was für ein Wurf als Nächstes kommen würde, ein Fastball oder ein Curveb

Abra verschlug es den Atem. Der Baseballjunge hatte so etwas gewusst.

Der Baseballjunge war tatsächlich wie sie gewesen.

Ja, genau. Deswegen haben sie sich ihn ja geschnappt.

Sie schloss die Augen und sah sein Gesicht. Bradley Trevor. Seine Freunde hatten ihn Brad genannt. Der Baseballjunge. Manchmal drehte er seine Mütze um, wie man es tat, wenn die eigene Mannschaft zurücklag. Sein Vater war Farmer. Seine Mutter backte Kuchen, die sie in einem Restaurant und im Hofladen der Farm verkaufte. Als sein großer Bruder ans College gegangen war, hatte Brad alle seine CDs von AC/DC bekommen. Besonders standen er und sein bester Freund Al auf den Song »Big Balls«. Die beiden hockten oft auf Brads Bett, sangen den Titel zweistimmig und lachten wie die Irren.

Er ist durchs Maisfeld gegangen, und auf der anderen Seite hat ein Mann auf ihn gewartet. Brad dachte, es wäre ein netter Mann, ein Freund von ihm, weil dieser Mann

»Barry«, flüsterte Abra. Hinter ihren geschlossenen Lidern bewegten ihre Augen sich rasch hin und her, als würde sie schlafen und hätte einen lebhaften Traum. »Sein Name war Barry the Chunk. Der hat dich reingelegt, Brad. Stimmt’s?«

Aber es war nicht nur Barry gewesen. Sonst hätte Brad es womöglich gemerkt. Es waren alle Taschenlampen-Leute gemeinsam gewesen, die denselben Gedanken gesandt hatten: dass es in Ordnung sei, in den Kleinbus oder das Wohnmobil von Barry the Chink zu steigen, weil Barry gut sei. Einer von den Guten. Ein Freund.

Und so hatten sie ihn sich geschnappt …

Abra drang tiefer vor. Sie kümmerte sich nicht um das, was Brad gesehen hatte, weil er nichts gesehen hatte als einen grauen Teppich. Er war mit Paketband gefesselt und lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Boden des Dings, das Barry the Chunk lenkte. Das machte allerdings nichts. Da sie nun in ihn eingedrungen war, konnte sie mehr sehen als er. Sie konnte sehen …

Seinen Handschuh. Ein Baseballhandschuh von Wilson. Und Barry the Chunk …

Dann flog dieser Teil weg. Vielleicht kam er später wieder, vielleicht auch nicht.

Es war Nacht. Sie roch Kuhdung. Da war eine Fabrik. Irgendeine

(die ist stillgelegt)

Fabrik. Eine ganze Kolonne von Fahrzeugen bewegte sich darauf zu, einige klein, die meisten groß, manche riesig. Die Scheinwerfer waren ausgeschaltet, damit niemand sie sah, aber es stand ein Dreiviertelmond am Himmel. Hell genug, etwas zu sehen. Sie fuhren eine holprige, mit Schlaglöchern übersäte Teerstraße entlang, an einem Wasserturm und einem Schuppen mit eingestürztem Dach vorbei, dann fuhren sie durch ein rostiges Tor, das offen stand, und dann an einem Schild vorüber. Das Schild zog so schnell vorbei, dass Abra es nicht lesen konnte. Dann die Fabrik. Eine stillgelegte Fabrik mit kaputten Schornsteinen und kaputten Fenstern. Ein weiteres Schild kam, das Abra dank dem Mondlicht lesen konnte: BETRETEN VERBOTEN! CANTON COUNTY SHERIFF’S DEPT.

Sie fuhren auf die Rückseite, und wenn sie dort ankamen, würden sie Brad, dem Baseballjungen, wehtun – so lange, bis er tot war. Das wollte Abra nicht sehen, weshalb sie alles rückwärtslaufen ließ. Das war ziemlich schwierig, ungefähr so schwierig, wie ein Konservenglas mit einem ganz fest schließenden Deckel zu öffnen, aber sie schaffte es. Als sie wieder dort angekommen war, wo sie hinwollte, ließ sie los.

Der Baseballhandschuh gefiel Barry the Chunk, weil er ihn an die Zeit erinnerte, als er ein kleiner Junge gewesen war. Deshalb probierte er ihn an. Er probierte ihn an und roch das Öl, mit dem Brad den Handschuh einrieb, damit er nicht steif wurde, und dann schlug Barry ein paarmal mit der anderen Faust auf den Hand

Aber nun bewegte sich alles vorwärts, und sie vergaß Brads Baseballhandschuh wieder.

Wasserturm. Schuppen mit eingestürztem Dach. Rostiges Tor. Und dann das erste Schild. Was stand darauf?

Nein. Immer noch zu schnell, trotz Mondlicht. Sie spulte wieder zurück (inzwischen standen ihr Schweißtropfen auf der Stirn) und ließ los. Wasserturm. Schuppen mit eingestürztem Dach. Achtung, gleich kommt es! Rostiges Tor. Dann das Schild. Diesmal konnte sie es lesen, wenngleich sie sich nicht sicher war, ob sie es verstand.

Abra griff nach dem Blatt Papier, auf das sie die ganzen Namen dieser dämlichen Boygroupmitglieder gemalt hatte, und drehte es um. Eilig, bevor sie es wieder vergaß, kritzelte sie alles hin, was sie auf dem Schild gesehen hatte: ORGANIC INDUSTRIES und ETHANOLFABRIK NR. 4 und FREEMAN, IOWA und BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN.

Okay, jetzt wusste sie, wo die ihn getötet hatten und wo – da war sie sich sicher – sie ihn samt seinem Baseballhandschuh begraben hatten. Was nun? Wenn sie die Nummer für vermisste und ausgebeutete Kinder anrief, hörten die Leute da eine Kinderstimme und würden ihr keine Beachtung schenken … außer dass sie ihre Nummer womöglich der Polizei weitergaben, weshalb sie dann wahrscheinlich dafür eingesperrt würde, dass sie Leuten, die ohnehin schon unglücklich waren, einen Streich spielen wollte. Als Nächstes dachte sie an ihre Mutter, aber da Momo krank war und bald sterben würde, kam die nicht infrage. Mama hatte ohnehin schon genug Sorgen.

Abra stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus auf die Straße, auf den Lickety-Split-Markt an der Ecke (den die älteren Kids als Lickety Spliff bezeichneten, weil dahinter, bei den Müllcontainern, so viele Joints geraucht wurden) und auf die in den klaren, blauen Spätsommerhimmel ragenden White Mountains. Sie rieb sich ständig den Mund, eine nervöse Angewohnheit, die ihre Eltern ihr abgewöhnen wollten, aber die waren nicht da, also piep drauf. Piep auf diesen ganzen Mist.

Dad sitzt da unten.

Dem wollte sie es allerdings auch nicht sagen. Nicht weil er sein Buch fertig schreiben musste, sondern weil er sich, selbst wenn er ihr glaubte, bestimmt nicht in so etwas hineinziehen lassen wollte. Um das zu wissen, musste sie gar nicht erst seine Gedanken lesen.

Aber wer dann?

Bevor ihr eine logische Antwort einfiel, begann die Welt hinter ihrem Fenster sich zu drehen, als wäre sie auf einer riesigen Scheibe befestigt. Abra stieß einen leisen Schrei aus, griff nach den Seiten des Fensters und packte mit beiden Fäusten die Vorhänge. So etwas hatte sich früher schon ereignet, immer ohne Vorwarnung, und sie war jedes Mal zu Tode erschrocken, weil sie überhaupt keine Kontrolle darüber hatte – es war wie ein Krampfanfall. Sie war nicht mehr in ihrem eigenen Körper, sie war in einem Zustand des Weitwegseins statt des Weitsehens. Was, wenn sie nicht mehr zurückkam?

Die Drehscheibe wurde langsamer und hielt schließlich an. Anstatt in ihrem Zimmer zu sein, befand Abra sich in einem Supermarkt. Das wusste sie, weil sie vor sich die Fleischtheke sah. Darüber (dank den hellen Neonleuchten war dieses Schild leicht zu lesen) stand ein Versprechen: BEI SAM’S IST JEDES STEAK EIN COWBOY-STEAK VON EXZELLENTER QUALITÄT! Ein oder zwei Momente lang kam die Fleischtheke näher, weil die Drehscheibe Abra in jemand hineingeschoben hatte, der gerade darauf zuging. Dieser Jemand ging und kaufte ein. Barry the Chunk? Nein, der nicht, obwohl Barry da war; durch Barry war sie hierhergelangt. Allerdings war sie von jemand, der wesentlich mächtiger war, von ihm weggezogen worden. Am unteren Rand ihres Blickfelds sah Abra einen mit Lebensmitteln beladenen Einkaufswagen. Dann hörte die Vorwärtsbewegung auf, und eine Empfindung meldete sich, das

(wühlende schnüffelnde)

wahnwitzige Gefühl, dass jemand sich IN IHR befand, und mit einem Mal begriff Abra, dass sie diesmal nicht allein auf der Drehscheibe war. Sie blickte auf eine Fleischtheke am Ende eines Gangs im Supermarkt, und die andere Person blickte aus Abras Fenster auf die Straße und die Berge jenseits davon.

In ihrem Innern explodierte Panik; es war, als hätte man Benzin in ein offenes Feuer gegossen. Kein Laut entschlüpfte ihren Lippen, die so fest zusammengepresst waren, dass ihr Mund nur ein Strich war, aber in ihrem Kopf stieß sie einen Schrei aus, der lauter war als alles, wozu sie sich fähig gehalten hätte:

(NEIN! GEH RAUS AUS MEINEM KOPF!)

8

Als David spürte, wie das Haus erzitterte, und sah, wie die Deckenlampe seines Arbeitszimmers an ihrer Kette hin- und herpendelte, war sein erster Gedanke

(Abra)

dass seine Tochter einen ihrer übersinnlichen Ausbrüche hatte. Allerdings war dieser telekinetische Mist schon seit Jahren nicht mehr aufgetreten, und so etwas hatte er überhaupt noch nicht erlebt. Als sich die Lage wieder normalisierte, war sein zweiter – und seiner Meinung nach wesentlich vernünftigerer – Gedanke, gerade sein erstes Erdbeben in New Hampshire erlebt zu haben. So etwas kam von Zeit zu Zeit vor, das wusste er, aber … wow!

Er erhob sich von seinem Schreibtischstuhl (natürlich nicht, ohne vorher auf »Speichern« zu klicken) und lief in den Flur. Am unteren Ende der Treppe rief er: »Abra! Hast du das gespürt?«

Bleich und wie verängstigt kam sie aus ihrem Zimmer heraus. »Ja, irgendwie schon. Ich … ich glaube, ich …«

»Das war ein Erdbeben«, erklärte David ihr strahlend. »Dein erstes Erdbeben! Ist das nicht toll?«

»Ja«, sagte Abra, ohne besonders begeistert zu klingen. »Toll.«

Er blickte aus dem Wohnzimmerfenster und sah die Nachbarn auf ihren Terrassen und Rasenflächen stehen. Auch sein Freund Matt Renfrew war dabei. »Ich gehe mal über die Straße und rede mit Matt, Schatz. Willst du mitkommen?«

»Ach nee, ich mache lieber meine Mathe-Hausaufgaben fertig.«

David ging auf die Haustür zu, dann drehte er sich um und blickte zu ihr hoch. »Du hast doch keine Angst, oder? Das brauchst du nicht. Es ist vorbei.«

Abra wünschte sich nichts mehr, als dass dem so wäre.

9

Rose the Hat kaufte für zwei ein, weil Grampa Flick sich wieder miserabel fühlte. Sie sah einige andere Mitglieder des Knotens bei Sam’s und nickte ihnen zu. Bei den Konservendosen blieb sie eine Weile stehen, um sich mit Barry the Chink zu unterhalten, der die von seiner Frau geschriebene Einkaufsliste in der Hand hielt. Barry machte sich Sorgen um Flick.

»Der erholt sich schon wieder«, sage Rose. »Du kennst Grampa doch.«

Barry grinste. »Zäher als ein alter Kaugummi.«

Rose nickte und schob ihren Einkaufswagen an. »Darauf kannst du wetten.«

Ein ganz gewöhnlicher Nachmittag im Supermarkt, und als sie sich von Barry verabschiedete, hielt sie das, was mit ihr geschah, zuerst fälschlich für etwas ganz Banales, zum Beispiel Unterzuckerung. Dazu neigte sie nämlich, weshalb in ihrer Handtasche normalerweise ein Schokoriegel steckte. Dann merkte sie, dass sich jemand in ihrem Kopf befand. Jemand schaute zu.

Rose war nicht durch Unentschlossenheit zu ihrer Position als Anführerin des Wahren Knotens aufgestiegen. Sie blieb stehen – ihr Einkaufswagen zeigte zur Fleischtheke, ihrem nächsten Ziel – und sprang sofort mitten hinein in die Verbindung, die irgendeine neugierige und potenziell gefährliche Person hergestellt hatte. Kein Mitglied des Knotens, denn die hätte sie alle sofort erkannt, aber auch kein gewöhnlicher Tölpel.

Nein, das war alles andere als gewöhnlich.

Der Supermarkt schwenkte weg, und plötzlich blickte sie auf eine Bergkette. Nicht die Rocky Mountains, die hätte sie erkannt. Diese Berge waren kleiner. Die Catskills? Die Adirondacks? Beides war möglich, es konnte aber auch ganz woanders sein. Und was den Zuschauer anging … das war wohl ein Kind. Ziemlich sicher ein Mädchen, und zwar eines, dem Rose schon einmal begegnet war.

Ich muss sehen, wie sie aussieht, dann kann ich sie finden, wann immer ich will. Ich muss sie dazu bringen, in einen Spiegel zu …

Aber dann fegte ein Gedanke, laut wie ein Gewehrschuss in einem geschlossenen Raum

(NEIN! GEH RAUS AUS MEINEM KOPF!)

ihr den Kopf aus und ließ sie an ein Regal mit Dosensuppen und Gemüsekonserven taumeln. Die Dosen stürzten auf den Boden und rollten in alle Richtungen. Einen Moment lang dachte Rose, sie würde ihnen folgen und in Ohnmacht fallen wie die naive Heldin eines Liebesromans. Dann war sie wieder ganz da. Das Mädchen hatte die Verbindung getrennt, und zwar auf recht spektakuläre Weise.

Hatte sie Nasenbluten? Sie wischte sich mit den Fingern über die Oberlippe und sah nach. Nein. Gut.

Ein Verkäufer kam angelaufen. »Alles in Ordnung, Ma’am?«

»Ja, klar. Hab mich bloß einen Moment etwas schwach gefühlt. Wahrscheinlich, weil man mir gestern einen Zahn gezogen hat. Jetzt ist es vorüber. Da hab ich ganz schön was angerichtet, was? Tut mir leid. Gut, dass es Dosen waren und keine Flaschen.«

»Das macht nichts, das macht überhaupt nichts. Wollen Sie mit nach vorn kommen und sich auf die Bank am Eingang setzen?«

»Das wird nicht nötig sein«, sagte Rose. Und das war es auch nicht, aber vom Einkaufen hatte sie für heute genug. Sie schob ihren Wagen zwei Gänge weiter und ließ ihn dort stehen.

10

Sie war mit ihrem Pick-up (einem alten, aber zuverlässigen Tacoma) von dem Campingplatz in den Bergen westlich von Sidewinder gekommen, und sobald sie am Steuer saß, zog sie ihr Telefon aus der Handtasche und drückte eine der Schnellwahltasten. Am anderen Ende läutete es nur ein einziges Mal.

»Was gibt’s, Rosie-Girl?«, fragte Crow Daddy.

»Wir haben ein Problem.«

Natürlich war es auch eine Gelegenheit. Ein Kind mit genug Steam im Kessel, einen derartigen Knall auszulösen – jemand, der Rose nicht nur entdeckt, sondern sie zum Taumeln gebracht hatte –, war nicht bloß ein Steamhead, sondern die Entdeckung des Jahrhunderts. Rose fühlte sich wie Kapitän Ahab, als der zum ersten Mal seinen großen weißen Wal zu Gesicht bekommen hatte.

»Dann erzähl mal.« Ganz geschäftsmäßig jetzt.

»Vor gut zwei Jahren. Der Junge in Iowa. Erinnerst du dich an ihn?«

»Klar.«

»Du erinnerst dich, dass ich dir gesagt hab, wir hätten einen Zuschauer?«

»Ja. An der Ostküste. Du dachtest, es ist wahrscheinlich ein Mädchen.«

»Es war tatsächlich ein Mädchen. Gerade hat sie mich wiedergefunden. Ich war bei Sam’s und hab mich um meine Einkäufe gekümmert, und urplötzlich war die Kleine da.«

»Wieso denn nach so langer Zeit?«

»Das weiß ich nicht, und es ist mir auch egal. Aber wir müssen sie uns schnappen, Crow. Wir müssen sie haben.«

»Weiß sie, wo du gerade bist? Wo wir sind?«

Darüber hatte Rose eine Weile nachgedacht, während sie zu ihrem Auto gegangen war. Gesehen hatte das Mädchen sie nicht, da war sie sich sicher. Sie war in ihrem Innern gewesen und hatte hinausgeschaut. Und was hatte sie gesehen? Einen Gang im Supermarkt. Wie viele solche Gänge gab es in Amerika? Wahrscheinlich eine Million.

»Ich glaube nicht, aber darauf kommt es nicht an.«

»Worauf dann?«

»Erinnerst du dich, dass ich dir gesagt hab, die Kleine hätte viel Steam? Massenhaft Steam? Also, sie ist noch stärker. Als ich versucht hab, sie in die Zange zu nehmen, hat sie mich wie einen Wattebausch aus ihrem Kopf geblasen. So was ist mir noch nicht mal ansatzweise passiert. Bisher hätte ich behauptet, dass so was unmöglich ist.«

»Ist sie eher als Mitglied oder als Nahrung geeignet?«

»Das weiß ich nicht.« Aber sie wusste es. Steam – gespeicherten Steam – brauchten sie wesentlich dringender als neue Mitglieder. Außerdem wollte Rose niemand mit so viel Kraft im Wahren Knoten haben.

»Okay, wie finden wir sie? Irgendeinen Vorschlag?«

Rose dachte daran, was sie durch die Augen des Mädchens gesehen hatte, bevor sie so abrupt zu Sam’s Supermarket in Sidewinder zurückbefördert worden war. Nicht viel, aber da war ein Laden gewesen …

»Die Kids nennen ihn Lickety Spliff«, sagte sie.

»Hä?«

»Vergiss es. Ich muss darüber nachdenken. Aber wir müssen sie kriegen, Crow. Wir müssen sie einfach kriegen.«

Eine Pause entstand. Als Crow wieder den Mund aufmachte, klang er vorsichtig. »Wenn man dich so hört, ist womöglich genug da, ein Dutzend Flaschen damit zu füllen. Das heißt natürlich, falls du wirklich nicht versuchen willst, die Kleine umzuwandeln.«

Rose stieß ein zerstreutes, bellendes Lachen aus. »Wenn ich recht habe, dann haben wir gar nicht genug Flaschen, den Steam der Kleinen zu speichern. Wenn sie ein Berg wäre, dann der Mount Everest.« Crow erwiderte nichts. Rose musste ihn weder sehen noch in seinen Gedanken stochern, um zu merken, dass er regelrecht entgeistert war. »Aber vielleicht müssen wir weder das eine noch das andere tun.«

»Das kapier ich nicht.«

Natürlich tat er das nicht. Vorausschauendes Denken war noch nie Crows Spezialität gewesen. »Vielleicht müssen wir sie weder umwandeln noch töten. Denk mal an Kühe.«

»Kühe.«

»Man kann eine schlachten, dann hat man ein paar Monate lang Steaks und Hamburger. Aber wenn man sie am Leben lässt und für sie sorgt, gibt sie sechs Jahre lang Milch. Vielleicht sogar acht Jahre.«

Schweigen. Lange. Sie ließ zu, dass es sich ausdehnte. Als Crow etwas sagte, hörte er sich noch vorsichtiger an als vorher. »Von so was hab ich noch nie gehört. Wir töten sie, wenn der Steam verbraucht ist oder wenn sie was haben, was wir brauchen, und wenn sie stark genug sind, die Umwandlung zu überleben, dann wandeln wir sie um. So wie wir es damals in den Achtzigern mit Andi gemacht haben. Grampa Flick sagt vielleicht was anderes, wenn man ihm glaubt, dass er sich wirklich noch daran erinnert, wie Heinrich VIII. seine Weiber umgebracht hat, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass der Knoten jemals versucht hat, sich einen Steamhead zu halten. Wenn die Kleine so stark ist, wie du sagst, ist das womöglich sogar gefährlich.«

Da sagst du mir nichts Neues. Wenn du gespürt hättest, was ich gespürt hab, dann würdest du mich für verrückt erklären, weil ich so was überhaupt in Betracht ziehe. Vielleicht ist es auch verrückt. Aber …

Aber sie hatte es satt, so viel von ihrer Zeit – von der Zeit der gesamten Familie – damit zu verbringen, Nahrung herbeizuschaffen. Zu leben wie fahrendes Volk im Mittelalter, wo sie doch eigentlich wie die Könige und Königinnen der Schöpfung hätten leben sollen. Das waren sie schließlich.

»Sprich mit Grampa, sobald er sich besser fühlt. Und mit Heavy Mary, die ist schon fast so lange dabei wie Flick. Mit Snakebite Andi. Die ist zwar neu, hat aber Grips im Kopf. Und mit allen anderen, denen deiner Meinung nach was Nützliches einfallen könnte.«

»Du lieber Himmel, Rosie. Ich weiß nicht …«

»Ich weiß es auch noch nicht. Bin immer noch überwältigt. Momentan bitte ich dich auch bloß, etwas Vorarbeit zu leisten. Schließlich bist du der Scout.«

»Okay …«

»Ach, und vergiss nicht, mit Walnut zu sprechen. Frag ihn, mit was für Drogen man ein Tölpelkind über lange Zeit hinweg brav und gefügig halten kann.«

»Ich hab nicht den Eindruck, dass die Kleine ein richtiger Tölpel ist.«

»Aber klar doch. Eine fette, alte Tölpel-Milchkuh.«

Stimmt nicht ganz. Eher ein riesengroßer weißer Wal, das ist die Kleine.

Rose trennte die Verbindung, ohne abzuwarten, ob Crow Daddy noch etwas zu sagen hatte. Sie war der Boss, und aus ihrer Sicht war das Gespräch beendet.

Sie ist ein weißer Wal, und ich will sie haben.

Aber Ahab hatte Moby Dick nicht nur haben wollen, weil der tonnenweise Walspeck und fast zahllose Fässer Öl geliefert hätte, und Rose wollte das Mädchen nicht nur, weil es – mithilfe des richtigen Drogencocktails und kraftvoller übersinnlicher Beruhigungsmaßnahmen – einen fast endlosen Vorrat an Steam liefern konnte. Die Sache hatte einen persönlicheren Aspekt. So jemand umwandeln? Zum Teil des Wahren Knotens machen? Niemals. Die Kleine hatte Rose the Hat aus ihrem Kopf gescheucht wie eine lästige Sektenanhängerin, die von Tür zu Tür ging, um Broschüren über das Ende der Welt zu verteilen. So war Rose noch von niemand rausgeschmissen worden. Egal wie kraftvoll die Kleine war, man musste ihr eine Lektion erteilen.

Und dafür bin ich genau die Richtige.

Rose the Hat ließ den Motor an, lenkte den Pick-up aus dem Parkplatz des Supermarkts und machte sich auf den Weg zu dem familieneigenen Bluebell Campground. Der war wirklich wunderschön gelegen, was kein Wunder war. Dort hatte einmal eines der großartigsten Urlaubshotels der Welt gestanden.

Aber natürlich war das Overlook schon vor langer Zeit niedergebrannt.

11

Matt und Cassie Renfrew waren die Partytiere der Nachbarschaft, und sie entschieden spontan, ein Erdbeben-Barbecue zu veranstalten. Dazu luden sie alle Anwohner der Straße ein, und fast alle kamen. Matt besorgte im nahen Supermarkt eine Kiste Limo, ein paar Flaschen billigen Wein und ein Fässchen Bier. Es war unheimlich lustig, und David Stone amüsierte sich blendend. Soweit er es beurteilen konnte, tat Abra das ebenfalls. Sie trieb sich mit ihren Freundinnen Julie und Emma herum, und er sorgte dafür, dass sie einen Hamburger und etwas Salat aß. Lucy hatte ihm gesagt, sie müssten die Essgewohnheiten ihrer Tochter im Auge behalten, weil diese das Alter erreicht habe, in dem Mädchen sehr bewusst auf ihr Gewicht und ihr Aussehen achteten – das Alter, in dem die Gefahr bestand, dass Anorexie oder Bulimie ihr hageres, ausgehungertes Gesicht zeigten.

Wäre Lucy da gewesen, so wäre ihr womöglich etwas aufgefallen, was er nicht bemerkte: Anders als ihre Freundinnen kicherte Abra nicht pausenlos. Und nachdem sie eine Schale Eiscreme gegessen hatte (eine kleine Schale), fragte sie ihren Vater, ob sie zurückgehen dürfe, um ihre Hausaufgaben fertig zu machen.

»Klar«, sagte David. »Aber bedanke dich zuerst bei Mr. und Mrs. Renfrew.«

Das hätte Abra auch getan, ohne daran erinnert zu werden, aber sie nickte, ohne darauf hinzuweisen.

»Schön, dass du da warst, Abby«, sagte Mrs. Renfrew. Nach drei Gläsern Wein hatten ihre Augen einen irgendwie übernatürlichen Glanz. »War das nicht cool? Wir sollten öfter Erdbeben haben. Allerdings hab ich mit Vicky Fenton gesprochen – du kennst doch die Fentons in der Pond Street? Das ist bloß eine Straße weiter, und sie hat gesagt, sie hätten überhaupt nichts davon gespürt. Ist das nicht eigenartig?«

»Stimmt«, sagte Abra und dachte, was eigenartige Dinge angehe, habe Mrs. Renfrew keine rechte Ahnung.

12

Abra hatte ihre Hausaufgaben erledigt und saß mit ihrem Dad im Wohnzimmer vor dem Fernseher, als ihre Mama anrief. Sie unterhielten sich eine Weile, dann gab Abra das Telefon an ihren Vater weiter. Lucy sagte etwas, und Abra wusste, was es war, schon bevor Dave einen Blick auf sie warf und antwortete. »Ja, der geht’s gut. Sie ist bloß ziemlich geschafft von den Hausaufgaben, glaube ich. Die Kinder haben heutzutage so viel auf. Hat sie dir gesagt, dass wir ein kleines Erdbeben hatten?«

»Ich gehe rauf«, sagte Abra, und er winkte ihr abwesend zu.

Sie setzte sich an den Schreibtisch, schaltete ihren Computer ein und dann wieder aus. Sie hatte keine Lust, Fruit Ninja zu spielen, und mit jemand chatten wollte sie schon gar nicht. Sie musste darüber nachdenken, was sie tun sollte, denn irgendetwas musste sie tun.

Sie steckte die Schulbücher in ihren Rucksack, hob den Blick und sah, dass die Frau aus dem Supermarkt sie durchs Fenster hindurch anstarrte. Das war unmöglich, weil dieses Fenster sich im Obergeschoss befand, dennoch war die Frau da. Ihre Haut war makellos und von reinstem Weiß, sie hatte hohe Wangenknochen und dunkle Augen, die weit auseinanderstanden und an den Winkeln leicht schräg waren. Abra dachte, dass dies womöglich die schönste Frau war, die sie je gesehen hatte. Außerdem erkannte sie sofort und ohne den geringsten Zweifel, dass die Frau wahnsinnig war. Üppiges, schwarzes Haar umrahmte ihr vollkommenes, aber arrogantes Gesicht und fiel ihr über die Schultern. Auf dieser Haarpracht saß ein kesser Zylinder aus abgewetztem Samt, unverrückbar, obwohl er irrsinnig schief aufgesetzt war.

Sie ist nicht wirklich da, und in meinem Kopf ist sie auch nicht. Ich weiß nicht, wie ich sie sehen kann, und ich glaube nicht, dass sie weiß, dass …

Die Wahnsinnige hinter dem dunkler werdenden Fenster grinste, und als ihre Lippen sich teilten, sah Abra, dass sie oben nur einen einzigen Zahn hatte, einen scheußlich verfärbten Hauer. Das war, begriff sie, das Letzte, was Bradley Trevor in seinem Leben gesehen hatte, und sie schrie, schrie, so laut sie konnte … aber nur in ihrem Innern, denn ihre Kehle war verschlossen, und ihre Stimmbänder waren erstarrt.

Abra schloss die Augen. Als sie sie wieder aufmachte, war die grinsende Frau mit dem weißen Gesicht verschwunden.

Nicht mehr da. Aber sie könnte kommen. Sie weiß von mir, und sie könnte kommen.

In diesem Augenblick erkannte sie, was sie schon hätte wissen sollen, als sie die verlassene Fabrik gesehen hatte. Es gab eigentlich nur einen einzigen Menschen, an den sie sich wenden konnte. Nur einen, der ihr helfen konnte. Sie schloss wieder die Augen, aber diesmal nicht, um sich vor einer schauderhaften Erscheinung zu verstecken, die sie durchs Fenster hindurch ansah, sondern um Hilfe zu rufen.

(TONY ICH BRAUCHE DEINEN DAD! BITTE TONY BITTE!)

Mit geschlossenen Augen spürte sie die Wärme ihrer Tränen auf Wimpern und Wangen, während sie flüsterte: »Hilf mir, Tony. Ich hab Angst.«

Kapitel acht ABRAS RELATIVITÄTSTHEORIE

1

Die letzte Fahrt des Tages mit der Helen Rivington trug den Titel »Sunset Cruise«, und an vielen Abenden, an denen Dan keinen Dienst im Hospiz hatte, betätigte er sich als Lokführer. Billy Freeman, der die Fahrt während seiner Jahre als städtischer Angestellter ungefähr fünfundzwanzigtausendmal unternommen hatte, überließ ihm das Steuer nur zu gern.

»Davon kriegst du nie genug, was?«, hatte er Dan einmal gefragt.

»Muss wohl an meiner benachteiligten Kindheit liegen.«

Eigentlich war er kein benachteiligtes Kind gewesen, aber nachdem sie die Abfindung aufgebraucht hatten, war seine Mutter oft mit ihm umgezogen und hatte viele verschiedene Jobs gehabt. Ohne College-Abschluss hatte sie meistens nicht viel verdient. Sie hatte dafür gesorgt, dass die beiden ein Dach über dem Kopf und genug Essen auf dem Tisch hatten, aber es war nie viel übrig geblieben.

Einmal – er war auf der Highschool gewesen, und sie hatten in Bradenton gewohnt, nicht weit von Tampa – hatte er sie gefragt, wieso sie nie mit Männern ausgehe. Inzwischen war er alt genug zu erkennen, dass sie immer noch eine sehr gut aussehende Frau war. Wendy Torrance, die sich nie vollständig von der ihr von ihrem Mann zugefügten Rückenverletzung erholt hatte, hatte ihn schief angelächelt und gesagt: »Ein Mann war genug für mich, Danny. Außerdem hab ich jetzt dich.«

»Wie viel wusste sie von deiner Sauferei?«, hatte Casey K. ihn bei einem ihrer Gespräche im Café gefragt. »Du hast doch schon ziemlich jung angefangen, oder?«

Darüber hatte Dan erst nachdenken müssen. »Wahrscheinlich wusste sie mehr, als ich damals dachte, aber wir haben nie darüber geredet. Ich glaube, sie hatte Angst, es zur Sprache zu bringen. Außerdem hab ich nie Probleme mit der Polizei gehabt – jedenfalls damals noch nicht –, und ich hab an der Highschool einen richtig guten Abschluss gemacht.« Er hatte Casey über seine Kaffeetasse hinweg grimmig angelächelt. »Und natürlich hab ich sie nie verprügelt. Das hat wohl den Ausschlag gegeben.«

Eine elektrische Eisenbahn hatte er natürlich nie bekommen, aber die Anonymen Alkoholiker lebten nach dem Grundsatz: Hör auf zu trinken, dann wird es besser. Das stimmte auch. Jetzt hatte er die größte kleine Eisenbahn, die ein Junge sich wünschen konnte, und Billy hatte recht, von der bekam er nie genug. Vielleicht änderte sich das in zehn oder zwanzig Jahren, aber selbst dann würde er sich wahrscheinlich noch für die letzte Fahrt des Tages zur Verfügung stellen, einfach um die Riv bei Sonnenuntergang zur Wendeschleife am Wolkentor zu steuern. Der Blick dort war spektakulär, und wenn der Saco River ruhig dahinfloss (wie meist, sobald das Frühjahrshochwasser zurückgegangen war), sah man alle Farben zweimal, einmal oben und einmal unten. Alles war still am anderen Ende der Bahnstrecke; es war, als würde Gott dort den Atem anhalten.

Die Fahrten zwischen Anfang September und dem zweiten Montag im Oktober, dem Kolumbus-Tag, nach dem die Riv für den Winter stillgelegt wurde, waren die besten. Dann waren die Touristen fort, und die wenigen Fahrgäste waren Einheimische, von denen er viele inzwischen mit Namen kannte. An Werktagen wie heute kamen abends weniger als ein Dutzend zahlende Passagiere. Aus Dans Sicht war das ganz gut so.

Als er die Riv behutsam rückwärts in den Bahnhof von Teenytown rollen ließ, war es schon ganz dunkel. Er schob seine Mütze, über deren Schirm mit rotem Faden der Schriftzug LOKFÜHRER DAN eingestickt war, in den Nacken und lehnte sich an den ersten Wagen, um der Handvoll von Passagieren einen schönen Abend zu wünschen. Billy saß auf einer Bank; das Ende seiner Zigarette glühte gelegentlich auf und erleuchtete sein Gesicht. Inzwischen war er fast siebzig, sah jedoch noch gut aus. Von seiner zwei Jahre zurückliegenden Operation war er vollständig genesen, und er hatte nicht die Absicht, in Rente zu gehen.

»Was sollte ich dann tun?«, hatte er bei der einzigen Gelegenheit gefragt, bei der Dan das Thema angesprochen hatte. »Mich bei der Sterbefabrik anmelden, wo du arbeitest? Darauf warten, dass euer Kater mir ’nen Besuch abstattet? Nein danke, wirklich nicht.«

Als die letzten paar Passagiere sich auf den Weg gemacht hatten, wahrscheinlich in Richtung Abendessen, drückte Billy seine Kippe aus und gesellte sich zu Dan. »Ich fahre sie in den Schuppen. Falls du das nicht auch noch tun willst.«

»Nein, mach nur. Du hast jetzt lange genug auf deinem Arsch gesessen. Übrigens, wann lässt du eigentlich das Rauchen bleiben, Billy? Wie du weißt, hat der Arzt gesagt, dass deine Qualmerei zu deinem kleinen Herzproblem beigetragen hat.«

»Ich hab’s doch praktisch schon auf null reduziert«, sagte Billy, senkte jedoch den Blick. Dan hätte problemlos herausbekommen können, wie viel Billy noch rauchte – wahrscheinlich hätte er ihn nicht einmal berühren müssen, um sich diese Information zu verschaffen –, aber er verzichtete darauf. An einem Tag im gerade vergangenen Sommer hatte er einen jungen Burschen mit einem T-Shirt gesehen, das mit einem achteckigen Stoppschild bedruckt war. Statt STOP hatte jedoch ZVI auf dem Schild gestanden. Als Danny sich nach der Bedeutung erkundigt hatte, hatte ihm der Junge ein verständnisvolles Lächeln geschenkt, das er wahrscheinlich für über vierzigjährige Herren reservierte. »Zu viel Information«, hatte er gesagt. Dan hatte ihm gedankt und dabei gedacht: Das ist das Thema meines Lebens, du Grünschnabel.

Jeder hatte Geheimnisse, das wusste er seit frühester Kindheit. Anständige Leute verdienten es, ihre zu behalten, und Billy Freeman war die Anständigkeit in Person.

»Wie wär’s mit einer Tasse Kaffee, Danno? Hast du Zeit? Ich brauch bloß zehn Minuten, um das Biest da ins Bett zu bringen.«

Dan streichelte der Lokomotive liebevoll die Flanke. »Gut, aber pass auf, was du sagst. Das ist kein Biest, das ist eine Da…«

In diesem Moment explodierte sein Kopf.

2

Als er wieder zu sich kam, lag er halb ausgestreckt auf der Bank, auf der Billy geraucht hatte. Nun saß dieser neben ihm und sah besorgt drein. Genauer gesagt sah er zu Tode erschrocken aus. Er hielt sein Handy in der Hand, bereit, die Tasten zu drücken.

»Steck das Ding weg«, sagte Dan. Die Worte kamen als staubiges Krächzen heraus. Er räusperte sich und versuchte es noch einmal. »Mit mir ist alles in Ordnung.«

»Bist du dir da sicher? Menschenskind, ich hab gedacht, du hast ’nen Schlaganfall. Ehrlich, das dachte ich wirklich.«

So hat es sich auch angefühlt.

Zum ersten Mal seit Jahren dachte Dan an Dick Hallorann, den unvergleichlichen Chefkoch vom Hotel Overlook. Dick hatte fast augenblicklich erkannt, dass der kleine Sohn von Jack Torrance dieselbe Gabe besaß wie er. Nun überlegte Dan, ob Dick möglicherweile noch am Leben war. Was äußerst unwahrscheinlich war; schon damals war er fast sechzig gewesen.

»Wer ist Tony?«, fragte Billy.

»Wieso?«

»Du hast gesagt: ›Bitte, Tony, bitte.‹ Wer ist Tony?«

»Ein Typ aus der Zeit, in der ich gesoffen hab.« Seine improvisierte Antwort taugte nicht viel, war jedoch das Erste, was ihm angesichts seiner Benommenheit in den Sinn gekommen war. »Ein guter Freund.«

Billy betrachtete noch einige Sekunden lang das beleuchtete Rechteck seines Handys, dann klappte er es zu und steckte es weg. »Weißt du, das glaube ich dir einfach nicht. Ich glaube, du hattest eine deiner Eingebungen. Wie damals an dem Tag, an dem du herausgefunden hast, dass ich …« Er klopfte sich auf die Brust.

»Tja, also …«

Billy hob die Hand. »Sag lieber nichts. Jedenfalls nicht, wenn mit dir wirklich alles in Ordnung ist. Und falls es nicht irgendwas Schlimmes ist, was mich betrifft, denn sonst will ich es wissen. Jemand andres würde es vielleicht nicht wissen wollen, aber ich schon.«

»Mit dir hatte es nichts zu tun.« Dan stand auf und stellte erfreut fest, dass seine Beine ihn problemlos trugen. »Aber das mit dem Kaffee verschieben wir lieber auf ein andermal, wenn’s dir nichts ausmacht.«

»Überhaupt nicht. Du musst in dein Zimmer und dich hinlegen. Bist immer noch bleich. Was es auch war, es hat dich richtig umgehauen.« Billy warf einen Blick auf die Riv. »Gut, dass es nicht passiert ist, als du in der Lok gesessen hast und mit vierzig Meilen durch die Gegend getuckert bist.«

»Kann man wohl sagen«, stimmte Dan zu.

3

Er überquerte die Cranmore Avenue, um Billys Rat zu befolgen und sich in seinem Zimmer hinzulegen, aber statt am Tor des Hospizgeländes auf den von Blumen gerahmten Weg zum Eingang der großen, alten Villa einzubiegen, beschloss er, noch ein wenig spazieren zu gehen. Inzwischen kam er wieder zu Atem – er kam zu sich –, und die Nachtluft war mild. Außerdem musste er über das, was gerade geschehen war, nachdenken, und zwar sehr sorgfältig.

Was es auch war, es hat dich richtig umgehauen.

Dabei fiel ihm wieder Dick Hallorann ein und alles, was er Casey Kingsley nie verraten hatte. Daran würde sich auch nichts ändern. Der Schaden, den er Deenie zugefügt hatte – und wohl auch ihrem Sohn, einfach durch sein Nichtstun –, steckte so tief in ihm drin wie ein eingekeilter Weisheitszahn, und da würde er bleiben. Aber im Alter von fünf Jahren war Danny Torrance derjenige gewesen, der zu Schaden gekommen war – neben seiner Mutter natürlich –, und sein Vater war nicht der einzige Schuldige gewesen. Dagegen hatte Dick etwas unternommen, sonst wären Dan und seine Mutter im Overlook gestorben. Es tat immer noch weh, über diese alten Dinge nachzudenken, die in den kindlichen Primärfarben von Furcht und Schrecken loderten. Er hätte lieber nie wieder daran gedacht, aber jetzt musste er es tun. Weil … nun ja …

Weil alles, was geschieht, wiederkommt. Vielleicht ist das Glück, und vielleicht ist es Schicksal, aber in jedem Fall kommt es wieder. Was hat Dick an dem Tag zu mir gesagt, an dem er mir die Kassette geschenkt hat? Wenn der Schüler bereit ist, erscheint der Lehrer. Nicht dass ich dazu geschaffen wäre, irgendjemand was beizubringen, außer vielleicht, dass man nicht besoffen wird, wenn man nicht säuft.

Er hatte die nächste Kreuzung erreicht; nun drehte er sich um und ging zurück. Dabei hatte er den Gehweg ganz für sich. Es war unheimlich, wie schnell sich Frazier leerte, sobald der Sommer vorüber war, und das rief ihm ins Gedächtnis, wie sich das Overlook geleert hatte. Wie schnell die kleine Familie Torrance das Haus ganz für sich gehabt hatte.

Mit Ausnahme der Geister natürlich. Die reisten niemals ab.

4

Hallorann hatte Danny erzählt, dass er nach Denver wolle, um dann von dort aus in den Süden nach Florida zu fliegen. Er hatte gefragt, ob Danny ihm helfen wolle, sein Gepäck zum Parkplatz des Overlooks zu schaffen, und Danny hatte etwas zum Mietwagen des Kochs getragen. Nur etwas Kleines, kaum mehr als eine Aktentasche, aber er hatte trotzdem beide Hände nehmen müssen, damit er es schleppen konnte. Als das Gepäck gut im Kofferraum verstaut war und die beiden im Wagen saßen, hatte Hallorann dem Ding im Kopf von Danny Torrance, an dessen Existenz dessen Eltern nur halb glaubten, einen Namen gegeben.

Du hast so etwas. Ich hab es immer hellsichtig genannt. Meine Großmutter auch. Du hast dich wohl ganz schön einsam gefühlt, weil du dachtest, du bist der Einzige?

Ja, er war einsam gewesen, und ja, er hatte gedacht, er wäre der Einzige. Von diesem Irrtum hatte Hallorann ihn befreit. In den seither vergangenen Jahren war Dan auf eine Menge Menschen gestoßen, die irgendwie hellsichtig gewesen waren, wie der Koch es ausgedrückt hatte. Billy zum Beispiel.

Aber nie auf jemand wie das Mädchen, das ihm vorhin in den Kopf geschrien hatte. Es hatte sich so angefühlt, als würde der Schrei ihn zerreißen.

Ob er selber auch einmal so stark gewesen war? Das war er wohl, zumindest fast. An seinem letzten Tag im Overlook hatte Hallorann den bekümmerten kleinen Jungen, der neben ihm saß, gefragt … was hatte er da gefragt?

Wie hart er zuschlagen könne.

Dan war wieder am Hospiz angelangt und vor dem Tor stehen geblieben. Die ersten Blätter waren von den Bäumen gefallen, und der Abendwind ließ sie um seine Beine tanzen.

Und als ich ihn gefragt hab, woran ich denken soll, hat er gesagt, an irgendetwas. »Aber du musst intensiv denken«, sagte er. Das hab ich auch getan, aber im letzten Augenblick hab ich es abgeschwächt, zumindest ein wenig. Hätte ich das nicht getan, so hätte ich ihn womöglich umgebracht. Er ist zusammengezuckt – nein, er hat sich ruckartig bewegt – und hat sich auf die Unterlippe gebissen. Ich erinnere mich an das Blut. Er hat gemeint, das sei ja unheimlich. Und später hat er sich nach Tony erkundigt, meinem unsichtbaren Freund. Da habe ich es ihm erzählt.

Tony war offenbar wieder da, aber er war nicht länger der Freund von Dan. Nun war er der Freund eines Mädchens namens Abra. Wie Dan damals steckte sie in Schwierigkeiten, aber erwachsene Männer, die sich nach Mädchen erkundigten, erregten Aufmerksamkeit und Argwohn. Er hatte ein gutes Leben hier in Frazier, und das hatte er nach all den verlorenen Jahren auch verdient.

Aber …

Aber als er Dick gebraucht hatte – im Overlook und dann später in Florida, als Mrs. Massey wieder aufgetaucht war –, da war Dick gekommen. Bei den Anonymen Alkoholikern fiel das unter die Arbeit im zwölften Schritt. Denn wenn der Schüler bereit war, dann erschien der Lehrer.

Bei mehreren Gelegenheiten hatte Dan mit Casey Kingsley oder einigen anderen AA-Mitgliedern in diesem Rahmen Leute aufgesucht, die bis über die Ohren im Drogen- oder Alkoholkonsum steckten. Manchmal waren es deren Freunde oder Vorgesetzte, die darum gebeten hatten, in den meisten Fällen jedoch Angehörige, die jedes andere Mittel versucht hatten und mit ihrem Latein am Ende waren. Im Lauf der Jahre konnten sie einige Erfolge verzeichnen, aber die meisten Besuche hatten damit geendet, dass man Casey und seinen Freunden die Tür vor der Nase zuschlug oder ihnen erklärte, sie sollten sich ihren selbstgerechten, pseudoreligiösen Scheißdreck in den Arsch stecken. Ein Bursche, ein von Meth benebelter Veteran aus George Bushs ruhmreichem Irak-Abenteuer, der mit seiner verängstigten Frau in einer miesen Bretterbude in Chocorua hauste, hatte sogar mit einer Pistole herumgefuchtelt. Als sie von dort nach Hause gefahren waren, hatte Dan gesagt: »Das war jetzt aber wirklich reine Zeitverschwendung.«

»Das wäre es gewesen, wenn wir es für die beiden getan hätten«, sagte Casey. »Aber so ist es nicht. Wir tun so etwas für uns selbst. Gefällt dir das Leben, das du lebst, Danny-Boy?« Es war nicht das erste Mal, dass er diese Frage stellte, und es würde nicht das letzte Mal sein.

»Ja.« Da gab es keinerlei Zögern. Dan war zwar nicht Topmanager bei General Motors und drehte auch keine Bettszenen mit Kate Winslet, aber darüber hinaus hatte er alles, was er brauchte.

»Meinst du, das hast du dir verdient?«

»Nein«, sagte Dan grinsend. »Eigentlich nicht. So was kann man sich nicht verdienen.«

»Was war es dann, was dich dahin gebracht hat, dass du morgens gern aus dem Bett steigst? War es Glück oder Gnade?«

Er ging davon aus, dass Casey hören wollte, es sei Gnade gewesen, aber in seinen trockenen Jahren hatte er sich eine gelegentlich unangenehme Angewohnheit angeeignet: Ehrlichkeit. »Das weiß ich nicht.«

»Macht nichts, denn wenn du mit dem Rücken zur Wand stehst, spielt das keine Rolle.«

5

»Abra, Abra, Abra«, sagte er, während er durch den Garten aufs Hospiz zuging. »Wo bist du da reingeraten, Kleine? Und wo ziehst du mich da rein?«

Er dachte, dass er womöglich sein nie ganz zuverlässig funktionierendes Shining einsetzen musste, um Kontakt mit Abra aufzunehmen, aber als er in sein Turmzimmer kam, sah er, dass das nicht nötig war. Auf seiner Tafel stand in säuberlicher Schrift:

kadabra@nhmlx.com

Über diesen Benutzernamen musste er einen Moment nachdenken, dann begriff er und lachte. »Gut gewählt, Kleine, gut gewählt!«

Er fuhr seinen Laptop hoch. Wenig später erschien eine leere E-Mail-Maske. Er tippte Abras Adresse ein, hielt inne und betrachtete den blinkenden Cursor. Wie alt war sie? Soweit er anhand der wenigen bisherigen Kommunikationsversuche einschätzen konnte, gab es da eine ziemliche Bandbreite – von einer verständigen Zwölfjährigen bis hin zu einer etwas naiven Sechzehnjährigen. Wahrscheinlich eher Ersteres. Während er ein Mann war, dem grau melierte Bartstoppeln wuchsen, wenn er sich nicht rasierte. Und so jemand war drauf und dran, mit diesem Mädchen zu chatten. Das ideale Szenario für Tatort Internet.

Vielleicht ist auch gar nichts dabei. Oder halt doch; schließlich ist sie noch ein Kind.

Ja, aber ein extrem verängstigtes Kind. Außerdem war er neugierig. Schon seit geraumer Zeit. Auf dieselbe Weise, wie wohl Hallorann neugierig auf ihn gewesen war.

Jetzt könnte ich tatsächlich ein wenig Gnade gebrauchen. Und eine Riesenmenge Glück.

In die Betreffzeile schrieb Dan: Hallo, Abra. Er klickte ins Textfeld, atmete tief durch und tippte fünf Wörter ein: Erzähl mir, was los ist.

6

Am folgenden Samstagnachmittag saß Dan im hellen Sonnenschein auf einer der Bänke vor dem mit Efeu bewachsenen Steingebäude der Stadtbücherei von Anniston. Er hatte den Union Leader vor sich aufgeschlagen, und auf den Seiten standen Wörter, aber er hatte keine Ahnung, was sie ausdrückten. Dazu war er zu nervös.

Genau um zwei Uhr kam ein Mädchen in Jeans auf ihrem Fahrrad angefahren und schloss es an den Ständer neben dem Rasen an. Sie winkte ihm zu und strahlte ihn an.

Das war sie also. Abra. Wie in Abrakadabra.

Für ihr Alter war sie groß gewachsen, wofür vor allem ihre langen Beine sorgten. Ihr lockiges, blondes Haar war zu einem üppigen Pferdeschwanz gebunden, der aussah, als wollte er sich rebellisch in alle Richtungen ausbreiten. Es war kühl, und sie trug eine leichte Jacke, auf deren Rücken in Siebdruck der Schriftzug ANNISTON CYCLONES leuchtete. Sie griff sich das mit einem Gummiseil umschlungene Bündel Bücher, das an ihrem Lenker hing, und rannte auf Dan zu, immer noch mit diesem offenen, strahlenden Lächeln. Hübsch, wenn auch keine große Schönheit. Bis auf ihre weit auseinanderstehenden Augen. Die waren schön.

»Onkel Dan! Mann, es ist toll, dass du gekommen bist.« Womit sie ihm einen herzhaften Schmatz auf die Wange gab. Das war nicht geplant gewesen. Ihr Vertrauen darin, dass er ein anständiger Kerl war, wirkte regelrecht erschreckend.

»Ich freue mich auch, dass wir uns kennenlernen, Abra. Setz dich.«

Er hatte ihr gesagt, dass sie vorsichtig sein mussten, und Abra – als Kind ihrer Zeit – hatte sofort begriffen. Sie waren sich einig gewesen, dass es am besten sein würde, sich im Freien zu treffen, und es gab wenige Orte in Anniston, die für diesen Zweck geeigneter waren als die Grünanlage vor der Bücherei, die in der Mitte des kleinen Stadtzentrums gelegen war.

Abra betrachtete ihn mit offenem Interesse, vielleicht sogar mit einer Art Wissensdurst. Er spürte, wie winzige Finger leicht an die Innenseite seines Kopfs klopften.

(wo ist Tony?)

Dan legte einen Finger an die Schläfe.

Abra lächelte, und das brachte ihre Schönheit dann doch zur Entfaltung und verwandelte sie in ein Mädchen, das in vier bis fünf Jahren Herzen brechen würde.

(HI TONY!)

Das war so laut, dass er zusammenzuckte, und er dachte wieder daran, wie Dick Hallorann am Lenkrad seines Cadillacs zusammengefahren war und wie seine Augen einen Moment lang jeden Ausdruck verloren hatten.

(wir müssen uns laut unterhalten)

(ja okay)

»Ich bin ein Cousin deines Vaters, ja? Kein richtiger Onkel, aber du nennst mich halt so.«

»Klar, klar, du bist Onkel Dan. Wir sind sowieso nicht in Gefahr, solange die beste Freundin meiner Mutter nicht vorbeikommt. Die heißt Gretchen Silverlake. Ich glaube, sie kennt unseren ganzen Stammbaum, und der ist nicht besonders groß.«

Na, großartig, dachte Dan. Die neugierige beste Freundin.

»Kein Problem«, sagte Abra. »Ihr Sohn, der ältere, ist in der Footballmannschaft, und wenn die Cyclones spielen, geht sie immer hin. Fast alle Leute gehen hin, also mach dir keine Sorgen mehr, dass jemand denkt, du bist …«

Sie vollendete den Satz mit einem mentalen Bild, eigentlich einem Cartoon, der innerhalb eines Augenblicks aufblühte, ungelenk, aber klar. Ein kleines Mädchen wurde in einer dunklen Gasse von einem massigen Mann in einem Trenchcoat bedroht. Die Knie des Mädchens schlugen zitternd zusammen, und kurz bevor das Bild verblasste, sah Dan, wie sich über dem Kopf eine Sprechblase bildete: Iiih, ein Psycho!

»Eigentlich gar nicht so lustig.«

Er schuf ein eigenes Bild und schickte es ihr zurück: Dan Torrance in gestreifter Häftlingskleidung, wie er von zwei groß gewachsenen Polizisten abgeführt wurde. So etwas hatte er noch nie versucht, und sein Bild war nicht so gut wie ihres, aber er freute sich, dass er es überhaupt zeichnen konnte. Dann, ehe er sichs versah, hatte sie sich sein Bild angeeignet und es verändert. Nun zog er eine Pistole aus dem Hosenbund, richtete sie auf einen der Cops und drückte ab. Aus der Mündung der Waffe schoss ein Taschentuch mit dem Wort PENG darauf.

Dan starrte Abra mit offenem Mund an.

Sie hielt sich die geballten Hände vor den Mund und kicherte. »’tschuldigung. Ich konnte einfach nicht anders. Das könnten wir den ganzen Nachmittag tun, oder? Und es würde Spaß machen!«

Wahrscheinlich wäre es auch eine Erleichterung für sie, dachte Dan. Schließlich hatte sie viele Jahre im Besitz eines fantastischen Balls verbracht, ohne jemand zu haben, dem sie ihn zuspielen konnte. Für ihn galt natürlich dasselbe. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit – seit den Begegnungen mit Hallorann – empfing er nicht nur, sondern sendete auch.

»Da hast du recht, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Du musst mir die ganze Sache noch mal ausführlich erklären. Die E-Mail, die du mir geschickt hast, war reichlich kurz.«

»Wo soll ich anfangen?«

»Wie wär’s mit deinem Familiennamen? Da ich dein Onkel ehrenhalber bin, sollte ich den wohl wissen.«

Das brachte sie zum Lachen. Dan versuchte, ein ernstes Gesicht zu bewahren, schaffte es aber nicht. Gott steh mir bei, dachte er. Schon jetzt hatte er Abra ins Herz geschlossen.

»Ich heiße Abra Rafaella Stone«, sagte sie. Mit einem Mal brach ihr Lachen ab. »Ich hoffe bloß, die Frau mit dem Hut kriegt das nie raus.«

7

Sie saßen eine Dreiviertelstunde auf der Bank vor der Bücherei, die warme Herbstsonne auf dem Gesicht. Zum ersten Mal im Leben empfand Abra uneingeschränktes Vergnügen – ja sogar Freude – an der Gabe, die ihr immer ein Rätsel gewesen war und sie manchmal erschreckt hatte. Dank diesem Mann kannte sie nun sogar einen Namen dafür: Shining. Oder wie Onkel Dan noch sagte: Sie war hellsichtig. Das war eine gute, tröstliche Bezeichnung, denn sie hatte es immer für etwas Dunkles gehalten.

Es gab viel zu besprechen – gewissermaßen Bände an Notizen zu vergleichen –, und sie hatten gerade erst angefangen, als eine füllige Frau in einem Tweedrock ankam, um die beiden zu begrüßen. Sie musterte Dan neugierig, aber nicht auf ungebührliche Weise.

»Tag, Mrs. Gerard. Das ist mein Onkel Dan. Ich hatte Mrs. Gerard letztes Jahr in Sprache und Literatur.«

»Freut mich, Sie kennenzulernen, Ma’am. Dan Torrance.«

Mrs. Gerard ergriff die ihr dargebotene Hand und drückte sie fest. Abra spürte, wie Dan – Onkel Dan – sich entspannte. Das war gut.

»Wohnen Sie in der Gegend, Mr. Torrance?«

»Nicht weit von hier, in Frazier. Ich arbeite dort im Hospiz. Sie kennen doch bestimmt das Rivington House.«

»Ah. Da tun Sie was sehr Nützliches. Abra, hast du eigentlich schon den Fixer gelesen? Den Roman von Malamud, den ich dir empfohlen habe?«

Abra blickte geknickt drein. »Ist schon auf meinem Nook – ich hab zum Geburtstag einen Geschenkgutschein für ein E-Book bekommen –, aber ich hab noch nicht damit angefangen. Sieht recht schwierig aus.«

»Du bist bereit für schwierige Sachen«, sagte Mrs. Gerard. »Mehr als bereit. Die Highschool kommt schneller, als du denkst, und dann das College. Am besten fängst du heute noch an. Schön, Sie kennenzulernen, Mr. Torrance. Sie haben eine ausgesprochen kluge Nichte. Aber, Abra – wer gescheit ist, hat auch Verantwortung.« Sie tippte an Abras Schläfe, um ihr Argument zu betonen, dann stieg sie die Stufen zur Bücherei hoch und ging hinein.

Abra sah Dan an. »War nicht so schlecht, oder?«

»So weit, so gut«, stimmte Dan zu. »Wenn sie allerdings mit deinen Eltern spricht …«

»Das wird sie nicht. Mama ist in Boston, um meiner Momo zu helfen. Die hat Krebs.«

»Das tut mir leid. Ist Momo deine …«

(Großmutter)

(Urgroßmutter)

»Außerdem ist es eigentlich nicht gelogen, dass du mein Onkel bist«, sagte Abra. »In Bio hat Mr. Staley uns letztes Jahr erzählt, dass alle Menschen denselben genetischen Bauplan haben. Er hat gesagt, dass das, was uns verschieden macht, bloß Kleinigkeiten sind. Wusstest du, dass unser genetischer Bauplan zu etwa neunundneunzig Prozent mit dem von Hunden identisch ist?«

»Nein«, sagte Dan. »Aber das erklärt, wieso ich immer fand, dass Pedigree so lecker aussieht.«

Sie lachte. »Also könntest du wirklich mein Onkel oder mein Cousin oder so sein. Ich mein ja nur.«

»Das ist dann wohl Abras Relativitätstheorie, was?«

»Kann schon sein. Jedenfalls brauchen wir doch nicht dieselbe Augenfarbe oder dieselben Haare haben, um verwandt zu sein. Wir haben ja was anderes gemeinsam, was sonst kaum jemand hat. Das macht uns zu ’ner besonderen Art von Verwandten. Meinst du, es ist ein Gen wie das für blaue Augen oder rote Haare? Übrigens, wusstest du, dass Schottland den größten Prozentsatz von Leuten mit roten Haaren hat?«

»Nein, wusste ich nicht«, sagte Dan. »Du bist ja ein wahres Lexikon.«

Ihr Lächeln ließ etwas nach. »Meinst du das kritisch?«

»Überhaupt nicht. Tja, theoretisch könnte unser Shining mit einem Gen zu tun haben, aber ich glaube eigentlich nicht. Ich glaube, Hellsichtigkeit ist nicht quantifizierbar.«

»Heißt das, man kann sie nicht erklären? Wie Gott und den Himmel und solches Zeug?«

»Ja.« Unwillkürlich dachte er an Charlie Hayes und an alle Menschen vor und nach Charlie, die er in seiner Rolle als Doctor Sleep aus dieser Welt hinausbegleitet hatte. Manche Leute sagten, im Moment des Todes würde man hinübergehen. Das gefiel Dan, weil es in etwa passte. Wenn man mit eigenen Augen sah, wie Männer und Frauen hinübergingen – wie sie aus ihrem Teenytown, das man Realität nannte, in das Wolkentor des Jenseits überwechselten –, so veränderte das die eigene Denkweise. Für Menschen, die im Sterben lagen, war es die Welt, die hinüberging. In solchen Momenten des Übergangs hatte Dan immer die Gegenwart einer gewaltigen, nicht ganz sichtbaren Instanz gespürt. Wer starb, schlief ein, wachte wieder auf, reiste irgendwohin. Er zog weiter. Dan hatte immer gute Gründe gehabt, das zu glauben, schon als Kind.

»Was denkst du gerade?«, fragte Abra. »Ich kann es sehen, aber ich kapier es nicht. Und ich will es kapieren.«

»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, sagte er.

»Es geht teilweise um die Geisterleute, stimmt’s? Die hab ich schon einmal gesehen, in Frazier, in dieser kleinen Eisenbahn.«

Seine Augen weiteten sich. »Tatsächlich?«

»Ja. Ich glaube nicht, dass sie mir etwas antun wollten – sie haben mich bloß angeschaut –, aber irgendwie gruselig waren sie trotzdem. Ich glaube, es waren vielleicht Leute, die früher mit dem Zug gefahren sind. Hast du auch schon Geisterleute gesehen? Das hast du, oder?«

»Ja, aber das ist schon lange her.« Und manche waren wesentlich mehr als nur Geister gewesen. Schließlich hinterließen Geister keine Rückstände auf Klobrillen und Duschvorhängen. »Abra, was wissen deine Eltern über deine Hellsichtigkeit?«

»Mein Dad meint, sie ist verschwunden – bis auf manchmal, zum Beispiel als ich aus dem Sommerlager angerufen hab, weil ich wusste, dass Momo krank ist. Er ist froh darüber. Meine Mama weiß, dass es noch da ist, weil sie mich manchmal bittet, ihr was suchen zu helfen, was sie verloren hat – letzten Monat war es ihr Autoschlüssel, den hatte sie auf Dads Werkbank in der Garage liegen lassen –, aber sie weiß nicht, wie viel noch da ist. Jedenfalls sprechen die beiden nicht mehr darüber.« Abra hielt inne. »Momo weiß Bescheid. Die hat keine Angst davor wie Mama und Dad, aber sie hat mir gesagt, ich muss vorsichtig sein. Denn wenn es jemand rauskriegt …« Sie zog eine Grimasse, rollte mit den Augen und streckte die Zunge aus dem Mundwinkel. »Iiih, ein Psycho. Du verstehst schon, oder?«

(ja)

Sie lächelte dankbar. »Klar verstehst du das.«

»Sonst niemand?«

»Tja … Momo hat gesagt, ich soll mit Dr. John sprechen, weil der sich in so Sachen ein bisschen auskennt. Er, äh, hat was gesehen, was ich mit Löffeln gemacht hab, als ich noch ganz klein war. Ich hab nämlich welche an die Decke gehängt.«

»Meinst du womöglich John Dalton?«

Ihr Gesicht leuchtete auf. »Kennst du ihn?«

»Zufällig ja. Ich hab einmal etwas für ihn gefunden. Etwas, was er verloren hatte.«

(eine Uhr!)

(genau)

»Ich hab ihm nicht alles erzählt«, sagte Abra. Sie blickte unbehaglich drein. »Auf jeden Fall hab ich ihm nichts von dem Baseballjungen erzählt, und von der Frau mit dem Hut würde ich ihm nie erzählen. Sonst würde er es meinen Eltern verraten, und die haben sowieso schon genug an der Backe. Außerdem – was könnten die schon tun?«

»Stellen wir das vorläufig mal zurück. Wer ist dieser Baseballjunge?«

»Bradley Trevor. Brad. Manchmal, wenn seine Mannschaft zurücklag, hat er seine Mütze umgedreht. Du weißt doch, wieso man so was macht, oder?«

Dan nickte.

»Er ist tot. Diese Typen haben ihn umgebracht. Aber zuerst haben sie ihm wehgetan. Sie haben ihm ganz arg wehgetan.« Ihre Unterlippe begann zu zittern, und mit einem Mal sah sie eher wie eine Neunjährige aus als wie gerade einmal zwölfeinhalb.

(nicht weinen Abra sonst wird man auf uns aufmerksam)

(ich weiß ich weiß)

Sie senkte den Kopf und atmete mehrfach tief durch, bevor sie wieder zu ihm hochsah. Ihre Augen glänzten noch, aber ihr Mund hatte aufgehört zu zittern. »Ist schon wieder gut«, sagte sie. »Ehrlich. Ich bin bloß froh, dass ich mit dem, was da in meinem Kopf ist, nicht alleine bin.«

8

Er hörte aufmerksam zu, während sie erzählte, woran sie sich von ihrer ersten und inzwischen zwei Jahre zurückliegenden Begegnung mit Bradley Trevor erinnerte. Viel war es nicht. Das klarste Bild, das ihr geblieben war, zeigte die sich kreuzenden Lichtkegel vieler Taschenlampen, die auf den am Boden liegenden Jungen gerichtet waren. Und seine Schreie. An die erinnerte sie sich gut.

»Sie mussten ihn beleuchten, weil sie so was wie eine Operation vorgenommen haben«, sagte Abra. »So haben sie es jedenfalls genannt, aber in Wirklichkeit haben sie ihn gefoltert.«

Sie erzählte ihm, wie sie Bradley auf der Rückseite des Anniston Shopper zwischen den anderen vermissten Kindern wiedergefunden hatte. Wie sie sein Bild berührt hatte, um festzustellen, ob sie mehr über ihn herausfinden konnte.

»Kannst du so was auch machen?«, fragte sie. »Was berühren, um Bilder in den Kopf zu bekommen? Um was herauszukriegen?«

»Manchmal. Nicht immer. Früher, als Kind, konnte ich das öfter tun – und es hat besser funktioniert.«

»Meinst du, ich werde es verlieren, wenn ich älter werde? Da hätte ich nämlich nichts dagegen.« Sie schwieg nachdenklich. »Oder vielleicht doch. Es ist schwer zu erklären.«

»Ich weiß schon, was du meinst. Es ist unser Ding, nicht wahr? Das, was wir tun können.«

Abra lächelte.

»Also bist du dir ziemlich sicher, wo sie diesen Jungen getötet haben?«

»Ja, und dort haben sie ihn auch begraben. Zusammen mit seinem Baseballhandschuh.« Abra gab ihm ein Blatt Papier. Es war eine Abschrift, nicht das Original. Es wäre ihr nämlich peinlich gewesen, wenn jemand sah, dass sie die Namen der Jungs von ’Round Here darauf geschrieben hatte, nicht nur einmal, sondern massenhaft. Schon die Art und Weise, wie sie die Namen geradezu gemalt hatte, kam ihr jetzt total dämlich vor, diese dicken, fetten Buchstaben, die romantisch wirken sollten.

»Mach dir nichts draus«, sagte Dan abwesend, während er studierte, was auf dem Zettel stand. »Als ich so alt war wie du, war ich in Stevie Nicks verknallt. Außerdem in Ann Wilson von Heart. Von der hast du wahrscheinlich nie gehört, die ist längst total out, aber ich hab immer davon geträumt, dass ich sie zu dem Tanzabend einlade, der freitags an meiner Highschool stattgefunden hat. Ganz schön bescheuert, was?«

Sie starrte ihn mit offenem Mund an.

»Bescheuert, aber völlig normal. Das Normalste auf der Welt, also mach dir nichts draus. Übrigens hab ich nicht in dich reingespäht, Abra. Es war einfach da. Ist mir irgendwie ins Gesicht gesprungen.«

»Oje.« Abras Wangen waren tiefrot geworden. »Es wird ein bisschen dauern, sich daran zu gewöhnen, stimmt’s?«

»Das gilt für uns beide, Kleines.« Er blickte wieder auf das Blatt Papier.

BETRETEN VERBOTEN! CANTON COUNTY SHERIFF’S DEPT.

ORGANIC INDUSTRIES

ETHANOLFABRIK NR. 4

FREEMAN, IOWA

BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN

»Wie hast du das noch mal rausgekriegt? Indem du es immer wieder angeschaut hast? Es zurückgespult wie einen Film?«

»Das Betreten-verboten-Schild war einfach, aber bei dem Namen von der Fabrik und dem Ort hab ich es so gemacht, das stimmt. Kannst du das auch?«

»Ich hab’s noch nie versucht. Vielleicht hätte ich das früher mal geschafft, aber jetzt bestimmt nicht mehr.«

»Ich hab im Internet ein Freeman in Iowa gefunden«, sagte sie. »Und als ich auf Google Earth nachgeschaut hab, da hab ich die Fabrik gesehen. Sie ist wirklich da.«

Dans Gedanken kehrten zu John Dalton zurück. Andere im AA-Programm hatten über Dans eigenartige Fähigkeit geplaudert, verlorene Dinge wiederzufinden; John hatte das nie getan. Eigentlich war das nicht überraschend. Schließlich gab es die ärztliche Schweigepflicht, die dem entsprechenden Gelübde bei den Anonymen Alkoholikern ähnelte. Wodurch man bei John sozusagen doppelt abgesichert war.

»Du könntest doch bei den Eltern von Bradley Trevor anrufen, oder?«, sagte Abra. »Oder beim Sheriff von Canton County. Mir würden die nicht glauben, aber einem Erwachsenen schon.«

»Ja, das könnte ich wahrscheinlich.« Aber jemand, der wusste, wo eine Leiche vergraben war, kam natürlich sofort ganz oben auf die Liste der Verdächtigen. Wenn er sich also tatsächlich dort meldete, musste er sich sehr genau überlegen, wie er das tat.

Abra, da bringst du mich ganz schön in Schwierigkeiten.

»Tut mir leid«, flüsterte sie.

Er legte seine Hand auf ihre und drückte sie sanft. »Macht nichts. Das war jetzt etwas, was du nicht hören solltest.«

Sie richtete sich auf. »O Gott, da kommt Yvonne Stroud. Die ist in meiner Klasse.«

Dan zog seine Hand eilends zurück. Er sah ein eher pummeliges, braunhaariges Mädchen, etwa in Abras Alter, den Gehweg entlangkommen. Sie trug einen Rucksack und drückte sich ein Ringbuch an die Brust. Ihr Blick war wach und neugierig.

»Bestimmt will sie alles über dich wissen«, sagte Abra. »Wirklich alles. Und sie quasselt

O weh.

Dan richtete den Blick auf das näher kommende Mädchen.

(wir sind uninteressant)

»Hilf mir, Abra«, sagte er und spürte, wie sie sich zu ihm gesellte. Sobald sie zusammen waren, gewann der Gedanke augenblicklich an Tiefe und Kraft.

(WIR SIND VÖLLIG UNINTERESSANT)

»Gut so«, sagte Abra. »Noch ein bisschen mehr. Mach es mit mir zusammen. Als würden wir singen.«

(DU SIEHST UNS KAUM WIR SIND UNINTERESSANT UND AUSSERDEM HAST DU WAS BESSERES ZU TUN)

Yvonne Stroud eilte weiter, wedelte kurz mit der Hand, um Abra zu grüßen, verlangsamte ihre Schritte jedoch nicht. Sie lief die Stufen zur Bibliothek hoch und verschwand.

»Ich glaub, mich laust ein Affe«, sagte Dan.

Abra zog die Augenbrauen hoch. »Gemäß Abras Relativitätstheorie könntest du selber einer sein. Diese Ähnlichkeit aber auch …« Sie schickte ihm ein Bild von Hosen, die an einer Wäscheleine flatterten.

(Jeans)

Dann lachten beide.

9

Das Erlebnis mit der Drehscheibe ließ Dan sich noch dreimal erzählen, um sich zu vergewissern, dass er alles richtig verstand.

»Du hast das auch noch nie gemacht, oder?«, fragte Abra. »Das mit dem Weitsehen?«

»Astralprojektion? Nein. Passiert dir das oft?«

»Bisher höchstens zweimal.« Sie überlegte. »Vielleicht auch dreimal. Einmal war ich in einem Mädchen, das im Fluss geschwommen ist. Ich hab sie von unserem Garten aus gesehen. Da war ich neun oder zehn. Ich weiß nicht, wie es passiert ist, sie war nicht in Gefahr oder so, sie ist bloß mit ihren Freundinnen geschwommen. Das hat ziemlich lange gedauert, mindestens drei Minuten. Das nennt man Astralprojektion, ja? Wie eine Reise in den Weltraum?«

»Nein, das ist ein alter Begriff, den man vor über hundert Jahren bei Séancen verwendet hat. Wahrscheinlich trifft er es nicht besonders gut. Im Grunde ist es einfach eine außerkörperliche Erfahrung.« Falls so ein Etikett überhaupt sinnvoll war. »Aber – das will ich ganz genau verstehen – das schwimmende Mädchen ist nicht in dich geschlüpft?«

Abra schüttelte so nachdrücklich den Kopf, dass ihr Pferdeschwanz hin und her flog. »Sie hat nicht mal gewusst, dass ich da war. Das einzige Mal, wo es in beide Richtungen ging, war bei dieser Frau. Bei der mit dem Hut. Bloß hab ich den Hut in dem Moment gar nicht gesehen, weil ich in ihr drin war.«

Dan malte mit dem Zeigefinger einen Kreis in die Luft. »Du bist in sie hineingeschlüpft und sie in dich.«

»Genau.« Abra erschauerte. »Sie war es, die Bradley Trevor aufgeschlitzt hat, bis er tot war. Wenn sie grinst, dann hat sie oben bloß einen großen, langen Zahn.«

Das mit dem Hut löste etwas in ihm aus, etwas, was ihn an Deenie aus Wilmington denken ließ. Weil Deenie einen Hut getragen hatte? Nein, jedenfalls nicht, soweit er sich daran erinnerte, allerdings war er ziemlich besoffen gewesen. Wahrscheinlich bedeutete es nichts – manchmal entstanden im Gehirn einfach falsche Assoziationen, vor allem wenn man unter Stress stand, und die Wahrheit (so wenig er das zugeben wollte) bestand darin, dass Deenie ihm nie ganz aus dem Sinn ging. Manchmal fiel sie ihm wegen einem ganz geringfügigen Ereignis ein, zum Beispiel wenn er in einem Schaufenster ein Paar Korksandaletten sah.

»Wer ist Deenie?«, fragte Abra. Dann blinzelte sie kurz und zog sich ein bisschen zurück, als hätte Dan plötzlich mit der Hand vor ihren Augen gewedelt. »Autsch. Da soll ich wohl nicht hin. ’tschuldigung.«

»Schon okay«, sagte er. »Ist nicht so wichtig. Kümmern wir uns lieber um diese Frau mit dem Hut. Als du sie später gesehen hast – hinter deinem Fenster –, war das nicht dasselbe, stimmt’s?«

»Nein. Ich bin mir nicht mal sicher, ob das mit meinem Shining zu tun hatte. Ich glaube, ich hab mich daran erinnert, wie sie dem Jungen wehgetan hat.«

»Also hat sie dich da ebenfalls nicht gesehen. Genauer gesagt hat sie dich noch nie gesehen.« Wenn diese Frau so gefährlich war, wie Abra annahm, dann war das von großer Bedeutung.

»Nein. Das hat sie bestimmt nicht. Aber sie will es.« Abra sah ihn mit weit geöffneten Augen an. Ihr Mund zitterte wieder. »Als das mit der Drehscheibe passiert ist, hat sie Spiegel gedacht. Sie wollte, dass ich mich im Spiegel anschaue. Sie wollte meine Augen benutzen, um mich zu sehen.«

»Was hat sie denn durch deine Augen gesehen? Könnte sie dich dadurch finden?«

Darüber dachte Abra sorgfältig nach. »Als es passiert ist, hab ich aus meinem Fenster geschaut«, sagte sie schließlich. »Von da kann ich bloß die Straße sehen. Und die Berge natürlich, aber in Amerika gibt’s eine Menge Berge, stimmt’s?«

»Stimmt.« Konnte die Frau mit dem Hut die Berge, die sie durch Abras Augen gesehen hatte, auf einem Foto finden, wenn sie im Internet danach suchte? Wie so vieles in dieser Angelegenheit war das nicht auszuschließen.

»Warum haben sie ihn umgebracht, Dan? Warum haben sie den Baseballjungen umgebracht?«

Das glaubte er zu wissen, und er hätte es vor ihr verborgen, wenn ihm das möglich gewesen wäre, aber schon diese kurze Begegnung reichte aus, um zu erkennen, dass er nie eine Beziehung mit Abra Rafaella Stone haben würde, die so etwas zuließ. Bei den Anonymen Alkoholikern strebte man nach absoluter Ehrlichkeit in jeder Hinsicht, erreichte diese jedoch nur selten; für Dan und Abra war sie unausweichlich.

(Nahrung)

Entgeistert starrte sie ihn an. »Die haben sein Shining gegessen?«

(ich glaube schon)

(sind die VAMPIRE?)

Dann laut: »Wie in Twilight?«

»Nicht wie die«, sagte Dan. »Und um Himmels willen, Abra, das ist bloß eine Vermutung.« Die Tür der Bücherei ging auf. Dan blickte sich um, weil er befürchtete, es könnte die übermäßig neugierige Yvonne Stroud sein, aber es war ein junges Paar, das nur Augen füreinander hatte. Er wandte sich wieder Abra zu. »Wir müssen allmählich Schluss machen.«

»Ich weiß.« Sie hob die Hand, rieb sich die Lippen, merkte, was sie tat, und legte die Hand wieder in den Schoß. »Aber ich hab so viele Fragen. Es gibt so vieles, was ich wissen will. Das würde Stunden dauern.«

»Die wir nicht haben. Bist du dir sicher, dass es bei Sam’s war?«

»Was?«

»Die Frau war in einem Supermarkt von Sam’s?«

»Ach so. Ja.«

»Ich kenne diese Kette. In einem oder zwei Läden hab ich schon eingekauft, aber nicht hier in der Gegend.«

Sie grinste. »Natürlich nicht, Onkel Dan, hier gibt’s nämlich keine. Die sind alle im Westen. Das hab ich auch mit Google rausgekriegt.« Das Grinsen schwand. »Es gibt Hunderte davon, von Nebraska bis Kalifornien.«

»Ich muss über das alles noch ein wenig nachdenken, und du musst das auch. Wenn es wichtig ist, kannst du per E-Mail Kontakt mit mir aufnehmen, aber es wäre besser, wenn wir bloß …« Er tippte sich an die Stirn. »Zipp, zapp. Du weißt schon?«

»Ja«, sagte sie und strahlte. »Das einzig Gute daran ist, einen Freund zu haben, der weiß, wie man zipp, zapp macht – und wie sich das anfühlt.«

»Kannst du die Tafel verwenden?«

»Klar. Das ist ziemlich leicht.«

»Eines musst du im Kopf behalten. Das ist wichtiger als alles andere. Die Frau mit dem Hut weiß wahrscheinlich nicht, wie sie dich finden kann, aber sie weiß, dass du irgendwo in diesem Land lebst.«

Abra war ganz still geworden. Er tastete nach ihren Gedanken, aber sie verwahrte sich dagegen.

»Kannst du in deinem Kopf einen Alarm einrichten? Damit du merkst, wenn sie irgendwo in der Nähe ist, entweder mental oder tatsächlich?«

»Du meinst, sie wird mich schnappen wollen, stimmt’s?«

»Womöglich versucht sie das, ja. Aus zwei Gründen. Erstens einfach deshalb, weil du weißt, dass sie existiert.«

»Sie und ihre Freunde«, flüsterte Abra. »Sie hat eine Menge Freunde.«

(mit Taschenlampen)

»Was ist der andere Grund?« Und bevor er etwas erwidern konnte: »Weil ich was Gutes zu essen bin. So wie es der Baseballjunge war. Stimmt’s?«

Es war sinnlos, das zu leugnen. Abra konnte in ihm lesen wie in einem offenen Buch. »Also, kannst du einen Alarm einrichten? Wie einen Bewegungsmelder? Das ist …«

»Ich weiß, was ein Bewegungsmelder ist. Keine Ahnung, aber ich werd’s versuchen.«

Was sie als Nächstes sagen würde, wusste er schon, bevor sie es sagte, und das hatte nichts mit Gedankenlesen zu tun. Schließlich war sie noch ein Kind. Er sah sich um, als sie seine Hand ergriff, aber er entzog sich ihr nicht. »Versprich mir, dass sie mich nicht schnappen wird, Dan. Versprich es mir

Das tat er, weil sie ein Kind war und Trost brauchte. Aber natürlich gab es nur eine einzige Möglichkeit, so ein Versprechen zu halten, und die bestand darin, die Bedrohung zu beseitigen.

Wieder dachte er: Abra, da bringst du mich ganz schön in Schwierigkeiten.

Und wieder sagte sie, diesmal jedoch nicht laut:

(tut mir leid)

»Es ist nicht deine Schuld, Kleine. Du hast es nicht«

(bestellt)

»genauso wenig wie ich. Geh jetzt in die Bücherei. Ich muss zurück nach Frazier. Hab heute Nachtdienst.«

»Okay. Aber wir sind Freunde, ja?«

»Auf jeden Fall.«

»Darüber bin ich total froh.«

»Und ich bin mir sicher, dass dir der Fixer gut gefallen wird. Da geht’s um jemand, der allerhand Sachen repariert, und so was hast du auch schon getan, nicht wahr?«

An ihren Mundwinkeln bildeten sich hübsche Grübchen. »Ach, komm.«

»Doch, ganz bestimmt«, sagte Dan.

Er sah sie die Stufen hochgehen, dann blieb sie stehen und kam zurück. »Ich weiß zwar nicht, wer die Frau mit dem Hut ist, aber ich kenne einen ihrer Freunde. Sie nennen ihn Barry the Chunk oder so ähnlich. Wo sie ist, da ist dieser Barry irgendwo in der Nähe, da bin ich mir sicher. Und den könnte ich finden, wenn ich den Handschuh von diesem Baseballjungen hätte.« Sie sah ihn an, ein unbeirrter, fester Blick aus diesen wunderschönen blauen Augen. »Das weiß ich, denn einen Moment lang hat dieser Chunk-Barry den getragen

10

Auf halber Strecke zwischen Anniston und Frazier erinnerte sich Dan, der immer noch über Abras Frau mit dem Hut nachgrübelte, auf einmal an etwas, was ihn wie ein Blitz durchfuhr. Fast wäre er über die Mittellinie geraten, und ein entgegenkommender Lastzug hupte ihn verärgert an.

Es war zwölf Jahre her, damals war er noch neu in Frazier gewesen, und seine Abstinenz hatte auf äußerst wackligen Beinen gestanden. Er war damals auf dem Rückweg zum Haus von Mrs. Robertson, wo er am selben Tag ein Zimmer gemietet hatte. Ein Schneesturm war im Anzug, weshalb Billy Freeman ihm ein Paar Stiefel mitgegeben hatte. Toll sehen sie nicht aus, aber wenigstens haben beide die gleiche Größe. Und als er von der Morehead in die Eliot Street eingebogen war, hatte er gesehen, wie …

Gleich vor ihm war ein Rastplatz. Er parkte und ging auf das Geräusch fließenden Wassers zu. Es war natürlich der Saco, der zwischen North Conway und Crawford Notch durch zwei Dutzend kleine Orte strömte, die er wie Perlen an einer Schnur miteinander verband.

Ich hab einen Hut den Gehweg entlangrollen sehen. Einen alten, ramponierten Zylinder, wie Zauberer ihn tragen. Oder Schauspieler in einem alten Musical. Allerdings war der nicht wirklich da, denn als ich die Augen geschlossen und auf fünf gezählt hab, war er verschwunden.

»Okay, das war eine Erscheinung«, erklärte er dem rauschenden Wasser. »Aber das heißt noch lange nicht, dass das der Hut ist, den Abra gesehen hat.«

Allerdings wusste er es besser, denn später in jener Nacht hatte er von Deenie geträumt. Sie war tot gewesen, und ihr Gesicht hatte an ihrem Schädel gehangen wie Teig von einem Stock. Um die Schultern trug sie die Decke, die Dan vom Einkaufswagen eines Penners gestohlen hatte. Halt dich von der Frau mit dem Hut fern, Honigbär. Das hatte sie gesagt. Und noch etwas anderes … was?

Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss.

»An so was erinnert man sich doch nicht«, sagte er zu dem rauschenden Wasser. »Niemand erinnert sich nach zwölf Jahren noch an Träume.«

Aber er schon. Und jetzt erinnerte er sich auch an das, was die Tote aus Wilmington noch gesagt hatte: Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.

11

Kurz nach sechs Uhr schloss er sein Turmzimmer auf, ein Tablett mit Essen aus der Cafeteria in der Hand. Sein erster Blick galt der Tafel, und er lächelte über das, was dort in Druckbuchstaben stand:

Danke, dass du mir geglaubt hast.

Als ob ich eine Wahl gehabt hätte, Kleines.

Er löschte Abras Botschaft, bevor er sich mit seinem Abendessen an den Tisch setzte. Nachdem er den Rastplatz verlassen hatte, waren seine Gedanken zu Dick Hallorann zurückgekehrt. Das lag wohl nahe, denn wenn man von jemand gebeten wurde, als Lehrer zu fungieren, wandte man sich an seinen eigenen Lehrer, um herauszufinden, wie man das tat. Während seiner Jahre als Alkoholiker hatte Dan den Kontakt zu Dick verloren (hauptsächlich, weil er sich schämte), aber vielleicht ließ sich herausfinden, was aus seinem alten Freund geworden war. Womöglich konnte er sogar in Verbindung mit ihm treten, falls er noch am Leben war. Viele Leute wurden über neunzig, wenn sie sich gut um sich kümmerten. Abras Urgroßmutter zum Beispiel – die hatte bestimmt so viele Jahre auf dem Buckel.

Ich brauche ein paar Antworten, Dick, und du bist der einzige Mensch, der sie mir eventuell geben könnte. Also, mein Freund, tu mir den Gefallen, und sei noch am Leben.

Er fuhr seinen Computer hoch und startete Firefox. Dick hatte früher während der Wintermonate in mehreren Urlaubshotels in Florida gekocht, das wusste er, aber an die Namen der Hotels erinnerte er sich nicht mehr. Er wusste nicht einmal mehr, ob sie an der Ost- oder an der Westküste gewesen waren. Wahrscheinlich sowohl als auch – ein Jahr in Naples, das nächste in Palm Beach, das übernächste in Sarasota oder Key West. Für einen Mann, der den Gästen, besonders denen mit Geld in der Tasche, den Gaumen kitzeln konnte, gab es immer Arbeit, und Dick hatte ein besonderes Händchen dafür gehabt. Ein großer Vorteil bei der Suche war wahrscheinlich die ungewöhnliche Schreibweise von Dicks Familiennamen – nicht Halloran, sondern Hallorann. Er tippte Richard Hallorann und Florida ins Suchfeld ein und klickte auf Suche. Es kamen massenhaft Ergebnisse, aber als sein Blick auf den dritten Eintrag von oben fiel, war er sich sicher, den richtigen gefunden zu haben, gleichzeitig entfuhr ihm ein leiser, enttäuschter Seufzer. Nach einem Klick auf den Link erschien ein Artikel aus dem Miami Herald. Kein Zweifel. Wenn das Alter und der Name in der Überschrift standen, wusste man genau, was man las.

Richard »Dick« Hallorann (81),

bekannter Küchenchef aus South Beach

Darunter war ein Foto abgebildet. Es war klein, aber dieses fröhliche, wissende Gesicht hätte Dan immer erkannt. Ob er wohl einsam gestorben war? Wahrscheinlich nicht. Dazu war Dick zu gesellig gewesen … und zu sehr ein Liebhaber weiblicher Begleitung. An seinem Totenbett hatten bestimmt genügend Leute gestanden, aber die beiden, die er in jenem Winter in Colorado gerettet hatte, waren nicht da gewesen. Wendy hatte eine triftige Entschuldigung; sie war ihm vorangegangen. Ihr Sohn jedoch …

Hatte er in irgendeiner miesen Kneipe gehockt, Whiskey gesoffen und in der Jukebox Trucker-Songs laufen lassen, als Dick hinübergegangen war? Oder hatte er die Nacht womöglich wegen Trunkenheit und ungebührlichem Benehmen im Knast verbracht?

Als Todesursache war ein Herzinfarkt angegeben. Dan scrollte nach oben, um das Datum zu suchen: 19. Januar 1999. Der Mann, der Dans Leben und das Leben von dessen Mutter gerettet hatte, war schon seit fast fünfzehn Jahren tot. Von ihm war keine Hilfe mehr zu erwarten.

Hinter sich hörte Dan das leise Quietschen von Kreide auf Schiefer. Einen Moment lang blieb er sitzen, sein kalt werdendes Essen und den Laptop vor sich. Dann drehte er sich langsam um.

Die Kreide lag immer noch auf der Ablage am unteren Rand der Tafel, aber trotzdem tauchte ein Bild auf. Es war unbeholfen gezeichnet, doch erkennbar. Es war ein Baseballhandschuh. Als das Bild fertig war, zeichnete Abras Kreide – unsichtbar, aber immer noch mit jenem leisen, quietschenden Geräusch – ein Fragezeichen in die Mitte des Handschuhs.

»Darüber muss ich nachdenken«, sagte er, aber bevor er das tun konnte, summte die Sprechanlage. Ein Auftrag für Doctor Sleep.

Kapitel neun DIE STIMMEN UNSERER TOTEN FREUNDE

1

Mit ihren hundertundzwei Jahren war Eleanor Ouellette in jenem Herbst des Jahres 2013 die älteste Bewohnerin von Rivington House. Sie war so alt, dass ihr Familienname nie amerikanisiert worden war – sie sprach ihn nicht Uíllitt aus, sondern in seiner wesentlich eleganteren französischen Form: Uélétt. Dan nannte sie manchmal Miss Uh-la-la, was sie immer zum Lächeln brachte. Ron Stimson, einer der vier Ärzte, die regelmäßig Visite im Hospiz machten, hatte Dan einmal gesagt, Eleanor sei der Beweis dafür, dass das Leben manchmal stärker sei als das Sterben: »Ihre Leberfunktion ist gleich null, ihre Lunge ist nach achtzig Jahren rauchen völlig zerstört, sie hat Darmkrebs – der zwar im Schneckentempo fortschreitet, aber extrem bösartig ist –, und ihre Herzwände sind so dünn wie eine Seifenblase. Trotzdem lebt sie weiter.«

Wenn Azreel recht hatte (und nach Dans Erfahrung täuschte er sich nie), dann lief Eleanors Langzeitpacht aufs Leben nun bald aus, und doch sah sie nicht aus wie eine Frau, die auf der Schwelle stand. Als Dan in ihr Zimmer kam, saß sie aufrecht im Bett und streichelte den Kater. Ihr Haar war adrett in eine Dauerwelle gelegt – tags zuvor war die Friseuse da gewesen –, und ihr rosa Nachthemd war makellos wie immer. Dessen obere Hälfte verlieh ihren blutlosen Wangen auch etwas Farbe, während die untere sich wie ein Ballkleid um ihre spindeldürren Beine bauschte.

Dan hob die Hände seitlich ans Gesicht, spreizte die Finger und ließ sie wackeln. »Uh-la-la! Une belle femme! Je suis amoureux!«

Sie rollte mit den Augen, dann legte sie den Kopf schief und strahlte ihn an. »Maurice Chevalier sind Sie zwar nicht gerade, aber ich mag Sie, mon cher. Sie sind fröhlich, was wichtig ist, Sie sind frech, was noch wichtiger ist, und Sie haben einen tollen Hintern, was am allerwichtigsten ist. Der Hintern eines Mannes ist der Motor, der die Welt antreibt, und Sie haben einen guten. Zu meiner Glanzzeit hätte ich ihn mir geschnappt und Sie dann genüsslich verspeist. Vorzugsweise am Pool vom Hôtel de Paris in Monte Carlo vor einem bewundernden Publikum, das meinen Bemühungen Applaus gespendet hätte.«

Ihre raue, aber rhythmische Stimme ließ diese Vorstellung eher charmant als vulgär erscheinen. Dan fand, dass sie wie die Sängerin eines Cabarets klang, die schon alles gesehen und getan hatte, bevor die deutsche Armee im Juni 1940 im Stechschritt die Champs-Élysées entlangmarschierte. Zwar verlebt, aber noch bei Weitem nicht verbraucht. Und während sie trotz der leichten Farbe, die das geschickt gewählte Nachthemd auf ihr Gesicht warf, wie der Tod persönlich aussah, musste man zugeben, dass sie so schon seit 2009 aussah, als sie in Zimmer 15 von Gebäude eins gezogen war. Nur Azzies Anwesenheit wies darauf hin, dass sich in dieser Nacht etwas verändert hatte.

»Das wäre bestimmt äußerst angenehm gewesen«, sagte er.

»Haben Sie derzeit Kontakt zu irgendwelchen Damen, mon cher?«

»Momentan nicht, nein.« Mit einer Ausnahme, und die war eindeutig zu jung für ein amouröses Abenteuer.

»Schade. Denn in späteren Jahren wird das« – sie hob ihren knochigen Zeigefinger und ließ ihn dann sinken – »zu dem. Sie werden schon sehen.«

Er grinste und setzte sich auf ihr Bett. So, wie er sich auf so viele Betten gesetzt hatte. »Wie fühlen Sie sich heute denn, Eleanor?«

»Nicht schlecht.« Sie beobachtete, wie Azzie vom Bett sprang und zur Tür hinausstolzierte. Seine Arbeit hatte er für heute getan. »Ich hatte viele Besucher. Die haben Ihren Kater zwar nervös gemacht, aber er hat hier ausgeharrt, bis Sie gekommen sind.«

»Das ist nicht mein Kater, Eleanor. Er gehört dem Haus.«

»Nein«, sagte sie, als würde das Thema sie nicht mehr besonders interessieren. »Er gehört Ihnen.«

Dan bezweifelte, dass Eleanor auch nur einen einzigen Besucher gehabt hatte – mit Ausnahme von Azreel natürlich. Heute hatte niemand sie besucht, in der letzten Woche und im letzten Monat nicht, ja nicht einmal im letzten Jahr. Sie war allein auf der Welt. Selbst der uralte Steuerberater, der sich so viele Jahre lang um ihre Finanzen gekümmert hatte und jedes Vierteljahr einmal hereingewackelt gekommen war, in den Händen eine Aktentasche von der Größe eines Saab-Kofferraums, hatte inzwischen das Zeitliche gesegnet. Miss Uh-la-la behauptete, Verwandte in Montreal zu haben – aber ich habe nicht genug Geld auf der hohen Kante, als dass die es für lohnend halten würden, mich zu besuchen, mon cher.

»Wer war denn da?« Vielleicht meinte sie ja Gina Weems oder Andrea Bottstein, die beiden Schwestern, die heute von drei bis elf Dienst in Gebäude eins hatten. Oder Poul Larson, ein träger, aber anständiger Pfleger, der Dan wie ein Gegenentwurf zu Fred Carling vorkam, hatte zu einem Schwätzchen vorbeigeschaut.

»Wie schon gesagt, viele. Sie kommen immer noch vorbei. Ein endloses Defilee. Sie lächeln, sie verbeugen sich, ein Kind streckt die Zunge heraus und lässt sie wackeln wie einen Hundeschwanz. Manche von ihnen sagen etwas. Kennen Sie den Dichter Giorgos Seferis?«

»Nein, Ma’am, leider nicht.« Waren tatsächlich noch andere da? Möglich war es, aber er nahm sie überhaupt nicht wahr. Nicht dass er sonst immer alle wahrnahm.

»Seferis hat geschrieben: ›Sind das die Stimmen unsrer toten Freunde, oder ist es nur das Grammophon?‹ Am traurigsten sind die Kinder. Es war ein Junge hier, der in einen Brunnen gefallen ist.«

»Tatsächlich?«

»Ja, und eine Frau, die mit einer Bettfeder Selbstmord begangen hat.«

Er spürte nicht die geringste Ahnung, dass jemand anwesend war. Ob seine Begegnung mit Abra Stone ihn wohl ausgelaugt hatte? Das war möglich, aber sein Shining kam und ging ohnehin in Wellen, die er nie hatte ergründen können. Daran lag es seiner Meinung nach jedoch auch nicht. Wahrscheinlich war Eleanor dement geworden – oder sie führte ihn an der Nase herum. Nicht auszuschließen, immerhin war Eleanor Uh-la-la ein echter Witzbold. Irgendjemand – vielleicht Oscar Wilde – hatte angeblich noch auf dem Totenbett einen Witz gemacht: Entweder verschwindet diese scheußliche Tapete – oder ich.

»Sie müssen nur warten«, sagte Eleanor. In ihrer Stimme lag nun keinerlei Humor mehr. »Die Lampen werden die Ankunft ankündigen. Womöglich kommt es auch zu weiteren Geschehnissen. Die Tür wird aufgehen. Und dann kommt Ihr Besucher.«

Dan blickte skeptisch auf die Tür zum Flur, die bereits offen stand. Er ließ die Tür in solchen Fällen immer auf, damit Azzie hinausgehen konnte, wenn er wollte. Das tat er normalerweise nämlich, sobald Dan auftauchte, um die Sache zu übernehmen.

»Eleanor, möchten Sie vielleicht ein Glas kalten Saft?«

»Ja, aber dafür ist keine …«, sagte sie, und dann rann das Leben aus ihrem Gesicht wie Wasser aus einem Becken mit einem Loch darin. Ihre Augen richteten sich auf einen Punkt über Dans Kopf, ihr Mund öffnete sich. Die Wangen erschlafften, und das Kinn fiel fast bis zu ihrer dürren Brust herab. Auch der obere Teil der Zahnprothese fiel herab, schob sich über die Unterlippe und blieb dort hängen, wodurch ein beunruhigendes Grinsen entstand.

Scheiße, das ging aber schnell.

Behutsam schob er einen Finger unter die Prothese und holte sie samt dem Unterteil heraus. Dabei wurde die Lippe der Toten herausgezogen, bis sie mit einem leisen Plipp wieder zurückzuckte. Dan legte die Prothese auf den Nachttisch und wollte schon aufstehen, setzte sich jedoch gleich wieder hin. Er wartete auf den roten Dunst, den jene alte Krankenschwester aus Tampa als letzten Hauch bezeichnete, aber den Eindruck erweckte, als würde etwas eingesogen statt ausgestoßen. Aber dieser Dunst kam nicht.

Sie müssen nur warten.

Na gut, das konnte er tun, zumindest eine Weile. Er tastete nach Abra, fand jedoch nichts. Womöglich war das gut so, weil es hieß, dass sie nun bereits darauf achtgab, ihre Gedanken zu schützen. Vielleicht war jedoch auch seine eigene Fähigkeit – seine Sensibilität – verschwunden. Falls Letzteres der Fall war, war es ohne Belang. Sie würde wiederkommen. Das hatte sie immer getan, unabhängig von den Umständen.

Er überlegte wie schon oft, wieso er auf dem Gesicht der Hospizbewohner nie irgendwelche Fliegen gesehen hatte. Vielleicht weil das nicht nötig war, schließlich hatte er Azzie. Sah Azzie mit seinen klugen grünen Augen etwas? Vielleicht keine Fliegen, aber doch etwas anderes? Das musste wohl so sein.

Sind das die Stimmen unsrer toten Freunde, oder ist es nur das Grammophon?

Es war heute Abend so still auf diesem Stockwerk, trotz der frühen Stunde. Aus dem Gemeinschaftsraum am Ende des Flurs drangen keinerlei Stimmen. Kein Fernseher und kein Radio lief. Man hörte weder das Quietschen von Pouls Turnschuhen noch die leisen Stimmen von Gina und Andrea vom Stationszimmer her. Kein Telefon läutete. Und seine Armbanduhr …

Dan warf einen Blick darauf. Kein Wunder, dass er ihr leises Ticken nicht hören konnte. Sie war stehen geblieben.

Die Neonleuchte an der Decke ging aus, sodass nur noch Eleanors Nachttischlampe brannte. Dann ging die Neonleuchte wieder an, während die Lampe flackernd erlosch. Auch diese ging wieder an, und dann erloschen die beiden Lampen gemeinsam. An … aus … an.

»Ist da jemand?«

Der Wasserkrug auf dem Nachttisch klapperte und beruhigte sich wieder. Die falschen Zähne, die Dan herausgenommen hatte, gaben ein einzelnes, bedrohliches Klacken von sich. An dem Laken auf Eleanors Bett lief ein merkwürdiges Kräuseln entlang, so als hätte jemand, der darunterlag, sich vor Schreck plötzlich bewegt. Ein warmer Windhauch drückte einen Kuss auf Dans Wange und war wieder fort.

»Wer ist da?« Sein Herzschlag blieb regelmäßig, aber er konnte es im Hals und in den Handgelenken spüren. Die Härchen in seinem Nacken fühlten sich dick und aufgerichtet an. Mit einem Mal wusste er, was Eleanor in ihren letzten Momenten gesehen hatte: ein Defilee von

(Geisterleuten)

Toten, die durch die eine Wand in ihr Zimmer gekommen waren und es durch die andere wieder verlassen hatten. Sie waren weitergezogen. Von Seferis hatte er zwar nie gehört, aber er kannte einen Vers von W. H. Auden: Der Tod holt sie alle, die Geldschwimmer, die Spaßmacher und die gut Bestückten. Die hatte Eleanor alle gesehen, und sie waren jetzt noch im …

Aber das waren sie gar nicht. Er wusste, dass sie nicht mehr im Zimmer waren. Die Geister, die Eleanor gesehen hatte, waren fort, und sie hatte sich ihrem Defilee angeschlossen. Ihm jedoch hatte man gesagt, er solle warten. Also wartete er.

Die Tür zum Flur war langsam zugegangen. Dann ging die Badezimmertür auf.

Aus Eleanor Ouellettes totem Mund kam ein einziges Wort: »Danny.«

2

Wer die Stadtgrenze von Sidewinder überquerte, kam an einem Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN AUF DER SPITZE VON AMERIKA! vorbei. Was nicht ganz zutreffend war, aber doch annähernd. Zwanzig Meilen von dem Ort entfernt, an dem der Osthang der Rocky Mountains zum Westhang wurde, bog eine unbefestigte Straße vom Highway ab und schlängelte sich nach Norden. Über der Abzweigung war ein gebogenes Holzschild mit eingebrannten Buchstaben angebracht: WILLKOMMEN AUF DEM BLUEBELL CAMPGROUND! BLEIB EINE WEILE DA, PARTNER!

Das klang nach guter, alter Gastfreundschaft, wie sie im Wilden Westen üblich war, aber die Einheimischen wussten, dass die Straße meistens mit einem Tor abgesperrt war, an dem dann ein weniger freundliches Schild hing: BIS AUF WEITERES GESCHLOSSEN. Wie man auf die Weise Geld verdienen konnte, war den Leuten in Sidewinder schleierhaft. Wäre es nach ihnen gegangen, wäre der Campingplatz an jedem Tag geöffnet, an dem die höher gelegenen Straßen befahrbar waren. Sie vermissten das Geschäft, das die Overlook-Gäste ihnen beschert hatten, und ihre Hoffnung, der Campingplatz würde es wenigstens teilweise ausgleichen (obwohl sie wussten, dass Campingfans bei Weitem nicht das Geld besaßen, das die Hotelgäste in die örtliche Wirtschaft gepumpt hatten), hatte sich nicht erfüllt. Deshalb war man allgemein der Ansicht, der Campingplatz sei das Abschreibungsprojekt irgendeiner in Geld schwimmenden Firma, von vornherein dazu gedacht, Verlust zu machen.

Ein Projekt war der Campingplatz durchaus, aber die Firma, die ihn betrieb, war der Wahre Knoten, und wenn dessen Mitglieder vor Ort waren, standen nur ihre eigenen Wohnmobile auf dem großen Platz, mittendrin als größter von allen der EarthCruiser von Rose the Hat.

An diesem Septemberabend hatten sich neun Mitglieder des Knotens in dem hübsch rustikalen, mit einer hohen Decke ausgestatteten Gebäude versammelt, das den Namen Overlook Lodge trug. Wenn der Campingplatz für andere Leute geöffnet war, diente die Lodge als Restaurant, in dem täglich zwei Mahlzeiten serviert wurden, Frühstück und Abendessen. Zubereitet wurde das Essen von Short Eddie und Big Mo (Tölpelnamen Ed und Maureen Higgins). Beide erreichten zwar nicht den kulinarischen Standard von Dick Hallorann – das schafften nur wenige! –, aber es war schwer, das, was Campingleute gern futterten, völlig zu verbocken: Hackbraten, Makkaroniauflauf, Hackbraten, mit billigem Sirup getränkte Pfannkuchen, Hackbraten, Hühnerfrikassee, Hackbraten, Thunfischauflauf und Hackbraten mit Pilzsoße. Nach dem Abendessen wurden die Tische abgeräumt, zum Bingo oder für Kartenturniere. Am Wochenende wurde das Tanzbein geschwungen. Diese Festlichkeiten fanden allerdings nur statt, wenn der Campingplatz geöffnet war. An diesem Abend – während Dan Torrance drei Zeitzonen weiter östlich neben einer Toten saß und auf den ihm angekündigten Besuch wartete – wurden in der Overlook Lodge andere Geschäfte getätigt.

Jimmy Numbers saß am Kopfende des einzigen Tisches, den man in der Mitte des polierten Bodens aus Vogelaugenahorn aufgestellt hatte. Sein Mac war aufgeklappt und zeigte als Bildschirmhintergrund ein Foto seiner Heimatstadt, die tief in den Karpaten lag. (Jimmy behauptete gern scherzhaft, sein Großvater habe einmal einen jungen Londoner Anwalt namens Jonathan Harker beherbergt.)

Um ihn und seinen Bildschirm herum scharten sich Rose, Crow Daddy, Barry the Chink, Snakebite Andi, Token Charlie, Apron Annie, Diesel-Doug und Grampa Flick. Eigentlich wollte keiner neben Grampa stehen, weil der so roch, als hätte er in seiner Hose eine kleinere Katastrophe gehabt und dann vergessen, sie abzuduschen (was inzwischen immer häufiger vorkam), aber diese Angelegenheit war wichtig, weshalb sie den Gestank hinnahmen.

Jimmy Numbers war ein unaufdringlicher Typ mit schütterem Haar und einem sympathischen, wenn auch leicht affenartigen Gesicht. Dem Anschein nach war er etwa fünfzig, was ein Drittel seines tatsächlichen Alters war. »Ich hab »Lickety Spliff« gegoogelt, aber, wie zu erwarten war, nichts Sinnvolles gefunden. Falls es euch interessiert, Spliff ist ein Slang-Ausdruck für einen dünnen Joint, der ohne Tabak gedreht …«

»Das interessiert uns nicht«, sagte Diesel-Doug. »Übrigens, du riechst irgendwie streng, Gramps. Nichts für ungut, aber wann hast du dir eigentlich das letzte Mal den Arsch abgewischt?«

Grampa Flick wandte sich ihm zu und bleckte die Zähne – zerfressen und gelb, aber alles eigene. »Hat deine Frau erst heute Morgen erledigt, Deez. Mit ihrem Gesicht. Irgendwie eklig, aber auf so was steht sie anscheinend ziem…«

»Haltet die Klappe, ihr zwei«, sagte Rose. Ihre Stimme war tonlos und klang nicht bedrohlich, aber Doug und Grampa wichen wie zwei zurechtgewiesene Schuljungen zurück. »Weiter, Jimmy. Aber bleib beim Thema. Ich brauche einen konkreten Plan, und zwar bald.«

»Die anderen werden nicht besonders begeistert sein, egal wie konkret der Plan ist«, sagte Crow. »Sie werden sagen, es war ein gutes Jahr, was Steam angeht. Die Sache in dem Kino, der Kirchenbrand in Little Rock und der Terroranschlag in Austin. Ganz zu schweigen von Juárez. Ich war zwar skeptisch, was die Fahrt nach Mexiko anging, aber es war gut.«

Mehr als gut eigentlich. Ciudad Juárez war als Mordhauptstadt der Welt bekannt geworden, ein Titel, den es sich mit über zweitausendfünfhundert tödlichen Gewaltverbrechen jährlich verdient hatte. In vielen Fällen handelte es sich um Foltermorde. Die dort herrschende Atmosphäre war ausgesprochen sättigend gewesen. Es war zwar kein reiner Steam, und man fühlte sich ein wenig flau im Magen, aber man wurde satt davon.

»Durch die verfluchten Bohnen, die wir da unten gefuttert haben, hatte ich ständig Dünnschiss«, sagte Token Charlie. »Aber ich muss zugeben, dass die Ernte ausgezeichnet war.«

»Es war tatsächlich ein gutes Jahr«, stimmte Rose zu. »Aber wir können nicht dauernd nach Mexiko – dazu sind wir zu auffällig. Da unten sind wir reiche Americanos, hier fügen wir uns in die Umgebung ein. Und habt ihr es nicht satt, immer von Jahr zu Jahr zu leben? Immer unterwegs und immer damit beschäftigt, die Flaschen zu zählen? Diese Sache ist anders. Das ist das große Los.«

Niemand erwiderte etwas. Sie war ihre Anführerin, und letztlich würden sie tun, was sie sagte, aber sie begriffen nicht, was an dem Mädchen so besonders war. Das machte nichts. Wenn sie der Kleinen selbst begegneten, würden sie schon kapieren. Und wenn die Kleine dann im Käfig saß und praktisch auf Bestellung Steam produzierte, würden sie Rose anbieten, vor ihr auf die Knie zu sinken und ihr die Füße zu küssen. Womöglich nahm sie das Angebot sogar an.

»Los, Jimmy, aber komm auf den Punkt.«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass das, was du mitbekommen hast, eine Verballhornung von Lickety-Split war. Das ist eine Kette aus kleinen Supermärkten in Neuengland. Alles in allem sind es von Providence bis Presque Isle dreiundsiebzig. Das hätte selbst ein Grundschüler mit iPad in zwei Minuten rausgebracht. Ich hab die Standorte ausgedruckt und Whirl 360 aufgerufen, um Bilder davon anzuschauen. Sechs davon haben Berge im Hintergrund. Zwei in Vermont, zwei in New Hampshire und zwei in Maine.«

Seine Laptoptasche lag unter seinem Stuhl. Er griff danach, fummelte im Deckelfach, zog eine Sammelmappe hervor und reichte sie Rose. »Diese Bilder zeigen keine Märkte, sondern den jeweiligen Bergblick, den man in den entsprechenden Wohnvierteln hat. Verdanke ich ebenfalls Whirl 360, das wesentlich besser ist als Google Earth, Gott schütze sein neugieriges kleines Herz. Schau sie dir an, vielleicht erinnerst du dich an was. Falls nicht, überleg mal, ob du irgendwas eindeutig ausschließen kannst.«

Rose öffnete die Mappe und ging die Aufnahmen langsam durch. Die beiden, auf denen die Green Mountains von Vermont abgebildet waren, legte sie sofort beiseite. Einer der beiden Orte in Maine konnte es auch nicht sein, denn auf dem Bild war nur ein einzelner Berg, und sie hatte eine ganze Kette gesehen. Die drei anderen Fotos betrachtete sie länger. Schließlich gab sie sie Jimmy Numbers zurück.

»Eines von diesen.«

Er drehte die Fotos um. »Fryeburg, Maine … Madison, New Hampshire … Anniston, New Hampshire. Hast du ein Gefühl dazu, welcher von den drei Orten es am ehesten ist?«

Rose ging sie noch einmal durch, dann hielt sie die Fotos der White Mountains hoch, wie man sie von Fryeburg und Anniston aus sah. »Ich glaube, es ist einer von diesen beiden, aber das muss ich erst überprüfen.«

»Wie willst du das denn tun?«, erkundigte sich Crow.

»Ich werde die Kleine besuchen.«

»Wenn das, was du sagst, stimmt, dann könnte das gefährlich sein.«

»Ich warte, bis sie schläft. In dem Alter schläft man tief. Sie wird gar nicht merken, dass ich da war.«

»Bist du dir sicher, dass du das tun musst? Diese drei Orte liegen ziemlich nah beieinander. Wir könnten sie alle leicht auschecken.«

»Klar!«, rief Rose. »Wir gondeln einfach durch die Weltgeschichte und sagen: ›Wir suchen nach einem Mädchen aus der Gegend, können ihren Aufenthaltsort aber nicht so feststellen, wie wir das normalerweise tun, also brauchen wir etwas Hilfe. Ist euch vielleicht irgendein junger Teenager aufgefallen, der Dinge vorausahnen und Gedanken lesen kann?‹«

Crow Daddy stieß einen Seufzer aus, steckte seine großen Hände tief in die Hosentaschen und sah sie an.

»Tut mir leid«, sagte Rose. »Ich bin irgendwie nervös, okay? Ich will einfach tun, was ich gesagt habe. Und ihr braucht euch keine Sorgen um mich zu machen. Ich kann gut auf mich selber aufpassen.«

3

Dan saß da und betrachtete die verstorbene Eleanor Ouellette. Die geöffneten Augen, die nun allmählich glasig wurden. Die winzigen, nach oben gedrehten Hände. Vor allem jedoch den offenen Mund. In dem lag die ganze zeitlose Stille des Todes.

»Wer bist du?« Er dachte: Als wüsste ich das nicht. Hatte er sich nicht nach Antworten gesehnt?

»Du hast dich ganz schön gemacht.« Die Lippen bewegten sich nicht, und in den Worten schien keinerlei Emotion zu liegen. Vielleicht hatte der Tod seinen alten Freund seiner menschlichen Gefühle beraubt, was jammerschade gewesen wäre. Vielleicht war es aber auch jemand andres, der sich als Dick ausgab. Etwas anderes.

»Wenn du Dick bist, beweis es mir. Sag mir etwas, was nur er und ich wissen können.«

Stille. Aber es war weiterhin jemand da. Das spürte er. Dann:

»Du hast mich gefragt, wieso Mrs. Brant dem Mann vom Parkplatz an die Hose wollte.«

Zuerst hatte Dan keine Ahnung, wovon die Stimme sprach. Dann begriff er. Die Erinnerung daran war auf einem der hohen Regale verstaut, auf denen er alle schlechten Erinnerungen an das Overlook verwahrte. Und seine Schließfächer natürlich. Mrs. Brant war an dem Tag abgereist, an dem Danny mit seinen Eltern angekommen war, und als der Parkplatzwächter ihren Wagen vorgefahren hatte, hatte er einen beiläufigen Gedanken von ihr aufgefangen: Ich möcht’ ihm gern an die Hose.

»Du warst noch ein kleiner Junge mit einem riesigen Radio im Kopf. Du hast mir leidgetan. Außerdem hatte ich Angst um dich. Und dafür gab es gute Gründe, stimmt’s?«

In diesen Sätzen lag ein schwaches Echo der Freundlichkeit und des Humors, die sein alter Freund besessen hatte. Ja, es war Dick. Sprachlos starrte Dan auf die tote Frau. Die Lampen im Zimmer gingen flackernd an und wieder aus. Der Wasserkrug klapperte noch einmal kurz.

»Ich kann nicht lange bleiben, Junge. Es tut weh, hier zu sein.«

»Dick, da ist ein Mädchen …«

»Abra.« Es war fast ein Seufzer. »Sie mag dich. Alles kehrt wieder.«

»Sie meint, womöglich ist eine Frau hinter ihr her. Die trägt einen Hut, einen altmodischen Zylinder. Manchmal hat sie nur einen einzigen, langen Zahn, und zwar oben. Wenn sie hungrig ist. So hat es Abra mir jedenfalls erzählt.«

»Stell deine Frage, Junge. Ich kann nicht bleiben. Die Welt ist für mich jetzt der Traum von einem Traum.«

»Da sind noch andere. Die Freunde der Frau mit dem Zylinder. Abra hat sie gesehen, als sie Taschenlampen in der Hand hatten. Wer sind sie?«

Wieder Stille. Aber Dick war immer noch da. Verwandelt, aber da. Dan spürte ihn in seinen Nervenenden und als eine Art Elektrizität, die über die feuchte Oberfläche seiner Augen glitt.

»Es sind die leeren Teufel. Sie sind krank und wissen es nicht.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Nein. Und das ist gut so. Wenn du ihnen je begegnet wärst – wenn sie auch nur einen Hauch von dir geschnuppert hätten –, dann wärst du schon lange tot. Sie hätten dich benutzt und weggeworfen wie einen leeren Pappkarton. Das ist mit dem Baseballjungen geschehen, wie Abra ihn nennt. Und mit vielen anderen. Kinder mit Shining dienen ihnen als Beute, aber das hast du schon vermutet, nicht wahr? Die leeren Teufel sind für das Land wie ein Krebsgeschwür auf der Haut. Einst ritten sie auf Kamelen durch die Wüste, einst trieben sie Karawanen durch Osteuropa. Sie essen Schreie und trinken Schmerz. Du hast im Overlook Entsetzliches erlebt, Danny, aber wenigstens bist du von diesen Leuten verschont geblieben. Da diese seltsame Frau nun das Mädchen im Blick hat, werden sie nicht ruhen, bis sie sie haben. Vielleicht töten sie sie. Vielleicht wandeln sie sie um. Oder sie behalten und benutzen sie, bis alles von ihr aufgebraucht ist, und das wäre das Allerschlimmste.«

»Das verstehe ich nicht.«

»Sie werden Abra aushöhlen. Sie so leer machen, wie sie es selbst sind.« Dem toten Mund entwich ein herbstlicher Seufzer.

»Dick, was zum Teufel soll ich nur tun?«

»Besorg dem Mädchen, worum es gebeten hat.«

»Wo sind sie, diese leeren Teufel?«

»In deiner Kindheit, woher jeder Teufel kommt. Es ist mir nicht erlaubt, mehr zu sagen.«

»Wie halte ich sie auf?«

»Nur indem du sie tötest. Sie ihr eigenes Gift essen lässt. Wenn du das tust, verschwinden sie.«

»Die Frau mit dem Hut, diese seltsame Frau, wie ist ihr Name? Weißt du das?«

Im Flur hörte Dan das Platschen eines Wischmopps, und Poul Larson begann zu pfeifen. Die Atmosphäre im Zimmer veränderte sich. Etwas, was fein ausbalanciert gewesen war, geriet nun aus dem Lot.

»Wende dich an deine Freunde. An die, die wissen, was du bist. Ich hab den Eindruck, dass du dich ganz gut gemacht hast, Junge, aber du hast noch eine Schuld offen.« Eine Pause entstand, und dann sprach die Stimme, die jene von Dick Hallorann war und doch wieder nicht, ein letztes Mal, im Ton eines nüchternen Befehls: »Begleiche sie.«

Aus Eleanors Augen, ihrer Nase und ihrem offenen Mund stieg roter Dunst auf. Er schwebte etwa fünf Sekunden über ihr, bevor er verschwand. Die Lampen brannten, ohne zu flackern, das Wasser im Krug bewegte sich nicht. Dick war fort. Nun saß Dan nur noch neben einer Leiche.

Leere Teufel.

Falls er jemals einen schrecklicheren Ausdruck gehört hatte, so erinnerte er sich nicht daran. Aber er schien ihm zutreffend zu sein … wenn man das Overlook so gesehen hatte, wie es wirklich war. Ein Ort voller Teufel, aber wenigstens waren es tote Teufel gewesen. Auf die Frau mit dem Zylinder und ihre Freunde traf das wohl nicht zu.

Du hast noch eine Schuld offen. Begleiche sie.

Ja. Er hatte den kleinen Jungen mit der herunterhängenden Windel und dem Braves-T-Shirt im Stich gelassen. Dem Mädchen namens Abra würde er das nicht antun.

4

Dan wartete im Stationszimmer auf den Mann von Geordie & Sons, und als vor der Hintertür des Gebäudes die mit einem Tuch bedeckte Bahre des Bestattungsunternehmens auftauchte, zog er sich in sein Zimmer zurück. Dort saß er und blickte auf die Cranmore Avenue hinab, die nun vollständig verlassen war. Der Nachtwind wehte, zupfte die früh verfärbten Blätter von den Eichen und ließ sie wirbelnd die Straße entlangtanzen. Auf der gegenüberliegenden Seite des Stadtparks lag Teenytown ebenso verlassen im Schein orangefarbenen Flutlichts da.

Wende dich an deine Freunde. An die, die wissen, was du bist.

Billy Freeman wusste Bescheid, praktisch schon von Anfang an, weil er etwas von dem hatte, was Dan besaß. Und auch er hatte eine Schuld abzutragen, denn Dan hatte ihm mit seinem größeren und stärkeren Shining das Leben gerettet.

Nicht dass ich ihm das unter die Nase reiben würde.

Das musste er sicherlich auch nicht tun.

Dann war da noch John Dalton, der seine Armbanduhr verloren hatte und zufällig Abras Kinderarzt war. Was hatte Dick durch Eleanor Uh-la-las toten Mund gesagt? Alles kehrt wieder.

Und was das betraf, worum Abra gebeten hatte, das war sogar noch leichter. Es allerdings zu bekommen … das war womöglich nicht ganz unkompliziert.

5

Als Abra am Sonntagmorgen aufstand, fand sie eine E-Mail von dtor36@nhmlx.com vor.

Abra, mithilfe der Gabe, die uns beiden gegeben ist, habe ich mit einem Freund gesprochen, und ich bin inzwischen davon überzeugt, dass du in Gefahr schwebst. Ich will mit einem anderen Freund, den wir beide kennen, über deine Lage reden: John Dalton. Das werde ich allerdings nicht ohne deine Erlaubnis tun. Ich glaube, John und ich können den Gegenstand bergen, den du auf meine Tafel gezeichnet hast.

Hast du deinen Bewegungsmelder eingeschaltet? Unter Umständen suchen gewisse Leute nach dir, und es ist sehr wichtig, dass sie dich nicht finden. Du musst vorsichtig sein. Alles Gute und PASS AUF DICH AUF. Lösch diese E-Mail.

Onkel D.

Was sie überzeugte, war eher die Tatsache, dass er eine Mail geschickt hatte, als deren Inhalt, weil er, wie sie wusste, nicht gern auf diese Weise kommunizierte. Er befürchtete, ihre Eltern könnten in ihrem elektronischen Briefkasten herumschnüffeln und denken, sie würde mit irgendeinem pädophilen Bösewicht korrespondieren.

Wenn die nur wüssten, wegen welchen Bösewichten ihre Tochter sich tatsächlich Sorgen machen musste.

Sie hatte Angst, war jedoch auch – da nun helllichter Tag war und keine schöne Irre mit Zylinder sie durchs Fenster hindurch anstarrte – auf prickelnde Weise aufgeregt. Es war wie in einem jener fantastischen Romane, in denen es um Liebe und Horror ging und die Mrs. Robinson von der Schulbücherei verächtlich als »Teenager-Pornos« bezeichnete. Die Mädchen in diesen Büchern trieben sich mit Werwölfen, Vampiren, ja sogar Zombies herum, ohne jedoch selbst dazu zu werden. Meistens jedenfalls.

Aufregend war auch, dass ein erwachsener Mann sich für sie einsetzte, und es schadete nicht, dass der gut aussah, auf eine leicht ungepflegte Weise, die sie irgendwie an Jax aus Sons of Anarchy erinnerte, eine Fernsehserie, die sie und Em sich heimlich auf Ems Computer anschauten.

Sie verschob Onkel Dans E-Mail nicht einfach in den Papierkorb, sondern löschte sie vollständig, was ihre Freundin Emma als Radioaktive-Jungs-Ordner bezeichnete. (Als wenn du irgendwelche Jungs hättest, Em, dachte Abra spöttisch.) Dann fuhr sie den Computer herunter und klappte den Deckel zu. Sie schickte keine E-Mail zurück. Das war nicht nötig. Sie musste nur die Augen schließen.

Zipp, zapp.

Nachdem die Nachricht versandt war, stellte Abra sich unter die Dusche.

6

Als Dan mit seinem Morgenkaffee zurückkam, stand eine neue Nachricht auf der Tafel.

Du kannst es Dr. John sagen, aber NICHT MEINEN ELTERN.

Nein. Ihren Eltern nicht. Zumindest fürs Erste nicht. Aber die würden zweifellos herausbekommen, dass irgendetwas im Gange war, und zwar wahrscheinlich eher früher als später. Diese Brücke würde er später überschreiten (oder abbrechen), wenn es so weit war. Momentan hatte er eine Menge anderer Dinge zu erledigen, angefangen mit einem Anruf.

Ein Kind hob ab, und als er nach Rebecca fragte, fiel das Telefon mit einem Plumps zu Boden, und er hörte ein sich entfernendes Rufen: »Gramma! Es ist für dich!« Einige Sekunden später war Rebecca Clausen am Apparat.

»Tag, Becka, hier spricht Dan Torrance.«

»Wenn es um Mrs. Ouellette geht, ich hab heute Morgen eine Mail von …«

»Nein, darum geht es nicht. Ich möchte mir eine Weile freinehmen.«

»Doctor Sleep will sich freinehmen? Kaum zu glauben. Letztes Frühjahr musste ich Sie praktisch vor die Tür setzen, damit Sie Ihren Urlaub nehmen, und trotzdem sind Sie ein- oder zweimal am Tag reingekommen. Geht es um eine Familienangelegenheit?«

Dan, der an Abras Relativitätstheorie dachte, bejahte die Frage.

Kapitel zehn FIGÜRCHEN AUS GLAS

1

David Stone stand im Bademantel in der Küche und schlug Eier in eine Schüssel, als das Telefon läutete. Im oberen Stockwerk donnerte die Dusche. Wenn Abra ihre übliche Sonntagmorgenroutine befolgte, würde es weiterdonnern, bis ihr das warme Wasser ausging.

Er warf einen Blick auf das Display. Die Vorwahl war die von Boston, aber die folgende Nummer kannte er nicht. Jedenfalls war es nicht der Festnetzanschluss in der Wohnung seiner Schwiegergroßmutter. »Hallo?«

»Ach, David, ich bin so froh, dass ich dich erwische!« Es war Lucy, die völlig erschöpft klang.

»Wo bist du? Warum rufst du nicht von deinem Handy aus an?«

»Im Krankenhaus, an einem Münztelefon. Handys darf man hier nicht benutzen, es hängen überall Schilder.«

»Ist was mit Momo? Oder mit dir?«

»Mir geht’s gut. Was Momo angeht, deren Zustand ist stabil … jetzt jedenfalls … aber eine Weile war es ziemlich schlimm.« Ein Schlucken. »Das ist es immer noch.« Dann brach Lucy zusammen. Sie weinte nicht einfach, sie schluchzte, als wäre in ihr ein Damm gebrochen.

David wartete. Er war froh, dass Abra unter der Dusche stand, und hoffte, dass das warme Wasser noch sehr lange reichte. Das hörte sich wirklich übel an.

Endlich war Lucy wieder in der Lage, etwas zu sagen. »Diesmal hat sie sich den Arm gebrochen.«

»Oh. Aha. Ist das alles?«

»Nein, das ist nicht alles!« Sie schrie ihn fast schon an, und zwar in diesem Wieso-sind-Männer-nur-so-dämlich-Ton, den er auf den Tod nicht ausstehen konnte und den er ihrer italienischen Herkunft zuschrieb, ohne je darüber nachzudenken, dass er gelegentlich vielleicht tatsächlich ziemlich dämlich war.

Er atmete durch, um sich zu beruhigen. »Erzähl’s mir, Schatz.«

Das tat sie, wenngleich sie zweimal wieder in Schluchzen ausbrach und David eine Weile warten musste. Sie war todmüde, aber das war nur ein Teil des Problems. Vor allem, erkannte er, akzeptierte nun auch ihr Bauch, was ihr Kopf schon seit Wochen wusste: Ihre Momo würde wirklich sterben. Und das vielleicht nicht friedlich.

Concetta, die inzwischen nur noch einen extrem leichten Schlaf hatte, war nach Mitternacht aufgewacht und hatte auf die Toilette müssen. Statt den Summer in Lucys Zimmer zu betätigen, damit die ihr die Bettpfanne brachte, hatte sie versucht aufzustehen, um allein ins Bad zu gelangen. Sie hatte es geschafft, die Beine auf den Boden zu bringen und sich aufzusetzen, doch dann war ihr schwindlig geworden, worauf sie vom Bett gefallen und auf dem linken Arm gelandet war. Der war nicht nur gebrochen, sondern regelrecht zertrümmert worden. Lucy, durch den wochenlangen Nachtdienst erschöpft, für den sie nicht ausgebildet war, war von den Schreien ihrer Großmutter aufgewacht.

»Sie hat nicht einfach um Hilfe gerufen«, erzählte Lucy. »Und sie hat auch nicht geschrien. Sie hat gekreischt wie ein Fuchs, dem eins dieser fürchterlichen Tellereisen ein Bein abgerissen hat.«

»Liebling, das muss ja schrecklich gewesen sein!«

Lucy stand im Parterre in einer Nische mit Snack-Automaten und – o Wunder! – einigen funktionierenden Telefonen. Ihr ganzer Körper schmerzte und war mit trocknendem Schweiß bedeckt (sie konnte sich selber riechen, und das war definitiv nicht Light Blue von Dolce & Gabbana), in ihrem Kopf hämmerte die erste Migräne seit vier Jahren. Sie wusste, dass sie Dave nie erzählen konnte, wie schrecklich es tatsächlich gewesen war. Was für eine miserable Erkenntnis sie gehabt hatte. Da bildete man sich ein, über die grundlegende Tatsache Bescheid zu wissen – eine Frau wird alt, sie wird schwach, sie stirbt –, und musste dann feststellen, dass das bei Weitem noch nicht alles war. Das wurde einem klar, wenn die Frau, die einige der großartigsten Gedichte ihrer Generation geschrieben hatte, in einer Pfütze der eigenen Pisse lag und von ihrer Enkeltochter kreischend forderte, dafür zu sorgen, dass der Schmerz aufhört, mach, dass er aufhört, o madre di Cristo, mach, dass er aufhört. Wenn man sah, dass der früher so glatte Unterarm wie ein Waschlappen verdreht war, und wenn man hörte, wie die Dichterin ihn als Scheißding bezeichnete und dann den eigenen Tod herbeiwünschte, damit die Schmerzen aufhörten.

Könntest du deinem Mann erzählen, dass du noch im Halbschlaf warst, als es passiert ist, und du dauernd Angst hattest, alles, was du tust, könnte das Falsche sein? Könntest du ihm erzählen, dass die Frau am Boden dir das Gesicht zerkratzt hat, als du sie anders hinlegen wolltest, und dass sie dabei geheult hat wie ein von einem Auto überfahrener Hund? Könntest du erklären, wie es war, deine geliebte Großmutter auf dem Boden liegen zu lassen, während du den Notruf gewählt und dann neben ihr gehockt hast, um auf den Rettungswagen zu warten? Wie du sie dazu gebracht hast, durch einen Flexhalm in Wasser aufgelöstes Oxycodon zu trinken? Dass der Rettungswagen einfach nicht kam und du an »The Wreck of the Edmund Fitzgerald« dachtest, diesen Song von Gordon Lightfoot mit der Frage, ob irgendjemand weiß, wohin die Liebe Gottes verschwindet, wenn die Wellen die Minuten in Stunden verwandeln? Die Wellen, die Momo überspülten, waren Wellen aus Schmerz; sie ging unter, und die Wellen rollten einfach immer weiter heran.

Als Momo wieder zu schreien anfing, hatte Lucy beide Arme unter sie geschoben und sie aufs Bett gehievt, mit einer unbeholfenen, ruckartigen Bewegung, die sie bestimmt tage-, wenn nicht gar wochenlang in ihren Schultern und im Kreuz spüren würde. Dabei hatte sie die Ohren vor Momos Schreien – Lass mich los, du bringst mich um! – verschlossen. Dann hatte sie sich keuchend und mit an den Wangen klebenden Haarsträhnen hingesetzt und an die Wand gelehnt, während Momo weinte, ihren scheußlich deformierten Arm hielt und fragte, warum Lucia ihr so wehgetan habe und warum sie so etwas erleiden müsse.

Endlich war der Rettungswagen gekommen, und ein Mann – Lucy kannte seinen Namen nicht, dankte ihm jedoch in ihren gestammelten Gebeten von Herzen – hatte Momo eine Spritze gegeben, die sie zum Schweigen brachte. Könntest du dem eigenen Mann erzählen, dass du dir gewünscht hast, die Spritze hätte Momo umgebracht?

»Es war tatsächlich ziemlich schrecklich« war alles, was sie sagte. »Ich bin so froh, dass Abra dieses Wochenende nicht herkommen wollte.«

»Sie wollte eigentlich, aber sie hatte eine Menge Hausaufgaben und musste gestern in die Bücherei. Muss irrsinnig wichtig gewesen sein; du weißt ja, wie sie mich sonst löchert, dass wir zum Footballspiel gehen.« Geplapper. Dämlich. Aber was sollte er sonst sagen? »Lucy, es tut mir unheimlich leid, dass du das allein durchmachen musstest.«

»Es ist bloß … wenn du sie kreischen gehört hättest. Dann würdest du vielleicht verstehen. Ich will nie wieder jemand so kreischen hören. Sie hat es früher immer so toll geschafft, ruhig zu bleiben … einen kühlen Kopf zu bewahren, wenn alle anderen ausgerastet sind …«

»Ich weiß …«

»Und das alles, um dann doch einzuschrumpfen auf das, was sie heute Nacht war. Die einzigen Wörter, an die sie sich erinnern konnte, waren Schlampe und Scheiße und Pisse und Meretrice und …«

»Denk nicht mehr daran, Schatz.« Im Obergeschoss war das Geräusch der Dusche verstummt. Abra brauchte nun bestimmt nur noch wenige Minuten, um sich abzutrocknen und in ihre Sonntagsklamotten zu schlüpfen; bald würde sie mit flatternden Hemdschößen und Schnürsenkeln heruntergestürmt kommen.

Aber Lucy war noch nicht ganz bereit, nicht mehr daran zu denken. »Ich erinnere mich an ein Gedicht, das sie einmal geschrieben hat. Wort für Wort zitieren kann ich es zwar nicht, aber es hat ungefähr so angefangen: ›Gott ist ein Kenner zerbrechlicher Dinge und verziert seinen wolkigen Blick mit Figürchen aus feinstem Glas.‹ Früher hab ich gedacht, für ein Gedicht von Concetta Reynolds wäre das eine hübsche, wenn auch ziemlich konventionelle Idee, irgendwie sogar ein wenig kitschig.«

Und da war seine Abba-Doo – seine und Lucys Abba-Doo – mit vom Duschen gerötetem Gesicht. »Alles in Ordnung, Daddy?«

David hob die Hand: Moment noch.

»Jetzt weiß ich, was sie wirklich gemeint hat, und ich werde das Gedicht nie wieder lesen können.«

»Abra ist da, Schatz«, sagte gezwungen fröhlich.

»Gut. Ich muss mit ihr sprechen. Mach dir keine Sorgen, ich werde nicht mehr flennen, aber wir können sie vor dieser Sache nicht bewahren.«

»Vielleicht vor dem Schlimmsten davon?«, fragte er vorsichtig. Abra stand am Tisch. Die nassen Haare hatte sie zu zwei Pferdeschwänzen gebunden, mit denen sie wieder wie zehn aussah. Sie hatte eine ernste Miene aufgesetzt.

»Vielleicht«, sagte Lucy. »Aber ich schaffe es einfach nicht mehr, Dave. Nicht mal mit der Hilfe tagsüber. Ich dachte, ich könnte es, aber ich schaffe es nicht. In Frazier, nicht weit von uns, gibt’s ein Hospiz. Die Schwester an der Aufnahme hat mir davon erzählt. Wahrscheinlich haben alle Krankenhäuser eine Liste für genau diese Situation. Jedenfalls, das Hospiz heißt Rivington House. Ich hab dort nachgefragt, bevor ich bei dir angerufen hab, und sie haben gerade heute einen freien Platz bekommen. Offenbar hat Gott heute Nacht ein anderes seiner Glasfigürchen vom Kaminsims gestoßen.«

»Ist Chetta ansprechbar? Hast du mit ihr darüber …«

»Sie ist vor ungefähr zwei Stunden aufgewacht, war aber ziemlich verwirrt. Hat Vergangenheit und Gegenwart zu einer Art Salat vermischt.«

Während ich tief und fest geschlafen habe, dachte David schuldbewusst. Zweifellos habe ich von meinem Buch geträumt.

»Wenn sie wieder bei klarem Verstand ist – ich nehme an, dass das irgendwann der Fall sein wird –, dann werde ich ihr so behutsam, wie es geht, erklären, dass es nicht ihre Entscheidung ist. Es ist Zeit für die Pflege im Hospiz.«

»In Ordnung.« Wenn Lucy etwas beschlossen hatte – wirklich beschlossen –, dann war es am besten, sich nicht einzumischen und ihr ihren Willen zu lassen.

»Dad? Ist was mit Mama passiert? Oder mit Momo?«

Abra wusste durchaus, dass ihrer Mutter nichts zugestoßen war, ihrer Urgroßmutter hingegen schon. Das meiste, was ihre Mutter ihrem Vater erzählt hatte, war ihr bereits in den Kopf gekommen, als sie noch unter der Dusche gestanden hatte, Shampoo und Tränen auf den Wangen. Aber es gelang ihr inzwischen ziemlich gut, ein fröhliches Gesicht aufzusetzen, bis jemand ihr laut sagte, dass es an der Zeit sei, traurig dreinzublicken. Sie fragte sich, ob ihr neuer Freund Dan das als Kind ebenfalls gelernt hatte. Bestimmt hatte er das.

»Schatz, ich glaube, Abra will mit dir sprechen.«

Lucy seufzte und sagte: »Gib sie mir.«

Also streckte David seiner Tochter das Telefon hin.

2

Am selben Sonntag hängte Rose the Hat um zwei Uhr nachmittags ein Schild mit der Aufschrift NICHT STÖREN FALLS NICHT UNBEDINGT NÖTIG an die Tür ihres riesenhaften Wohnmobils. Die kommenden Stunden mussten sorgfältig geplant werden. Sie würde heute nichts mehr essen und ausschließlich Wasser trinken. Statt am Vormittag ihren Kaffee zu trinken, hatte sie ein Brechmittel eingenommen. Wenn es so weit war, sich in den Kopf des Mädchens einzuschleichen, würde sie so rein und klar wie ein leeres Glas sein.

Wenn keinerlei Körperfunktionen sie ablenkten, würde Rose in der Lage sein, alles herauszubekommen, was sie brauchte: den Namen des Mädchens, dessen exakten Aufenthaltsort, wie viel es wusste und – das war am wichtigsten – mit wem es womöglich darüber gesprochen hatte. Rose würde ruhig von vier Uhr nachmittags bis zehn Uhr abends auf ihrem Doppelbett im EarthCruiser liegen, an die Decke blicken und meditieren. Sobald ihr Geist so klar wie ihr Körper war, würde sie Steam aus einer der Flaschen nehmen, die sie unter dem Tisch bereitgestellt hatte – ein Hauch davon genügte sicher –, und die Welt wieder in Drehung versetzen, bis sie in dem Mädchen und das Mädchen in ihr war. Um ein Uhr morgens Ortszeit in New Hampshire schlief ihre Beute bestimmt tief und fest, sodass Rose sich nach Belieben durch den Inhalt ihrer Gedanken wühlen konnte. Vielleicht war es sogar möglich, der Kleinen eine Suggestion einzupflanzen: Es werden ein paar Männer kommen. Sie werden dir helfen. Geh mit ihnen mit.

Doch wie der altehrwürdige Landwirt und Dichter Bobbie Burns zweihundert Jahre zuvor festgestellt hatte, schlugen die wohldurchdachten Pläne von Mäusen und Menschen oft fehl, und Rose hatte kaum begonnen, die ersten Verse ihres Entspannungsmantras zu rezitieren, als jemand an die Tür hämmerte.

»Mach, dass du wegkommst!«, brüllte sie. »Kannst du das Schild nicht lesen?«

»Rose, ich hab Nut dabei«, rief Crow. »Ich glaube, er hat, was du wolltest, aber er braucht deine Erlaubnis, und das Timing ist bei dieser Sache extrem heikel.«

Rose blieb einen Moment liegen, dann stieß sie wütend die Luft aus und stand auf. Sie schnappte sich ein Sidewinder-T-Shirt (KÜSS MICH AUF DEM DACH DER WELT) und zog es sich über den Kopf. Es fiel ihr bis auf die Oberschenkel hinab. Sie öffnete die Tür. »Wehe euch, wenn es nicht wichtig ist!«

»Wir können später wiederkommen«, sagte Walnut. Er war ein kleiner Mann mit Glatze und struppigen, grauen Haarbüscheln oberhalb der Ohren. In der Hand hielt er ein Blatt Papier.

»Ist schon okay, aber mach schnell.«

Sie setzten sich im Wohn-und-Kochbereich an den Tisch. Rose riss Walnut das Blatt aus der Hand und warf einen flüchtigen Blick darauf. Sie sah eine Art komplexes chemisches Diagramm mit Sechsecken, das ihr absolut nichts sagte. »Was ist das?«

»Ein starkes Beruhigungsmittel«, sagte Nut. »Es ist neu, und es ist ungefährlich. Jimmy hat die chemische Struktur von einem unserer Kontaktleute bei der NSA bekommen. Damit können wir die Kleine ohne die Gefahr einer Überdosis schlafen legen.«

»Stimmt, das hört sich genau nach dem an, was wir brauchen.« Rose wusste, dass sie mürrisch klang. »Aber hätte das nicht bis morgen warten können?«

»Tut mir leid, tut mir leid«, sagte Nut kleinlaut.

»Mir tut es gar nicht leid«, sagte Crow. »Wenn du schnell handeln und die Kleine schnappen willst, muss ich mich nicht nur darum kümmern, dass wir was von diesem Zeug kriegen, ich muss auch dafür sorgen, dass es an eines unserer Postfächer geschickt wird.«

Der Wahre Knoten besaß Hunderte solcher Fächer im ganzen Land, meist bei Mail Boxes Etc. und verschiedenen UPS-Niederlassungen. Sie zu benutzen bedeutete eine tagelange Vorplanung, weil die Wahren immer in ihren Wohnmobilen reisten. Sie hätten sich genauso ungern öffentlichen Verkehrsmitteln anvertraut wie sich die eigene Kehle aufgeschlitzt. Privatflüge waren möglich, aber unangenehm; die Wahren litten an extremer Höhenkrankheit. Nach Walnuts Meinung hatte das etwas mit ihrem Nervensystem zu tun, das sich grundlegend von dem der Tölpel unterschied. Rose wiederum machte sich Sorgen wegen einem vom Steuerzahler subventionierten Nervensystem. Seit Nine-Eleven ließ das Heimatschutzministerium nämlich selbst Privatflüge genau beobachten, und die wichtigste Überlebensstrategie des Wahren Knotens bestand darin, niemals Aufmerksamkeit zu erregen.

Dank dem alle Staaten umspannenden Fernstraßennetz hatten die Wohnmobile immer ihren Zweck erfüllt und würden das auch diesmal tun. Ein kleiner Stoßtrupp, bei dem die Fahrer sich alle sechs Stunden am Lenkrad abwechselten, konnte in weniger als dreißig Stunden von Sidewinder nach Neuengland gelangen.

»Na gut«, sagte sie besänftigt. »Wo haben wir was an der I-90 in Upstate New York oder Massachusetts?«

Crow druckste nicht herum und gab auch nicht vor, sich erst informieren zu müssen. »Bei EZ Mail Services in Sturbridge, Massachusetts.«

Sie schnippte mit den Fingern an die Kante des Blatts mit der unverständlichen chemischen Formel, das Nut in der Hand hielt. »Lass dieses Zeug dorthin schicken. Über mindestens drei Stationen, damit wir völlig aus dem Schneider sind, falls etwas schiefläuft. Schick es ordentlich in der Gegend rum.«

»Haben wir denn so viel Zeit?«, fragte Crow.

»Ich wüsste nicht, wieso wir keine Zeit haben sollten«, sagte Rose – eine Bemerkung, die sich noch rächen sollte. »Schick es nach Süden, dann in den Mittleren Westen, dann nach Neuengland. Hauptsache, es ist bis Donnerstag in Sturbridge. Als gewöhnliche Eilsendung, nicht per FedEx oder UPS.«

»Kann ich machen«, sagte Crow. Keinerlei Zögern.

Rose sah den Arzt des Wahren Knotens an. »Hoffentlich hast du recht, Walnut. Wenn du der Kleinen doch eine Überdosis verpasst, statt sie bloß einzuschläfern, sorge ich dafür, dass du der erste Wahre seit Little Big Horn bist, der ins Exil geschickt wird.«

Walnut erbleichte ein wenig. Gut. Sie hatte zwar nicht die Absicht, irgendjemand zu verbannen, aber sie ärgerte sich immer noch darüber, dass man sie gestört hatte.

»Wir schaffen die Droge nach Sturbridge, und Nut wird wissen, wie man sie anwendet«, sagte Crow. »Kein Problem.«

»Gibt es eigentlich nichts Einfacheres? Etwas, was wir hier in der Gegend besorgen können?«

»Nicht, wenn wir uns sicher sein wollen, dass die Kleine uns nicht abkratzt. Dieses Zeug ist ungefährlich, und es wirkt schnell. Wenn das Mädchen so stark ist, wie du offenbar meinst, denn ist es unerlässlich, schnell zu …«

»Okay, okay, ich hab’s kapiert. Sind wir jetzt fertig?«

»Da wäre noch etwas«, sagte Walnut. »Es könnte wohl warten, aber …«

Rose blickte aus dem Fenster und da, du lieber Himmel, kam Jimmy Numbers mit seinem eigenen Blatt Papier über den Parkplatz neben der Overlook Lodge gedackelt. Wieso hatte sie eigentlich ein Schild mit NICHT STÖREN an ihren Türknauf gehängt? Wieso keines mit der Aufschrift NUR HEREINSPAZIERT!?

Rose sammelte ihre ganze üble Laune zusammen, steckte sie in einen Sack, den sie hinten in ihrem Kopf verwahrte, und lächelte tapfer. »Worum geht’s denn?«

»Grampa Flick«, sagte Crow. »Er kann seine Scheiße nicht mehr bei sich behalten.«

»Das kann er doch schon seit mindestens zwanzig Jahren nicht mehr«, sagte Rose. »Er weigert sich, Windeln zu tragen, und ich kann ihn nicht dazu zwingen. Das kann niemand.«

»Es ist schlimmer geworden«, sagte Nut. »Er kommt kaum noch aus dem Bett. Baba und Black-Eyed Susie kümmern sich um ihn, so gut sie können, aber sein Mobil stinkt wie der Zorn Gottes …«

»Der erholt sich schon wieder. Wir füttern ihm ein bisschen Steam.« Aber der Ausdruck auf Nuts Gesicht gefiel ihr gar nicht. Tommy the Truck war vor zwei Jahren gegangen, und so, wie die Wahren die Zeit maßen, kam es ihr wie zwei Wochen vor. Und nun Grampa Flick?

»Er baut geistig extrem ab«, sagte Crow unverblümt. »Und …« Er sah Walnut an.

»Heute Morgen hat Petty ihn versorgt, und die meint, sie hat ihn kreisen sehen.«

»Das meint sie also«, sagte Rose. Sie wollte es nicht glauben. »Hat es sonst noch jemand gesehen? Baba? Sue?«

»Nein.«

Sie zuckte die Achseln, als wollte sie sagen: Na also. Bevor sie weiter darüber sprechen konnten, klopfte Jimmy an die Tür, und diesmal war sie froh über die Unterbrechung.

»Komm rein!«

Jimmy steckte den Kopf durch die Tür. »Kann ich wirklich reinkommen?«

»Klar! Wieso bringst du nicht gleich die Rockettes und die Blaskapelle der UCLA mit? Schließlich wollte ich mich bloß in Meditation versenken, nachdem ich ein paar angenehme Stunden damit verbracht habe, mir die Seele aus dem Leib zu kotzen!«

Crow warf ihr einen leicht tadelnden Blick zu, den sie vielleicht sogar verdiente. Wahrscheinlich verdiente sie ihn, denn diese Leute verrichteten nur ihre Arbeit für die Wahren, und zwar nach ihren Anordnungen – aber falls Crow jemals das Steuer übernehmen sollte, würde er sie verstehen. Nie hatte man auch nur einen einzigen Augenblick für sich selbst, falls man diese Typen nicht mit der Todesstrafe bedrohte. Und in vielen Fällen selbst dann nicht.

»Ich hab was, das du vielleicht sehen willst«, sagte Jimmy. »Und da Crow und Nut schon hier waren, hab ich mir gedacht …«

»Ich weiß, was du dir gedacht hast. Worum geht’s?«

»Ich hab im Internet nach Zeitungsartikeln über die beiden Städte gesucht, die du im Blick hattest – Fryeburg und Anniston. Das hab ich im Union Leader von Manchester gefunden. Es stand in der Ausgabe vom letzten Donnerstag. Kann allerdings sein, dass es gar nichts zu bedeuten hat.«

Sie nahm das Blatt. Der Hauptartikel befasste sich mit der Schule irgendeines Kaffs, die wegen öffentlichen Sparmaßnahmen ihr Footballprogramm auf Eis legen musste. Darunter stand ein kürzerer Bericht, den Jimmy eingekreist hatte.

»MINI-ERDBEBEN« IN ANNISTON?

Wie klein kann ein Erdbeben sein? Ziemlich klein, wenn man den Anwohnern vom Richland Court glaubt, einer kurzen Straße in Anniston, die als Sackgasse am Saco River endet. Mehrere Anwohner der Straße berichteten von einem Beben, das am späten Dienstagnachmittag die Fenster zum Klirren brachte, die Fußböden erschütterte und Gläser von den Regalen fallen ließ. Dane Borland, ein am Ende der Straße wohnender Rentner, deutete auf einen Riss, der quer über seine neu asphaltierte Einfahrt lief. »Wenn Sie Beweise sehen wollen, da ist einer«, sagte er.

Wenngleich das Amt für Geologie in Wrentham, MA berichtet, in Neuengland hätten sich am vergangenen Dienstagnachmittag keinerlei Beben ereignet, nutzten Matt und Cassie Renfrew die Gelegenheit, spontan eine »Erdbebenparty« zu veranstalten, an der die meisten Anwohner teilnahmen.

Laut Andrew Sittenfeld vom Amt für Geologie könnte es sich bei der Erschütterung, die am Richland Court wahrgenommen wurde, um einen plötzlichen Anstieg des Wassers in der Kanalisation oder den Überschallknall eines Militärflugzeugs gehandelt haben. Als Mr. Renfrew diese Erklärungsversuche hörte, brach er in fröhliches Lachen aus. »Wir wissen, was wir gespürt haben«, sagte er. »Es war ein Erdbeben. Allerdings völlig ohne Schattenseiten. Der Schaden ist minimal, und es hat uns eine tolle Party beschert.«

(Andrew Gould)

Rose las den Artikel zweimal, dann blickte sie auf. Ihre Augen strahlten. »Gut gemacht, Jimmy!«

Er grinste. »Danke. Dann lasse ich euch mal wieder allein.«

»Nimm Nut mit, er muss nach Grampa sehen. Crow, du bleibst noch einen Augenblick.«

Als die beiden fort waren, zog Crow die Tür zu. »Du meinst also, dieses Erdbeben in New Hampshire wurde von dem Mädchen verursacht?«

»Und ob. Ich bin mir zwar nicht zu hundert Prozent sicher, aber mindestens zu achtzig. Und wenn ich einen Ort habe, auf den ich mich konzentrieren kann – nicht nur eine Stadt, sondern eine Straße –, dann hab ich es heute Nacht, wenn ich nach der Kleinen suche, wesentlich leichter.«

»Wenn du ihr einen Wurm in den Kopf stecken kannst, dass sie mitkommt, Rosie, müssen wir sie vielleicht nicht mal schachmatt setzen.«

Sie lächelte, weil sie wieder daran dachte, dass Crow keine Ahnung hatte, wie besonders dieser Fall war. Später sollte sie denken: Ich hab auch keine Ahnung gehabt. Ich dachte bloß, ich hätte eine. »Hoffnung ist nicht gesetzlich verboten, soweit ich weiß. Aber sobald wir die Kleine haben, brauchen wir was Raffinierteres als ein Betäubungsmittel, selbst wenn es der letzte Schrei ist. Wir brauchen irgendeine Wunderdroge, durch die sie nett und fügsam bleibt, bis sie auf den Trichter kommt, dass es in ihrem eigenen Interesse ist, freiwillig mit uns zu kooperieren.«

»Wirst du eigentlich mitkommen, wenn wir sie uns schnappen wollen?«

Das hatte Rose eigentlich vorgehabt, doch nun zögerte sie. Sie dachte an Grampa Flick. »Weiß ich noch nicht.«

Er stellte keine weitere Fragen – was sie zu schätzen wusste – und wandte sich zum Gehen. »Ich kümmere mich darum, dass du nicht noch mal gestört wirst.«

»Gut. Und sorg dafür, dass Walnut unseren Grampa gründlich untersucht – das heißt vom Arschloch bis zum Appetit. Wenn er tatsächlich am Kreisen ist, dann will ich es morgen, wenn ich aus meiner Klausur komme, wissen.« Sie griff nach einer der Flaschen, die unter dem Tisch standen. »Und gib ihm, was da noch drin ist.«

Crow war entgeistert. »Alles? Rose, wenn er kreist, ist das völlig sinnlos.«

»Gib es ihm. Wir hatten ein gutes Jahr, wie mehrere von euch mir in letzter Zeit unter die Nase gerieben haben. Da können wir uns eine kleine Extravaganz leisten. Außerdem hat der Wahre Knoten nur einen Grampa. Der erinnert sich noch daran, wie die Leute in Europa Bäume statt Eigentumswohnungen verehrt haben. Wir werden ihn nicht verlieren, wenn wir das verhindern können. Schließlich sind wir keine Wilden.«

»Da sind die Tölpel womöglich anderer Ansicht.«

»Deshalb sind sie Tölpel. Und jetzt raus hier!«

3

Ab Anfang September schloss Teenytown am Sonntag schon um fünfzehn Uhr. An diesem Nachmittag um Viertel vor sechs saßen drei Riesen auf den Bänken neben der Miniaturausführung der Cranmore Avenue, was den Drugstore von Teenytown und das Music Box Theater (wo man während der Touristensaison durchs Fenster spähen konnte, um auf einem winzigen Bildschirm winzige Filmclips zu betrachten) noch kleiner erscheinen ließ. John Dalton war zu dem Treffen mit einer Red-Sox-Mütze gekommen, die er auf dem Kopf der Miniaturstatue von Helen Rivington auf dem Platz vor dem Mini-Amtsgebäude platziert hatte. »Die war bestimmt ein Fan«, sagte er. »Das sind hier in der Gegend eigentlich alle. Für die Yankees hat kaum jemand was übrig, von Exilanten wie mir mal abgesehen. Also, was kann ich für dich tun, Dan? Ich verpasse gerade das Abendessen mit meiner Familie. Meine Frau ist zwar durchaus verständnisvoll, aber ich darf ihre Geduld nicht überstrapazieren.«

»Was würde sie wohl sagen, wenn du mit mir ein paar Tage in Iowa verbringst?«, sagte Dan. »Natürlich auf meine Kosten, das ist klar. Ich muss einen AA-Besuch bei einem Onkel machen, der dabei ist, sich mit Schnaps und Kokain ins Jenseits zu befördern. Meine Familie fleht mich an einzugreifen, aber allein kann ich das bekanntlich nicht machen.«

Bei den Anonymen Alkoholikern gab es zwar keine Regeln, aber dafür viele Traditionen (die im Grunde Regeln waren). Einer der eisernsten Grundsätze lautete, dass man einen solchen Besuch bei einem aktiven Alkoholiker nie ohne Begleitung absolvierte, falls der Betreffende nicht in einem Krankenhaus, einer Entzugsklinik oder der örtlichen Klapsmühle eingesperrt war. Weil man sonst in Gefahr schwebte, es ihm Glas für Glas gleichzutun. Sucht, sagte Casey Kingsley gern, sei ein Geschenk, das man nur allzu gern weitergebe.

Dan sah Billy Freeman an und grinste. »Na, hast du was dazu zu sagen? Nur zu!«

»Ich glaube nicht, dass du einen Onkel hast. Bin mir nicht mal sicher, ob überhaupt noch irgendwelche Verwandten von dir übrig sind.«

»Ach ja? Du bist dir da nicht sicher?«

»Na ja … jedenfalls sprichst du nie über sie.«

»Massenhaft Leute haben Angehörige, ohne darüber zu sprechen. Aber in Wirklichkeit weißt du, dass ich niemand mehr habe, oder nicht, Billy?«

Billy sagte nichts und blickte nur unbehaglich drein.

»Danny, ich kann nicht nach Iowa«, sagte John. »Ich hab bis ins Wochenende hinein Termine.«

Dan hatte den Blick immer noch auf Billy gerichtet. Nun griff er in seine Tasche, zog etwas heraus und streckte Billy die geschlossene Faust hin. »Was hab ich da wohl drin?«

Billy sah noch unbehaglicher drein als vorher. Er warf einen Blick auf John, sah von diesem jedoch keine Hilfe kommen.

»John weiß, was ich bin«, sagte Dan. »Ich hab ihm einmal geholfen, und er weiß, dass ich auch ein paar anderen im Programm geholfen habe. Du bist hier unter Freunden.«

Darüber dachte Billy offenbar nach, dann sagte er: »Es könnte eine Geldmünze sein, aber ich glaube, es ist eine deiner AA-Medaillen. Die Sorte, die man jedes Mal bekommt, wenn man wieder ein Jahr trocken war.«

»Von welchem Jahr ist die da?«

Billy zögerte, dann betrachtete er Dans geballte Faust.

»Lass mich mal helfen«, sagte John. »Er ist seit Frühjahr 2001 trocken; wenn er also eine Medaille mit sich herumträgt, dann ist sie wahrscheinlich die vom zwölften Jahr.«

»Klingt logisch, aber die ist es nicht.« Billy war jetzt ganz konzentriert. Zwischen den Augenbrauen hatten sich zwei tiefe, senkrechte Furchen gebildet. »Ich würde sagen, da könnte … eine Sieben drauf sein?«

Dan öffnete die Faust. Auf der Medaille stand eine große VI.

»Scheibenkleister«, sagte Billy. »Normalerweise bin ich gut im Raten.«

»Immerhin warst du ziemlich nah dran«, sagte Dan. »Und hier geht’s nicht um Raten, sondern um etwas wie Hellsichtigkeit. Ich nenne es Shining.«

Billy zog seine Zigaretten heraus, warf einen Blick auf den neben ihm sitzenden Arzt und ließ sie wieder verschwinden. »Wenn du meinst …«

»Ich will dir mal was über dich erzählen, Billy. In deiner Kindheit warst du toll im Raten. Du wusstest, wenn deine Mutter gute Laune hatte und du sie um zusätzliches Taschengeld anhauen konntest. Du wusstest, wenn dein Dad schlecht drauf war und du ihm aus dem Weg gehen musstest.«

»Auf jeden Fall hab ich gewusst, wenn es beim Abendessen absolut nicht ratsam gewesen wäre, über den aufgewärmten Schmorbraten zu meckern«, sagte Billy.

»Hast du früher gewettet?«

»Bei Pferderennen unten in Salem. Hab ganz schön was eingestrichen. Aber als ich dann fünfundzwanzig oder so wurde, hab ich’s irgendwie nicht mehr geschafft, die Sieger zu erraten. Als ich mal darum betteln musste, dass man mir die Monatsmiete stundet, hat mich das von meiner Wettsucht geheilt.«

»Ja, wenn man älter wird, nimmt diese Gabe ab, aber du hast immer noch was davon.«

»Du hast mehr«, sagte Billy, nun ohne zu zögern.

»Das meint ihr ernst, ja?«, sagte John. Eigentlich war es keine Frage, sondern eine Beobachtung.

»John, du hast in der kommenden Woche nur eine einzige Patientin, bei der du wirklich das Gefühl hast, dich unbedingt um sie kümmern zu müssen«, sagte Dan. »Ein Mädchen mit Magenkrebs. Sie heißt Felicity …«

»Frederika«, sagte John. »Frederika Bimmel. Sie liegt im Merrimack Valley Hospital. Ich soll eine Konsultation mit ihrem Onkologen und ihren Eltern durchführen.«

»Am Samstagmorgen.«

»Ja, am Samstagmorgen.« Er warf Dan einen verblüfften Blick zu. »Mensch. Donnerwetter. Was du da hast … ich hatte keine Ahnung, dass es so stark ist.«

»Ich verspreche dir, dass du am Donnerstag wieder hier bist. Spätestens am Freitag.«

Falls man uns nicht verhaftet, dachte er. Dann sind wir womöglich etwas länger in Iowa. Er blickte zu Billy hinüber, ob der wohl diesen wenig ermutigenden Gedanken aufgefangen hatte, aber dafür waren keinerlei Anzeichen sichtbar.

»Worum geht es eigentlich?«

»Um eine andere Patientin von dir. Abra Stone. Sie ist wie Billy und ich, John, aber ich glaube, das weißt du schon. Bloß dass sie viel, viel mehr Kraft besitzt. Ich hab schon mehr davon als Billy, aber verglichen mit ihr komme ich mir wie ein Wahrsager auf dem Jahrmarkt vor.«

»Ach du Schande – die Löffel!«

Dan brauchte eine Sekunde, dann erinnerte er sich. »Die hat sie an die Decke gehängt.«

John starrte ihn mit weit aufgerissenen Augen an. »Das hast du gerade in meinen Gedanken gelesen?«

»Nein, es ist leider nicht ganz so spektakulär. Sie hat es mir erzählt.«

»Wann denn? Wann?«

»Dazu kommen wir schon noch. Zuerst wollen wir es mal ein bisschen mit authentischem Gedankenlesen versuchen.« Dan nahm Johns Hand. Das half; ein direkter Körperkontakt tat das fast immer. »Ihre Eltern haben dich konsultiert, als sie noch ein Kleinkind war. Vielleicht war es auch eine Tante oder eine Großmutter. Sie haben sich schon Sorgen um sie gemacht, bevor sie die Küche mit Löffeln dekoriert hat, weil sich in ihrem Haus allerhand übersinnliche Phänomene ereignet haben. Da war etwas mit dem Klavier … Billy, hilf mir da mal.«

Billy griff nach Johns freier Hand. Dan nahm die von Billy, sodass ein Kreis entstand. Eine Miniaturséance in Teenytown.

»Beatles-Musik«, sagte Billy. »Auf dem Klavier statt auf der Gitarre. Es war … weiß auch nicht. Jedenfalls hat es sie eine Weile ganz verrückt gemacht.«

John starrte ihn an.

»Hör mal«, sagte Dan. »Du hast Abras Erlaubnis, mit mir zu sprechen. Sie will, dass du das tust. Bitte vertrau mir, John.«

Darüber dachte John Dalton fast eine ganze Minute nach. Dann erzählte er den beiden alles – mit einer Ausnahme.

Dass einmal auf allen Fernsehsendern die Simpsons gelaufen waren, war einfach zu abgedreht.

4

Als John geendet hatte, stellte er eine naheliegende Frage: Woher kannte Dan Abra Stone?

Dan zog aus seiner Gesäßtasche ein kleines, ramponiertes Notizbuch hervor. Auf dem Deckel prangte ein Foto von ans Ufer brandenden Wellen, darüber das Motto NICHTS GROSSES ENTSTEHT IM AUGENBLICK.

»Das hast du früher immer dabeigehabt, stimmt’s?«, sagte John.

»Ja. Du weißt doch, dass Casey K. mein Sponsor ist, oder?«

John rollte die Augen. »Wer könnte das vergessen, wo du doch, jedes Mal wenn du bei einem Treffen den Mund aufmachst, mit ›Mein Sponsor Casey K. sagt immer …‹ anfängst.«

»John, niemand liebt Klugscheißer.«

»Doch, meine Frau. Weil ich ein äußerst liebevoller Klugscheißer bin.«

Dan seufzte. »Sieh in das Büchlein.«

John blätterte es durch. »Das sind die Treffen, an denen du teilgenommen hast. Von 2001 an.«

»Casey hat mir gesagt, ich muss neunzig Treffen in neunzig Tagen absolvieren und mir alle aufschreiben. Sieh mal beim achten nach.«

John fand es. Es hatte in der Methodistenkirche von Frazier stattgefunden. Dort ging er nicht oft hin, kannte es jedoch. Unter Ort und Datum stand in verschnörkelten Großbuchstaben das Wort ABRA.

John sah Dan einigermaßen ungläubig an. »Sie hat Kontakt mit dir aufgenommen, als sie gerade mal zwei Monate alt war?«

»Du siehst, dass mein nächstes Treffen direkt darunter steht«, sagte Dan. »Also kann ich den Namen nicht später eingefügt haben, um Eindruck bei dir zu schinden. Falls ich nicht das ganze Büchlein gefälscht habe, und es gibt massenhaft Leute im Programm, die mich damit gesehen haben.«

»Mich eingeschlossen«, sagte John.

»Ja, dich eingeschlossen. Damals hatte ich in einer Hand immer mein Notizbuch und in der anderen eine Tasse Kaffee. Das waren meine Sicherungsseile. Ich wusste noch nicht, wer Abra war, und hab auch nicht weiter drüber nachgedacht. Für mich war es bloß eine von vielen zufälligen Berührungen. So wie ein Baby im Bettchen die Hand ausstreckt und einem über die Nase wischt.

Zwei oder drei Jahre später hat sie auf die Schultafel in meinem Zimmer, auf der ich die Namen und Zimmernummern unserer Gäste notiere, ein Wort geschrieben, und zwar: Hallo. Danach ist sie in Kontakt mit mir geblieben wie jemand, der sich ab und zu mal meldet. Ich bin mir nicht mal sicher, ob sie das bewusst getan hat. Aber ich war für sie da. Wenn sie Hilfe brauchte, war ich jemand, den sie kannte und an den sie sich wenden konnte.«

»Was für Hilfe braucht sie eigentlich? In was für Schwierigkeiten steckt sie?« John wandte sich an Billy. »Weißt du es?«

Billy schüttelte den Kopf. »Ich hab nie von ihr gehört, und nach Anniston komme ich praktisch auch nie.«

»Wer hat gesagt, dass Abra in Anniston wohnt?«

Billy zeigte mit dem Daumen auf Dan. »Er hat’s gesagt. Oder etwa nicht?«

John wandte sich wieder an Dan. »Na schön. Ihr habt mich überzeugt. Jetzt will ich alles hören.«

Dan erzählte ihm von Abras Albtraum über Bradley Trevor, den Baseballjungen. Von den schattenhaften Gestalten mit ihren auf ihn gerichteten Taschenlampen. Von der Frau mit dem Messer, die sich das Blut des Jungen von den Handflächen geleckt hatte. Und davon, wie Abra viel später im Shopper auf das Foto des Jungen gestoßen war.

»Und wieso ist ihr das alles zugestoßen? Weil der Junge, den man umgebracht hat, hellsichtig wie sie war?«

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass der ursprüngliche Kontakt so hergestellt wurde. Der Junge muss um Hilfe gerufen haben, als er von diesen Leuten gefoltert wurde – Abra zweifelt nicht daran, dass sie das getan haben –, und dadurch ist eine Verbindung entstanden.«

»Eine Verbindung, die selbst bestehen blieb, als der Junge, dieser Bradley Trevor, tot war?«

»Ich glaube, Abras späterer Kontaktpunkt war etwas, was der Junge besessen hat – sein Baseballhandschuh. Über den konnte sie eine Verbindung zu den Mördern herstellen, weil einer von denen den Handschuh angezogen hat. Sie weiß nicht, wie sie es tut, und ich weiß es auch nicht. Ich weiß bloß, dass sie ungeheure Kräfte hat.«

»So wie du selber.«

»Die Sache ist die«, sagte Dan. »Diese Leute – wenn es sich überhaupt um normale Leute handelt – werden von der Frau angeführt, die den Mord begangen hat. An dem Tag, an dem Abra in diesem Anzeigenblatt auf das Bild von Bradley Trevor stieß, ist sie in den Kopf dieser Frau eingedrungen. Und umgekehrt. Einige Sekunden lang haben die beiden durch die Augen der jeweils anderen geblickt.« Er hob die Hände, ballte sie zu Fäusten und ließ sie kreisen. »Hin und her. Abra meint, womöglich wollen die sie schnappen, und ich bin derselben Ansicht. Weil sie eine Gefahr für diese Leute darstellen könnte.«

»Da gibt’s doch noch andere Gründe, oder?«, sagte Billy.

Dan sah ihn an, ohne etwas zu erwidern.

»Wenn jemand hellsichtig ist, dann hat er doch was Besonderes an sich, stimmt’s? Etwas, was diese Leute wollen. Etwas, was sie nur bekommen, wenn sie töten.«

»Ja.«

»Weiß diese Frau, wo Abra steckt?«, fragte John.

»Abra meint nein, aber du musst bedenken, dass sie erst zwölf ist. Sie könnte sich irren.«

»Und weiß Abra, wo sich diese Frau gerade aufhält?«

»Sie weiß nur, dass die Frau in dem Moment, in dem der Kontakt – das gegenseitige Sehen – stattfand, in einer Filiale von Sam’s Supermarket war. Das hieße also irgendwo im Westen, aber die Kette gibt’s in mindestens neun Staaten.«

»Darunter Iowa?«

Dan schüttelte den Kopf.

»Dann weiß ich nicht, was es bringen soll, wenn wir dorthin fahren.«

»Wir können den Handschuh holen«, sagte Dan. »Abra meint, wenn sie den Handschuh hat, kann sie eine Verbindung zu dem Mann herstellen, der ihn kurze Zeit an der Hand hatte. Sie nennt ihn Barry the Chunk.«

John saß mit gesenktem Kopf da und dachte nach. Dan ließ ihn in Ruhe.

»Na gut«, sagte John schließlich. »Das ist zwar völlig verrückt, aber ich glaube es. Angesichts dessen, was ich von Abra weiß und was ich mit dir erlebt habe, wäre es eigentlich sogar schwer, es nicht zu glauben. Aber wenn diese Frau nicht weiß, wo Abra ist, könnte es dann nicht klüger sein, sich ruhig zu verhalten? Schlafende Hunde soll man doch nicht wecken, oder?«

»Ich glaube nicht, dass dieser Hund schläft«, sagte Dan. »Diese

(leeren Teufel)

Irren wollen Abra aus demselben Grund schnappen wie den Jungen – da hat Billy höchstwahrscheinlich recht. Außerdem wissen sie, dass Abra eine Gefahr für sie darstellt. Bei uns im Programm würde man sagen, sie hat die Fähigkeit, die Anonymität dieser Leute zu zerstören. Außerdem verfügen sie vielleicht über Mittel, von denen wir keine Ahnung haben. Möchtest du, dass eine Patientin von dir ständig in Furcht lebt, Monat für Monat und vielleicht sogar Jahr für Jahr, weil sie dauernd damit rechnen muss, dass jeden Augenblick eine Horde paranormaler Irrer auftaucht und sie sich schnappt?«

»Natürlich nicht.«

»Abra sagt, diese Schweine leben von Kindern wie ihr. Von Kindern, wie ich eines war. Kindern mit Shining.« Er starrte John Dalton grimmig an. »Wenn das stimmt, muss man sie aufhalten.«

»Da ich offenbar nicht nach Iowa mitkommen soll, was soll ich dann tun?«, sagte Billy.

»Sagen wir mal so«, antwortete Dan. »Du wirst dich in der kommenden Woche ausführlich mit Anniston vertraut machen. Wenn Casey dir freigibt, nimmst du dir dort am besten ein Motelzimmer.«

5

Rose fand endlich in den meditativen Zustand, um den sie sich bemüht hatte. Am schwersten war es ihr gefallen, die Sorgen um Grampa Flick loszulassen, aber schließlich hatte sie auch die überwunden. Sich über sie erhoben. Nun ruhte sie in sich selbst und rezitierte dabei die uralten Worte – sabbatha hanti und lodsam hanti und cahanna risone hanti – wieder und immer wieder, wobei sie die Lippen kaum bewegte. Es war noch zu früh, dieses nervige Mädchen aufzusuchen, aber da man sie nun allein gelassen hatte und die Welt innen wie außen still war, hatte sie keine Eile. Meditation um ihrer selbst willen war eine schöne Sache. Rose bewegte sich darin umher; langsam und sorgfältig sammelte sie ihre Werkzeuge und richtete ihre Konzentration aus.

Sabbatha hanti, lodsam hanti, cahanna risone hanti: Worte, die schon alt gewesen waren, als der Wahre Knoten in Pferdewagen durch Europa gezogen war und Torfbriketts und billige Schmuckstücke verkauft hatte. Wahrscheinlich waren sie schon alt gewesen, als Babylon jung war. Das Mädchen war zwar mächtig, aber die Wahren waren allmächtig, weshalb Rose nicht mit gravierenden Problemen rechnete. Während die Kleine schlief, würde Rose sich lautlos und verstohlen durch ihr Inneres bewegen, um Informationen zu sammeln und Suggestionen wie kleine Tretminen einzupflanzen. Nicht nur einen einzelnen Wurm, sondern ein ganzes Nest. Manche würde das Mädchen vielleicht entdecken und machte sie unwirksam.

Andere aber nicht.

6

Als Abra an diesem Abend mit ihren Hausaufgaben fertig war, telefonierte sie fast eine Dreiviertelstunde lang mit ihrer Mutter. Das Gespräch bestand aus zwei Ebenen. Auf der oberen sprachen die beiden über den vergangenen Tag, die nächste Schulwoche und Abras Kostüm für die bevorstehende Tanzparty an Halloween; es ging um Pläne, Momo ins Hospiz zu verlegen (für Abra immer noch »Hotspitz«); außerdem unterrichtete Lucy Abra über Momos Zustand, der, wie sie sagte, alles in allem ziemlich gut sei.

Auf der anderen Ebene hörte Abra die quälenden Sorgen ihrer Mutter, dass diese ihre Großmutter auf gewisse Weise im Stich gelassen hatte, und die Wahrheit über Momos Zustand: verängstigt, verwirrt, von Schmerzen gepeinigt. Abra versuchte, ihrer Mutter tröstliche Gedanken zu senden: Lass doch, Mama und Wir haben dich lieb, Mama und Du hast getan, was du konntest, solange du dazu in der Lage warst. Sie hätte gern geglaubt, dass der eine oder andere Gedanke davon durchkam, aber so richtig glaubte sie nicht daran. Abra besaß zwar viele Gaben – solche, die gleichermaßen wunderbar wie unheimlich waren –, aber die Fähigkeit, den Gefühlszustand eines anderen Menschen zu verändern, hatte nie dazugehört.

Ob Dan das wohl tun konnte? Vielleicht konnte er es tatsächlich. Offenbar nutzte er diesen Teil seines Shinings, um den Leuten im Hotspitz zu helfen. Wenn er das wirklich konnte, dann half er vielleicht auch Momo, wenn sie dorthin kam. Das wäre gut.

In dem rosa Flanellpyjama, den Momo ihr letztes Weihnachten geschenkt hatte, ging sie schließlich nach unten. Ihr Vater sah sich gerade ein Spiel der Red Sox an und trank dabei ein Glas Bier. Sie pflanzte ihm einen dicken Schmatz auf die Nase (er behauptete zwar immer, das wäre ihm zuwider, aber sie wusste, dass er es irgendwie mochte) und sagte, sie werde jetzt ins Bett gehen.

»Les Hausaufgaben sont complètes, Mademoiselle?«

»Ja, Daddy, aber das französische Wort für Hausaufgaben ist devoirs

»Gut zu wissen, gut zu wissen. Und wie geht es deiner Mutter? Ich frage nur, weil ich allerhöchstens neunzig Sekunden mit ihr gesprochen habe, bevor du mir das Telefon entrissen hast.«

»Es geht ihr ganz gut.« Abra wusste zwar, dass das stimmte, aber sie wusste auch um die Relativität dieser Formulierung. Sie ging auf den Flur zu, dann drehte sie sich noch einmal um. »Sie hat gesagt, Momo war wie ein Figürchen aus Glas.« Das hatte Lucy zwar nicht laut gesagt, aber doch gedacht. »Sie sagt, eigentlich sind wir das alle.«

Dave stellte den Ton des Fernsehers ab. »Tja, das ist wohl wirklich so, aber manche von uns sind aus erstaunlich hartem Glas gemacht. Denk dran, deine Momo hat viele, viele Jahre gesund und munter auf dem Regal gestanden. Und jetzt komm noch mal in meine Arme, Abba-Doo. Ich weiß nicht, ob du eine Umarmung brauchst, aber ich könnte eine gebrauchen.«

7

Zwanzig Minuten später lag sie im Bett neben dem Winnie-Puuh-Nachtlicht, einem Überbleibsel aus ihrer frühesten Kindheit. Sie suchte nach Dan und fand ihn in einem Gemeinschaftsraum, in dem es Puzzles, Zeitschriften, eine Tischtennisplatte und einen großen Fernseher an der Wand gab. Dan spielte mit einigen Hotspitz-Bewohnern Karten.

(hast du mit Doctor John gesprochen?)

(ja übermorgen fliegen wir zusammen nach Iowa)

Dieser Gedanke wurde von dem Bild eines alten Doppeldeckers begleitet. Darin saßen zwei Männer mit altmodischen Fliegerhelmen, Handschuhen und Schutzbrillen. Abra musste lächeln.

(wenn wir dir was mitbringen)

Sie sah das Bild eines Fängerhandschuhs. So hatte der Handschuh des Baseballjungen zwar nicht genau ausgesehen, aber Abra wusste, was Dan damit sagen wollte.

(wirst du dann ausrasten)

(nein)

Lieber nicht. Den Handschuh des toten Jungen in der Hand zu halten würde zwar schrecklich sein, aber sie musste es trotzdem tun.

8

Im Gemeinschaftsraum von Gebäude eins starrte Mr. Braddock Dan an. Auf seinem Gesicht lag jener Ausdruck eines gewaltigen, aber leicht verwirrten Zorns, den nur sehr alte, am Rande der Senilität stehende Leute erfolgreich zustande brachten. »Werfen Sie jetzt endlich ab, Danny, oder sitzen Sie weiter bloß da und stieren in die Ecke, bis die Polkappen schmelzen?«

(gute Nacht Abra)

(gute Nacht Dan grüß Tony von mir)

»Danny?« Mr. Braddock klopfte mit seinen geschwollenen Knöcheln auf den Tisch. »Danny Torrance, bitte kommen, Danny Torrance, over!«

(vergiss nicht den Alarm einzustellen)

»Huhu, Danny«, sagte Cora Willingham.

Dan sah die beiden an. »Hab ich abgeworfen, oder bin ich noch dran?«

Mr. Braddock warf Cora augenrollend einen Blick zu, den sie ebenfalls augenrollend erwiderte.

»Und meine Töchter denken, ich hätte allmählich nicht mehr alle Tassen im Schrank!«, sagte sie.

9

Abra hatte die Weckfunktion ihres iPads aktiviert, weil morgen nicht nur ein Schultag war, sondern auch einer der Tage, an denen sie mit dem Frühstückmachen dran war – geplant war Rührei mit Champignons, Paprikaschoten und Monterey Jack. Aber das war nicht der Alarm, von dem Dan gesprochen hatte. Sie schloss die Augen, runzelte die Stirn und konzentrierte sich. Eine ihrer Hände kroch unter der Decke hervor und begann, über ihre Lippen zu wischen. Was sie da tat, war knifflig, aber vielleicht war es den Versuch wert.

Ein Alarm war gut und schön, aber wenn die Frau mit dem Hut nach ihr suchte, war eine Falle eventuell noch besser.

Nach etwa fünf Minuten glätteten sich die Falten auf ihrer Stirn, und ihre Hand sank vom Mund weg. Sie drehte sich auf die Seite und zog die Bettdecke bis zum Kinn. Während sie einschlief, stellte sie sich vor, dass sie in voller Kriegerrüstung auf einem weißen Hengst ritt. Winnie Puuh wachte auf seinem Platz auf der Kommode, wie er es seit ihrem fünften Lebensjahr tat, und warf einen schwachen Lichtschein auf ihre linke Wange. Das und ihre Haare waren das Einzige von ihr, was noch sichtbar war.

In ihren Träumen galoppierte sie über weite Felder unter vier Milliarden Sternen.

10

Rose setzte ihre Meditationen an diesem frühen Montagmorgen bis um halb zwei fort. Die übrigen Mitglieder des Wahren Knotens (mit Ausnahme von Apron Annie und Big Mo, die sich momentan um Grampa Flick kümmerten) schliefen tief und fest, als sie beschloss, dass sie bereit war. In einer Hand hielt sie ein Foto – mithilfe ihres Computers ausgedruckt – des nicht sehr eindrucksvollen Stadtzentrums von Anniston, New Hampshire. In der anderen hielt sie eine Flasche. Obwohl die nur noch einen minimalen Hauch Steam enthielt, zweifelte sie nicht daran, dass der ausreichen würde. Sie legte die Finger an das Ventil und bereitete sich darauf vor, es zu öffnen.

Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort: Sabbatha hanti.

Wir sind die Auserwählten: Lodsam hanti.

Wir sind die Glückseligen: Cahanna risone hanti.

»Nimm das, und nutze es gut, Rosie«, sagte sie zu sich selbst. Als sie am Ventil drehte, entwich ein kurzer Seufzer aus silbernem Dunst. Sie atmete ein, sank auf ihr Kissen zurück und ließ die Flasche auf den Boden fallen, wo sie mit einem leisen, dumpfen Geräusch aufkam. Sie hob das Bild der Hauptstraße von Anniston an ihre Augen. Ihr Arm und ihre Hand waren nicht mehr so richtig vorhanden, weshalb das Bild zu schweben schien. Nicht weit von dort wohnte ein Mädchen in einer Straße, die wahrscheinlich den Namen Richland Court trug. Die Kleine schlief vermutlich fest, aber irgendwo in ihrem Kopf war Rose the Hat. Die nahm an, dass das Mädchen nicht wusste, wie Rose the Hat aussah (genauso wenig wie Rose wusste, wie das Mädchen aussah … zumindest noch nicht), aber sie wusste, wie Rose the Hat sich anfühlte. Außerdem wusste sie, was Rose gestern im Supermarkt betrachtet hatte. Das war ihr Wegweiser, ihr Eingang.

Mit starrem, träumerischem Blick betrachtete Rose das Bild von Anniston, aber wonach sie wirklich suchte, war die Fleischtheke im Supermarkt, an der JEDES STEAK EIN COWBOY-STEAK VON EXZELLENTER QUALITÄT war. Sie suchte nach sich selbst. Und nach erfreulich kurzer Suche fand sie sich. Zuerst war es eine akustische Spur, der Klang von seichter Supermarkt-Muzak. Dann ein Einkaufswagen. Dahinter war noch alles dunkel. Das war in Ordnung, der Rest würde schon noch kommen. Rose folgte der Muzak, die nun in der Ferne hallte.

Es war dunkel, es war dunkel, es war dunkel, dann wurde es ein wenig heller und noch ein wenig heller. Da war der Gang zwischen den Regalen, der zu einem Korridor wurde, und da wusste sie, dass sie fast drin war. Ihr Herzschlag beschleunigte sich.

Auf ihrem Bett liegend, schloss sie die Augen, damit das Mädchen nichts sah, falls es merkte, was geschah. Das war unwahrscheinlich, wenn auch nicht unmöglich. Rose nahm sich einige Sekunden Zeit, ihre wichtigsten Ziele Revue passieren zu lassen: Name, genauer Aufenthaltsort, der Informationsstand der Kleinen und die Leute, denen sie sich offenbart hatte.

(dreh dich Welt)

Sie nahm alle Kraft zusammen und schob an. Diesmal war das Gefühl des Drehens keine Überraschung, sondern etwas, was sie geplant und vollständig unter Kontrolle hatte. Einen Moment lang war sie noch in jenem Korridor – der Verbindung zwischen ihren Gedanken und denen des Mädchens –, doch dann landete sie in einem großen Raum, in dem ein Mädchen mit Zöpfen Fahrrad fuhr und dabei ein albernes Liedchen trällerte. Das war der Traum des Mädchens, den Rose beobachtete. Aber sie hatte Besseres zu tun. Die Wände des Raums waren keine echten Wände, sondern sozusagen Aktenschränke mit Schubladen. Die konnte sie nun, da sie im Innern war, nach Belieben öffnen. Das Mädchen träumte ruhig in Rose’ Kopf, es träumte, dass es wieder fünf war und auf seinem ersten Fahrrad fuhr. Das war ausgezeichnet. Träum weiter, kleine Prinzessin!

Das Kind fuhr la-la-la singend an ihr vorbei, ohne etwas zu sehen. Sein Fahrrad hatte Stützräder, die jedoch abwechselnd flackernd auftauchten und verschwanden. Wahrscheinlich träumte das Prinzesschen von dem Tag, an dem es endlich gelernt hatte, ohne Stütze Fahrrad zu fahren. Das war immer ein wunderschöner Tag im Leben eines Kindes.

Freu dich über dein Fahrrad, Schätzchen, während ich alles über dich herausbekomme.

Voller Selbstvertrauen zog Rose eine der Schubladen auf.

In dem Augenblick, in dem sie hineingriff, begann ein ohrenbetäubender Alarm zu kreischen. Überall im Raum flammten grelle weiße Scheinwerfer auf, die sie mit Hitze und Licht übergossen. Zum ersten Mal in sehr, sehr vielen Jahren war Rose the Hat, einst Rose O’Hara aus der County Antrim in Nordirland, von etwas völlig unvorbereitet getroffen worden. Bevor sie die Hand aus der Schublade ziehen konnte, schlug diese krachend zu. Der Schmerz war gewaltig. Sie schrie auf und zuckte zurück, aber sie wurde festgehalten.

Ihr Schatten sprang an der Wand hoch, aber nicht nur ihrer. Sie wandte den Kopf und sah, wie das Mädchen sich auf sie stürzte. Bloß war es gar kein Mädchen mehr. Es war eine junge Frau, die ein Lederwams mit einem Drachen auf der sich wölbenden Brust trug und ein blaues Band um die Haare. Das Fahrrad war zu einem weißen Hengst geworden. Ihre Augen loderten wie die einer Kriegerin.

Die Kriegerin hatte eine Lanze in der Hand.

(du bist wiedergekommen Dan hat das vorausgesagt und da bist du)

Und dann – unglaublich für einen Tölpel, selbst wenn er noch so voller Steam war – Vergnügen.

(GUT)

Das Kind, das jetzt kein Kind mehr war, hatte auf der Lauer gelegen. Es hatte eine Falle aufgestellt, es wollte Rose töten … und in diesem Zustand mentaler Verletzbarkeit konnte es das wahrscheinlich sogar.

Rose bot alle ihre Kraft auf, um sich zu wehren, nicht mit einer Lanze wie aus einem Comic, sondern mit einem stumpfen Rammbock, hinter dem all ihre Lebensjahre und ihr ganzer Wille standen.

(WEG VON MIR! WEG VON MIR VERFLUCHT NOCH MAL! EGAL WAS DU DENKST DU BIST BLOSS EIN KLEINES MÄDCHEN!)

Die erwachsene Vision, die das Mädchen von sich hatte – ihr Avatar –, stürmte weiter an, zuckte jedoch zusammen, als Rose’ Gedanke sie traf, und die Lanzenspitze krachte an die Wand des Aktenschranks links von Rose und nicht in deren linke Seite, wohin sie gezielt hatte.

Das Kind (mehr ist es nicht, sagte Rose sich unablässig) lenkte sein Ross weg, und Rose wandte sich der Schublade zu, in der sie sich verfangen hatte. Sie stemmte ihre freie Hand darüber an die Wand und zog mit aller Kraft, ohne auf den Schmerz zu achten. Zuerst bewegte die Schublade sich keinen Millimeter. Dann gab sie ein Stück nach, und Rose war in der Lage, ihren Handballen herauszuziehen. Der war zerschrammt und blutete.

Da geschah noch etwas anderes. In ihrem Kopf bildete sich eine flatternde Empfindung, als würde ein Vogel darin herumfliegen. Was für ein Scheiß war das jetzt wieder?

In der Erwartung, dass sich diese verfluchte Lanze jeden Augenblick in ihren Rücken bohrte, zerrte Rose abermals mit aller Kraft. Ihre Hand glitt ganz heraus, und sie ballte gerade noch rechtzeitig die Finger zur Faust. Hätte sie auch nur eine Sekunde gewartet, so wären die Finger von der wieder zuknallenden Schublade abgetrennt worden. Rose’ Fingernägel pochten, und wenn sich später die Gelegenheit ergab, sie zu betrachten, so waren sie bestimmt von Blutergüssen ganz violett.

Sie drehte sich um. Das Mädchen war fort. Der Raum war leer. Nur diese flatternde Empfindung dauerte noch an. Die hatte sich sogar verstärkt. Plötzlich waren die Schmerzen in Hand und Handgelenk das Letzte, woran Rose dachte. Sie war nicht die Einzige, die auf der Drehscheibe woandershin gereist war, und da war es völlig schnuppe, dass ihre Augen da hinten in der realen Welt, wo sie auf ihrem Doppelbett lag, immer noch geschlossen waren.

Dieses verfluchte Balg war in einem anderen Raum voller Aktenschubladen.

In ihrem Raum. In ihrem Kopf.

Rose war nicht wie geplant zur Einbrecherin geworden, jemand hatte bei ihr eingebrochen.

(RAUS HIER RAUS HIER RAUS RAUS RAUS)

Das Flattern hörte nicht auf, es beschleunigte sich. Rose stieß ihre Panik weg, rang um Klarheit und Konzentration, fand ein klein wenig davon. Gerade genügend, die Drehscheibe wieder in Bewegung zu setzen, obwohl diese merkwürdig schwer geworden war.

(dreh dich Welt)

Sobald das geschah, spürte sie, wie das unerträgliche Flattern in ihrem Kopf zuerst nachließ und dann aufhörte, während das Mädchen dorthin zurückbefördert wurde, wo es hergekommen war.

Bloß ist es in Wirklichkeit nicht so gelaufen, und diese Sache ist viel zu ernst, als dass du dir den Luxus erlauben könntest, dich selber zu belügen. Du bist zu diesem Mädchen gegangen. Und direkt in eine Falle getappt. Weshalb? Weil du die Lage trotz allem, was du wusstest, unterschätzt hast.

Rose öffnete die Augen, setzte sich auf und stellte die Füße auf den Teppichboden. Dabei stieß sie an die leere Flasche und kickte sie weg. Das Sidewinder-T-Shirt, das sie sich übergestreift hatte, war feucht; sie stank nach Schweiß. Es war ein schweineartiger Geruch, völlig reizlos. Ungläubig betrachtete sie ihre Hand, die zerkratzt, blutunterlaufen und geschwollen war. Die Farbe ihrer Fingernägel verwandelte sich allmählich von Violett in Schwarz. Wahrscheinlich verlor sie mindestens zwei davon.

»Aber ich hab es nicht gewusst«, sagte sie. »Ich konnte es nicht wissen.« Der weinerliche Ton, den sie in ihrer Stimme hörte, war ihr abgrundtief zuwider. Das war die Stimme einer maulenden alten Frau. »Absolut nicht.«

Sie musste aus diesem verfluchten Wohnmobil raus. Es war zwar das größte und luxuriöseste auf der Welt, fühlte sich momentan jedoch so an, als wäre es nicht größer als ein Sarg. Rose taumelte zur Tür, wobei sie sich an den Möbeln festhielt, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Bevor sie hinausging, warf sie einen Blick auf die eingebaute Digitaluhr. Zehn vor zwei. Alles war innerhalb von lediglich zwanzig Minuten geschehen. Unglaublich.

Wie viel hat sie wohl herausbekommen, bevor ich mich von ihr befreit habe? Wie viel weiß sie?

Darauf war keine konkrete Antwort möglich, aber selbst ein geringes Wissen konnte gefährlich sein. Dieses Balg musste außer Gefecht gesetzt werden, und zwar bald.

Rose trat hinaus in das bleiche frühe Mondlicht und tat in der frischen Luft tiefe, beruhigende Atemzüge. Allmählich fühlte sie sich wieder besser, etwas selbstsicherer, aber diese flatternde Empfindung ließ sie nicht los. Dieses Gefühl, jemand in sich drin zu haben – und dann auch noch einen Tölpel! –, der in ihren privaten Dingen herumschnüffelte. Der Schmerz war schlimm gewesen und die Überraschung darüber, derart in die Falle gelockt worden zu sein, noch schlimmer, aber am allerschlimmsten waren die Demütigung und das Gefühl, missachtet worden zu sein. Man hatte sie bestohlen.

Dafür wirst du bezahlen, Prinzesschen. Du hast dich gerade mit dem falschen Miststück angelegt.

Eine Gestalt bewegte sich auf sie zu. Rose hatte sich auf die oberste Stufe ihres Wohnmobils gesetzt, erhob sich nun jedoch, angespannt und auf alles vorbereitet. Dann kam die Gestalt näher, und sie sah, dass es Crow war. Er trug lediglich eine Schlafanzughose und Pantoffeln.

»Rose, ich glaube, du solltest …« Er hielt inne. »Was ist denn da mit deiner Hand passiert?«

»Das geht dich einen Scheißdreck an«, zischte sie. »Was hast du hier um zwei Uhr in der Nacht eigentlich zu suchen? Vor allem, da du wusstest, dass ich beschäftigt bin?«

»Es geht um Grampa Flick«, sagte Crow. »Apron Annie sagt, er liegt im Sterben.«

Kapitel elf THOME 25

1

Statt nach Raumspray mit Fichtenduft und Zigarren Marke Alcazar roch Grampa Flicks Fleetwood-Wohnmobil an diesem Morgen nach Scheiße, Krankheit und Tod. Außerdem war es überfüllt. Mindestens ein Dutzend Mitglieder des Wahren Knotens hatten sich eingefunden. Einige hatten sich um das Bett des Alten versammelt, weitere saßen oder standen im Wohnbereich und tranken Kaffee. Die übrigen hielten sich draußen auf. Alle sahen fassungslos und beklommen drein. An den Tod waren die Wahren einfach nicht gewöhnt.

»Raus hier«, sagte Rose. »Crow und Nut – ihr bleibt da.«

»Seht ihn nur an«, sagte Petty the Chink mit zitternder Stimme. »Diese Flecke! Und er kreist wie irre, Rose! Ach, ist das schrecklich!«

»Nun geh schon«, sagte Rose sanft. Sie drückte Petty tröstend die Schulter, obwohl sie ihrem fetten Arsch am liebsten einen Tritt verpasst hätte, um ihn aus der Tür zu befördern. Petty war faul und geschwätzig, zu nichts anderem zu gebrauchen als dazu, Barrys Bett zu wärmen, und wahrscheinlich machte sie nicht einmal das besonders gut. Ihre Spezialität war wohl eher das Nörgeln. Wenn sie nicht gerade eine Höllenangst hatte jedenfalls.

»Auf geht’s, Leute«, sagte Crow. »Wenn er tatsächlich stirbt, braucht er das nicht mit Publikum zu tun.«

»Er wird es schaffen«, sagte Harpman Sam. »Grampa Flick ist zäher als ein altes Suppenhuhn.« Aber er legte den Arm um Baba the Red, die erschüttert wirkte, und zog sie einen Moment lang eng an sich.

Dann setzten sich alle in Bewegung. Manche warfen einen letzten Blick über die Schulter, bevor sie die Stufen hinuntergingen, um sich zu den anderen zu gesellen. Als sie nur noch zu dritt waren, trat Rose ans Bett.

Grampa Flick starrte zu ihr empor, ohne sie zu sehen. Seine Lippen hatten sich vom Zahnfleisch zurückgezogen. Große Büschel seiner dünnen weißen Haare waren ausgefallen und lagen auf dem Kopfkissen, was ihm das Aussehen eines an Staupe erkrankten Hundes verlieh. Die Augen waren riesig, feucht und von Schmerz erfüllt. Bis auf ein Paar Boxershorts war er nackt. Der dürre Körper war mit roten Flecken übersät, die wie Pickel oder Mückenstiche aussahen.

Rose wandte sich an Walnut und sagte: »Was zum Teufel ist das denn?«

»Koplik-Flecke«, sagte er. »Den Eindruck hab ich jedenfalls. Obwohl die normalerweise bloß im Mund zu sehen sind.«

»Drück dich klarer aus.«

Nut fuhr sich mit den Händen durch sein schütteres Haar. »Ich glaube, er hat die Masern.«

Rose schnappte entsetzt nach Luft, dann brach sie in bellendes Lachen aus. Sie hatte keine Lust, sich diesen Scheißdreck anzuhören; sie wollte Aspirin für ihre Hand, die bei jedem Herzschlag einen Schmerzimpuls aussandte. Bei dem Anblick musste sie an die Hände von Comicfiguren denken, wenn man sie mit dem Hammer bearbeitet hatte. »Wir fangen uns doch keine Tölpelkrankheiten ein!«

»Tja … früher haben wir das tatsächlich nie getan.«

Sie starrte ihn wütend an. Sie wollte ihren Hut, ohne den sie sich nackt fühlte, aber der war in ihrem EarthCruiser geblieben.

»Ich kann dir bloß sagen, was ich sehe«, sagte Nut. »Und das sind Masern.«

Eine Tölpelkrankheit. Unglaublich.

»Das ist doch einfach … Schwachsinn!«

Nut zuckte zusammen, was kein Wunder war. Sie hörte sich selbst in den eigenen Ohren schrill an, aber … ach, du lieber Himmel, Masern? Da starb das älteste Mitglied des Wahren Knotens an einer Kinderkrankheit, die selbst Kinder heute kaum noch bekamen?

»Dieser Junge mit dem Baseballhandschuh in Iowa hatte ein paar Flecke auf der Haut, aber ich hätte nie gedacht, wir könnten … weil es ja wirklich so ist, wie du sagst. Wir stecken uns nicht mit ihren Krankheiten an.«

»Das ist Jahre her!«

»Ich weiß. Nur kann ich mir vorstellen, dass die Keime im Steam von diesem Jungen waren und so irgendwie überwintert haben. Es gibt nämlich Krankheiten, die so was tun. Sie bleiben passiv, manchmal mehrere Jahre lang, bevor sie plötzlich ausbrechen.«

»Bei Tölpeln vielleicht!« Das wiederholte sie nun schon zum x-ten Mal.

Walnut schüttelte nur den Kopf.

»Wenn Gramps es hat, wieso haben wir es dann nicht alle? Bei Tölpeln verbreiten sich diese Kinderkrankheiten – Windpocken, Masern, Mumps – doch im Handumdrehen. Das ist einfach unlogisch.« Sie sah Crow Daddy an und widersprach sich sofort selbst. »Sag mal, was hast du dir eigentlich dabei gedacht, die anderen hier rumstehen und seine Luft atmen zu lassen?«

Crow zuckte bloß die Achseln, ohne den Blick von dem zitternden alten Mann auf dem Bett abzuwenden. Sein schmales, wohlgeformtes Gesicht wirkte nachdenklich.

»Alles verändert sich«, sagte Nut. »Bloß weil wir vor fünfzig oder hundert Jahren immun gegen Tölpelkrankheiten waren, heißt das noch lange nicht, dass wir es jetzt noch sind. Schließlich könnte das Teil eines natürlichen Vorgangs sein.«

»Willst du damit etwa sagen, an dem Zustand ist etwas Natürliches dran?« Sie deutete auf Grampa Flick.

»Ein Einzelfall ist noch keine Epidemie«, sagte Nut. »Und es könnte ja tatsächlich etwas anderes sein. Aber wenn es noch mal vorkommen sollte, müssen wir den Betroffenen unter strenge Quarantäne stellen.«

»Würde das was bringen?«

Er zögerte lange. »Ich weiß nicht recht. Vielleicht haben wir es alle. Vielleicht ist es wie ein gestellter Wecker oder wie Dynamit mit einem Zeitzünder. Laut neuesten wissenschaftlichen Theorien ist dies auch die Art, in der Tölpel altern. Sie leben vor sich hin, ohne dass sich groß was ändert, und dann schaltet sich etwas, was in ihren Genen steckt, plötzlich an. Schon tauchen Runzeln auf, und mit einem Mal brauchen sie einen Stock zum Gehen.«

Crow hatte währenddessen Grampa beobachtet. »Da geht er hinüber. Scheiße!«

Grampa Flicks Haut wurde milchig. Dann durchscheinend. Als sie allmählich vollständig transparent wurde, konnte Rose seine Leber, die verschrumpelten, grauschwarzen Säcke seiner Lunge und den pulsierenden, roten Knoten seines Herzens sehen. Sie konnte seine Venen und Arterien sehen wie die Highways und Schnellstraßen auf dem Navigationssystem im Fahrerhaus ihres Wohnmobils. Und die Sehnerven, die von den Augen zum Gehirn führten, sahen aus wie gespenstische Bindfäden.

Dann kehrte er zurück. Die Augen bewegten sich, richteten sich auf Rosie und hielten ihren Blick fest. Er griff nach ihrer unverletzten Hand. Ihr erster Impuls bestand darin, sie wegzuziehen – wenn er das hatte, was Nut meinte, dann war er ansteckend –, aber scheiß drauf. Wenn Nut recht hatte, waren sie dem ohnehin alle bereits ausgesetzt gewesen.

»Rose«, flüsterte er. »Lass mich nicht allein.«

»Tu ich bestimmt nicht.« Sie setzte sich aufs Bett und verschränkte ihre Finger mit seinen. »Crow?«

»Ja, Rose.«

»Das Päckchen, das du nach Sturbridge geschickt hast – das wird man dort doch eine Weile aufbewahren, oder?«

»Klar.«

»Na gut, dann bringen wir das hier erst zu Ende. Aber wir können es uns nicht leisten, zu lange zu warten. Dieses Mädchen ist wesentlich gefährlicher, als ich dachte.« Sie seufzte. »Wieso treten Probleme bloß immer im Rudel auf?«

»Das mit deiner Hand, hat sie das etwa irgendwie gemacht?«

Das war eine Frage, die Rose nicht beantworten wollte. »Ich werde nicht mitfahren können, weil die Kleine mich jetzt kennt.« Außerdem, dachte sie, ohne es zu sagen, wenn Walnut recht hat, braucht man mich hier, um Mutter Courage zu spielen. »Aber wir müssen sie uns schnappen. Das ist wichtiger denn je.«

»Weil?«

»Wenn sie die Masern schon hatte, dann ist sie wie alle Tölpel immun dagegen, sich ein zweites Mal anzustecken. Deshalb wäre ihr Steam womöglich in vieler Hinsicht nützlich.«

»Heutzutage werden Kinder doch gegen dieses ganze Zeugs geimpft«, sagte Crow.

Rose nickte. »Das könnte auch helfen.«

Grampa Flick begann wieder zu kreisen. Es war schwer, das mit anzusehen, aber Rose zwang sich dazu. Als sie die Organe des alten Kerls durch die pergamentartige Haut hindurch nicht mehr erkennen konnte, sah sie zu Crow hoch und hob ihre zerschrammte Hand.

»Außerdem … müssen wir ihr eine Lektion erteilen.«

2

Als Dan am Montag in seinem Turmzimmer aufwachte, waren die Namen und Nummern wieder von der Tafel gewischt und durch eine Nachricht von Abra ersetzt worden. Ganz oben sah er einen Smiley mit gebleckten Zähnen, der schadenfroh wirkte.

Sie ist gekommen! Ich war bereit und hab ihr wehgetan!

DAS HAB ICH WIRKLICH GESCHAFFT!!

Sie verdient es, also HURRA!!!

Ich muss mit dir sprechen, aber nicht so oder per Mail.

Selber Ort wie letztes Mal 15 Uhr

Dan ließ sich aufs Bett zurücksinken, bedeckte die Augen und suchte nach ihr. Als er sie fand, ging sie gerade mit drei Freundinnen zur Schule, was er gefährlich fand. Für die Freundinnen wie für Abra. Hoffentlich war Billy dort und hatte die drei im Blick. Und hoffentlich ging Billy diskret vor und wurde nicht von irgendeinem eifrigen Typen von der Nachbarschaftswache als verdächtig eingestuft und beobachtet.

(ich kann kommen John und ich fahren erst morgen los aber es muss schnell gehen und wir müssen vorsichtig sein)

(ja okay gut)

3

Dan saß wieder auf einer Bank vor der mit Efeu bewachsenen Stadtbücherei von Anniston, als Abra in ihren Schulklamotten auftauchte, einem roten Pulli und schicken, roten Sneakers. Ihren Rucksack hielt sie an einem Träger über der Schulter. Sie sah so aus, als wäre sie seit der letzten Begegnung ein ganzes Stück gewachsen.

Sie winkte. »Hi, Onkel Dan!«

»Hallo, Abra. Wie war’s in der Schule?«

»Super! Für mein Biologiereferat hab ich eine glatte Eins bekommen!«

»Setz dich mal her, und erzähl mir davon.«

Sie kam auf die Bank zu, so voller Anmut und Energie, dass sie fast zu tanzen schien. Wache Augen, gerötetes Gesicht: ein gesunder Teenager, bei dem alle Signale auf Grün standen. Alles an ihr drückte aus, dass sie startbereit war. Eigentlich kein Grund, ein mulmiges Gefühl zu haben, aber Dan hatte trotzdem eins. Eines war immerhin in bester Ordnung: Ein Stück weit entfernt stand ein unauffälliger Ford-Pick-up am Straßenrand. Am Steuer saß ein älterer Typ, der aus einem Pappbecher Kaffee schlürfte und eine Zeitschrift las. Jedenfalls sah es so aus, als würde er eine Zeitschrift lesen.

(Billy?)

Keine Antwort, aber der Typ blickte einen Moment von seiner Zeitschrift auf, und das genügte.

»Okay«, sagte Dan mit leiser Stimme. »Ich will genau wissen, was passiert ist.«

Abra erzählte ihm von der Falle, die sie aufgestellt hatte, und wie gut diese funktioniert hatte. Dan lauschte mit Erstaunen, Bewunderung … und einem zunehmend mulmigen Gefühl. Abras Vertrauen in ihre Fähigkeiten bereitete ihm Sorgen. Es war ein kindliches Vertrauen, und die Leute, mit denen sie es zu tun hatte, waren alles andere als Kinder.

»Ich hab dir eigentlich bloß gesagt, du sollst einen Alarm einrichten«, sagte er, als sie fertig war.

»Das war besser. Ich weiß nicht, ob die Attacke so gut geklappt hätte, wenn ich mich nicht als Daenerys aus Game of Thrones verkleidet hätte. Weil sie den Baseballjungen und viele andere getötet hat. Und auch, weil …« Zum ersten Mal kam ihr Lächeln etwas ins Wanken. Während sie ihre Geschichte erzählt hatte, hatte Dan gesehen, wie sie mit achtzehn aussehen würde. Nun sah sie so aus, wie sie mit neun ausgesehen hatte.

»Weil was?«

»Sie ist kein richtiger Mensch. Das ist keiner von denen. Vielleicht waren sie es einmal, aber jetzt sind sie es nicht mehr.« Sie straffte die Schultern und warf ihre Haare zurück. »Aber ich bin stärker. Das hat sie auch gemerkt.«

(ich dachte sie hat dich weggeschoben)

Sie sah ihn mit finsterer Miene an, verärgert, wischte sich über den Mund, ertappte sich dabei und legte die Hand wieder in den Schoß. Dort ergriff sie sie fest mit der anderen, um sie stillzuhalten. Diese Geste kam ihm irgendwie vertraut vor, aber das war nicht weiter verwunderlich. Er hatte sie schon einmal gesehen. Jetzt musste er sich aber um wichtigere Dinge kümmern.

(das nächste Mal bin ich bereit falls es überhaupt ein nächstes Mal gibt)

Das mochte stimmen. Aber wenn es ein nächstes Mal gab, dann würde die Frau mit dem Hut ebenfalls bereit sein.

(ich will bloß dass du vorsichtig bist)

»Das bin ich. Bestimmt.« Das hätten natürlich alle Kinder gesagt, um die Erwachsenen, mit denen sie zu tun hatten, zu beruhigen, aber Dan fühlte sich trotzdem besser. Ein wenig jedenfalls. Außerdem war da noch Billy in seinem F-150 mit ausgebleichtem rotem Lack.

Abras Augen tanzten wieder. »Ich hab unheimlich viel herausgekriegt. Deshalb mussten wir uns ja treffen.«

»Und was genau?«

»Nicht, wo sie ist, so weit bin ich nicht gekommen, aber ich hab rausgekriegt … also, als sie in meinem Kopf war, da war ich auch in ihrem. Also, wie wenn man die Kleider tauscht. Ihr Kopf war voller Schubladen, als wäre er das größte Archiv auf der Welt, aber wahrscheinlich hab ich das nur so gesehen, weil sie dasselbe gesehen hat. Wenn sie in meinem Kopf Bildschirme gesehen hätte, dann hätte ich in ihrem vielleicht auch welche gesehen.«

»In wie viele von ihren Schubladen hast du geschaut?«

»In drei. Vielleicht waren es auch vier. Diese Typen nennen sich der Wahre Knoten. Die meisten sind alt, und sie sind wirklich wie Vampire. Sie suchen nach Kindern, die wie ich sind. Und wie du wohl auch eins warst. Bloß dass sie kein Blut trinken, sie atmen das Zeug ein, das austritt, wenn diese speziellen Kinder sterben.« Sie schüttelte sich vor Abscheu. »Je mehr sie denen vorher wehtun, umso stärker ist dieses Zeug. Sie nennen es Steam.«

»Es ist rot, stimmt’s? Rot oder dunkelrosa?«

Da war er sich sicher, aber Abra runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. »Nein, weiß. Eine helle weiße Wolke. Da ist nichts Rotes dran. Und jetzt pass auf: Sie können es sogar aufbewahren! Das, was sie nicht verbrauchen, tun sie in diese metallenen Trinkflaschen. Aber sie haben nie genug davon. Wie in der Sendung über Haie, die ich mal gesehen habe. Da hat man gezeigt, dass die immer unterwegs sind, weil sie nie genug zu fressen haben. Ich glaube, der Wahre Knoten ist genauso.« Sie verzog das Gesicht. »Die sind böse, ganz bestimmt.«

Weißes Zeug. Nicht rot, sondern weiß. Es musste trotzdem das sein, was die alte Krankenschwester als letzten Hauch bezeichnete, nur in anderer Form. Weil es von gesunden, jungen Menschen stammte statt von alten, die an fast allen Krankheiten starben, von denen ihr Körper befallen werden konnte? Weil sie spezielle Kinder waren, wie Abra es nannte? Oder wegen beidem?

Sie nickte. »Wahrscheinlich beides.«

»Okay. Aber am wichtigsten ist, was die über dich wissen. Was diese Frau weiß.«

»Sie fürchten sich ein bisschen davor, dass ich jemand von ihnen erzählen könnte. Viel Angst haben sie aber nicht.«

»Weil du noch ein Kind bist, und Kindern glaubt man eben nicht.«

»Genau.« Sie blies ihren Pony aus der Stirn. »Momo würde mir schon glauben, aber die wird bald sterben. Sie kommt in dein Hotspitz, Dan. Hospiz, meine ich. Du wirst ihr helfen, oder? Also, wenn du gerade nicht in Iowa bist, ja?«

»So gut ich kann. Abra – kommen sie dich holen?«

»Vielleicht, aber wenn sie es tun, dann nicht wegen dem, was ich weiß, sondern wegen dem, was ich bin.« Jetzt, da sie ihrer Lage direkt ins Auge blickte, war ihre Fröhlichkeit wie weggeblasen. Sie rieb sich wieder den Mund, und als sie die Hand sinken ließ, waren ihre Lippen zu einem wütenden Lächeln geöffnet. Das Mädchen hat ja ganz schön Temperament, dachte Dan. Damit konnte er sich identifizieren. Er hatte selber viel Temperament. Das hatte ihn mehr als einmal in Verlegenheit gebracht.

»Sie wird allerdings nicht kommen. Dieses Miststück. Sie weiß, dass ich sie jetzt kenne und spüre, wenn sie in meine Nähe kommt, weil wir jetzt irgendwie verbunden sind. Aber es gibt genügend andere. Wenn sie mich holen kommen, werden sie allen wehtun, die sich ihnen in den Weg stellen.«

Abra nahm seine Hände in ihre und drückte sie fest. Dan fand das gefährlich, aber er forderte sie trotzdem nicht auf, es bleiben zu lassen. Sie musste jetzt jemand berühren, dem sie vertraute.

»Wir müssen sie aufhalten, damit sie meinem Daddy und meiner Mama nicht wehtun können. Oder einer von meinen Freundinnen. Und damit sie nicht noch mehr Kinder umbringen.«

Einen Moment lang fing Dan aus ihren Gedanken ein klares Bild auf. Sie hatte es ihm nicht gesandt; es rückte einfach in den Vordergrund. Es war eine Collage aus Fotos. Kinder, Dutzende, unter der Überschrift HABEN SIE MICH GESEHEN? Abra fragte sich offenbar, wie viele davon wohl vom Wahren Knoten gekidnappt und wegen ihrem letzten, speziellen Atemhauch – der obszönen Delikatesse, von der dieser Haufen lebte – ermordet und irgendwo verscharrt worden waren.

»Du musst diesen Baseballhandschuh holen. Wenn ich ihn habe, kann ich rauskriegen, wo Barry the Chunk steckt. Das weiß ich ganz genau. Und die Übrigen werden da sein, wo er ist. Wenn du sie nicht töten kannst, dann kannst du sie wenigstens bei der Polizei anzeigen. Hol mir diesen Handschuh, Dan, bitte

»Wenn er da ist, wo du sagst, dann werden wir ihn holen. Aber bis dahin, Abra, musst du gut auf dich aufpassen.«

»Das werde ich, aber ich glaube nicht, dass sie noch mal probiert, sich in meinen Kopf zu schleichen.« Abras Lächeln kam wieder zum Vorschein. Darin sah Dan die kompromisslose Kriegerin, die sie im Schlaf gespielt hatte – Daenerys, oder wie sie auch immer hieß. »Wenn sie es doch tut, wird sie es bereuen.«

Dan beschloss, die Sache nicht zu kommentieren. Sie saßen nun schon so lange auf dieser Bank, wie er es für akzeptabel hielt. Eigentlich schon länger. »Inzwischen hab ich mein eigenes Alarmsystem für dich eingerichtet. Wenn du in mich hineinschauen würdest, dann könntest du wahrscheinlich rausfinden, was es ist, aber ich will nicht, dass du das tust. Falls jemand von diesem Knoten versucht, in deinem Kopf herumzuschnüffeln – nicht die Frau mit dem Hut, sondern jemand andres –, dann kann er nicht herausfinden, was du nicht weißt.«

»Oh. Okay.« Er sah, wie sie dachte, dass jemand anderes, der das versuchte, es ebenfalls bereuen würde, und das verstärkte sein mulmiges Gefühl.

»Also … wenn du in Schwierigkeiten kommst, ruf einfach mit aller Kraft Billy. Kapiert?«

(ja so wie du einmal nach deinem Freund Dick gerufen hast)

Er zuckte leicht zusammen. Abra grinste. »Ich hab nicht gelinst, es war einfach da.«

»Schon klar. Jetzt sag mir noch eines, bevor du gehst.«

»Was denn?«

»Hast du für dein Bioreferat wirklich eine Eins bekommen?«

4

Um Viertel vor acht an diesem Montagabend hörte Rose in ihrem Funkgerät ein doppeltes Knacken. Es war Crow. »Komm rüber«, sagte er. »Es ist so weit.«

Die Wahren hatten um Grampas Wohnmobil herum einen schweigenden Kreis gebildet. Rose (die nun ihren Hut in dem der Schwerkraft trotzenden schrägen Winkel trug) drängte sich hindurch, wobei sie kurz stehen blieb, um Andi zu umarmen. Dann stieg sie die Stufen hoch, klopfte einmal und öffnete selber die Tür. Da stand Nut mit Big Mo und Apron Annie, die sich widerstrebend als Grampas Pflegerinnen betätigt hatten. Crow saß am Fußende des Bettes. Als Rose hereinkam, erhob er sich. An diesem Abend sah man ihm sein Alter an. Sein Mund war von Fältchen umgeben, und in seiner schwarzen Haartracht traten ein paar weiße Strähnen hervor.

Wir müssen Steam einnehmen, dachte Rose. Und wenn das hier vorüber ist, werden wir es auch tun.

Grampa Flick kreiste inzwischen rapide; die Haut war zuerst transparent, dann undurchsichtig, dann wieder transparent. Aber jede neue Transparenz dauerte länger, und es verschwand immer mehr von ihm. Er wusste, was mit ihm geschah, das sah Rose deutlich. Die Augen waren weit geöffnet und voller Angst; der Körper wand sich im Schmerz der Veränderungen, die er durchmachte. Rose hatte sich immer dazu verführen lassen, auf einer tiefen Ebene ihres Bewusstseins an die Unsterblichkeit des Wahren Knotens zu glauben. Ja, alle fünfzig bis hundert Jahre starb jemand – wie Hands-off-Hans, dieser große, trottelige Holländer, den nicht lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Arkansas eine vom Sturm heruntergerissene Überlandleitung getötet hatte, oder Katie Patches, die ertrunken war, oder Tommy the Truck – aber das waren Ausnahmen. Wer auf diese Weise zu Fall kam, der stürzte normalerweise über die eigene Fahrlässigkeit. Das hatte Rose jedenfalls bisher immer geglaubt. Nun erkannte sie, dass sie so dämlich gewesen war wie ein Tölpelkind, das unbedingt an den Weihnachtsmann und den Osterhasen glauben wollte.

Grampa kreiste wieder zurück, stöhnend und weinend und zitternd. »Mach, dass es aufhört, Rosie, lass es aufhören. Es tut so weh …«

Bevor sie etwas erwidern konnte – und was hätte sie wohl schon sagen können? –, verblasste er wieder, bis nichts mehr von ihm übrig war als die Umrisse von Knochen und die starren, schwebenden Augen. Die waren am schlimmsten.

Rose versuchte, gedanklich Kontakt zu ihm aufzunehmen, um ihn so zu trösten, aber da war nichts, woran sie sich hätte festhalten können. Wo Grampa Flick immer gewesen war – oft mürrisch, manchmal liebenswürdig –, befand sich jetzt nur noch ein tobender Sturm aus zerbrochenen Bildern. Erschüttert zog Rose sich aus ihm zurück. Das kann doch nicht wahr sein, dachte sie.

»Vielleicht sollten wir ihn von seinem Elend erlösen«, sagte Big Mo. Sie grub die Fingernägel in Annies Unterarm, was Annie gar nicht zu spüren schien. »Ihm eine Spritze geben oder so. Du hast doch was in deiner Tasche, Nut, oder? Du musst es tun.«

»Was würde das nützen?« Walnuts Stimme klang heiser. »Vorher wäre das vielleicht sinnvoll gewesen, aber jetzt geht es zu schnell. Er hat keinen Organismus mehr, in dem eine Droge zirkulieren könnte. Wenn ich ihm eine Spritze in den Arm gebe, tropft der Inhalt fünf Sekunden später aufs Bett. Am besten, wir lassen es einfach geschehen. Es wird nicht mehr lange dauern.«

Das tat es auch nicht. Rose zählte vier weitere volle Zyklen. Beim fünften verschwanden sogar die Knochen. Einen Moment lang blieben die Augäpfel noch erhalten; sie starrten erst Rose an und drehten sich dann, um Crow Daddy anzublicken. Sie schwebten über dem Kissen, auf dem immer noch die Kuhle vom Gewicht des Kopfs zu sehen war, dazu Flecke von seinem Haarwasser Marke Wildroot Cream Oil, von dem er allem Anschein nach einen unerschöpflichen Vorrat besaß. Laut Greedy G hatte er es, wie Rose sich zu erinnern glaubte, immer auf eBay gekauft. Auf eBay, in drei Teufels Namen!

Dann verschwanden langsam auch die Augen. Nur dass sie natürlich nicht richtig verschwunden waren; Rose wusste, sie würde sie später in der Nacht in ihren Träumen sehen. So wie die anderen, die an Grampa Flicks Totenbett standen. Falls sie überhaupt einschlafen konnten.

Sie warteten, weil keiner von ihnen vollständig davon überzeugt war, dass der Alte nicht wieder wie der Geist von Hamlets Vater oder Jacob Marley vor ihnen auftauchen würde, aber da waren nur die von seinem verschwundenen Kopf hinterlassene Kuhle, die Flecke seines Haarwassers und die leeren, mit Pisse und Scheiße verdreckten Boxershorts, die er getragen hatte.

Mo brach in ein wildes Schluchzen aus und vergrub den Kopf zwischen Apron Annies üppigen Brüsten. Das hörten die draußen Wartenden, und jemand (Rose erfuhr nie, wer) begann zu sprechen. Jemand andres stimmte ein, dann jemand drittes und viertes. Bald rezitierten alle unter den Sternen die alten Worte, und Rose spürte, wie ihr ein jähes Frösteln den Rücken hinaufzuckte. Sie griff nach Crows Hand und drückte sie.

Annie stimmte mit ein. Als Nächste Mo, mit gedämpfter Stimme. Nut. Dann Crow. Rose the Hat holte tief Luft und fügte ihre Stimme zum Chor hinzu.

Lodsam hanti, wir sind die Auserwählten.

Cahanna risone hanti, wir sind die Glückseligen.

Sabbatha hanti, sabbatha hanti, sabbatha hanti.

Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort.

5

Später kam Crow zu ihr in den EarthCruiser. »Du fährst nicht mit nach Osten, stimmt’s?«

»Nein. Du übernimmst die Leitung.«

»Was tun wir jetzt?«

»Um ihn trauern natürlich. Leider können wir ihm nur zwei Tage gönnen.«

Der traditionelle Zeitraum war sieben Tage: kein Vögeln, kein leeres Geschwätz, kein Steam. Nur Meditation. Dann ein Abschiedskreis, bei dem alle einzeln vortraten, eine Erinnerung an Grampa Jonas Flick vortrugen und einen Gegenstand spendeten, den sie von ihm erhalten hatten oder mit ihm in Verbindung brachten (Rose hatte ihren schon ausgewählt, einen Ring mit keltischem Muster, den Grampa ihr geschenkt hatte, als dieser Teil Amerikas noch Indianerland gewesen und sie als Irish Rose bekannt gewesen war). Wenn ein Mitglied der Wahren starb, gab es nie eine Leiche, weshalb solche Erinnerungsgegenstände diesen Zweck erfüllen mussten. Sie wurden in weißes Leinen gewickelt und begraben.

»Wann fährt mein Team dann ab? Am Mittwochabend oder am Donnerstagmorgen?«

»Mittwochabend.« Rose wollte das Mädchen so rasch wie möglich haben. »Fahrt ohne Aufenthalt durch. Und du bist dir sicher, dass sie das Betäubungsmittel in Sturbridge aufbewahren werden?«

»Ja. Da kannst du ganz beruhigt sein.«

Das werde ich erst sein, wenn ich sehe, wie dieses kleine Miststück vor meinen Augen liegt, bis zum Anschlag unter Drogen, mit Handschellen gefesselt und voller Steam.

»Wen nimmst du mit? Zähl alle auf.«

»Mich, Nut, Jimmy Numbers, wenn du den entbehren kannst …«

»Den kann ich entbehren. Wen noch?«

»Snakebite Andi. Wenn wir jemand schlafen legen müssen, kann sie das tun. Und Chink. Den auf jeden Fall. Er ist der beste Finder, den wir haben, nachdem Grampa hinüber ist. Abgesehen von dir natürlich.«

»Klar, nimm ihn mit, aber um dieses Mädchen aufzuspüren, wirst du keinen Finder brauchen«, sagte Rose. »Das wird kein Problem sein. Außerdem reicht ein Fahrzeug aus. Nehmt den Winnebago von Steamhead Steve.«

»Mit dem hab ich schon darüber gesprochen.«

Sie nickte zufrieden. »Noch etwas. In Sidewinder gibt es einen kleinen Laden namens District X.«

Crow hob die Augenbrauen und grinste. »Der Pornopalast mit der aufblasbaren Puppe in Krankenschwesternuniform im Schaufenster?«

»Du kennst ihn, wie ich sehe«, sagte Rose trocken. »Jetzt hör mir mal zu, Daddy.«

Crow spitzte die Ohren.

6

Am Dienstagmorgen, als gerade die Sonne aufging, starteten Dan und John Dalton am Logan Airport. In Memphis stiegen sie um und landeten um elf Uhr fünfzehn Ortszeit in Des Moines, an einem Tag, der ihnen eher wie Mitte Juli als wie Ende September vorkam.

Den ersten Teil des Flugs von Boston nach Memphis verbrachte Dan damit, sich schlafend zu stellen, damit er nicht mit den Zweifeln und Bedenken umgehen musste, die er wie Unkraut in Johns Gedanken wuchern spürte. Irgendwo über Upstate New York schlief er dann wirklich ein. Zwischen Memphis und Des Moines schlief John, weshalb das kein Problem darstellte. Und sobald sie tatsächlich in Iowa waren und in einem völlig unauffälligen Ford Focus von Hertz auf die Stadt Freeman zufuhren, spürte Dan, dass John seine Zweifel überwunden hatte. Vorläufig zumindest. An ihre Stelle waren Neugier und eine bange Erregung getreten.

»Zwei Jungs auf Schatzsuche«, sagte Dan. Er hatte länger geschlafen, weshalb er am Lenkrad saß. An beiden Seiten strömten hohe Maisfelder, zu dieser Jahreszeit eher gelb als grün, an ihnen vorüber.

John fuhr leicht zusammen. »Hä?«

Dan grinste. »Hast du das nicht gerade gedacht? Dass wir wie Jungs auf einer Schatzsuche sind?«

»Verdammt, du bist mir ziemlich unheimlich, Daniel.«

»Kann ich mir denken. Ich hab mich daran gewöhnt.« Was nicht ganz stimmte.

»Wann hast du eigentlich bemerkt, dass du Gedanken lesen kannst?«

»Es ist nicht nur Gedankenlesen. Shining ist eine ausgesprochen vielfältige Gabe. Falls es sich wirklich um eine Gabe handelt. Manchmal – oft sogar – kommt es mir eher wie ein hässliches Muttermal vor. Ich bin mir sicher, dass Abra das auch sagen würde. Und wann ich es entdeckt habe … das habe ich nie. Ich hatte es einfach immer. Es gehört sozusagen zu meiner Grundausstattung.«

»Du hast gesoffen, um es auszulöschen, nehme ich an.«

Ein fettes Waldmurmeltier zockelte mit furchtloser Gemütlichkeit über die Route 150. Dan machte einen Bogen, um ihm auszuweichen, und das Murmeltier verschwand im Maisfeld, immer noch ohne jede Eile. Es war hübsch hier draußen; der Himmel sah aus, als wäre er tausend Meilen weit, und keinerlei Berg in Sicht. New Hampshire war okay, und Dan hatte es inzwischen als Zuhause akzeptiert, aber er würde sich im flachen Land wohl immer behaglicher fühlen. Sicherer.

»Das müsstest du eigentlich besser wissen, Johnny. Wieso trinkt ein Alkoholiker?«

»Weil er ein Alkoholiker ist?«

»Genau. So simpel wie nur was. Wenn man das psychologische Geschwätz beiseitelässt, bleibt nur die nackte Wahrheit. Wir haben gesoffen, weil wir Säufer sind.«

John musste lachen. »Da hat Casey K. dich aber ganz schön indoktriniert.«

»Gut, da ist auch noch die Sache mit der Vererbung«, sagte Dan. »Casey spielt das zwar immer runter, aber das ändert nichts an den Fakten. Hat dein Vater getrunken?«

»Der und meine liebe Mutter ebenfalls. Mit den beiden allein hätten die im neunzehnten Loch im Country Club schon genug Geschäft gemacht. Ich erinnere mich noch, wie meine Mutter einmal ihr Tenniskleid ausgezogen hat, um zu uns Kindern in den Pool zu hüpfen. Die Männer haben Beifall geklatscht. Mein Vater fand es zum Totlachen. Ich weniger. Ich war neun, und bis ich ans College kam, war ich der Junge mit der Striptease-Mami. Wie war es bei dir?«

»Meine Mutter konnte was trinken oder drauf verzichten. Manchmal hat sie sich selbst Zwei-Bier-Wendy genannt. Mein Dad dagegen … ein Glas Wein oder eine Dose Budweiser, und er war nicht mehr zu halten.« Dan warf einen Blick auf den Tacho und sah, dass sie noch vierzig Meilen zu fahren hatten. »Willst du eine Geschichte hören? Eine, die ich noch nie jemand erzählt habe? Aber ich warne dich, die ist ganz schön merkwürdig. Wenn du meinst, meine spezielle Gabe hätte nur mit so banalem Zeug wie Telepathie zu tun, dann irrst du dich gewaltig.« Er hielt inne. »Es gibt andere Welten außer dieser hier.«

»Und du hast diese anderen Welten … äh … gesehen?« Dan hatte den Kontakt zu Johns Gedanken verloren, aber der sah plötzlich etwas nervös aus. Als dächte er, sein Nebenmann könnte plötzlich die Hand ins Hemd schieben und sich zur Reinkarnation von Napoleon Bonaparte erklären.

»Nein, nur ein paar von den Leuten, die dort leben. Abra nennt sie die Geisterleute. Willst du die Geschichte nun hören oder nicht?«

»Ich weiß nicht recht, ob ich es will, aber es ist vielleicht ganz nützlich.«

Dan wusste nicht, wie viel dieser brave Kinderarzt glauben würde, wenn er von dem Winter erzählte, den er und seine Eltern im Hotel Overlook verbracht hatten, aber das war ihm ziemlich egal. Die Geschichte in diesem unscheinbaren Wagen unter diesem hellen westlichen Himmel zu erzählen würde ihm guttun. Es gab eine Person, die alles geglaubt hätte, aber Abra war zu jung, und die Geschichte war zu schaurig. Daher musste er sich mit John Dalton begnügen. Aber wie sollte er anfangen? Am besten wohl mit Jack Torrance. Einem zutiefst unglücklichen Menschen, der als Lehrer, Schriftsteller und Ehemann gescheitert war. Wie nannte man im Baseball drei Strikeouts hintereinander? Den Goldenen Sombrero? Dans Vater hatte nur einen beachtenswerten Erfolg gehabt: Als endlich der Moment kam, zu dem ihn das Overlook seit seinem ersten Tag im Hotel hinbugsiert hatte, da hatte er sich geweigert, seinen kleinen Sohn zu ermorden. Wenn es eine passende Grabschrift für ihn gab, dann wäre die …

»Dan?«

»Mein Vater hat sich bemüht«, sagte er. »Das ist das Beste, was ich über ihn sagen kann. Die bösartigsten Geister seines Lebens kamen in Flaschen. Hätte er es mit dem AA-Programm versucht, wäre es möglicherweise ganz anders gelaufen. Aber das hat er nicht. Meine Mutter wusste wahrscheinlich gar nicht, dass so etwas existiert, sonst hätte sie ihm wohl vorgeschlagen, es auszuprobieren. Als wir zum Hotel Overlook gefahren sind, wo ein Bekannter ihm über den Winter einen Hausmeisterjob verschafft hatte, war er das Musterbeispiel eines trockenen Alkoholikers.«

»Und in diesem Hotel waren die Geister?«

»Ja. Ich hab sie gesehen. Mein Vater nicht, aber er hat sie gespürt. Vielleicht hatte er sein eigenes Shining. Wahrscheinlich sogar. Schließlich ist vieles vererblich, nicht nur die Neigung zum Alkoholismus. Und sie haben ihm zugesetzt. Er dachte, sie – die Geisterleute – wären hinter ihm her, aber das war nur eine Lüge. Was sie wirklich wollten, war der kleine Junge mit der starken Kraft. So wie diese Typen, die sich der Wahre Knoten nennen, Abra wollen.«

Er schwieg, weil ihm einfiel, was Dick durch den toten Mund von Eleanor Ouellette geantwortet hatte, als Dan gefragt hatte, wo diese leeren Teufel seien: In deiner Kindheit, woher jeder Teufel kommt.

»Dan? Was ist denn?«

»Nichts«, sagte Dan. »Jedenfalls wusste ich, dass irgendwas in diesem verfluchten Hotel nicht stimmt, schon bevor ich durch die Tür getreten bin. Ich wusste es, als wir drei noch in Boulder wohnten, wo wir mehr oder weniger von der Hand in den Mund gelebt haben. Aber mein Vater brauchte einen Job, damit er das Theaterstück vollenden konnte, an dem er arbeitete …«

7

Als sie Adair erreichten, erzählte er John gerade, wie der Heizkessel des Overlooks explodiert und das alte Hotel mitten in einem heftigen Schneesturm niedergebrannt war. Adair war ein echtes Kaff, aber es gab ein Holiday Inn Express, und Dan merkte sich dessen Standort.

»Dort werden wir in ein paar Stunden einchecken«, sagte er zu John. »Am helllichten Tag können wir nicht auf Schatzsuche gehen, außerdem brauche ich dringend Schlaf. Hatte in letzter Zeit nicht viel.«

»Hast du das tatsächlich alles erlebt?«, fragte John mit gedrückter Stimme.

»Tatsächlich, ja.« Dan lächelte. »Meinst du, du kannst mir glauben?«

»Wenn wir den Baseballhandschuh an dem Ort finden, den Abra dir genannt hat, dann werde ich eine Menge glauben müssen. Wieso hast du mir das alles eigentlich erzählt?«

»Weil ein Teil von dir trotz allem, was du über Abra weißt, es für verrückt hält, dass wir hier sind. Und weil du wissen solltest, dass es gewisse … Kräfte gibt. Ich bin denen schon begegnet, du aber nicht. Du hast nur ein Mädchen gesehen, das allerhand paranormale Taschenspielertricks beherrscht, wie zum Beispiel Löffel an die Decke zu hängen. In Wirklichkeit sind wir allerdings nicht zwei Jungs auf Schatzsuche, John. Wenn der Wahre Knoten herausfindet, was wir vorhaben, werden wir genauso zur Zielscheibe wie Abra Stone. Falls du also beschließen solltest auszusteigen, werde ich gern das Kreuz vor dir schlagen und Geh mit Gott sagen.«

»Und dann würdest du allein weitermachen.«

Dan grinste ihn an. »Na ja … da wäre noch Billy.«

»Billy ist mindestens dreiundsiebzig.«

»Er würde sagen, dass das von Vorteil ist. Billy erzählt den Leuten gern, das Gute am Alter sei, dass man sich keine Sorgen mehr darum machen müsse, jung zu sterben.«

John deutete auf ein Schild. »Die Stadtgrenze von Freeman.« Er schenkte Dan ein kurzes, schmallippiges Lächeln. »Ich kann immer noch nicht richtig glauben, dass ich hier bin. Was machen wir eigentlich, wenn diese Ethanolfabrik nicht mehr da ist? Wenn man sie seit der Aufnahme von Google Earth abgerissen hat, um dort Mais zu pflanzen?«

»Die ist noch da«, sagte Dan.

8

Und das war sie auch: eine Reihe rußgrauer Betonkästen mit rostigen Wellblechdächern. Ein Schornstein stand noch, zwei weitere waren umgestürzt und lagen wie zerbrochene Schlangen auf dem Boden. Die Fenster waren zertrümmert, die Wände mit plumpen Graffiti bedeckt, über die jeder Großstadtsprayer sich totgelacht hätte. Von der zweispurigen Landstraße bog eine mit Schlaglöchern übersäte Zufahrt ab. Sie führte zu einem Parkplatz, auf dem verirrte Maisstängel gewachsen waren. Der Wasserturm, den Abra gesehen hatte, stand in der Nähe; er reckte sich in den Horizont wie eine von H. G. Wells erfundene marsianische Kampfmaschine. Auf seiner Seite stand FREEMAN, IOWA. Auch der Schuppen mit dem eingestürzten Dach war vorhanden.

»Na, zufrieden?«, sagte Dan. Sie fuhren nur noch im Schritttempo die Landstraße entlang. »Fabrik, Wasserturm, Schuppen, Betreten-verboten-Schild. Alles genau so, wie Abra es beschrieben hat.«

John deutete auf das rostige Tor am Ende der Zufahrt. »Was ist, wenn das abgeschlossen ist? Ich bin seit meiner Schulzeit nicht mehr über einen Maschendrahtzaun geklettert.«

»Es war nicht abgeschlossen, als die Mörder diesen Jungen hierhergebracht haben, sonst hätte Abra das gesagt.«

»Bist du dir da sicher?«

Ein Pick-up kam ihnen entgegen. Dan beschleunigte ein wenig und hob grüßend die Hand. Der Mann hinter dem Lenkrad – grüne John-Deere-Mütze, Sonnenbrille, Latzhose – erwiderte den Gruß, warf den beiden aber kaum einen Blick zu. Gut so.

»Ich hab gefragt, ob …«

»Ich weiß, was du gefragt hast«, sagte Dan. »Wenn das Tor abgeschlossen ist, werden wir damit fertig. Irgendwie. Und jetzt fahren wir zu diesem Motel zurück und nehmen uns Zimmer. Ich bin total erledigt.«

9

Während John im Holiday Inn benachbarte Zimmer besorgte, wobei er bar bezahlte, suchte Dan die örtliche Eisenwarenhandlung auf. Er kaufte einen Spaten, einen Rechen, zwei Hacken, eine Pflanzkelle, zwei Paar Gartenhandschuhe und eine Nylontasche für seine Neuerwerbungen. Das einzige Werkzeug, das er wirklich haben wollte, war der Spaten, aber es kam ihm sicherer vor, ein ganzes Sortiment zu erwerben.

»Was führt Sie nach Adair, wenn ich fragen darf?«, fragte der Kassierer, als er die Sachen eintippte.

»Bin nur auf der Durchreise. Meine Schwester wohnt in Des Moines, und die hat einen ziemlich großen Garten. Wahrscheinlich hat sie das meiste von dem Zeug da schon, aber Geschenke scheinen ihre Gastfreundschaft zu fördern.«

»Das kenne ich nur zu gut. Und für diese kurzstielige Hacke wird sie Ihnen richtig dankbar sein. Die ist echt praktisch, und den meisten Amateurgärtnern fällt nie ein, sich eine zu besorgen. Wir nehmen Mastercard, Visa …«

»Ach, ich zahle lieber bar«, sagte Dan und zückte sein Portemonnaie. »Aber geben Sie mir eine Quittung für die Steuer.«

»Mit Vergnügen. Und wenn Sie mir Ihren Namen und Ihre Anschrift geben – oder die von Ihrer Schwester –, dann schicken wir Ihnen unseren Katalog.«

»Wissen Sie was, darauf möchte ich heute lieber verzichten«, sagte Dan und legte einen kleinen Fächer aus Zwanzigern auf die Theke.

10

Um elf Uhr nachts klopfte es leise an Dans Tür. Er öffnete und ließ John herein. Abras Kinderarzt war ziemlich bleich und wirkte überdreht. »Konntest du schlafen?«

»Ein bisschen«, sagte Dan. »Und du?«

»Mehr oder weniger. Eher weniger. Ich bin tierisch nervös. Wenn uns die Polizei anhält, was sagen wir dann?«

»Dass wir gehört haben, in Freeman gibt’s ’ne Disco, und nach der suchen wir gerade.«

»In Freeman gibt es nichts als Mais. Etwa fünf Milliarden Hektar.«

»Das wissen Leute wie wir aber nicht«, sagte Dan sanft. »Wir sind auf der Durchreise. Außerdem hält uns die Polizei nicht an. Es wird uns nicht mal jemand bemerken. Aber wenn du lieber hierbleibst …«

»Ich bin doch nicht durchs halbe Land gereist, um in einem Motel zu hocken und mir Jay Leno anzuschauen. Lass mich vorher bloß noch auf die Toilette gehen. Ich war zwar gerade erst auf der in meinem Zimmer, aber jetzt muss ich schon wieder. Mensch, bin ich nervös!«

Die Fahrt nach Freeman kam Dan sehr lang vor, aber sobald sie Adair hinter sich gelassen hatten, begegneten sie keinem einzigen Auto. Farmer gingen früh zu Bett, und der Fernverkehr kam hier nicht durch.

Als sie die Ethanolfabrik erreichten, löschte Dan die Scheinwerfer, bog auf die Zufahrt ein und rollte langsam zu dem geschlossenen Tor. Die beiden Männer stiegen aus. John fluchte, als die Innenbeleuchtung des Fords anging. »Ich hätte das Ding ausschalten sollen, bevor wir abgefahren sind. Oder die Birne zerschmettern, falls kein Schalter da ist.«

»Nur die Ruhe«, sagte Dan. »Außer uns ist hier keine Menschenseele weit und breit.« Trotzdem hämmerte ihm das Herz in der Brust, als sie zum Tor gingen. Wenn Abra recht hatte, dann war hier ein Junge ermordet und verscharrt worden, nachdem man ihn brutal gefoltert hatte. Wenn es irgendwo auf der Welt einen Ort gab, an dem es spukte …

John versuchte, das Tor zu öffnen, und als es auf Druck nicht reagierte, versuchte er es mit Ziehen. »Keine Chance. Was jetzt? Wahrscheinlich müssen wir klettern. Ich bin zwar bereit, das zu versuchen, aber wahrscheinlich breche ich mir das verfluchte …«

»Moment.« Dan zog eine Stiftlampe aus seiner Jackentasche und richtete sie auf das Tor. Zuerst sah er ein zerstörtes Vorhängeschloss, dann die dicken Drahtstücke, die man darüber und darunter um das Tor geschlungen hatte. Er ging zum Wagen zurück, und jetzt war er es, der erschrak, als die Kofferraumbeleuchtung aufflammte. Ach, Scheiße. Man konnte nicht an alles denken. Er zerrte die Nylontasche heraus und schlug den Kofferraumdeckel zu. Es wurde wieder dunkel.

»Da«, sagte er zu John und streckte ihm ein Paar Handschuhe hin. »Zieh die an.« Er tat dasselbe, drehte den Draht auf und hängte die beiden Enden in eine Raute des Zauns, um sie später wieder anzubringen. »Okay, auf geht’s.«

»Ich muss noch mal pinkeln.«

»O Mann. Reiß dich zusammen.«

11

Dan lenkte den Mietwagen langsam und vorsichtig um das Gebäude auf eine Laderampe zu. Es gab massenhaft Schlaglöcher, manche tief und alle ohne Scheinwerferlicht kaum zu sehen. Auf keinen Fall wollte er eines davon erwischen und die Achse des Focus ruinieren. Hinter der Fabrik war der Boden ein Fleckenteppich aus nackter Erde und zerbröselndem Asphalt. Fünfzehn Meter weiter kam noch ein Maschendrahtzaun, und dahinter breiteten sich endlose Meilen Mais aus. Der Platz vor der Rampe war nicht so groß wie der Parkplatz, aber auch nicht gerade klein.

»Dan? Woher wissen wir, wo …«

»Pst!« Dan ließ den Kopf nach vorn sinken, bis die Stirn das Lenkrad berührte. Dann schloss er die Augen.

(Abra)

Nichts. Natürlich schlief sie. Daheim in Anniston war es schon früher Mittwochmorgen. John saß neben ihm und kaute auf der Unterlippe.

(Abra)

Etwas regte sich. Vielleicht war es auch nur Einbildung, wenngleich Dan hoffte, dass es mehr war.

(ABRA!)

In seinem Kopf öffneten sich zwei Augen. Einen Moment lang herrschte Desorientierung, eine Art doppeltes Sehen, und dann blickte Abra gemeinsam mit ihm in die Welt. Die Laderampe und die zerborstenen Überreste der Schornsteine waren plötzlich deutlicher sichtbar, obwohl nur das Licht der Sterne leuchtete.

Ihre Sehkraft ist wesentlich besser als meine.

Dan stieg aus dem Wagen. Das tat auch John, aber Dan bemerkte es kaum. Er hatte die Kontrolle dem Mädchen überlassen, das elfhundert Meilen weit entfernt in seinem Bett lag. Er fühlte sich wie ein menschlicher Metalldetektor. Nur dass es nicht Metall war, wonach er suchte. Wonach sie gemeinsam suchten.

(geh zu dem Betonding da drüben)

Dan ging zur Laderampe, wandte ihr den Rücken zu und blieb stehen.

(und jetzt geh hin und her)

Eine Pause, während Abra nach einer Möglichkeit suchte, ihm klarzumachen, worauf sie hinauswollte.

(wie in CSI)

Er marschierte etwa fünfzehn Meter nach links, um sich dann nach rechts zu wenden und so im Zickzack von der Rampe zu entfernen. John hatte den Spaten aus der Tasche gezogen und stand wartend neben dem Wagen.

(hier haben sie ihre Wohnmobile geparkt)

Dan ging wieder nach links. Er bewegte sich langsam vorwärts, wobei er gelegentlich einen losen Ziegelstein oder einen Betonbrocken aus dem Weg kicken musste.

(jetzt bist du ganz nah dran)

Dan blieb stehen. Er roch etwas Unangenehmes. Einen Anflug von Verwesung.

(Abra? riechst du das?)

(ja o Gott Dan)

(ganz ruhig Schatz)

(du bist zu weit gegangen dreh dich um mach langsam)

Dan drehte sich wie ein Soldat auf dem Exerzierplatz auf der Hacke um. Er bewegte sich wieder auf die Laderampe zu.

(links ein bisschen links von dir langsamer)

Während er gehorchte, hielt er nun nach jedem kleinen Schritt inne. Da war dieser Geruch wieder, sogar stärker. Plötzlich verschwamm die unnatürlich scharfe nächtliche Welt, weil seine Augen sich mit Abras Tränen füllten.

(da ist der Baseballjunge du stehst direkt über ihm)

Dan holte tief Luft und wischte sich die Wangen ab. Er bebte. Nicht weil ihm selber kalt war, sondern weil Abra fröstelte. Sie saß aufrecht im Bett, drückte ihren Stoffhasen an sich und zitterte wie Espenlaub.

(geh weg hier Abra)

(Dan geht’s dir …)

(ja mir geht’s gut aber du brauchst das jetzt nicht zu sehen)

Plötzlich war der ungewohnt scharfe Blick verschwunden. Abra hatte die Verbindung unterbrochen, und das war gut so.

»Dan?«, rief John leise. »Alles okay?«

»Ja.« Seine Stimme war immer noch erstickt von Abras Tränen. »Bring den Spaten her.«

12

Sie brauchten zwanzig Minuten. Dan grub die ersten zehn, dann gab er den Spaten an John weiter, der schließlich auf Bradley Trevor stieß. Er hielt sich die Hand vor Mund und Nase, während er sich von der Grube abwandte. Seine Stimme war gedämpft, aber verständlich. »Ja, da ist eine Leiche. Puh!«

»Hast du es vorher nicht gerochen?«

»So tief vergraben, und das zwei Jahre lang? Willst du etwa sagen, du hast es gerochen?«

Dan erwiderte nichts, weshalb John sich wieder an die Arbeit machte, diesmal jedoch ohne rechte Tatkraft. Einige Sekunden lang stand er mit gebeugtem Rücken da, als wollte er den Spaten ansetzen, dann richtete er sich auf und trat zurück, während Dan mit seiner Stiftlampe in die kleine Grube leuchtete, die sie ausgehoben hatten. »Ich kann nicht«, sagte er. »Ich dachte, ich könnte es, aber ich kann nicht. Nicht mit … dem da drin. Meine Arme sind wie Gummi.«

Dan reichte ihm die Lampe. John richtete den Strahl auf das, was ihn so durcheinandergebracht hatte: einen verdreckten Turnschuh. Behutsam, um die irdischen Überreste von Abras Baseballjungen nicht mehr als nötig zu berühren, kratzte Dan die Erde von den Seiten der Leiche. Nach und nach kam eine Gestalt zum Vorschein. Sie erinnerte ihn an Reliefs auf Sarkophagen, die er in der National Geographic gesehen hatte.

Der Verwesungsgeruch war inzwischen sehr stark.

Dan trat zur Seite, atmete mehrfach kurz durch und endete mit dem tiefsten Atemzug, den er zustande brachte. Dann sprang er in das flache Grab, an dessen einem Ende nun beide Turnschuhe von Bradley Trevor v-förmig herausragten. Auf den Knien rutschte er bis zu der Stelle, an der sich die Taille des Jungen befinden musste, dann streckte er einen Arm in die Luft. John reichte ihm die Lampe und wandte sich ab. Er schluchzte hörbar.

Dan klemmte sich die kleine Lampe zwischen die Lippen und machte sich daran, weitere Erde wegzubürsten. Ein T-Shirt wurde sichtbar, das an einer eingesunkenen Brust klebte. Dann Hände. Die Finger, nun kaum mehr als in gelbe Haut gehüllte Knochen, schlossen sich um etwas. In Dans Brust pochte es, weil er immer noch die Luft anhielt, aber dennoch bog er die Finger des Jungen so behutsam auf, wie er konnte. Trotzdem brach einer mit einem trockenen Knacken.

Sie hatten ihn mit seinem Baseballhandschuh auf der Brust vergraben. In der liebevoll geölten Tasche wimmelte es von Wanzen.

Mit einem entsetzten Fauchen wich der Atem aus Dans Lunge, und die Luft, die er einatmete, war voller Verwesung. Er sprang aus dem Grab nach rechts und schaffte es, auf die ausgehobene Erde zu kotzen statt auf die verwesten Überreste von Bradley Trevor, dessen einziges Verbrechen darin bestanden hatte, mit etwas geboren zu sein, was eine Schar von Ungeheuern für sich wollte. Und das diese ihm aus dem Hauch seiner ersterbenden Schreie gestohlen hatten.

13

Sie begruben die Leiche wieder, wobei diesmal John die meiste Arbeit tat, und bedeckten die Stelle mit einer provisorischen Krypta aus Asphaltbrocken. Keiner der beiden wollte sich vorstellen, dass Füchse oder streunende Hunde sich an dem, was noch übrig war, gütlich taten.

Als sie fertig waren, stiegen sie ins Auto und saßen wortlos da. Schließlich sagte John: »Was sollen wir jetzt tun, Danno? Wir können ihn doch nicht einfach da liegen lassen. Er hat Eltern. Großeltern. Wahrscheinlich auch Geschwister. Alle fragen sich bestimmt immer noch, was aus ihm geworden ist.«

»Eine Weile muss er noch liegen bleiben. So lange, dass niemand sagen kann: ›Mensch, dieser anonyme Anruf kam, kurz nachdem ein Fremder im Eisenwarenladen von Adair einen Spaten gekauft hat.‹ Damit ist zwar eher nicht zu rechnen, aber wir dürfen kein Risiko eingehen.«

»Wie lange meinst du mit einer Weile?«

»So etwa einen Monat.«

John überlegte kurz, dann seufzte er. »Oder eher zwei. Dann dürfen seine Leute so lange noch denken, dass er vielleicht doch bloß abgehauen ist. Zwei Monate, bevor wir ihnen das Herz brechen.« Er schüttelte den Kopf. »Wenn ich mir sein Gesicht hätte anschauen müssen, hätte ich wahrscheinlich nie wieder schlafen können.«

»Du würdest staunen, womit man alles leben kann«, sagte Dan. Dabei dachte er an Mrs. Massey, die nun sicher in seinem Hinterkopf verwahrt war und ihn nicht mehr verfolgen konnte. Er ließ den Wagen an, öffnete sein Fenster und schlug den Baseballhandschuh mehrfach von außen an die Tür, damit der Dreck abfiel. Dann zog er ihn an und schob seine Finger dorthin, wo die des Jungen an so vielen sonnigen Nachmittagen gesteckt hatten. Er schloss die Augen. Nach etwa einer halben Minute öffnete er sie wieder.

»Na?«

»Sie sind Barry Smith. Sie sind einer von den Guten.«

»Was soll das bedeuten?«

»Keine Ahnung, aber ich möchte wetten, das ist der, den Abra als Barry the Chunk bezeichnet.«

»Sonst nichts?«

»Abra wird mehr rauskriegen können.«

»Bist du dir da sicher?«

Dan dachte daran, wie sein Blick sich geschärft hatte, als Abra ihre Augen in seinem Kopf geöffnet hatte. »Bin ich. Richte die Lampe mal kurz auf den Handschuh, ja? Auf der Innenseite steht etwas geschrieben.«

Als John gehorchte, wurden sorgfältig von Kinderhand geschriebene Buchstaben und Zahlen sichtbar: THOME 25.

»Was bedeutet das?«, fragte John. »Ich dachte, sein Familienname ist Trevor.«

»Jim Thome ist ein Baseballspieler. Seine Rückennummer ist fünfundzwanzig.« Er starrte einen Moment auf die Tasche des Handschuhs, dann legte er ihn behutsam auf die Mittelkonsole. »Das war der Lieblingsspieler dieses Jungen, deshalb hat er seinen Handschuh nach ihm benannt. Ich werde diese Schweine erwischen. Das schwöre ich beim allmächtigen Gott, ich werde sie erwischen und dafür zahlen lassen.«

14

Rose the Hat hatte auch Shining – wie der ganze Wahre Knoten –, aber nicht so viel wie Dan oder Billy. Als Rose und Crow sich voneinander verabschiedeten, hatte keiner der beiden irgendeine Ahnung davon, dass der Junge, den sie zwei Jahre zuvor in Iowa getötet hatten, in diesem Moment von zwei Männern ausgegraben wurde, die bereits viel zu viel über den Knoten wussten. Wäre Rose im Zustand tiefer Meditation gewesen, so hätte sie die zwischen Dan und Abra stattfindende Kommunikation auffangen können, aber natürlich hätte Abra ihre Anwesenheit dann sofort bemerkt. Außerdem war der Abschied, der in jener Nacht stattfand, von besonders intimer Art.

Sie lag da, die Finger hinter dem Kopf verschränkt, und sah zu, wie Crow sich anzog. »Du warst doch in diesem Laden, oder? Im District X?«

»Nicht persönlich, ich hab einen Ruf zu verlieren. Hab Jimmy Numbers hingeschickt.« Grinsend schnallte Crow seinen Gürtel zu. »Das, was wir brauchen, hätte er in fünfzehn Minuten besorgen können, aber er war zwei Stunden weg. Ich glaube, Jimmy hat eine neue Heimat gefunden.«

»Na fein. Es freut mich immer, wenn ihr Jungs Spaß habt.« Sie versuchte, einen leichten Ton anzuschlagen, aber nach zwei Tagen Trauer um Grampa Flick, beendet mit dem Abschiedskreis, bedurfte jede Leichtigkeit einer ziemlichen Anstrengung.

»Jedenfalls hat er da nichts gekauft, was mit dir zu vergleichen wäre.«

Sie hob die Augenbrauen. »Du hast es dir angesehen, nicht wahr, Henry?«

»War nicht nötig.« Er betrachtete sie, wie sie nackt dalag, die Haare zu einem dunklen Fächer ausgebreitet. Selbst liegend war sie groß, und große Frauen hatte er immer schon gemocht. »In meinem Heimkino bist du die Hauptattraktion und wirst es immer bleiben.«

Ziemlich schwülstig – ein kleines Beispiel für Crows patentierte Effekthascherei –, aber es gefiel ihr trotzdem. Sie stand auf und drückte sich an ihn, ihre Hände in seinen Haaren. »Sei vorsichtig. Bring alle wieder mit zurück. Und bringt das Mädchen mit.«

»Das werden wir.«

»Dann macht euch schleunigst auf die Socken.«

»Nur die Ruhe. Wir werden in Sturbridge sein, wenn EZ Mail am Freitagmorgen aufmacht. In New Hampshire sind wir am Mittag. Bis dahin wird Barry die Kleine lokalisiert haben.«

»Falls sie nicht ihn lokalisiert.«

»Da mache ich mir keine Sorgen.«

Gut, dachte Rose, dann mache ich mir für uns beide Sorgen. So lange, bis dieses Balg mit Schellen an den Handgelenken und Fußeisen an den Knöcheln vor mir liegt.

»Das Schöne daran ist, wenn sie uns tatsächlich wahrnimmt und versucht, eine Interferenzmauer aufzubauen, dann wird Barry sich darauf konzentrieren«, sagte Crow.

»Wenn sie richtig Angst bekommt, geht sie womöglich zur Polizei.«

Er grinste. »Meinst du? ›Ja, Kleine‹, würde man dort sagen. ›Wir glauben dir schon, dass diese schrecklichen Leute hinter dir her sind. Aber sag uns bitte, ob sie aus dem Weltraum kommen oder bloß gewöhnliche Gartenzombies sind. Dann wissen wir, wonach wir Ausschau halten müssen.‹«

»Mach keine Scherze, und nimm diese Sache nicht auf die leichte Schulter. Es muss alles glattgehen. Ohne Außenstehende reinzuziehen. Oder unschuldige Zuschauer. Tötet die Eltern, falls nötig, tötet jeden, der versucht, sich einzumischen, aber tut es unauffällig.«

Crow, der keine Ahnung hatte, dass bereits Außenstehende beteiligt waren, hob die Hand zu einem scherzhaften Salut. »Jawohl, mein Kapitän!«

»Raus hier, du Idiot. Aber gib mir erst noch einen Kuss. Samt deiner gut geschulten Zunge.«

Er gab ihr, worum sie gebeten hatte. Rose umarmte ihn fest – und lange.

15

Dan und John fuhren schweigend zu ihrem Motel in Adair zurück. Der Spaten lag im Kofferraum, der Baseballhandschuh auf dem Rücksitz, in ein aus dem Holiday Inn stammendes Handtuch gewickelt. Schließlich sagte John: »Wir müssen jetzt Abras Eltern informieren. Sie wird zwar total dagegen sein, und außerdem werden Lucy und David es nicht glauben wollen, aber es muss sein.«

Dan sah ihn mit unbewegter Miene an. »Kannst du etwa Gedanken lesen?«

Das konnte John nicht, Abra hingegen schon, und als plötzlich ihre laute Stimme in Dans Kopf erscholl, war dieser froh, dass John den Wagen lenkte. Hätte er am Steuer gesessen, wären sie höchstwahrscheinlich in irgendeinem Maisfeld gelandet.

(NEIIIIN!)

»Abra.« Das sagte er laut, damit John wenigstens seinen Anteil an dem Gespräch hören konnte. »Abra, hör doch erst mal zu.«

(NEIN DAN! SIE DENKEN MIR GEHT’S BLENDEND! SIE DENKEN ICH BIN INZWISCHEN FAST NORMAL GEWORDEN!)

»Kleines, wenn diese Leute deine Mama und deinen Dad umbringen müssten, um dich zu schnappen, meinst du, sie würden dann auch nur einen Moment zögern? Bestimmt nicht. Nach dem, was wir gerade gefunden haben, bin ich mir da sicher.«

Dagegen konnte Abra eigentlich nichts einwenden, und sie versuchte es auch nicht … aber plötzlich war Dans Kopf von ihrem Kummer und ihrer Furcht erfüllt. Seine Augen füllten sich mit Tränen, die ihm an den Wangen herabliefen.

Scheiße.

Scheiße, Scheiße, Scheiße.

16

Früher Donnerstagmorgen.

Der Winnebago von Steamhead Steve, gesteuert momentan von Snakebite Andi, rollte im Westen von Nebraska auf der I-80 ostwärts, immer schön vorschriftsmäßig mit fünfundsechzig Meilen pro Stunde. Am Horizont zeigten sich gerade die ersten Anzeichen der Dämmerung. In Anniston war es zwei Stunden später. Dave Stone stand im Bademantel in der Küche und kochte Kaffee, als das Telefon läutete. Es war Lucy, die von Concettas Wohnung in der Marlborough Street aus anrief. Sie hörte sich an wie eine Frau, die bald am Ende ihrer Kräfte angelangt war.

»Wenn sich nichts zum Schlechten verändert – wobei es sich wohl nur noch in die Richtung verändern kann –, wird Momo gleich Anfang nächster Woche aus dem Krankenhaus entlassen. Gestern Abend hab ich mit den zwei Ärzten gesprochen, die für sie zuständig sind.«

»Wieso hast du mich nicht gleich hinterher angerufen, Schatz?«

»Zu müde. Und zu deprimiert. Ich dachte, wenn ich erst mal drüber geschlafen habe, fühle ich mich besser, aber ich hab kaum schlafen können. Dave, diese Wohnung ist so voll von ihr. Nicht nur von ihrer Arbeit, von ihrer Lebendigkeit …«

Ihre Stimme wankte. David wartete. Sie waren nun schon mehr als fünfzehn Jahre lang zusammen, und er wusste, wenn Lucy durcheinander war, dann war es manchmal besser zu warten, als etwas zu sagen.

»Ich weiß überhaupt nicht, was wir mit den ganzen Sachen anfangen sollen. Ich bin schon erschöpft, wenn ich die vielen Bücher nur anschaue. In den Regalen stehen Tausende, dazu kommen die Stapel in ihrem Arbeitszimmer, und der Hausmeister sagt, weitere Tausende sind eingelagert.«

»Das müssen wir doch nicht jetzt gleich entscheiden.«

»Außerdem sagt er, da ist ein Koffer, auf dem Alessandra steht. Das war der richtige Name meiner Mutter, weißt du. Genannt hat sie sich allerdings wohl immer Sandra oder Sandy. Ich wusste gar nicht, dass Momo Sachen von ihr hat.«

»Obwohl Chetta in ihren Gedichten alles nach außen gekehrt hat, konnte sie ganz schön verschlossen sein, wenn sie wollte.«

Lucy schien ihn gar nicht zu hören. Sie fuhr einfach in demselben stumpfen, leicht nörgelnden, todmüden Ton fort. »Es ist alles geregelt. Bloß den privaten Krankentransport muss ich umbestellen, falls man sie schon am Sonntag entlässt. Sie haben gesagt, das machen sie vielleicht. Gott sei Dank hat sie eine gute Versicherung. Die stammt noch aus der Zeit, als sie in Tufts unterrichtet hat, weißt du. Mit ihrer Lyrik hat sie nie einen Cent verdient. Wer in diesem abgefuckten Land würde noch was bezahlen, um Gedichte zu lesen?«

»Lucy …«

»Sie bekommt ein gutes Zimmer im Hauptgebäude vom Rivington House – eine kleine Suite eigentlich. Ich hab’s mir im Internet angeschaut. Lange wird sie es allerdings nicht bewohnen. Ich hab mich mit der Oberschwester auf der Station hier angefreundet, und die sagt, Momo ist praktisch am Ende ihres …«

»Chia, ich liebe dich.«

Das – Concettas alter Kosename für sie – brachte sie endlich zum Schweigen.

»Mit all meinem zugegeben nicht italienischen Herzen. Und mit meiner Seele.«

»Das weiß ich, und dafür bin ich auch unheimlich dankbar. Es war jetzt alles so schwer, aber nun ist es bald vorbei. Spätestens Montag bin ich wieder zu Hause.«

»Wir freuen uns so auf dich.«

»Wie geht es dir überhaupt? Und Abra?«

»Uns beiden geht es gut.« Das würde David noch etwa sechzig Sekunden lang glauben dürfen.

Er hörte Lucy gähnen. »Vielleicht lege ich mich noch ein oder zwei Stunden ins Bett. Ich glaube, jetzt kann ich einschlafen.«

»Tu das. Ich muss Abs aufwecken, damit sie rechtzeitig in die Schule kommt.«

Sie verabschiedeten sich, und als Dave sich von dem an der Wand hängenden Küchentelefon abwandte, sah er, dass Abra bereits aufgestanden war. Sie trug noch ihren Schlafanzug. Ihre Haare sträubten sich in alle Richtungen, die Augen waren gerötet, und das Gesicht war bleich. Zum ersten Mal seit etwa vier Jahren drückte sie Hoppy, ihren alten Stoffhasen, an die Brust.

»Abba-Doo? Bist du krank? Oder ist dir übel?«

Ja. Nein. Ich weiß nicht. Aber dir wird übel sein, wenn du hörst, was ich dir erzählen werde.

»Ich muss mit dir sprechen, Daddy. Und ich will heute nicht in die Schule gehen. Morgen auch nicht. Vielleicht eine ganze Weile nicht.« Sie zögerte. »Ich stecke im Schlamassel.«

Das Erste, was Dave bei diesem Ausdruck in den Sinn kam, war so schrecklich, dass er es sofort von sich wegschob, aber nicht, bevor Abra es aufgefangen hatte.

Sie lächelte matt. »Nein, schwanger bin ich nicht. Das ist wohl schon mal erfreulich.«

Er war auf sie zugegangen. Nun blieb er auf halbem Wege mitten in der Küche stehen. Sein Mund klappte auf. »Du … hast du etwa gerade …«

»Ja«, sagte sie. »Ich hab gerade deine Gedanken gelesen. Allerdings hätte jeder erraten können, was du gedacht hast, Daddy – man hat’s dir am Gesicht angesehen. Und man nennt es Shining oder Hellsichtigkeit, nicht Gedankenlesen. Ich kann immer noch das meiste von dem tun, was euch Angst gemacht hat, als ich klein war. Nicht alles, aber das meiste.«

Er sprach ganz langsam. »Ich weiß, dass du manchmal noch Vorahnungen hast. Deine Mutter weiß das auch.«

»Es ist viel mehr als das. Ich habe einen Freund. Der heißt Dan. Er und Dr. John waren in Iowa …«

»John Dalton?«

»Ja …«

»Wer ist dieser Dan? Ist das ein Junge, der bei Dr. John in Behandlung ist?«

»Nein, er ist schon erwachsen.« Sie nahm ihn bei der Hand und führte ihn zum Küchentisch. Dort setzten sie sich. Abra hielt immer noch Hoppy in der Hand. »Aber als er klein war, da war er wie ich.«

»Abs, ich verstehe nur Bahnhof.«

»Da sind böse Menschen, Daddy.« Natürlich konnte sie ihm nicht sagen, dass sie keine richtigen Menschen waren, schlimmer als Menschen, bevor Dan und John da waren, um ihr bei der Erklärung zu helfen. »Möglicherweise wollen sie mir wehtun.«

»Wieso sollte irgendjemand dir wehtun wollen? Das ist völlig abwegig. Und wenn du das, was du früher getan hast, noch tun könntest, dann würden wir das wiss…«

Die Schublade unter den aufgehängten Töpfen ging krachend auf, schloss sich und öffnete sich wieder. Löffel an die Decke hängen konnte Abra nicht mehr, aber das reichte aus, um ihren Vater zu überzeugen.

»Als ich kapiert hab, wie sehr ihr euch deshalb sorgt – wie viel Angst es euch macht –, da hab ich es versteckt. Aber jetzt kann ich es nicht mehr verstecken. Dan meint, ich muss es euch sagen.«

Sie drückte das Gesicht an Hoppys abgewetztes Fell und begann zu weinen.

Kapitel zwölf SIE NENNEN ES STEAM

1

John schaltete sein Handy ein, sobald er und Dan am späten Donnerstagnachmittag in Boston den Flugsteig verlassen hatten. Kaum sah er, dass er mehr als ein Dutzend Anrufe verpasst hatte, fing das Telefon in seiner Hand an zu läuten. Er blickte aufs Display.

»Stone?«, fragte Dan.

»Von derselben Nummer hab ich gerade schon massenhaft andere Anrufe bekommen, die ich verpasst hab. Also wird er’s wohl sein.«

»Nimm nicht ab. Ruf ihn zurück, wenn wir auf der Schnellstraße sind, und sag ihm, wir sind um …« Dan sah auf seine Armbanduhr, die er in Iowa nicht umgestellt hatte. »… um sechs da. Wenn wir bei ihm sind, erklären wir ihm alles.«

John steckte sein Handy widerstrebend ein. »Während dem Flug hab ich gehofft, dass ich wegen dieser Sache nicht meine Zulassung verliere. Jetzt hoffe ich nur noch, dass man uns nicht verhaftet, sobald wir den Wagen vor Dave Stones Haus anhalten.«

Dan, der sich auf der Heimreise mehrmals mit Abra beraten hatte, schüttelte den Kopf. »Abra hat ihn überredet abzuwarten, aber in der Familie ist momentan ohnehin schon viel los, und Mr. Stone ist ziemlich durcheinander.«

Worauf John ein besonders trostloses Lächeln aufsetzte. »Da ist er nicht der Einzige.«

2

Als Dan in die Einfahrt der Stones einbog, saß Abra mit ihrem Vater auf der Außentreppe. Dan und John waren gut vorwärtsgekommen; es war erst halb sechs.

Abra war aufgesprungen, bevor ihr Vater sie festhalten konnte, und rannte mit fliegenden Haaren den Weg entlang. Als Dan das sah, übergab er John rasch den immer noch in das Handtuch eingewickelten Baseballhandschuh. Abra warf sich in seine Arme. Sie zitterte am ganzen Leib.

(ihr habt ihn gefunden ihr habt ihn gefunden und den Handschuh auch gib ihn mir)

»Jetzt nicht«, sagte Dan und setzte sie ab. »Wir müssen das erst mit deinem Vater besprechen.«

»Was müssen wir besprechen?«, fragte Dave Stone. Er ergriff Abra am Handgelenk und zog sie von Dan weg. »Wer sind diese bösen Menschen, von denen sie spricht? Und wer zum Teufel sind Sie?« Sein Blick wanderte zu John, und in seinen Augen lag keine Spur Freundlichkeit. »Was um Himmels willen geht hier eigentlich vor?«

»Das ist Dan, Daddy. Er ist wie ich. Das hab ich dir doch schon erklärt!«

»Wo ist Lucy?«, fragte John. »Weiß sie Bescheid?«

»Ich sage euch überhaupt nichts, bis ich weiß, was hier vorgeht.«

»Sie ist noch in Boston bei Momo«, sagte Abra. »Daddy wollte sie anrufen, aber ich hab ihn überredet zu warten, bis ihr hier seid.« Ihr Blick war unverwandt auf den eingewickelten Handschuh gerichtet.

»Dan Torrance«, sagte Dave. »So heißen Sie, oder?«

»Ja.«

»Sie arbeiten in Frazier im Hospiz?«

»Das stimmt.«

»Wie lange treffen Sie sich schon mit meiner Tochter?« Dave ballte ständig die Fäuste und öffnete sie wieder. »Haben Sie sie im Internet kennengelernt? Das wird es wohl sein.« Wieder sah er John an. »Wenn du Abra nicht seit ihrer Geburt kennen würdest, hätte ich schon vor sechs Stunden, als du das erste Mal nicht abgehoben hast, bei der Polizei angerufen.«

»Ich saß im Flugzeug«, sagte John. »Da konnte ich nicht telefonieren.«

»Mr. Stone«, sagte Dan. »Ich kenne Ihre Tochter zwar noch nicht so lange wie John, aber fast. Als wir uns das erste Mal begegnet sind, war sie noch ein Baby. Und es war sie selber, die Kontakt mit mir aufgenommen hat.«

Dave schüttelte energisch den Kopf. Er sah perplex, zornig und wenig geneigt aus, irgendetwas zu glauben, was Dan ihm da erzählte.

»Gehen wir doch ins Haus«, sagte John. »Ich glaube, wir können alles erklären – fast alles –, und sobald es so weit ist, wirst du froh sein, dass wir hier sind und dass wir gerade in Iowa waren.«

»Das hoffe ich sehr, John, aber ich habe meine Zweifel.«

Während sie hineingingen, hatte Dave Abra den Arm so um die Schultern gelegt, dass die beiden eher wie Wärter und Gefangene aussahen als wie Vater und Tochter. Als Nächstes kam John Dalton, dann Dan. Er blickte über die Straße auf den rostigen roten Pick-up, der dort parkte. Billy hob kurz den Daumen … dann kreuzte er die Finger. Dan erwiderte die Geste, bevor er den anderen durch die Haustür folgte.

3

Während Dave mit seiner rätselhaften Tochter und seinen noch rätselhafteren Gästen in seinem Wohnzimmer am Richland Court saß, befand sich der Winnebago mit dem Stoßtrupp des Wahren Knotens südöstlich von Toledo. Am Steuer saß Walnut. Andi und Barry schliefen – Andi wie ein Stein; Barry warf sich murmelnd von einer Seite auf die andere. Crow saß im Wohnraum und blätterte im New Yorker. Das Einzige, was ihn wirklich interessierte, waren die Cartoons und die winzigen Anzeigen für bizarre Waren wie Pullover aus Yakwolle, vietnamesische Kegelhüte und nachgemachte kubanische Zigarren.

Jimmy Numbers hockte sich neben ihn. Er hielt seinen Laptop in den Händen. »Ich hab im Internet recherchiert. Manche Websites musste ich zwar hacken, aber … Kann ich dir mal was zeigen?«

»Wie kannst du eigentlich im Internet surfen, wenn wir auf dem Highway sind?«

Jimmy grinste ihn mitleidig an. »Mit einer 4G-Verbindung, mein Lieber. Wir leben im 21. Jahrhundert.«

»So, so.« Crow legte seine Zeitschrift weg. »Also, was hast du da?«

»Schulfotos aus der Anniston Middle School.« Jimmy tippte auf das Touchpad, und ein Foto tauchte auf. Keine unscharfe Zeitungsillustration, sondern das gestochen scharfe Klassenfoto eines Mädchens in einem roten Kleid mit Puffärmeln. Ihr zum Zopf geflochtenes Haar war kastanienbraun, ihr Lächeln breit und selbstsicher.

»Julianne Cross«, sagte Jimmy. Er tippte wieder auf das Touchpad, worauf ein Rotschopf mit einem schelmischen Grinsen erschien. »Emma Deane.« Ein weiteres Tippen, und ein noch hübscheres Mädchen war zu sehen. Blaue Augen und blondes Haar, das bis über die Schultern fiel. Eine ernste Miene, aber Grübchen, die ein Lächeln andeuteten. »Das da ist Abra Stone.«

»Abra?«

»Ja, heutzutage gibt’s allerhand verrückte Namen. Erinnerst du dich an die Zeit, als die Tölpel sich noch mit Jane und Mabel zufriedengaben? Ich hab irgendwo gelesen, dass Sylvester Stallone seinen Sohn Sage Moonblood genannt hat. Völliger Schwachsinn, oder?«

»Du meinst, eine von den dreien ist das Mädchen, nach dem wir suchen.«

»Wenn Rose recht hat, dass es sich um einen jungen Teenager handelt, muss es fast so sein. Wahrscheinlich Deane oder Stone, das sind die beiden, die in der Straße wohnen, wo das kleine Erdbeben war, aber die kleine Cross kann man nicht völlig ausschließen. Sie wohnt direkt um die Ecke.« Jimmy Numbers machte eine kreisende Bewegung auf dem Touchpad, und die drei Bilder ordneten sich nebeneinander an. Unter jedem stand in Kursivbuchstaben MEINE SCHULERINNERUNGEN.

Crow betrachtete die Fotos. »Wird eigentlich irgendjemand merken, dass du auf Facebook oder so Bilder von fremden Mädchen geklaut hast? Bei so was klingeln im Tölpelland nämlich gleich jede Menge Alarmglocken.«

Jimmy sah beleidigt drein. »Facebook, dass ich nicht lache. Das Zeug stammt aus dem Archiv der Schule. Ich hab es direkt von deren Computer auf meinen hochgeladen.« Er schmatzte unschön mit den Lippen. »Und weißt du was: Selbst wenn jemand Zugang zu einem ganzen Saal voller NSA-Computer hätte, könnte er meine Spur nicht verfolgen. Na, jetzt bist du baff, oder?«

»Klar«, sagte Crow. »Mehr oder weniger jedenfalls.«

»Was meinst du, welche es ist?«

»Wenn du mich fragst …« Crow tippte auf Abras Foto. »Die hat so einen gewissen Ausdruck in den Augen. Als ob sie Steam im Kessel hätte.«

Jimmy schnalzte mit der Zunge. »Na, nützt uns das was?«

»Ja. Kannst du die Fotos ein paarmal ausdrucken, damit sie jeder von uns hat? Vor allem Barry. Schließlich ist der unser Finder.«

»Mach ich gleich jetzt. Ich hab einen tragbaren Drucker dabei. Tolles Gerät für unterwegs. Früher hatte ich ein ziemliches Monstrum, aber als ich in der Computerworld gelesen hab, dass …«

»Tu’s einfach, okay?«

»In Ordnung.«

Crow griff wieder nach seiner Zeitschrift und schlug den Cartoon auf der letzten Seite auf, bei dem man immer die Unterschrift ergänzen sollte. In dieser Woche war eine alte Frau dargestellt, die mit einem Bären an der Kette eine Kneipe betrat. Sie hatte den Mund geöffnet, also musste der Text das ausdrücken, was sie sagte. Crow dachte ausgiebig nach, dann schrieb er in Druckbuchstaben: »Also, wer von euch Arschlöchern hat mich als geile Schlampe bezeichnet?«

Wahrscheinlich kein Anwärter auf den ersten Preis.

Der Winnebago rollte durch den dunkler werdenden Abend. Vorn im Fahrerhaus schaltete Nut die Scheinwerfer an. In einer der Schlafkojen wälzte Barry the Chink sich auf die Seite und kratzte im Schlaf an seinem Handgelenk. Dort hatte sich ein roter Fleck gebildet.

4

Die drei Männer saßen schweigend da, während Abra nach oben ging, um etwas aus ihrem Zimmer zu holen. Dave überlegte, ob er Kaffee anbieten sollte – seine Besucher sahen müde aus, ganz zu schweigen davon, dass sie eine Rasur nötig hatten –, entschloss sich jedoch, ihnen nicht mal einen trockenen Salzcracker vorzusetzen, bevor er nicht eine Erklärung erhalten hatte. Er hatte mit Lucy zwar schon besprochen, was sie tun wollten, wenn Abra eines nicht fernen Tages nach Hause kam und verkündete, dass ein Junge mit ihr ausgehen wolle, aber das waren Männer, Männer, und es hatte den Anschein, als wäre der, den er nicht kannte, schon eine ganze Weile mit seiner Tochter ausgegangen. In gewisser Weise jedenfalls … und genau das war eigentlich die Frage: auf welche Weise?

Bevor einer der drei es riskieren konnte, ein voraussehbar unbehagliches – und womöglich sogar bissiges – Gespräch zu beginnen, hörte man das gedämpfte Donnern von Abras Sneakers auf der Treppe. Als sie ins Zimmer kam, hatte sie eine Ausgabe des Anniston Shopper in der Hand. »Schau dir die Rückseite an.«

Ihr Vater drehte die Zeitung um und verzog angewidert das Gesicht. »Was ist das denn für ein brauner Dreck?«

»Getrockneter Kaffeesatz. Ich hab die Zeitung in den Müll geworfen, aber ich musste dauernd dran denken, deshalb hab ich sie wieder herausgeholt. An den da musste ich dauernd denken.« Sie zeigte auf das Foto von Bradley Trevor in der untersten Reihe. »Und an seine Eltern. Und an seine Geschwister, falls er welche hatte.« Ihre Augen füllten sich mit Tränen. »Er hatte Sommersprossen, Daddy. Die fand er furchtbar, aber seine Mutter hat gesagt, sie bringen Glück.«

»Das kannst du doch gar nicht wissen«, sagte Dave ohne jede Überzeugung.

»Sie weiß es«, sagte John. »Und du, Dave, weißt es auch. Bitte hilf uns. Es ist wichtig.«

»Ich will wissen, was zwischen Ihnen und meiner Tochter vorgefallen ist«, sagte Dave zu Dan. »Klären Sie mich auf.«

Dan begann zu erzählen. Davon, wie er Abras Namen bei einem AA-Treffen in sein Notizbuch gekritzelt hatte. Von dem ersten, in Kreide geschriebenen Hallo auf seiner Tafel. Davon, wie er in der Nacht, als Charlie Hayes gestorben war, deutlich Abras Gegenwart gespürt hatte. »Ich hab gefragt, ob sie das kleine Mädchen ist, das manchmal auf meine Tafel schreibt. Statt in Worten zu antworten, hab ich Klaviermusik gehört. Irgendeinen alten Beatles-Titel, glaube ich.«

Dave sah John an. »Das hast du ihm erzählt!«

John schüttelte den Kopf.

»Vor zwei Jahren stand wieder eine Nachricht auf der Tafel«, fuhr Dan fort. »›Die bringen den Baseballjungen um!‹ Ich wusste nicht, was das bedeuten sollte, und ich bin mir nicht sicher, ob Abra es damals wusste. Dabei hätte es bleiben können, aber dann hat sie das da gesehen.« Er deutete auf die Rückseite der Gratiszeitung mit den vielen briefmarkengroßen Porträts.

Den Rest erzählte Abra.

Als sie fertig war, sagte Dave: »Ihr seid also nach Iowa geflogen, weil ein zwölfjähriges Mädchen euch das Ganze eingeflüstert hat.«

»Und zwar ein sehr spezielles zwölfjähriges Mädchen«, sagte John. »Mit einigen ebenso speziellen Gaben.«

»Und wir dachten, wir hätten es überstanden.« Dave warf Abra einen vorwurfsvollen Blick zu. »Wir dachten, bis auf ein paar kleine Vorahnungen wäre sie darüber hinweg.«

»Es tut mir leid, Daddy.« Abras Stimme war kaum mehr als ein Flüstern.

»Vielleicht sollte es ihr nicht leidtun müssen«, sagte Dan und hoffte, nicht so zornig zu klingen, wie er sich fühlte. »Sie hat ihre Fähigkeiten verborgen, weil Sie und Ihre Frau wollten, dass die sich in Luft auflösen. Sie hat sie verborgen, weil sie Sie liebt und eine gute Tochter sein wollte.«

»Hat sie Ihnen das etwa erzählt?«

»Wir haben nicht mal ansatzweise über das Thema gesprochen«, sagte Dan. »Aber ich habe auch sehr an meiner Mutter gehangen, und deshalb hab ich mich als Kind ganz genauso verhalten.«

Abra warf ihm einen Blick zu, der reine Dankbarkeit ausdrückte. Während sie den Kopf wieder senkte, sandte sie ihm einen Gedanken. Etwas, was ihr zu peinlich war, es laut zu sagen.

»Außerdem wollte sie nicht, dass ihre Freundinnen es erfahren. Sie dachte, die würden sie dann nicht mehr mögen, sondern Angst vor ihr haben. Damit hatte sie wahrscheinlich sogar recht.«

»Verlieren wir die Hauptsache nicht aus dem Blick«, sagte John. »Also, bekanntlich sind wir nach Iowa geflogen. Wir haben in der Nähe der Stadt Freeman eine Ethanolfabrik gefunden, genau dort, wo Abra es beschrieben hatte. Wir haben die Leiche des Jungen entdeckt. Und seinen Handschuh. Auf die Innenseite hatte er den Namen seines Lieblingsprofis geschrieben, aber auf dem Verschluss steht sein eigener Name – Brad Trevor.«

»Er wurde ermordet, behauptest du«, sagte Dave zu seiner Tochter. »Von einem Haufen durch die Gegend ziehender Irrer.«

»Sie reisen in Campingbussen und Winnebagos«, sagte Abra mit leiser, träumerischer Stimme. Während sie sprach, beäugte sie den eingewickelten Baseballhandschuh. Einerseits hatte sie Angst davor, andererseits wollte sie ihn berühren. Diese widersprüchlichen Gefühle erreichten Dan so deutlich, dass ihm ganz schlecht dabei wurde. »Und sie haben komische Namen – wie die von Piraten.«

Fast flehentlich fragte Dave: »Bist du dir denn sicher, dass dieser Junge ermordet wurde?«

»Die Frau mit dem Hut hat sich sein Blut von den Händen geleckt«, sagte Abra. Sie setzte sich zu ihrem Vater und legte ihr Gesicht an seine Brust. »Wenn sie es will, hat sie einen speziellen Zahn. Den haben sie alle.«

»Und dieser Junge war wirklich so wie du?«

»Ja.« Abras Stimme war gedämpft, aber verständlich. »Er konnte mit seiner Hand sehen.«

»Was willst du damit sagen?«

»Wenn bei einem Spiel bestimmte Bälle angeflogen kamen, konnte er sie treffen, weil seine Hand sie zuerst gesehen hat. Und wenn seine Mutter etwas verloren hatte, hat er die Hand über die Augen gelegt und hindurchgeschaut, um zu sehen, wo das verlorene Ding war. Glaube ich wenigstens. Das weiß ich nicht ganz sicher, aber manchmal benutze ich meine Hand auch so.«

»Und deshalb haben sie ihn umgebracht?«

»Mit Sicherheit«, sagte Dan.

»Um an eine Art übersinnliches Vitamin zu kommen? Wisst ihr eigentlich, wie lächerlich das klingt?«

Darauf gab niemand eine Antwort.

»Und diese Leute sollen wissen, dass Abra ihnen auf der Spur ist?«

»Ja, das wissen sie.« Abra hob den Kopf. Ihre Wangen waren gerötet und tränennass. »Meinen Namen kennen sie zwar nicht, und sie wissen auch nicht, wo ich wohne, aber sie wissen, dass es mich gibt.«

»Dann müssen wir zur Polizei gehen«, sagte Dave. »Oder vielleicht … ich glaube, mit so was befasst sich eher das FBI. Wahrscheinlich wird man uns da zuerst nicht glauben, aber wenn man die Leiche findet …«

»Ich werde Ihnen nicht sagen, dass das eine schlechte Idee ist, bis wir sehen, was Abra mit dem Baseballhandschuh anfangen kann«, sagte Dan. »Aber Sie müssen gut überlegen, welche Konsequenzen das haben könnte. Für mich, für John, für Sie und Ihre Frau und vor allem für Abra.«

»Ich weiß nicht recht, was für Probleme Sie und John bekommen …«

John rutschte ungeduldig auf dem Stuhl herum. »Ach, komm schon, David. Wer hat die Leiche gefunden? Wer hat sie ausgebuddelt und dann wieder verscharrt, nachdem er ein Beweismittel mitgenommen hat, das die Spurensicherung zweifellos für ausgesprochen wichtig halten würde? Wer hat dieses Beweismittel dann durch das halbe Land transportiert, damit eine Achtklässlerin es als Ouijabrett verwenden kann?«

Obwohl Dan es eigentlich nicht vorgehabt hatte, mischte er sich ein, um Dave Stone unter Druck zu setzen. Unter anderen Umständen hätte er sich vielleicht schlecht dabei gefühlt, momentan aber nicht. »Ihre Familie ist schon jetzt in einer Krise, Mr. Stone. Die Großmutter Ihrer Frau liegt im Sterben, Ihre Frau trauert um sie und ist erschöpft. Diese Sache würde in den Medien und im Internet wie eine Bombe einschlagen. Eine reisende Mörder-Sekte, die hinter einem angeblich medial veranlagten Mädchen her ist! Man wird Abra im Fernsehen vorführen wollen. Sie werden ablehnen, und das wird die Meute noch gieriger machen. Ihre Straße wird sich in ein Open-Air-Studio verwandeln, die Nachrichtenteams werden ins Nachbarhaus einziehen, und in ein oder zwei Wochen wird die ganze Medienbande aus voller Kehle Schwindel brüllen. Erinnern Sie sich noch an den Vater des sogenannten Ballonjungen? Mit dem wird man Sie vergleichen. Und in der ganzen Zeit werden diese Leute, die hinter Abra her sind, weiterhin unbehelligt ihr Unwesen treiben.«

»Und wer soll meine Tochter dann beschützen, wenn diese Irren tatsächlich hier auftauchen? Ihr zwei? Ein Arzt und ein Hospizpfleger? Oder sind Sie da bloß der Hausmeister?«

Gut, dass du noch nichts von dem dreiundsiebzigjährigen Stadtgärtner weißt, der auf deiner Straße Wache hält, dachte Dan und musste grinsen. »Ich bin ein wenig beides. Hören Sie, Mr. Stone …«

»Da Sie und meine Tochter offenbar so gut befreundet sind, sollten Sie mich wohl lieber Dave nennen.«

»Okay, also Dave. Was Sie als Nächstes tun werden, hängt wohl davon ab, ob Sie darauf spekulieren wollen, dass man Abra bei der Polizei Glauben schenkt. Obwohl sie dort erzählen wird, dass diese Leute Vampire sind, die anderen das Leben aussaugen.«

»Du lieber Himmel«, sagte Dave. »Lucy kann ich das alles gar nicht beichten, sonst brennt bei der noch eine Sicherung durch. Beziehungsweise alle Sicherungen.«

»Die Frage, ob die Polizei gerufen werden soll oder nicht, dürfte damit wohl erledigt sein«, bemerkte John.

Einen Augenblick lang herrschte Schweigen. Irgendwo im Haus tickte eine Uhr. Irgendwo draußen bellte ein Hund.

»Das Erdbeben«, sagte Dave plötzlich. »Dieses kleine Erdbeben. Warst du das, Abby?«

»Da bin ich mir ziemlich sicher«, flüsterte sie.

Dave umarmte sie, dann stand er auf, wickelte den Baseballhandschuh aus und hielt ihn nachdenklich in der Hand. »Sie haben ihn damit begraben«, sagte er. »Sie haben ihn entführt, gefoltert und ermordet, und dann haben sie ihn mit seinem Baseballhandschuh begraben.«

»Ja«, sagte Dan.

Dave wandte sich an seine Tochter. »Willst du dieses Ding wirklich anfassen, Abra?«

Sie streckte die Hände aus. »Nein«, sagte sie. »Aber gib es mir trotzdem.«

5

David Stone zögerte, dann überließ er Abra den Handschuh. Sie nahm ihn in die Hände und betrachtete die Innenseite. »Jim Thome«, sagte sie, und obwohl Dan seine gesamten Ersparnisse (nach zwölf Jahren kontinuierlicher Arbeit und ebenso kontinuierlicher Abstinenz hatte er tatsächlich welche) darauf verwettet hätte, dass sie noch nie auf diesen Namen gestoßen war, sprach sie ihn richtig aus: Toh-mé. »Der gehört zu denen, die mehr als sechshundert Homeruns erzielt haben.«

»Das stimmt«, sagte Dave. »Er …«

»Pst«, machte Dan.

Die drei beobachteten Abra. Sie hob den Handschuh ans Gesicht und schnupperte an der Tasche. (Dan, dem das Wanzengewimmel darin einfiel, musste sich zusammenreißen, dass er nicht angeekelt das Gesicht verzog.) »Nicht Barry the Chunk, sondern Barry the Chink. Aber der ist gar kein Chinese. Sie nennen ihn bloß so, weil seine Augen an den Winkeln schräg nach oben gehen. Er ist ihr … ihr … weiß auch nicht … Moment mal …«

Sie hielt sich den Handschuh an die Brust, als wäre er ein Baby. Dann begann sie schneller zu atmen. Ihr Mund fiel auf, und sie stöhnte. Erschrocken legte Dave ihr eine Hand auf die Schulter. Abra schüttelte ihn ab. »Nein, Daddy, nein!« Sie schloss die Augen und drückte den Handschuh an sich. Die anderen warteten.

Endlich gingen Abras Augen auf, und sie sagte: »Sie kommen, um mich zu holen.«

Dan stand auf, kniete sich neben sie und legte eine Hand über ihre beiden Hände.

(wie viele sind es einige von ihnen oder alle)

»Bloß einige. Barry ist dabei, deshalb kann ich es sehen. Und noch drei andere. Vielleicht auch vier. Darunter eine Frau mit einem Schlangentattoo. Sie nennen uns Tölpel. Wir sind Tölpel für sie.«

(ist das die Frau mit dem Hut)

(nein)

»Wann werden sie hier sein?«, fragte John. »Kannst du uns das sagen?«

»Morgen. Zuerst müssen sie irgendwo anhalten und was abholen …« Sie hielt inne. Ihr Blick schweifte durchs Zimmer, ohne etwas zu sehen. Eine Hand kam unter der von Dan hervor und begann, über den Mund zu reiben. Die andere hielt den Handschuh umklammert. »Sie müssen … ich weiß nicht …« Aus ihren Augenwinkeln quollen Tränen, nicht aus Traurigkeit, sondern durch die Anstrengung. »Ist es Medizin? Es ist … Moment, Moment, lass mich los, Dan, ich muss … du musst mich loslassen …«

Er nahm seine Hand weg. Es knisterte scharf, und das blaue Flämmchen einer statischen Entladung blitzte auf. Das Klavier spielte eine disharmonische Reihe von Tönen. Eine kleine Sammlung Hummel-Figuren, die auf dem Tischchen neben der Tür zum Flur standen, geriet rappelnd ins Wackeln. Abra schlüpfte mit der Hand in den Handschuh. Ihre Augen weiteten sich.

»Einer heißt Crow! Ein anderer ist Arzt, und da haben sie Glück, weil Barry krank ist! Er ist krank!« Sie starrte die drei wild an, dann lachte sie. Dans Nackenhärchen stellten sich auf. So lachten wohl Wahnsinnige, wenn sie zu spät ihre Medikamente bekamen. Fast hätte er ihr den Handschuh von der Hand gerissen.

»Er hat die Masern! Er hat sich bei Grampa Flick damit angesteckt, und jetzt wird er bald kreisen! Verfluchte Scheiße, das kommt von diesem Jungen! Offenbar war der nicht geimpft! Wir müssen Rose Bescheid sagen! Wir müssen …«

Das reicht, dachte Dan. Er zog ihr den Handschuh von der Hand und warf ihn quer durchs Zimmer. Das Klavier verstummte. Die Hummel-Figuren gaben ein letztes Klappern von sich und beruhigten sich dann. Eine war so weit an den Rand gerutscht, dass sie fast heruntergefallen wäre. Dave starrte seine Tochter mit offenem Mund an. John war aufgestanden, schien jedoch nicht in der Lage zu sein, auch nur einen Schritt vorwärts zu tun.

Dan nahm Abra bei den Schultern und schüttelte sie heftig. »Abra, komm raus da!«

Sie blickte ihn mit weit aufgerissenen, ziellos umherwandernden Augen an.

(komm zurück Abra es ist alles gut)

Ihre Schultern, die sie fast bis zu den Ohren hochgezogen hatte, entspannten sich allmählich. Die Augen sahen ihn wieder. Sie atmete tief aus und sank in den Arm ihres Vaters zurück, der sie festhielt. Der Kragen ihres T-Shirts war vom Schweiß dunkel gefärbt.

»Abby?«, fragte Dave. »Abba-Doo? Alles in Ordnung?«

»Ja, aber nenn mich nicht so.« Sie sog tief Luft ein und stieß sie dann mit einem langen Seufzer aus. »O mein Gott, das war ganz schön heftig.« Sie sah ihren Vater an. »Als ich vorhin Scheiße gesagt hab, war das nicht ich, das war einer von denen. Ich glaube, es war dieser Crow. Er ist der Anführer von denen, die kommen.«

Dan setzte sich neben Abra auf die Couch. »Geht’s dir wirklich wieder gut?«

»Ja. Jetzt schon. Aber den Handschuh da will ich nie wieder anfassen. Diese Typen sind nicht wie wir. Sie sehen wie Menschen aus, und ich glaube, das waren sie früher auch, aber jetzt denken sie wie Reptilien.«

»Du hast gesagt, Barry hat die Masern. Erinnerst du dich daran?«

»Barry, ja. Der, den sie Chink nennen. Ich erinnere mich an alles. Und ich verdurste.«

»Ich hole dir ein Glas Wasser«, sagte John.

»Nein, etwas mit Zucker drin. Bitte.«

»Im Kühlschrank ist Cola«, sagte Dave. Er streichelte Abra erst über die Haare, dann die Seite ihres Gesichts und schließlich den Nacken. Als wollte er sich vergewissern, dass sie noch da war.

Sie warteten, bis John mit einer Dose Coke wiederkam. Abra griff danach, trank gierig und rülpste. »’tschuldigung«, sagte sie und kicherte.

In seinem ganzen Leben war Dan noch nie so froh gewesen, jemand kichern zu hören. »John – bei Erwachsenen sind Masern doch gefährlicher als bei Kindern, stimmt’s?«

»Und ob. Sie können eine Lungenentzündung verursachen, in manchen Fällen sogar Erblindung durch Läsionen der Hornhaut.«

»Kann man daran sterben?«

»Durchaus, aber das ist selten.«

»Bei denen ist es anders, weil sie normalerweise nicht krank werden, glaube ich«, sagte Abra. »Aber Barry ist krank. Sie werden anhalten und ein Päckchen abholen. Das muss Medizin für ihn sein. Etwas, was man spritzen kann.«

»Du hast gesagt, er wird bald kreisen«, sagte Dave. »Was soll das bedeuten?«

»Keine Ahnung.«

»Wenn Barry krank ist, wird sie das wohl aufhalten?«, fragte John. »Werden sie vielleicht sogar umkehren und dahin zurückfahren, wo sie hergekommen sind?«

»Ich glaube nicht. Vielleicht haben die anderen sich schon bei Barry angesteckt und wissen das. Sie haben nichts zu verlieren und nur was zu gewinnen, hat dieser Crow gesagt.« Abra trank, dann umfasste sie die Dose mit beiden Händen und sah nacheinander die drei Männer an, zuletzt ihren Vater. »Sie wissen, wie unsere Straße heißt. Und meinen Namen kennen sie vielleicht auch. Möglicherweise haben sie sogar ein Bild von mir. Ich bin mir da nicht ganz sicher. Die Gedanken von Barry sind total durcheinander. Aber sie meinen … sie meinen, wenn ich keine Masern bekommen kann …«

»Dann könnte deine Essenz sie unter Umständen heilen«, sagte Dan. »Oder könnte zumindest als Impfung für die anderen dienen.«

»Also, Essenz nennen sie das nicht«, sagte Abra. »Sie nennen es Steam.«

Dave klatschte entschlossen in die Hände. »Das reicht. Ich rufe bei der Polizei an. Wir lassen diese Leute verhaften.«

»Das darfst du nicht.« Abra sprach mit der matten Stimme einer deprimierten Fünfzigjährigen. Tu, was du nicht lassen kannst, sagte diese Stimme. Aber ich warne dich.

Ihr Vater hatte schon sein Handy aus der Tasche gezogen, aber statt es aufzuklappen, hielt er es in der Hand. »Wieso nicht?«

»Sie haben eine gute Erklärung dafür, wieso sie nach New Hampshire fahren, und lauter ordentliche Ausweise. Außerdem sind sie reich. Richtig reich, so wie Banken und Ölfirmen und Walmart reich sind. Kann sein, dass sie erst mal verschwinden, aber sie werden zurückkommen. Sie kommen immer zurück, wenn sie was wollen. Sie töten Leute, die sich ihnen in den Weg stellen, und Leute, die versuchen, sie zu verraten, und wenn sie jemand Geld geben müssen, um sich irgendwo loszueisen, dann tun sie das eben.« Sie stellte ihre Cola auf den Couchtisch und schlang die Arme um ihren Vater. »Bitte, Daddy, sag es niemand. Ich würde lieber mit denen mitgehen, als dass sie Mama oder dir wehtun.«

»Aber momentan sind sie nur zu viert oder zu fünft«, sagte Dan.

»Stimmt.«

»Wo sind die anderen? Weißt du das jetzt?«

»Auf einem Campingplatz, der Bluebird heißt. Vielleicht auch Bluebell. Der gehört ihnen. In der Nähe ist eine Stadt. Dort ist auch der Supermarkt, der von Sam’s. Die Stadt heißt Sidewinder. Rose ist dort und die anderen Wahren. So nennen sie sich nämlich, den Wahren Kno… Dan? Was ist denn?«

Dan erwiderte nichts. Zumindest vorläufig war er völlig sprachlos. Er erinnerte sich daran, wie die Stimme von Dick Hallorann aus Eleanor Ouellettes totem Mund gekommen war. Er hatte Dick gefragt, wo die leeren Teufel seien, und jetzt ergab dessen Antwort einen Sinn.

In deiner Kindheit.

»Dan?« Das war John. Seine Stimme erklang wie aus weiter Ferne. »Du bist weiß wie ein Laken.«

Nun ergab alles einen merkwürdigen Sinn. Schon von Anfang an hatte er gewusst, dass das Hotel Overlook ein unheilvoller Ort war, noch bevor er es tatsächlich gesehen hatte. Nun war es verschwunden, niedergebrannt, aber wer hätte sagen mögen, dass das Böse, Unheilvolle dort ebenfalls verbrannt war? Er sicher nicht. Schließlich war er als Kind von den Geistern von Toten aufgesucht worden, die entkommen waren.

Dieser Campingplatz, der ihnen gehört – der steht da, wo früher das Hotel gestanden hat. Das weiß ich. Und früher oder später müssen sie dorthin zurück. Das weiß ich ebenfalls. Wahrscheinlich müssen sie das ziemlich bald. Aber zuerst …

»Es geht schon wieder«, sagte er.

»Willst du auch eine Cola?«, fragte Abra. »Zucker löst eine Menge Probleme. Glaube ich wenigstens.«

»Später. Ich habe eine Idee. Die ist zwar noch reichlich vage, aber wenn wir vier zusammenarbeiten, kann daraus vielleicht ein Plan werden.«

6

Snakebite Andi parkte im Lastwagenbereich einer Raststätte in der Nähe von Westfield, New York. Nut ging in den Laden, um Saft für Barry zu besorgen, der inzwischen Fieber und eine schmerzhafte Halsentzündung hatte. Während die anderen auf seine Rückkehr warteten, wählte Crow die Nummer von Rose. Sie hob schon beim ersten Läuten ab. Er informierte sie so knapp wie möglich, dann schwieg er.

»Was höre ich da eigentlich im Hintergrund?«, fragte sie.

Crow seufzte und rieb sich mit der Hand über die Bartstoppeln. »Das ist Jimmy Numbers. Er weint.«

»Sag ihm, er soll aufhören. Echte Kerle weinen nicht beim Baseballspielen.«

Crow gab das weiter, wobei er Rose’ eigenartigen Sinn für Humor aussparte. Jimmy, der damit beschäftigt war, Barry mit einem feuchten Tuch das Gesicht abzuwischen, schaffte es daraufhin, seine lauten und (das musste Crow zugeben) nervigen Schluchzer zu dämpfen.

»So ist es besser«, sagte Rose.

»Was sollen wir tun?«

»Moment, ich versuche gerade nachzudenken.«

Crow fand die Vorstellung, dass Rose versuchen musste nachzudenken, fast so beunruhigend wie die roten Flecke, die inzwischen überall auf Barrys Gesicht und Körper aufgetaucht waren, aber er gehorchte und hielt sich sein iPhone ans Ohr, ohne etwas zu sagen. Er schwitzte. War das Fieber, oder war es nur warm hier drin? Crow suchte seine Arme nach roten Flecken ab, sah jedoch keine. Noch nicht.

»Liegt ihr im Zeitplan?«, fragte Rose.

»Bisher ja. Wir sind sogar etwas früher dran.«

Es klopfte zweimal kurz hintereinander an der Tür. Andi warf einen Blick durchs Fenster, dann machte sie auf.

»Crow? Bist du noch dran?«

»Ja. Nut ist gerade zurückgekommen. Er hat Saft für Barry geholt. Der hat Halsschmerzen.«

»Versuch das mal«, sagte Walnut zu Barry und schraubte die Kappe ab. »Es ist Apfelsaft. Frisch aus dem Kühlschrank. Das wird deinem Hals richtig guttun.«

Barry stützte sich auf die Ellbogen und trank von der kleinen Glasflasche, die Nut ihm an die Lippen setzte. Crow konnte das kaum mit ansehen. Er hatte erlebt, wie kleine Lämmer auf dieselbe schwache, hilflose Weise aus der Flasche tranken.

»Kann er sprechen, Crow? Dann gib ihm das Telefon!«

Crow schob Jimmy mit dem Ellbogen beiseite und setzte sich neben Barry. »Rose. Sie will mit dir sprechen.«

Er versuchte, Barry das Telefon ans Ohr zu halten, aber der nahm es ihm aus der Hand. Der Saft oder das Aspirin, das Nut ihm aufgezwungen hatte, schien ihm ein wenig Kraft verliehen zu haben.

»Rose«, krächzte er. »Es tut mir leid, Darling.« Er lauschte, dann nickte er. »Ich weiß. Das kapiere ich. Ich …« Wieder lauschte er. »Nein, noch nicht, aber … ja. Doch, das kann ich. Mache ich. Ja. Ich liebe dich auch. Da ist er wieder.« Er reichte Crow das Telefon, dann ließ er sich auf seinen Kissenstapel zurückfallen. Der vorübergehende Kraftschub war erschöpft.

»Da bin ich«, sagte Crow.

»Ist er schon am Kreisen?«

Crow warf einen kurzen Blick auf Barry. »Nein.«

»Das ist ein Silberstreif am Horizont. Er sagt, er kann die Kleine immer noch lokalisieren. Falls er es doch nicht schafft, müsst ihr sie selber finden. Wir müssen dieses Mädchen in die Finger kriegen.«

Crow war bewusst, dass Rose die Kleine – vielleicht war es Julianne, vielleicht Emma, wahrscheinlich jedoch Abra – aus persönlichen Gründen haben wollte, und aus seiner Sicht reichte das aus, aber es stand mehr auf dem Spiel. Womöglich das weitere Überleben des Wahren Knotens. Als Crow sich hinten im Winnebago flüsternd mit Nut beraten hatte, hatte dieser gemeint, das Mädchen habe zwar wahrscheinlich nie die Masern gehabt, aber sein Steam könne die Wahren wegen den Impfungen, die es als Kleinkind erhalten habe, eventuell trotzdem schützen. Verlassen konnte man sich darauf nicht, aber es war zumindest wesentlich besser, als überhaupt keine Chance zu haben.

»Crow? Sag was, Süßer!«

»Wir werden sie finden.« Er warf dem Internet-Genie des Knotens einen kurzen Blick zu. »Jimmy hat die Suche auf drei Mädchen eingeschränkt, die alle nah beieinander wohnen. Wir haben Fotos von ihnen.«

»Das ist ja großartig!« Rose hielt kurz inne, und als sie weitersprach, klang ihre Stimme tiefer, wärmer und irgendwie ein ganz klein wenig zittrig. Die Vorstellung, dass Rose Angst hatte, fand Crow unerträglich, aber so war es wohl. Nicht um sich selbst hatte sie Angst, sondern um den Wahren Knoten, den zu beschützen ihre Pflicht war. »Du weißt, ich würde euch jetzt, wo Barry krank ist, nie weitermachen lassen, wenn ich mir nicht sicher wäre, dass es unbedingt notwendig ist.«

»Weiß ich.«

»Schnappt sie euch, setzt sie schachmatt, bringt sie hierher. Okay?«

»Okay.«

»Wenn ihr anderen auch noch krank werden solltet und den Eindruck habt, ihr müsst ein Flugzeug chartern, um es mit ihr hierherzuschaffen …«

»Dann tun wir das natürlich.« Vor dieser Aussicht graute Crow allerdings. Jeder von ihnen, der beim Besteigen des Flugzeugs nicht krank war, würde es beim Aussteigen sein – Gleichgewichtsstörungen, mindestens einen Monat lang Hörschwierigkeiten, Lähmungserscheinungen, Erbrechen. Außerdem wurden alle Flüge dokumentiert. Nicht gerade gut für Passagiere, die ein unter Drogen gesetztes, gekidnapptes Mädchen eskortierten. Dennoch: Wenn es sein musste, dann musste es eben sein.

»Zeit zum Aufbruch«, sagte Rose. »Kümmere dich um meinen Barry, Großer. Um die anderen auch!«

»Ist bei euch alles in Ordnung?«

»Klar«, sagte Rose und legte auf, bevor er ihr weitere Fragen stellen konnte. Das war okay. Manchmal brauchte man keine Telepathie, um beurteilen zu können, ob jemand log. Selbst Tölpel wussten das.

Er warf sein Telefon auf den Tisch und klatschte forsch in die Hände. »Also, treten wir aufs Gas. Nächster Halt Sturbridge, Massachusetts. Nut, du bleibst bei Barry. Die nächsten sechs Stunden fahre ich, und dann bist du an der Reihe, Jimmy.«

»Ich will nach Hause«, sagte Jimmy Numbers missmutig. Er wollte noch etwas hinzufügen, aber bevor er dazu kam, packte ihn eine heiße Hand am Handgelenk.

»Wir haben keine Wahl«, sagte Barry. Seine Augen glänzten fiebrig, aber sein wacher Blick wirkte normal. In diesem Moment war Crow sehr stolz auf ihn. »Nicht die geringste Wahl, du Computerfreak, also reiß dich zusammen. Der Wahre Knoten steht an oberster Stelle. Immer.«

Crow setzte sich ans Lenkrad und drehte den Zündschlüssel. »Jimmy«, sagte er. »Setz dich kurz zu mir. Hab was zu besprechen.«

Jimmy Numbers kletterte auf den Beifahrersitz.

»Diese drei Mädchen, wie alt sind die? Weißt du das?«

»Das und noch allerhand anderes. Als ich die Bilder besorgt hab, hab ich die von der Schule gespeicherten Daten über sie gehackt. Wenn schon, denn schon, oder? Deane und Cross sind vierzehn. Die kleine Stone ist ein Jahr jünger. Sie hat in der Grundschule eine Klasse übersprungen.«

»Das könnte ein Hinweis auf Steam sein«, sagte Crow.

»Glaube ich auch.«

»Und sie wohnen alle in demselben Viertel.«

»Korrekt.«

»Das wiederum dürfte ein Hinweis darauf sein, dass sie befreundet sind.«

Obwohl Jimmys Augen noch vom Weinen angeschwollen waren, lachte er auf. »Tja, wie das unter Mädchen so ist. Wahrscheinlich benutzen alle drei dieselbe Sorte Lippenstift und himmeln dieselben Bands an. Aber worauf willst du hinaus?«

»Auf gar nichts«, sagte Crow. »Wollte mich nur informieren. Information ist Macht, heißt es schließlich.«

Zwei Minuten später fädelte der Winnebago von Steamhead Steve sich wieder auf die Interstate 90 ein. Als der Tacho auf fünfundsechzig stand, schaltete Crow den Tempomaten ein und ließ den Wagen dahinrollen.

7

Dan legte kurz dar, was er im Sinn hatte, und wartete dann auf die Antwort von Dave Stone. Der saß lange einfach neben seiner Tochter, mit gesenktem Kopf und zwischen den Knien gefalteten Händen.

»Daddy?«, hakte Abra nach. »Bitte sag etwas.«

Dave hob den Kopf und sagte: »Wer will ein Bier?«

Dan und John tauschten einen irritierten Blick und lehnten dankend ab.

»Also, ich will eins. Ein doppelter Jack Daniel’s wäre mir zwar lieber, aber ich gebe auch ohne euren Kommentar gern zu, dass es heute Abend keine gute Idee sein dürfte, mir Whiskey hinter die Binde zu kippen.«

»Ich hol dir eins.«

Abra lief in die Küche. Sie hörten das Ploppen des Verschlusses und das Zischen von Kohlensäure – Geräusche, die bei Dan Erinnerungen weckten, von denen viele trügerisch glücklich waren. Außerdem meldete sich natürlich der Durst. Abra kam mit einer Dose Coors und einem Pilsglas wieder.

»Darf ich dir eingießen?«

»Nur zu.«

Mit fasziniertem Schweigen beobachteten Dan und John, wie Abra das Glas neigte und das Bier am Rand entlanglaufen ließ, damit möglichst wenig Schaum entstand. Das tat sie mit dem beiläufigen Geschick einer guten Barkeeperin. Sie reichte ihrem Vater das Glas und stellte die Dose neben ihn auf einen Untersetzer. Dave nahm einen tiefen Schluck, seufzte, schloss die Augen und öffnete sie wieder.

»Das tut gut«, sagte er.

Kann ich mir vorstellen, dachte Dan und sah, wie Abra ihn beobachtete. Ihr normalerweise so offenes Gesicht war undurchdringlich, und im Moment konnte er die Gedanken dahinter nicht lesen.

»Was Sie da vorschlagen, ist verrückt, aber es hat gewisse Reize«, sagte Dave. »Vor allem wäre das die Chance, dass ich diese … Kreaturen … mit eigenen Augen sehe. Das ist wahrscheinlich nötig, denn trotz allem, was ihr mir erzählt habt, kann ich unmöglich glauben, dass es sie wirklich gibt. Trotz diesem Handschuh und der Leiche, die ihr, wie ihr sagt, gefunden habt.«

Abra öffnete den Mund, um etwas zu sagen. Ihr Vater hob die Hand.

»Ich glaube durchaus, dass ihr an diese Dinge glaubt«, fuhr er fort. »Ihr alle drei. Und ich bin auch bereit zu glauben, dass eine Gruppe gefährlich geistesgestörter Individuen möglicherweise – ich sage möglicherweise – hinter meiner Tochter her ist. Deshalb würde ich bei Ihrem Plan mitmachen, Dan, aber nur, wenn Abra nicht mit reingezogen wird. Ich werde meine Tochter nicht als Köder zur Verfügung stellen.«

»Das müssen Sie auch nicht«, sagte Dan. Er erinnerte sich, wie er durch Abras Anwesenheit an der Rampe der Ethanolfabrik in einen menschlichen Spürhund verwandelt worden war und wie sein Blick sich geschärft hatte, als Abras Augen in seinem Kopf aufgegangen waren. Er hatte sogar ihre Tränen geweint, obwohl das durch keinen DNA-Test hätte nachgewiesen werden können.

Oder vielleicht doch, dachte er. Wer weiß, vielleicht doch.

»Wie das?«

»Ihre Tochter muss nicht mit uns mitkommen, um bei uns zu sein. Dafür sorgt ihre einzigartige Gabe. Abra, hast du eine Freundin, die du morgen nach der Schule besuchen könntest? Bei der du vielleicht sogar übernachten kannst?«

»Klar – Emma Deane.« An dem erregten Funkeln ihrer Augen sah er, dass sie bereits begriffen hatte, was er plante.

»Abgelehnt«, sagte Dave. »Ich lasse sie nicht unbewacht.«

»Abra wurde schon bewacht, während wir in Iowa waren«, sagte John.

Abras Augenbrauen zuckten in die Höhe, und die Kinnlade klappte ihr herunter. Als Dan das sah, freute er sich. Bestimmt hätte sie jederzeit in seinen Gedanken stöbern können, wenn sie es wollte, aber sie hatte sich an seine Bitte gehalten, es nicht zu tun.

Er zog sein Handy aus der Tasche und drückte eine der Kurzwahltasten. »Billy? Komm doch mal rein. Wir feiern hier nämlich gerade eine kleine Party.«

Drei Minuten später betrat Billy Freeman das Eigenheim der Stones. Er trug Jeans, darüber ein rotes Flanellhemd, das ihm fast bis zu den Knien reichte, und eine Mütze mit dem Aufdruck TEENYTOWN RAILWAY, die er abnahm, bevor er Dave und Abra die Hand schüttelte.

»Du hast ihm mal geholfen, als er ziemlich krank war«, sagte Abra und sah Dan an. »Daran erinnere ich mich noch.«

»Also hast du doch in meine Gedanken gelinst«, sagte Dan.

Sie wurde rot. »Nicht absichtlich. Noch nie. Manchmal … passiert es einfach.«

»Als ob ich das nicht wüsste!«

»Nichts für ungut, Mr. Freeman«, sagte Dave. »Aber Sie sind irgendwie zu alt für einen Bodyguard, und schließlich geht es hier um meine Tochter.«

Billy hob seine Hemdschöße. Zum Vorschein kam eine Pistole in einem abgewetzten schwarzen Holster. »Ein Colt M eins-neun-eins-eins«, sagte er. »Vollautomatik. Hat den Zweiten Weltkrieg mitgemacht. Das Ding ist auch schon ziemlich alt, aber es funktioniert ausgezeichnet.«

»Abra?«, sagte John. »Meinst du, man kann diese Kreaturen mit Kugeln töten, oder sind dazu nur Kinderkrankheiten in der Lage?«

Abra beäugte die Waffe. »O ja«, sagte sie. »Man kann sie durchaus erschießen. Es sind ja keine Geisterleute. Sie sind genauso wirklich, wie wir es sind.«

John sah Dan an. »Du hast wahrscheinlich keine Schusswaffe, oder?«

Dan schüttelte den Kopf und sah zu Billy hinüber.

»Ich hab eine Jagdflinte, die ich dir leihen könnte«, sagte Billy.

»Tja, das … reicht eventuell nicht aus«, sagte Dan.

Billy dachte nach. »Also, ich kenne jemand unten in Madison. Der kauft und verkauft größere Dinger. Teilweise viel größere.«

»Oje«, sagte Dave. »Das wird ja immer schlimmer.« Mehr sagte er jedoch nicht.

»Billy«, sagte Dan. »Können wir morgen den Zug reservieren, um bei Sonnenuntergang am Wolkentor ein Picknick zu veranstalten?«

»Klar. Das machen viele Leute, besonders in der Nachsaison, wenn die Preise niedriger sind.«

Abra lächelte. Den Ausdruck hatte Dan schon einmal an ihr gesehen. Es war ihr zorniges Lächeln. Er fragte sich, ob der Wahre Knoten es sich wohl anders überlegt hätte, wenn er gewusst hätte, dass sie ein solches Lächeln im Repertoire hatte.

»Gut«, sagte sie. »Gut!«

»Abra?« Dave sah verblüfft und leicht verängstigt drein. »Was willst du damit sagen?«

Abra ignorierte ihn fürs Erste. Stattdessen wandte sie sich an Dan: »Sie verdienen nichts anderes nach allem, was sie dem Baseballjungen angetan haben.« Sie wischte sich mit der Hand über den Mund, als wollte sie ihr Lächeln auslöschen, doch als sie die Hand wegzog, war es immer noch da. Zwischen ihren schmal gewordenen Lippen sah man die Spitzen ihrer Zähne. Sie ballte die Hand zur Faust.

»Sie haben es nicht anders verdient.«

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