1
Nach Wilmington hörte er auf, täglich zu trinken.
Er schaffte eine Woche, manchmal zwei, ohne etwas Stärkeres als Cola light. Er wachte ohne Kater auf, was gut war. Er wachte durstig und elend – bedürftig – auf, was nicht gut war. Dann kam wieder eine Nacht. Oder ein Wochenende. Manchmal war der Auslöser ein Budweiser-Spot im Fernsehen – vergnügte junge Leute, von denen kein Einziger einen Bierbauch hatte, die sich nach einem sportlichen Volleyballmatch ein kühles Blondes genehmigten. Manchmal sah er ein paar gut aussehende Frauen nach der Arbeit mit einem Drink vor einem hübschen kleinen Café sitzen, so einem mit einem französischen Namen und vielen Hängepflanzen. Die Drinks waren fast immer mit kleinen Schirmchen geschmückt. Manchmal war es ein Song im Radio. Einmal waren es Styx, die »Mr. Roboto« sangen. Wenn er trocken war, dann war er völlig trocken. Wenn er trank, besoff er sich. Wenn er neben einer Frau aufwachte, dachte er an Deenie und den Jungen in dem Braves-T-Shirt. Er dachte an die siebzig Dollar. Sogar an die geklaute Decke dachte er, die er in dem Regenkanal hatte liegen lassen. Vielleicht lag sie immer noch dort. In dem Fall war sie inzwischen sicher vergammelt.
Manchmal betrank er sich und ging nicht zur Arbeit. Meistens behielt man ihn trotzdem eine Weile – was er machte, das machte er gut –, aber irgendwann war es so weit. Dann verabschiedete er sich und stieg in einen Bus. Aus Wilmington wurde Albany, und aus Albany wurde Utica. Aus Utica wurde New Paltz. Nach New Paltz kam Sturbridge, wo er sich bei einem Folk-Open-Air betrank und am nächsten Tag mit einem gebrochenen Handgelenk im Knast aufwachte. Als Nächstes war Weston an der Reihe, danach kam ein Pflegeheim auf Martha’s Vineyard, und Mann, der Auftritt dauerte nicht lang. Bereits am dritten Tag roch die Oberschwester Alkohol in seinem Atem, und schon hieß es adieu, auf Nimmerwiedersehen. Einmal kreuzte er den Weg des Wahren Knotens, ohne es zu merken. Jedenfalls nicht im obersten Bereich seines Bewusstseins, wenngleich er tiefer – dort, wo sein Shining herrschte – etwas wahrnahm. Einen Geruch, schwindend und unangenehm, so ähnlich wie der Geruch von verbranntem Gummi auf einem Straßenabschnitt, wo sich vor nicht langer Zeit ein schlimmer Unfall ereignet hat.
Von Martha’s Vineyard nahm er einen Bus der MassLines nach Newburyport. Dort fand er Arbeit in einem Veteranenheim, in dem man sich um das meiste einen Dreck scherte. Es war die Sorte Heim, in der man die alten Soldaten manchmal im Rollstuhl vor einem leeren Untersuchungszimmer abstellte, bis ihre Urinbeutel überliefen und der Inhalt sich auf den Boden ergoss. Ein mieser Ort für die Patienten, ein besserer für Typen, die häufig Mist bauten wie Dan, wobei er und ein paar andere sich so gut um die alten Kerle kümmerten, wie sie konnten. Er half sogar einigen, auf die andere Seite überzuwechseln, wenn ihre Zeit gekommen war. Diesen Job behielt er ziemlich lange, so lange, bis der Saxofon-Präsident die Schlüssel des Weißen Hauses an den Cowboy-Präsidenten übergab.
In Newburyport versumpfte Dan ein paarmal, aber nur dann, wenn er am nächsten Tag frei hatte, also war das in Ordnung. Als er nach einer dieser Mini-Sauftouren aufwachte, dachte er: Wenigstens habe ich die Lebensmittelmarken dagelassen. Das brachte den alten, irren Spielshow-Dialog wieder in Gang.
Tut mir leid, Deenie, du hast verloren, aber hier geht niemand mit leeren Händen raus. Na, was haben wir für die junge Dame, Johnny?
Tja, Bob, Geld hat Deenie keines gewonnen, aber wir präsentieren ihr unser neues Videospiel, mehrere Gramm Kokain und ein dickes, fettes Bündel LEBENSMITTELMARKEN!
Dan wiederum gewann einen ganzen Monat ohne Alkohol. Es kam ihm vor wie eine merkwürdige Methode, Buße zu tun. Mehr als einmal dachte er, wenn er Deenies Adresse hätte, dann hätte er ihr die lausigen siebzig Dollar schon längst geschickt. Er hätte ihr sogar den doppelten Betrag geschickt, wenn das den Erinnerungen an den Jungen mit dem Braves-T-Shirt und der ausgestreckten Seesternhand ein Ende bereitet hätte. Aber er hatte die Adresse nicht, weshalb er stattdessen nüchtern blieb. Das war eine Züchtigung, die es in sich hatte.
Dann kam er eines Abends an einer Kneipe namens Fisherman’s Rest vorüber und sah durchs Fenster eine gut aussehende Blondine allein am Tresen sitzen. Sie trug einen Schottenrock, der nur bis zur Mitte des Oberschenkels reichte, und sie sah einsam aus, deshalb ging er hinein und erfuhr, dass sie frisch geschieden war, und he, das sei ja übel, ob sie vielleicht etwas Gesellschaft brauche, und drei Tage später wachte er mit dem bekannten schwarzen Loch in seinem Gedächtnis auf. Er machte sich auf den Weg zum Veteranenheim, wo er den Boden gewischt und Glühbirnen gewechselt hatte, und zwar in der Hoffnung, man würde ihm noch mal eine Chance geben, aber die gab es nicht. Sich um das meiste einen Dreck zu scheren war nicht ganz dasselbe, wie sich um alles einen Dreck zu scheren, und knapp daneben war auch vorbei. Als er mit den paar Sachen abzog, die in seinem Spind gewesen waren, erinnerte er sich an einen alten Spruch von Bobcat Goldthwait: »Meinen Job gab’s noch, bloß hat den jemand andres gemacht.« Also nahm er wieder einen Bus, der diesmal nach New Hampshire fuhr, und bevor er einstieg, kaufte er sich einen Glasbehälter mit einer berauschenden Flüssigkeit.
Auf der ganzen Fahrt saß er hinten auf dem Säuferplatz, dem neben der Toilette. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass man dort sitzen musste, wenn man vorhatte, sich während einer Busfahrt zu besaufen. Er griff in die braune Papiertüte, schraubte die Kappe des Glasbehälters mit berauschender Flüssigkeit ab und roch den braunen Geruch. Dieser Geruch konnte sprechen, wenngleich er nur eines zu sagen hatte: Hallo, alter Freund. Stirb noch ein wenig mehr.
Er dachte: Zucka.
Er dachte: Mama.
Er dachte daran, dass Tommy inzwischen wohl zur Schule ging. Vorausgesetzt, sein Onkel Randy hatte ihn nicht umgebracht.
Er dachte: Der Einzige, der dich bremsen kann, bist du selbst.
Dieser Gedanke war ihm schon oft gekommen, doch nun folgte ihm ein neuer. Du musst nicht so leben, wenn du das nicht willst. Natürlich kannst du so weitermachen … aber das musst du nicht.
Diese Stimme war so fremdartig, so anders als seine üblichen mentalen Zwiegespräche, dass er zuerst dachte, er hätte sie von jemand andres aufgefangen – das konnte er, wenngleich er nur noch selten ungebetene Übertragungen empfing. Er hatte gelernt, sie abzublocken. Dennoch blickte er den Mittelgang entlang, ziemlich sicher, dass jemand zu ihm zurückblicken würde. Das tat aber niemand. Alle schliefen, unterhielten sich mit ihren Nachbarn oder starrten in den grauen Tag hinaus.
Du musst nicht so leben, wenn du das nicht willst.
Wenn das nur wahr gewesen wäre. Dennoch schraubte er die Kappe wieder zu und stellte die Flasche auf den Sitz neben ihm. Zweimal griff er anschließend danach. Das erste Mal stellte er sie gleich wieder hin. Das zweite Mal griff er in den Beutel und schraubte die Kappe wieder ab, aber während er das tat, bog der Bus auf den Parkplatz der Raststätte gleich hinter der Grenze von New Hampshire ein. Dan trottete mit den anderen Fahrgästen zu Burger King, wo er sich gerade mal so lange aufhielt, dass er die Papiertüte in einen Abfalleimer werfen konnte. Auf die Seite der großen, grünen Tonne waren die Worte WENN SIE’S NICHT MEHR BRAUCHEN, LASSEN SIE’S HIER gepinselt.
Das wäre schön, dachte Dan und hörte das Klirren, mit dem die Tüte landete. Ach Gott, wäre das schön.
2
Eineinhalb Stunden später passierte der Bus ein Schild mit der Aufschrift WILLKOMMEN IN FRAZIER – HIER IST JEDE JAHRESZEIT AM SCHÖNSTEN! Darunter stand: BESUCHEN SIE TEENYTOWN!
Der Bus hielt am Bürgerzentrum von Frazier, um Fahrgäste aufzunehmen, und von dem leeren Platz neben Dan, wo während des ersten Teils der Reise die Flasche gestanden hatte, meldete sich Tony. Das war eine Stimme, die Dan erkannte, obwohl Tony jahrelang nicht mehr so klar zu ihm gesprochen hatte.
(das ist der Ort)
So gut wie jeder andere, dachte Dan.
Er zog seinen Matchbeutel aus der Gepäckablage und stieg aus. Dann stand er auf dem Gehweg und sah den Bus davonfahren. Im Westen sägten die White Mountains am Horizont. Bei all seinen Streifzügen hatte er die Berge gemieden, vor allem die gezackten Ungeheuer, von denen das Land in zwei Teile geteilt wurde. Nun dachte er: Da bin ich doch wieder im Gebirge gelandet. Wahrscheinlich hab ich immer schon gewusst, dass es so kommt. Aber diese Berge waren sanfter als jene, die manchmal immer noch in seinen Träumen spukten, und er glaubte, mit ihnen leben zu können, zumindest für eine kleine Weile. Vorausgesetzt, es gelang ihm, nicht mehr an den Jungen in dem Braves-T-Shirt zu denken. Vorausgesetzt, es gelang ihm, keinen Schnaps mehr zu trinken. Irgendwann merkte man, dass es sinnlos war, ständig weiterzuziehen. Dass man sich selber mitnahm, wo immer man auch hinkam.
Ein Schneegestöber, fein wie zarte Spitze, tanzte durch die Luft. Er sah, dass die Geschäfte an der breiten Hauptstraße in erster Linie auf die Skifahrer ausgerichtet waren, die im Dezember kamen, und auf die Sommertouristen, die im Juni anreisten. Im September und Oktober gab es wahrscheinlich auch Leute, die wegen der Laubverfärbung kamen, aber momentan herrschte das, was man im nördlichen Neuengland als Frühling ausgab, acht unangenehme Wochen, die mit Kälte und Feuchtigkeit überzogen waren. Offenbar glaubte man in Frazier selber nicht, dass auch diese Jahreszeit am schönsten war, denn die Hauptstraße – sie hieß Cranmore Avenue – war praktisch verlassen.
Dan schlang sich seinen Matchsack um die Schulter und schlenderte in Richtung Norden. An einem schmiedeeisernen Zaun blieb er stehen, um ein weitläufiges viktorianisches Gebäude zu betrachten, das an beiden Seiten von neueren Backsteinbauten flankiert wurde. Sie waren durch überdachte Fußwege mit dem Haupthaus verbunden. Auf dessen linker Dachseite gab es einen Turm, rechts hingegen nicht, wodurch ein merkwürdig unausgeglichenes Bild entstand, das Dan irgendwie gefiel. Es war so, als würde die alte Dame sagen: Tja, da ist was von mir abgebröselt. Scheiß drauf. Irgendwann geht’s dir auch so. Ein Lächeln trat auf seine Lippen. Dann erstarb es wieder.
Im Fenster des Turmzimmers stand Tony und blickte auf ihn herab. Als er sah, dass Dan zu ihm hochblickte, winkte er. Es war dasselbe feierliche Winken, an das Dan sich aus seiner Kindheit erinnerte, als Tony oft zu Besuch gekommen war. Er schloss die Augen und öffnete sie wieder. Tony war verschwunden. Er war überhaupt nicht da oben gewesen, wie hätte das auch sein können? Schließlich war das Fenster mit Brettern zugenagelt.
Auf dem Rasen stand ein Schild mit goldenen Lettern auf einem Hintergrund, der dieselbe grüne Farbe hatte wie das Haus: HELEN-RIVINGTON-HOSPIZ.
Die haben eine Katze da drin, dachte er. Eine graue Katze namens Audrey.
Wie sich später herausstellte, war das teilweise richtig und teilweise falsch. Es gab tatsächlich eine Katze, und die war auch grau, aber es handelte sich um einen kastrierten Kater, der nicht Audrey hieß.
Dan betrachtete lange das Schild – so lange, bis die Wolken sich teilten und einen biblischen Lichtstrahl herabsandten –, dann ging er weiter. Die Sonne schien inzwischen zwar so hell, dass der Chrom der wenigen, schräg vor dem Olympia Sports und dem Fresh Day Spa geparkten Autos blitzte, aber der Schnee wirbelte immer noch herab. Dazu fiel Dan etwas ein, was seine Mutter angesichts eines ähnlichen Frühlingswetters gesagt hatte, vor langer Zeit, als sie in Vermont gelebt hatten: Da schlägt der Teufel seine Frau.
3
Ein, zwei Querstraßen vom Hospiz entfernt blieb Dan wieder stehen, und zwar vor dem Rathaus. Auf der anderen Straßenseite breitete sich der kleine Stadtpark von Frazier aus. Zu dem gehörten eine gut fünftausend Quadratmeter große Rasenfläche, auf der sich das erste Grün zeigte, ein Musikpavillon, ein Softballfeld, ein asphaltierter Basketballplatz, Picknicktische und sogar ein Übungsgrün für Golfer. Alles sehr hübsch, aber was ihn interessierte, war ein Schild mit der Aufschrift:
BESUCHEN SIE TEENYTOWN
FRAZIERS »KLEINES WUNDER«
UND MACHEN SIE EINE FAHRT
MIT DER TEENYTOWN RAILWAY!
Man musste kein Genie sein, um zu sehen, dass Teenytown eine Miniaturausführung der Cranmore Avenue war. Zu sehen war die Methodistenkirche, an der Dan gerade vorbeigekommen war, mit einem gut zwei Meter in die Lüfte ragenden Turm, da waren das Music Box Theater, Spondulicks Ice Cream, Mountain Books, Shirts & Stuff, die Frazier Gallery und der Laden für Kunstdrucke. Auch eine perfekte, hüfthohe Miniausführung des Hospizes mit seinem Turm war vorhanden; die beiden Backsteinbauten links und rechts hatte man allerdings weggelassen. Vielleicht, dachte Dan, weil sie potthässlich waren, vor allem verglichen mit dem Mittelbau.
Auf der anderen Seite von Teenytown stand eine Miniatureisenbahn mit Wagen, auf die der Schriftzug TEENYTOWN RAILWAY gepinselt war. Sie waren so winzig, dass höchstens Kleinkinder hineinpassten. Aus dem Schornstein einer leuchtend roten Lokomotive, die etwa so groß wie eine Honda Gold Wing war, quoll stoßweise Rauch. Dan hörte das Tuckern eines Dieselmotors. Auf der Seite der Lok stand in altmodischen Goldbuchstaben: THE HELEN RIVINGTON. Das war wohl die große Gönnerin der Stadt gewesen. Wahrscheinlich war irgendwo in Frazier auch eine Straße nach ihr benannt.
Er blieb eine Weile an Ort und Stelle stehen, obwohl die Sonne wieder verschwunden und es so kalt geworden war, dass er seinen Atem sehen konnte. Als Kind hatte er sich immer eine elektrische Eisenbahn gewünscht, jedoch nie eine bekommen. Da drüben in Teenytown war eine Jumboausführung, die Kinder jedes Alters begeistern konnte.
Er schwang sich den Matchsack auf die andere Schulter und überquerte die Straße. Tony wieder zu hören – und ihn zu sehen – war beunruhigend, aber momentan war er froh, hier ausgestiegen zu sein. Vielleicht war dies wirklich der Ort, den er gesucht hatte, der Ort, wo er endlich eine Möglichkeit fand, sein gefährlich in Schieflage geratenes Leben wieder aufzurichten.
Man nimmt sich immer selber mit, wo man auch hinkommt.
Er schob diesen Gedanken in einen mentalen Schrank. Darin hatte er Übung. In diesem Schrank war schon jede Menge Kram verstaut.
4
Die Lokomotive war auf beiden Seiten von einer Schutzwand umgeben, aber Dan sah unter dem niedrigen Dach des Teenytown-Bahnhofs einen Hocker stehen, holte ihn herbei und stellte sich darauf. Der Führerstand der Lok war mit schafsfellbezogenen Schalensitzen ausgestattet, die offenbar aus einem alten amerikanischen Sportwagen stammten. Die Armaturen waren wohl ebenfalls modifizierte Autoteile, mit Ausnahme eines altmodischen, z-förmigen Schalthebels, der aus dem Boden ragte. Ein Schaltschema war nicht zu sehen; den ursprünglich vorhandenen Knauf hatte man durch einen grinsenden Totenschädel ersetzt. Um den war ein Halstuch gebunden, dessen rote Farbe durch die jahrelange Benutzung zu Rosa verblasst war. Die obere Hälfte des Lenkrads war abgeschnitten, wodurch der Rest wie das Steuerhorn eines Kleinflugzeugs aussah. In verblassenden, aber noch lesbaren schwarzen Buchstaben stand auf dem Armaturenbrett: HÖCHSTGESCHWINDIGKEIT 40 NICHT ÜBERSCHREITEN.
»Na, gefällt sie Ihnen?«, sagte auf einmal jemand direkt hinter ihm.
Dan fuhr herum, wobei er fast von dem Hocker gefallen wäre. Eine große, verwitterte Hand packte ihn am Unterarm und hielt ihn im Gleichgewicht. Sie gehörte einem Mann Ende fünfzig oder Anfang sechzig, der eine gefütterte Jeansjacke und eine rot karierte Jagdmütze mit heruntergeklappten Ohrenschützern trug. In der freien Hand hielt er einen Werkzeugkasten, auf dessen Deckel ein Dymo-Band mit der Aufschrift EIGENTUM DER STADT FRAZIER klebte.
»Entschuldigung«, sagte Dan und stieg vom Hocker. »Ich wollte nicht …«
»Schon in Ordnung. Hier bleibt dauernd jemand stehen. Meistens Modellbahnfans. Für die ist so was ein Traum. Wenn im Sommer richtig was los ist und die Riv etwa jede Stunde losdampft, ist uns das nicht so recht, aber um diese Jahreszeit bin ich allein. Und mir macht es nichts aus.« Er streckte Dan die Hand hin. »Billy Freeman. Ich arbeite bei der Stadt. Die Riv ist mein Baby.«
Dan ergriff die dargebotene Hand. »Dan Torrance.«
Billy Freeman warf einen Blick auf den Matchsack. »Sie sind wohl gerade mit dem Bus gekommen, was? Oder trampen Sie durch die Gegend?«
»Mit dem Bus«, sagte Dan. »Was für einen Motor hat das Ding da?«
»Tja, das ist eine interessante Frage. Vom Chevrolet Veraneio haben Sie wahrscheinlich nie gehört, oder?«
Das hatte er tatsächlich nicht, aber er wusste trotzdem Bescheid. Weil Freeman Bescheid wusste. Soweit Dan sich erinnerte, hatte er seit Jahren nichts mehr so hell gesehen. Ihn überkam der Anflug einer Freude, die bis in seine früheste Kindheit zurückreichte, in eine Zeit, in der er noch nicht entdeckt hatte, wie gefährlich die Gabe zum Shining sein konnte.
»Ein in Brasilien hergestellter Geländewagen, stimmt’s? Turbodiesel.«
Freemans buschige Augenbrauen zuckten in die Höhe, und er grinste. »Verdammt, das stimmt! Casey Kingsley, unser Chef, hat das Ding letztes Jahr bei einer Auktion gekauft. Ein echter Hammer. Zieht wie irre. Das Armaturenbrett ist auch aus einem Geländewagen. Die Sitze hab ich selber eingebaut.«
Die Wahrnehmung von Freemans Gedanken verblasste allmählich, aber etwas bekam Dan noch mit. »Die sind aus einem GTO Judge, oder?«
Freeman strahlte. »Genau! Hab sie auf einem Schrottplatz drüben bei Sunapee gefunden. Der Schalthebel ist aus einem Mack, Jahrgang 1961. Neunganggetriebe. Hübsch, was? Sehen Sie sich eigentlich nach Arbeit um, oder sind Sie bloß neugierig?«
Angesichts des plötzlichen Themenwechsel zuckte Dan zusammen. Ob er sich nach Arbeit umsah? Wahrscheinlich schon. Das Hospiz, an dem er bei seinem Spaziergang über die Cranmore Avenue vorbeigekommen war, stellte den logischen Ausgangspunkt dar, und er hatte so eine Ahnung – ob es das Shining oder nur gewöhnliche Intuition war, konnte er nicht sagen –, dass man dort jemand brauchte, aber er war sich nicht sicher, ob er jetzt schon hingehen wollte. Tony im Turmfenster zu sehen war beunruhigend gewesen.
Außerdem sollte dein letztes Besäufnis ein wenig länger her sein, Danny, bevor du dort auftauchst und um einen Bewerbungsbogen bittest. Selbst wenn die einzige Stelle, die sie frei haben, ein Ersatzmann für die Nachtschicht ist.
Die Stimme von Dick Hallorann. Du lieber Himmel. An Dick hatte Dan lange nicht mehr gedacht. Wahrscheinlich seit Wilmington nicht mehr.
Wenn der Sommer kam – eine Jahreszeit, in der es in Frazier sicher am schönsten war –, dann suchte man bestimmt Leute für die verschiedensten Jobs. Aber wenn er sich zwischen einem Lokal im örtlichen Einkaufszentrum und Teenytown entscheiden musste, war Teenytown eindeutig die erste Wahl. Er öffnete den Mund, um Freemans Frage zu beantworten, aber bevor er dazu kam, meldete sich wieder Hallorann.
Du wirst jetzt bald dreißig, Junge. Da werden womöglich die Chancen knapp.
Währenddessen musterte Billy Freeman ihn mit offener, ungekünstelter Neugier.
»Ja«, sagte er. »Ich suche Arbeit.«
»Ein Job in Teenytown ist nichts für die Ewigkeit, wissen Sie. Sobald es Sommer wird und die Schule zu Ende ist, stellt Mr. Kingsley Leute von hier ein. Achtzehn- bis Zweiundzwanzigjährige hauptsächlich. Das erwartet der Stadtrat von ihm. Außerdem arbeiten die jungen Kerle billig.« Er grinste, wobei mehrere Zahnlücken sichtbar wurden. »Trotzdem, es gibt Schlimmeres, als hier seine Kohle zu verdienen. Im Freien zu arbeiten ist heutzutage zwar nicht mehr so beliebt, aber es wird nicht mehr lange so kalt sein.«
Das stimmte. Viele der Anlagen im Stadtpark waren mit Planen abgedeckt, aber die würden bald herunterkommen und zum Vorschein bringen, was ein kleiner Ferienort im Sommer zu bieten hatte: Hotdog-Stände, Eisbuden, ein ringförmiges Etwas, bei dem es sich offenbar um ein Karussell handelte. Außerdem war da natürlich die Eisenbahn mit ihren winzigen Wagen und dem großen Turbodiesel. Wenn er sich vom Schnaps fernhielt und sich als vertrauenswürdig erwies, ließen Freeman oder der Chef – Kingsley – ihn das Ding womöglich ab und zu führen. Das würde ihm gefallen. Später, wenn die Stadt junge Schulabgänger einstellte, konnte er immer noch beim Hospiz vorstellig werden.
Falls er überhaupt beschloss dazubleiben.
Besser, du bleibst irgendwo, sagte Hallorann – offenbar war dies ein Tag, an dem Dan ausgiebig Stimmen hörte und Visionen hatte. Besser, du bleibst bald irgendwo, sonst wirst du nirgendwo mehr bleiben können.
Er staunte über sich selbst, dass er lachte. »Hört sich gut an, Mr. Freeman. Hört sich echt gut an.«
5
»Haben Sie schon mal was mit Landschaftspflege zu tun gehabt?«, fragte Billy Freeman. Sie gingen langsam an der Eisenbahn entlang. Die Wagen reichten Dan nur bis zur Brust, sodass er sich wie ein Riese vorkam.
»Ich kann Unkraut jäten, Pflanzen einsetzen, anstreichen und lackieren. Ich weiß, wie man einen Laubbläser und eine Kettensäge bedient. Ich kann Maschinen reparieren, wenn es nichts zu Kompliziertes ist. Und ich kann auf ’nem Rasenmäher durch die Gegend fahren, ohne dass irgendwelche kleinen Kinder unter die Räder kommen. Was den Zug angeht, tja … da weiß ich nicht recht.«
»Dafür müsste Ihnen Kingsley die Erlaubnis geben. Wegen der Versicherung und solchem Kram. Hören Sie mal, haben Sie eigentlich Zeugnisse? Sonst stellt Mr. Kingsley Sie nämlich nicht ein.«
»Mehrere. Hab hauptsächlich als Hausmeister und Krankenpfleger gearbeitet. Mr. Freeman …«
»Sag einfach Billy zu mir.«
»Euer Zug sieht nicht so aus, als könnte man damit jemand befördern, Billy. Wo sitzen die Leute eigentlich?«
Billy grinste. »Bleib mal hier stehen. Vielleicht findest du das genauso lustig wie ich. Bin immer noch begeistert.«
Er ging zur Lokomotive und beugte sich hinein. Der Motor, der im Leerlauf vor sich hin getuckert hatte, jaulte auf und stieß rhythmisch dunklen Rauch aus. An der gesamten Helen Rivington entlang hörte man ein hydraulisches Pfeifen. Plötzlich setzten sich die Dächer der Personenwagen und des gelben Dienstwagens am Ende – insgesamt waren es neun Waggons – in Bewegung. Es sah aus, als würden sich gleichzeitig die Verdecke von neun identischen Cabrios heben. Dan bückte sich, um durch die Fenster zu spähen, und sah, dass in jedem Wagen hintereinander Sitze aus Hartplastik montiert waren. Sechs in den Personenwagen und zwei im Dienstwagen. Alles in allem fünfzig.
Als Billy zurückkam, grinste Dan. »Wenn der Zug voll besetzt ist, sieht das bestimmt ziemlich komisch aus.«
»Allerdings. Die Leute lachen sich kaputt und knipsen wie die Verrückten. Moment, ich führ es dir mal vor.«
Am Ende jedes Personenwagens war als Stufe eine Stahlplatte angebracht. Billy stieg in einen Wagen und setzte sich. Eine merkwürdige optische Täuschung stellte sich ein, die ihn überlebensgroß aussehen ließ. Er winkte Dan leutselig zu. Der konnte sich gut vorstellen, wie fünfzig Riesenkerle stolz in den kleinen Wagen hockten, während der Zug den Bahnhof verließ.
Als Billy Freeman sich erhob und wieder herauskletterte, applaudierte Dan. »Im Sommer läuft der Postkartenverkauf hier sicher blendend.«
»Und ob.« Billy kramte in seiner Jackentasche, zog eine verbeulte Packung Duke heraus – eine billige Marke, die Dan gut kannte, weil sie in ganz Amerika in Busstationen und Supermärkten verkauft wurde – und streckte sie Dan hin. Der nahm eine Zigarette. Billy zückte sein Feuerzeug.
»Das genieße ich, solange ich’s noch kann«, sagte Billy und betrachtete seine Zigarette. »Noch ein paar Jahre, dann ist das Rauchen hier verboten. Im Frauenverein reden sie schon darüber. Ein Haufen alter Schachteln, wenn du mich fragst, aber du weißt ja, wie es ist – wenn sie mal Kinder in die Welt gesetzt haben, halten sie sich für was Besonderes.« Er blies den Rauch durch die Nasenlöcher aus. »Nicht dass von den Weibern da eine in letzter Zeit ein Kind gekriegt hätte. Oder auch nur ’nen Tampon gebraucht.«
»Sicher nicht die schlechteste Idee«, sagte Dan. »Kinder ahmen eben nach, was sie an ihren Eltern sehen.« Er dachte an seinen Vater. Das Einzige, was Jack Torrance mehr geschätzt hatte als ein Glas Schnaps, war ein Dutzend Gläser gewesen. So hatte sich jedenfalls Dans Mutter nicht lange vor ihrem Tod ausgedrückt. Die wiederum hatte auf Zigaretten gestanden, und die hatten sie umgebracht. Früher hatte Dan sich einmal geschworen, sich auch das nie anzugewöhnen. Inzwischen hatte er den Eindruck gewonnen, dass das Leben aus einer Reihe absurder Fallen bestand.
Billy Freeman sah ihn an, wobei er ein Auge halb zukniff. »Manchmal hab ich so ein Gefühl, was Leute angeht, und bei dir hab ich das auch.« Er sprach mit einem starken Neuenglandakzent. »Das hatte ich sogar schon, bevor du dich umgedreht hast und ich dein Gesicht sehen konnte. Ich glaube, du bist genau der Richtige für den Frühjahrsputz, den ich bis Ende Mai machen muss. Das ist mein Gefühl, und meinen Gefühlen vertraue ich. Ganz schön verrückt wahrscheinlich.«
Dan fand das überhaupt nicht verrückt, und nun begriff er auch, wieso er Billy Freemans Gedanken so deutlich gehört hatte, ohne das überhaupt zu wollen. Er erinnerte sich an etwas, was Dick Hallorann ihm einmal gesagt hatte – Dick, der sein erster erwachsener Freund gewesen war. Viele Leute haben ein wenig von dem, was ich hellsichtig nenne, aber meistens ist es bloß ein Funkeln – so eine Ahnung, welche Platte der DJ im Radio als Nächstes auflegt oder dass bald das Telefon läuten wird.
Billy Freeman besaß kein Shining, aber ebendieses Funkeln. Diesen kleinen Glanz.
»Dann muss ich wohl mal mit diesem Cary Kingsley sprechen, was?«
»Casey, nicht Cary. Ja, der ist zuständig. Und zwar ist er schon seit fünfundzwanzig Jahren für die städtischen Dienste zuständig.«
»Wann ist ein guter Zeitpunkt?«
»Gleich jetzt, denke ich.« Billy zeigte auf die andere Straßenseite. »Der Backsteinklotz da drüben ist das Rathaus. Mr. Kingsley sitzt im Untergeschoss, ganz am Ende des Flurs. Du wirst merken, dass du richtig bist, sobald du von oben Discomusik hörst. Dienstags und donnerstags ist in der Turnhalle drüber nämlich immer ein Aerobic-Kurs.«
»Na gut«, sagte Dan. »Dann werde ich mal rübergehen.«
»Hast du deine Zeugnisse denn dabei?«
»Ja.« Dan klopfte auf seinen Matchsack, den er an den Bahnhof von Teenytown gelehnt hatte.
»Und die hast du nicht zufällig selber geschrieben, oder?«
Dan grinste. »Nein, die sind völlig in Ordnung.«
»Dann ran an den Speck, Junge.«
»Okay.«
»Noch was«, sagte Billy, als Dan schon gehen wollte. »Alkohol hasst er wie die Pest. Wenn du gern mal einen kippst und er dich danach fragt, kann ich dir nur raten … lüg ihn an.«
Dan nickte und hob die Hand, um zu zeigen, dass er begriffen hatte. Das war eine Lüge, die ihm geläufig war.
6
Seiner mit geplatzten Venen überzogenen Nase nach zu urteilen, hatte Casey Kingsley den Alkohol nicht immer wie die Pest gehasst. Er war ein massiger Mann, der sein kleines, überfülltes Büro weniger benutzte, als dass er es am Leib trug. Momentan hatte er sich auf seinem Schreibtischstuhl zurückgelehnt und studierte Dans Zeugnisse, die dieser säuberlich in einer blauen Kunststoffhülle aufbewahrte. Sein Hinterkopf berührte fast den Längsbalken des einfachen Holzkreuzes, das neben einem gerahmten Foto seiner Familie an der Wand hing. Auf dem Bild posierte ein jüngerer, schlankerer Kingsley mit seiner Frau und drei Kindern in Badekleidung an irgendeinem Strand. Durch die Decke drangen, nur leicht gedämpft, die Stimmen der Village People mit »YMCA«. Begleitet wurden sie vom begeisterten Stampfen vieler Füße. Dan kam ein gigantischer Tausendfüßler in den Sinn. Einer, der kürzlich beim Friseur gewesen war und einen neun Meter langen, hellroten Gymnastikanzug trug.
»Mhm«, sagte Kingsley. »Mhm, mhm … jawoll … genau, genau, genau …«
In der Ecke des Schreibtischs stand ein Glas mit Bonbons. Ohne von dem dünnen Zeugnisstapel aufzublicken, nahm Kingsley den Deckel ab, fischte ein Bonbon heraus und steckte es sich in den Mund. »Greifen Sie zu«, sagte er, ohne Dan anzusehen.
»Nein danke«, sagte Dan.
Ein merkwürdiger Gedanke kam ihm in den Sinn. Eines Tages hatte sein Vater wahrscheinlich in einem ähnlichen Zimmer gesessen, um sich als Hausmeister beim Hotel Overlook zu bewerben. Was ihm da wohl durch den Kopf gegangen war? Dass er unbedingt einen Job brauchte? Dass dies seine letzte Chance war? Vielleicht. Wahrscheinlich. Aber natürlich hatte Jack Torrance eine Familie zu versorgen gehabt. Das traf auf Dan nicht zu. Er konnte sich einfach weitertreiben lassen, wenn es hier nicht klappte. Oder sein Glück beim Hospiz versuchen. Aber … der Stadtpark gefiel ihm. Er mochte die Eisenbahn, in der ganz gewöhnliche Erwachsene wie Riesen aussahen. Er mochte Teenytown, diese absurde, verspielte Kleinstadtattraktion, die angeberisch, dadurch aber auch irgendwie tapfer wirkte. Und er mochte Billy Freeman, der ein klein wenig hellsichtig war und das wahrscheinlich nicht einmal wusste.
Über ihm wurde »YMCA« nun durch »I Will Survive« ersetzt. Als hätte er nur auf ein neues Musikstück gewartet, steckte Kingsley die Zeugnisse wieder in ihre Hülle, die er Dan anschließend über den Tisch hinweg zuschob.
Er wird mir eine Abfuhr erteilen.
Doch nach einem Tag voller treffsicherer Intuitionen ging diese daneben. »Die Unterlagen sehen gut aus, aber ich hab den Eindruck, Sie wären besser im staatlichen Krankenhaus von New Hampshire aufgehoben oder im Hospiz hier in der Stadt. Vielleicht wären Sie sogar für einen dieser Pflegedienste geeignet – wie ich sehe, haben Sie ein paar Qualifikationen im medizinischen Bereich und in Erster Hilfe. Da steht, Sie können einen Defibrillator bedienen. Haben Sie schon mal an einen Pflegedienst gedacht?«
»Ja. An das Hospiz ebenfalls. Aber dann hab ich den Stadtpark, Teenytown und die Eisenbahn gesehen.«
Kingsley grunzte. »Wahrscheinlich hätten Sie nichts dagegen, sich mal in die Lok zu setzen, was?«
Dan log, ohne zu zögern. »Nein, Sir, ich glaube nicht, dass mich das interessiert.« Hätte er zugegeben, dass er sich gern auf den ramponierten Autositz gehockt und das abgesägte Lenkrad in die Hände genommen hätte, so hätte das fast unweigerlich zur Frage nach seinem Führerschein geführt, dann zu einem Gespräch darüber, wie er den verloren hatte, und schließlich zu einer Aufforderung, das Büro von Mr. Casey Kingsley unverzüglich zu verlassen. »Ich bin eher der Typ für Rechen und Rasenmäher.«
»Und eher der Typ für Kurzzeitjobs, wenn man sich so die Unterlagen anschaut.«
»Ach, ich werde mich bald irgendwo niederlassen. Was meine Wanderlust angeht, hab ich mich allmählich genügend ausgetobt, glaube ich.« Er fragte sich, ob das in Kingsleys Ohren genauso abgedroschen klang wie in seinen.
»Mehr als ’nen Kurzzeitjob kann ich Ihnen allerdings gar nicht anbieten«, sagte Kingsley. »Sobald die Sommerferien anfangen …«
»Billy hat mich schon informiert. Wenn ich im Sommer noch hier bin, versuche ich es beim Hospiz. Vielleicht bewerbe ich mich da sogar schon vorab, außer Sie haben was dagegen.«
»Das ist mir schnuppe.« Kingsley betrachtete ihn neugierig. »Der Umgang mit Sterbenden macht Ihnen also nichts aus?«
Deine Mutter ist da drin gestorben, dachte Danny. Offenbar war sein Shining doch nicht verschwunden, es versteckte sich noch nicht einmal richtig. Du hast ihr dabei die Hand gehalten. Ihr Name war Ellen.
»Nein«, sagte er. Dann fügte er ohne rechten Grund hinzu: »Wir sterben ja alle. Die Welt ist nur ein Hospiz mit frischer Luft.«
»Auch noch ein Philosoph! Tja, Mr. Torrance, ich glaube, ich werde Sie einstellen. Ich vertraue auf Billys Urteil – wenn es um Menschen geht, macht der nur selten einen Fehler. Aber kommen Sie nicht zu spät zur Arbeit, kommen Sie nicht betrunken, und kommen Sie nicht mit roten Augen und einer Dope-Fahne hier an. Falls Sie sich nicht daran halten, müssen Sie leider wieder abreisen, denn dann wird auch unser Hospiz nichts mit Ihnen zu tun haben wollen – dafür werde ich sorgen. Ist das klar?«
Dan spürte einen Anflug von Ärger
(du Angeber kannst mich mal)
den er jedoch unterdrückte. Dies war Kingsleys Spielfeld und Kingsleys Ball. »Kristallklar.«
»Sie können morgen anfangen, wenn Ihnen das recht ist. Hier in der Stadt gibt’s eine Menge preiswerte Privatzimmer. Ich erkundige mich mal, wenn Sie wollen. Schaffen Sie es, neunzig pro Woche zu zahlen, bis Sie Ihren ersten Scheck bekommen?«
»Ja. Danke, Mr. Kingsley.«
Kingsley wedelte mit der Hand. »Vorläufig würde ich das Red Roof Inn empfehlen. Das wird von meinem früheren Schwager geführt, der macht Ihnen einen guten Preis. Einverstanden?«
»Auf jeden Fall.« Alles war in bemerkenswertem Tempo geschehen, so als hätten sich die letzten Teile in ein kompliziertes Tausender-Puzzle eingefügt. Dan schärfte sich ein, diesem Gefühl nicht zu vertrauen.
Kingsley erhob sich. Aufgrund seiner Masse dauerte das eine Weile. Auch Dan stand auf, und als Kingsley seine Pranke über den unaufgeräumten Schreibtisch streckte, schüttelte Dan sie. Von oben kam inzwischen der Sound von KC and the Sunshine Band, die der Welt mitteilten, auf welche Art und Weise es ihnen gefiel, a-ha, a-ha.
»Ich hasse diese Disco-Scheiße«, sagte Kingsley.
Nein, dachte Danny, das tust du nicht. Sie erinnert dich an deine Tochter, die dich nicht mehr oft besucht. Weil sie dir immer noch nicht verziehen hat.
»Alles in Ordnung?«, fragte Kingsley. »Sie sehen ein bisschen bleich aus.«
»Bin bloß müde. Es war eine lange Busfahrt.«
Sein Shining war wieder da, und es war stark. Die Frage lautete: Weshalb gerade jetzt?
7
Drei Arbeitstage später, die Dan damit verbrachte, den Musikpavillon anzustreichen und die Reste des trockenen Herbstlaubs vom Rasen zu blasen, kam Kingsley über die Cranmore Avenue gewatschelt und sagte ihm, er könne ein Zimmer in der Eliot Street beziehen, wenn er wolle. Samt eigenem Badezimmer mit Wanne und Dusche. Fünfundachtzig pro Woche. Dan wollte.
»Gehen Sie in der Mittagspause mal vorbei«, sagte Kingsley. »Und fragen Sie nach Mrs. Robertson.« Mit einem Finger, an dem erste arthritische Knoten erkennbar waren, zeigte er die Richtung an. »Und bauen Sie da bloß keinen Mist, junger Mann, die ist nämlich eine alte Freundin von mir. Denken Sie dran, dass ich für Sie gebürgt hab, und zwar auf der Basis von nichts anderem als ein paar ziemlich dünnen Unterlagen und der Intuition von Billy Freeman.«
Dan versprach, ganz sicher keinen Mist zu bauen, aber die besondere Aufrichtigkeit, die er seiner Stimme zu verleihen versuchte, klang in seinen Ohren gekünstelt. Wieder dachte er an seinen Vater, der gezwungen gewesen war, einen wohlhabenden alten Freund um einen Job anzubetteln, nachdem er seine Stelle als Lehrer in Vermont verloren hatte. Es war merkwürdig, Mitgefühl für einen Menschen zu empfinden, der ihn fast umgebracht hatte, aber das Mitgefühl war da. Ob irgendjemand es wohl für notwendig gehalten hatte, seinem Vater zu sagen, er solle keinen Mist bauen? Wahrscheinlich. Natürlich hatte Jack Torrance trotzdem Mist gebaut. Spektakulären Mist. Erste Klasse. Zweifellos hatte der Alkohol etwas damit zu tun gehabt, aber wenn man am Boden lag, spürten manche Typen einfach den Drang, einem in den Rücken zu fallen und den Fuß auf den Nacken zu setzen, statt einem aufzuhelfen. Das war zwar erbärmlich, aber das galt für viele Aspekte der menschlichen Natur. Und wenn man mit dem minderwertigen Teil der Meute durch die Gegend zog, sah man eben hauptsächlich Pfoten, Klauen und Arschlöcher.
»Und fragen Sie Billy, ob er Stiefel findet, die Ihnen passen. Im Werkzeugschuppen hat er etwa ein Dutzend Paare gehortet. Als ich das letzte Mal reingeschaut hab, haben allerdings nur die Hälfte von denen zusammengepasst.«
Der Tag war sonnig, die Luft mild. Dan, der in Jeans und einem T-Shirt mit dem Logo der Utica Blue Sox arbeitete, blickte in den fast wolkenlosen Himmel und dann wieder auf Casey Kingsley.
»Ja, ich weiß, wonach es aussieht, aber wir sind hier in den Bergen, junger Mann. Der Wetterbericht behauptet, es kommt bald Nordostwind und bringt womöglich dreißig Zentimeter Schnee. Lang wird der zwar nicht liegen bleiben – hier in New Hampshire nennt man den Aprilschnee den Dünger des armen Mannes –, aber außerdem wird es ganz schön stürmisch. Sagt jedenfalls der Wetterbericht. Ich hoffe, Sie können mit einer Schneefräse genauso gut umgehen wie mit einem Laubbläser.« Er hielt kurz inne. »Außerdem hoffe ich, dass Sie keine Rückenprobleme haben. Morgen werden Sie und Billy nämlich massenhaft abgebrochene Äste einsammeln. Vielleicht müssen Sie auch ein paar umgestürzte Bäume zersägen. Kennen Sie sich mit Kettensägen aus?«
»Ja, Sir«, sagte Dan.
»Gut.«
8
Dan und Mrs. Robertson verstanden sich gut. Sie bot ihm in der Gemeinschaftsküche sogar ein Sandwich mit Eiersalat und eine Tasse Kaffee an. Er nahm dankend an und machte sich auf die üblichen Fragen gefasst, was ihn nach Frazier geführt habe und wo er vorher gewesen sei. Erfreulicherweise kamen keine. Stattdessen fragte Mrs. Robertson ihn, ob er Zeit habe, ihr beim Schließen der Fensterläden im Erdgeschoss zu helfen, damit die Fenster geschützt seien, falls die Stadt wirklich eine Mütze Wind abbekomme, wie sie es nannte. Dan war gern dazu bereit. Es gab zwar nur wenige Devisen, nach denen er lebte, aber eine davon lautete, dass es immer nützlich war, sich mit der Hauseigentümerin gut zu stellen. Schließlich wusste man nie, wann man sie um eine Stundung der Miete bitten musste.
Als Dan in den Park zurückkam, erwartete Billy ihn mit einer ganzen Arbeitsliste. Tags zuvor hatten sie gemeinsam von allen Kinderkarussells die Abdeckplanen entfernt. Nun brachten sie diese wieder an und schlossen die Läden sämtlicher Buden und Stände. Die letzte Aufgabe des Tages bestand darin, die Riv rückwärts in ihren Schuppen zu fahren. Dann stellten sie neben dem Bahnhof von Teenytown Klappstühle auf und ließen sich nieder, um eine zu rauchen.
»Ich will dir mal was sagen, Danno«, sagte Billy. »Ich bin hundemüde.«
»Da bist du nicht der Einzige.« Dennoch fühlte Dan sich gut; seine Muskeln waren locker und kribbelten. Er hatte vergessen, wie gut es tat, im Freien zu arbeiten, wenn man dabei keinen Kater loswerden musste.
Der Himmel hatte sich zugezogen. Billy hob den Blick und seufzte. »Hoffentlich stürmt und schneit es nicht so stark, wie sie im Radio sagen. Aber wahrscheinlich tut’s das doch. Übrigens hab ich Stiefel für dich gefunden. Toll sehen sie nicht aus, aber wenigstens haben beide die gleiche Größe.«
Dan nahm die Stiefel mit, als er durch die Stadt zu seiner neuen Bleibe ging. Inzwischen hatte der Wind aufgefrischt, und es wurde dunkel. Am Morgen hatte es sich angefühlt, als sollte es in Frazier bald Sommer werden. Nun, am Abend, schnitt die Feuchtigkeit des heranziehenden Schnees in die Haut. Die Nebenstraßen waren verlassen, die Fensterläden geschlossen.
Dan bog aus der Morehead Street in die Eliot ein und blieb stehen. Begleitet vom knochigen Rasseln trockener Herbstblätter rollte ein alter, ramponierter Zylinder den Gehweg entlang, ein Ding, wie Zauberer es trugen. Oder Schauspieler in einem alten Musical, dachte er. Bei diesem Anblick spürte er Kälte in seine Knochen kriechen, denn der Zylinder war gar nicht vorhanden. Nicht tatsächlich jedenfalls.
Er schloss die Augen und zählte langsam bis fünf, während der anschwellende Wind seine Hose um die Schienbeine flattern ließ, dann machte er die Augen wieder auf. Die Blätter waren noch da, aber der Zylinder war verschwunden. Wieder einmal hatte sein Shining eine dieser lebhaften, beunruhigenden und normalerweise sinnlosen Visionen hervorgerufen. Sobald er eine Weile nüchtern gewesen war, wurde es immer stärker, aber nie so stark wie seit seiner Ankunft in Frazier. Man hätte fast denken können, dass die Luft hier irgendwie anders war. Empfänglicher für diese merkwürdigen Übertragungen vom Planeten Anderswo. Irgendwie besonders.
So, wie das Overlook besonders gewesen war.
»Nein«, sagte er. »Nein, das glaube ich nicht.«
Ein paar Gläser Schnaps, dann verschwindet alles wieder, Danny. Glaubst du das etwa?
Leider tat er das.
9
Das Haus von Mrs. Robertson war ein weitläufiger Bau im Kolonialstil, und von Dans Zimmer im zweiten Stock hatte man einen Blick auf die Berge im Westen. Auf ein solches Panorama hätte er verzichten können. Seine Erinnerungen an das Overlook waren im Lauf der Jahre zu einem dunstigen Grau verblasst, aber während er seine paar Habseligkeiten auspackte, drang etwas an die Oberfläche … fast so konkret, wie ein ekliges organisches Objekt (zum Beispiel der verweste Kadaver eines kleinen Tieres) an die Oberfläche eines tiefen Sees schwebte.
Als der erste richtige Schnee kam, war es Abenddämmerung. Wir standen auf der Veranda des großen, alten, leeren Hotels, mein Dad in der Mitte, meine Mama auf einer Seite, ich auf der anderen. Er hatte die Arme um uns gelegt. Damals war alles in Ordnung. Damals trank er nicht. Zuerst fiel der Schnee vollkommen senkrecht herab, doch dann frischte der Wind auf und blies die Flocken zur Seite, sodass sie an die Seiten der Veranda trieben und diese …
Er versuchte, es abzublocken, aber es drang hindurch.
… diese Heckentiere bedeckten. Die sich manchmal bewegten, wenn man nicht hinsah.
Mit einer Gänsehaut auf den Armen wandte er sich vom Fenster ab. Er hatte sich im Red-Apple-Supermarkt ein Sandwich besorgt und vorgehabt, es zu verzehren, während er mit der Lektüre eines ebenfalls aus dem Supermarkt stammenden Taschenbuchs von John Sandford begann, doch nach wenigen Bissen wickelte er das Sandwich wieder ein und legte es aufs Fensterbrett, damit es kühl blieb. Vielleicht aß er den Rest später, obwohl er heute wahrscheinlich nicht viel länger als bis neun aufblieb; wenn er hundert Seiten von dem Buch schaffte, wäre das schon ein Wunder.
Draußen wehte der Wind immer stärker. Ab und zu stieß er am Giebel einen grausigen Schrei aus, bei dem Dan von seinem Buch aufblickte. Gegen halb neun begann Schnee zu fallen. Er war schwer und feucht, sodass er bald die Fensterscheiben bedeckte und den Blick auf die Berge verwehrte. In gewisser Hinsicht war das jetzt schon schlimmer. Auch im Overlook hatte der Schnee die Fenster bedeckt. Zuerst im Erdgeschoss … dann im ersten Stock … und schließlich auch im zweiten.
Dann waren sie mit den lebhaften Toten begraben gewesen.
Mein Vater dachte, die würden ihn zum Manager ernennen. Dafür müsse er nur seine Loyalität unter Beweis stellen. Indem er ihnen seinen Sohn auslieferte.
»Seinen einzigen Sohn«, murmelte Dan, dann sah er sich um, als hätte jemand andres gesprochen … und tatsächlich fühlte er sich nicht allein. Nicht ganz allein. Wieder fuhr der Wind heulend an der Seite des Hauses hinab, und Dan erschauerte.
Es ist noch nicht zu spät, um noch mal zum Supermarkt zu gehen. Und irgendeine Flasche zu holen. Um all diese unangenehmen Gedanken einzuschläfern.
Nein. Er würde sein Buch lesen. Lucas Davenport war auf der richtigen Spur, und er würde das Buch lesen.
Um Viertel nach neun klappte er es zu und stieg in sein neuestes gemietetes Bett. Ich kann bestimmt nicht einschlafen, dachte er. Nicht wenn der Wind derartig heult.
Er schlief dennoch ein.
10
Er hockte an der Mündung des Regenkanals und blickte über einen mit wildem Gras bewachsenen Hang auf den Cape Fear River und die Brücke hinab, die den Fluss überspannte. Die Nacht war klar, und der Mond war voll. Es ging kein Wind, es schneite nicht. Und das Hotel Overlook war verschwunden. Selbst wenn es nicht während der Amtszeit des Erdnussfarmerpräsidenten niedergebrannt wäre, wäre es über tausend Meilen weit entfernt gewesen. Weshalb hatte er dann solche Angst?
Weil er nicht allein war, deshalb. Jemand war hinter ihm.
»Willst du einen Rat, Honigbär?«
Es war eine perlende, bebende Stimme. Dan spürte, wie es ihm kalt über den Rücken lief. Noch kälter fühlten sich seine von Gänsehaut überzogenen Beine an. Er sah die weißlichen Erhebungen, weil er Shorts trug. Natürlich trug er Shorts. Sein Gehirn war zwar das eines erwachsenen Mannes, aber es saß momentan auf dem Körper eines fünfjährigen Jungen.
Honigbär. Wer …?
Aber er wusste es schon. Er hatte Deenie zwar seinen Namen verraten, doch den hatte sie nicht benutzt, sondern ihn stattdessen einfach Honigbär genannt.
Daran erinnerst du dich nicht, und außerdem ist dies nur ein Traum.
Natürlich war es ein Traum. Er war in Frazier, New Hampshire, und schlief, während um das Haus von Mrs. Robertson herum ein Schneesturm tobte. Dennoch kam es ihm klüger vor, sich nicht umzudrehen. Und sicherer.
»Ich brauche keinen Rat«, sagte er, während er weiter auf den Fluss und den Vollmond blickte. »Mich haben schon echte Experten beraten. Die Kneipen und Friseurläden sind voll davon.«
»Halt dich von der Frau mit dem Hut fern, Honigbär.«
Was für ein Hut?, hätte er fragen können, aber was hätte das gebracht? Er wusste, von welchem Hut sie sprach, weil er ihn über den Gehweg hatte rollen sehen. Von außen schwarz wie die Sünde, innen mit weißer Seide ausgekleidet.
»Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss. Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.«
Er drehte den Kopf. Ganz automatisch. Hinter ihm hockte Deenie in der Kanalröhre, die Decke des Penners um ihre nackten Schultern gelegt. Die Haare klebten ihr an den Wangen. Ihr Gesicht war aufgebläht und tropfte. Ihre Augen waren trübe. Sie war tot; wahrscheinlich lag sie schon jahrelang in ihrem Grab.
Du bist nicht echt, versuchte Dan zu sagen, brachte jedoch kein Wort heraus. Er war wieder fünf, Danny war fünf, das Overlook war nur noch Asche und Knochen, aber da war eine tote Frau, eine, die er bestohlen hatte.
»Ist schon okay«, sagte sie. Aus der geschwollenen Kehle kam eine blubbernde Stimme. »Ich hab das Koks verscherbelt. Hab es erst mit etwas Zucker gestreckt und dann zweihundert dafür bekommen.« Sie grinste, und Wasser drang durch ihre Zähne. »Ich hab dich gemocht, Honigbär. Deshalb bin ich gekommen, um dich zu warnen. Halt dich von der Frau mit dem Hut fern.«
»Falsches Gesicht«, sagte Dan … aber es war Dannys Stimme, die hohe, zarte, singende Stimme eines Kindes. »Falsches Gesicht, nicht da, nicht echt.«
Er schloss die Augen, wie er es oft getan hatte, wenn ihm im Overlook schreckliche Dinge in den Blick gekommen waren. Die Frau begann zu schreien, aber er weigerte sich, die Augen zu öffnen. Abwechselnd lauter und leiser werdend, ging das Schreien weiter, und er merkte, dass es das Heulen des Windes war. Er war nicht in Colorado, und er war nicht in North Carolina. Er war in New Hampshire. Er hatte einen Albtraum gehabt, doch nun war der Traum vorbei.
11
Laut seiner Timex war es zwei Uhr morgens. Im Zimmer war es kalt, aber seine Arme und seine Brust waren vor Schweiß ganz schlüpfrig.
Willst du einen Rat, Honigbär?
»Nein«, sagte er. »Nicht von dir.«
Sie ist tot.
Eigentlich konnte er das nicht wissen, und doch wusste er es. Deenie – die in ihrem kurzen Lederrock und ihren Korksandaletten wie die Göttin des Westens ausgesehen hatte – war tot. Er wusste sogar, wie sie das angestellt hatte. Sie hatte Pillen geschluckt und sich die Haare hochgesteckt. Dann war sie in die mit warmem Wasser gefüllte Badewanne gestiegen, eingeschlafen, untergegangen und ertrunken.
Das Brüllen des Windes klang furchtbar vertraut und voll hohler Drohungen. Der Wind wehte überall, aber nur in den Bergen hörte er sich so an. Es war, als schlüge ein zorniger Gott mit einem Lufthammer auf die Welt ein.
Ich hab seinen Schnaps immer als das schlechte Zeug bezeichnet, dachte Dan. Nur ist es manchmal gutes Zeugs. Wenn man aus einem Albtraum erwacht und weiß, dass der zu mindestens fünfzig Prozent aus Shining bestanden hat, ist es sogar sehr gutes Zeugs.
Ein Glas würde ihn wieder einschlafen lassen. Drei würden nicht nur für Schlaf, sondern für traumlosen Schlaf sorgen. Schlaf war das Heilmittel der Natur, und momentan fühlte Dan Torrance sich krank und brauchte eine starke Medizin.
Jetzt hat kein Laden mehr geöffnet. Da hast du Glück gehabt.
Na ja. Vielleicht.
Er drehte sich auf die Seite, und dabei stieß etwas an seinen Rücken. Nein, nicht etwas. Jemand. Jemand war zu ihm ins Bett gestiegen. Deenie war zu ihm ins Bett gestiegen. Allerdings fühlte es sich zu klein an, als dass es Deenie war. Es fühlte sich eher an wie ein …
Er sprang aus dem Bett, landete unbeholfen auf dem Boden und blickte über die Schulter. Es war Deenies kleiner Sohn Tommy. Die rechte Schädelseite war eingeschlagen. Durch das blonde, mit Blut befleckte Haar ragten Knochensplitter. Graue, schuppige Schmiere – Gehirn – trocknete auf der Wange. Mit einer so fürchterlichen Wunde konnte er nicht mehr am Leben sein, aber er war es. Mit seiner Seesternhand griff er nach Dan.
»Zucka«, sagte er.
Wieder setzten die Schreie ein, doch diesmal war es nicht Deenie, und es war auch nicht der Wind.
Diesmal war Dan es selbst.
12
Als er zum zweiten Mal erwachte – diesmal wachte er wirklich auf –, schrie er jedoch nicht. Tief in seiner Brust breitete sich nur ein leises Knurren aus. Keuchend setzte er sich auf, die Decke um die Taille geschlungen. Außer ihm war niemand im Bett, aber der Traum hatte sich noch nicht aufgelöst, und zu sehen, dass niemand da war, reichte nicht aus. Er schlug die Decke zurück, aber das reichte immer noch nicht aus. Er strich mit den Händen über das Laken und suchte nach verbliebener Wärme oder einer Vertiefung, die kleine Hüften und Pobacken hätten hinterlassen können. Nichts. Natürlich nicht. Also spähte er unters Bett, wo er aber nur seine geliehenen Stiefel sah.
Der Wind wehte jetzt weniger stark. Noch war der Sturm nicht vorüber, aber er nahm allmählich ab.
Dan ging aufs Badezimmer zu, fuhr jedoch unterwegs herum und blickte zurück, als erwartete er, jemand zu überraschen. Da stand nur das Bett, an dessen Fußende die Decke auf dem Boden lag. Er knipste das Licht über dem Waschbecken an, spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht und setzte sich auf den heruntergeklappten Klodeckel, wo er tiefe Atemzüge machte, einen nach dem anderen. Er überlegte, ob er aufstehen und sich eine Zigarette aus der Packung holen sollte, die neben seinem Buch auf dem einzigen kleinen Tisch des Zimmers lag, aber seine Beine fühlten sich wie aus Gummi an, und er war sich nicht sicher, ob sie ihn tragen konnten. Jetzt bestimmt noch nicht. Daher blieb er sitzen. Er konnte das Bett sehen, und das Bett war leer. Das ganze Zimmer war leer. Keinerlei Problem mehr.
Nur … es fühlte sich nicht leer an. Noch nicht. Wenn es so weit war, würde er wohl wieder ins Bett gehen. Aber nicht, um einzuschlafen. Für diese Nacht war es mit dem Schlafen vorbei.
13
In Tulsa hatte Dan sieben Jahre zuvor in einem Hospiz als Pfleger gearbeitet und sich dabei mit einem alten Psychiater namens Emil Kemmer angefreundet, der an Leberkrebs im Endstadium litt. Als Kemmer eines Tages (nicht sehr diskret) von einigen interessanten Fällen aus seiner Praxis erzählt hatte, hatte Dan gestanden, dass er seit seiner Kindheit mit etwas kämpfe, was er als doppeltes Träumen bezeichne. Ob Kemmer mit diesem Phänomen vertraut sei? Ob es einen Namen dafür gebe?
In seinen besten Jahren war Kemmer eine imposante Erscheinung gewesen – davon zeugte das alte Schwarz-Weiß-Foto von seiner Hochzeit, das auf seinem Nachttisch stand –, aber Krebs war nur einmal das ultimative Diätprogramm, und am Tag dieses Gesprächs hatte er etwa halb so viele Kilo Gewicht am Leib gehabt wie Jahre auf dem Buckel, und er war einundneunzig. Sein Verstand war jedoch immer noch scharf, und während Dan nun auf dem Toilettendeckel saß und dem nachlassenden Sturm draußen lauschte, erinnerte er sich an das listige Lächeln des alten Mannes.
»Normalerweise werde ich für meine Diagnosen bezahlt, Daniel«, hatte der mit seinem starken deutschen Akzent gesagt.
Dan hatte gegrinst. »Dann hab ich wohl Pech gehabt.«
»Mal sehen.« Kemmer betrachtete Dan. Seine Augen waren strahlend blau. Obwohl Dan wusste, dass es ausgesprochen unfair war, konnte er nicht umhin, sich diese Augen unter einem Stahlhelm der Waffen-SS vorzustellen. »In diesem Haus des Todes geht das Gerücht, Sie hätten die Gabe, den Leuten beim Sterben helfen zu können. Stimmt das?«
»Manchmal«, sagte Dan vorsichtig. »Nicht immer.« Die Wahrheit lautete: Fast immer.
»Werden Sie auch mir helfen, wenn es so weit ist?«
»Wenn ich kann, natürlich.«
»Gut.« Kemmer setzte sich auf, ein mühevoller und schmerzhafter Vorgang, doch als Dan ihm helfen wollte, wehrte er ihn mit einer Handbewegung ab. »Was Sie als doppeltes Träumen bezeichnen, ist in der Psychiatrie wohlbekannt. Von besonderem Interesse ist es für die Jungianer, die es falsches Erwachen nennen. Der erste Traum ist üblicherweise ein luzider Traum, das heißt, der Träumer weiß, dass er träumt …«
»Ja!«, rief Dan. »Aber der zweite …«
»Der Träumer glaubt, wach zu sein«, sagte Kemmer. »Jung hat viel Wind darum gemacht und solchen Träumen sogar präkognitive Kräfte zugeschrieben … aber das wissen wir natürlich besser, nicht wahr, Dan?«
»Natürlich«, hatte Dan zugestimmt.
»Der Dichter Edgar Allan Poe hat das Phänomen des falschen Erwachens schon lange vor der Geburt von C. G. Jung beschrieben. Er schrieb: ›Ist, was wir scheinen oder schaun, doch nur ein Traum in einem Traum?‹ Habe ich Ihre Frage beantwortet?«
»Ich glaube schon. Danke.«
»Gern geschehen. Und jetzt, glaube ich, könnte ich ein wenig Saft vertragen. Apfelsaft, bitte.«
14
Präkognitive Kräfte … aber das wissen wir natürlich besser.
Selbst wenn er sein Shining nicht über die Jahre hinweg verschwiegen hätte, wenige Personen ausgenommen, hätte er sich nicht erdreistet, einem Sterbenden zu widersprechen … vor allem nicht, wenn der so kühl forschende blaue Augen hatte. In Wahrheit waren seine doppelten Träume durchaus oft prophetischer Natur, meist jedoch so, dass er es nur halb oder überhaupt nicht begriff. Während er nun in Unterwäsche auf dem Klodeckel saß und zitterte (nicht nur weil es kalt im Raum war), begriff er allerdings wesentlich mehr, als er wollte.
Tommy war tot. Wahrscheinlich ermordet von seinem brutalen Onkel. Seine Mutter hatte nicht lange danach Selbstmord begangen. Was den Rest des Traumes anging … und den Phantomhut, den er am vergangenen Tag über den Gehweg hatte rollen sehen …
Halt dich von der Frau mit dem Hut fern. Die ist die Bienenkönigin vom Höllenschloss.
»Das ist mir schnuppe«, sagte Dan.
Wenn du ihr in die Quere kommst, frisst sie dich bei lebendigem Leib.
Er hatte nicht die Absicht, dieser Frau zu begegnen, geschweige denn, ihr in die Quere zu kommen. Was Deenie anging, war er weder für ihren unbeherrschten Bruder noch dafür verantwortlich, dass sie ihr Kind vernachlässigt hatte. Er musste nicht einmal mehr die Schuldgefühle wegen ihren lausigen siebzig Dollar mit sich herumschleppen; sie hatte das Kokain verkauft – dieser Teil des Traums traf hundertprozentig zu, da war er sich sicher –, und damit waren sie quitt. Mehr als quitt eigentlich.
Ihn interessierte jetzt nur eines: etwas zu trinken zu bekommen. Genauer gesagt sich zu besaufen. So stockbesoffen zu sein, dass er gleich wieder auf die Schnauze fiel, wenn er aufstand. Die warme Morgensonne tat gut, ebenso gut fühlte es sich an, die Muskeln richtig zu gebrauchen und morgens ohne Kater aufzuwachen, der Preis jedoch – all die verrückten Träume und Visionen, dazu die zufälligen Gedanken irgendwelcher Fremder, die manchmal seine Abwehr überwanden – war zu hoch.
Unerträglich hoch.
15
Er saß in dem einzigen Sessel des Zimmers und las im Licht der einzigen Lampe in dem Roman von John Sandford, bis die beiden mit Glocken ausgestatteten Kirchen der Stadt sieben Uhr läuteten. Dann zog er die neuen Stiefel an (neu für ihn jedenfalls), schlüpfte in seinen Dufflecoat und trat hinaus in eine Welt, die sich verändert hatte und weicher geworden war. Nirgendwo sah man eine scharfe Kante. Immer noch fiel Schnee, nun aber sanft.
Ich sollte hier abhauen. Nach Florida zurückkehren. Scheiß auf New Hampshire, wo es in ungeraden Jahren wahrscheinlich selbst am vierten Juli schneit.
Halloranns Stimme antwortete ihm. Der Ton war so freundlich wie damals in seiner Kindheit, als Dan noch Danny gewesen war, doch darunter verbarg sich harter Stahl. Du solltest mal irgendwo eine Weile bleiben, Junge, sonst wirst du nirgendwo mehr bleiben können.
»Du kannst mich mal, Alter«, murmelte Dan.
Er ging wieder in den Supermarkt, weil die Läden, in denen Hochprozentiges zu haben war, erst frühestens in einer Stunde öffneten. Langsam marschierte er zwischen den Kühlregalen mit Wein und Bier hin und her, wog das Für und Wider ab und kam schließlich zu einem Entschluss: Wenn er sich schon besaufen wollte, dann konnte er das auch so garstig wie möglich tun. Daher griff er sich zwei Flaschen Thunderbird (achtzehn Prozent Alkohol, ein guter Kompromiss, wenn Whiskey vorübergehend außer Reichweite war) und ging schon durch den Gang auf die Kasse zu, als er wieder stehen blieb.
Wart noch einen Tag. Gib dir noch eine Chance.
Das schaffte er wahrscheinlich sogar, aber wozu? Damit er wieder mit Tommy im Bett aufwachen konnte? Mit Tommy, dessen halber Schädel eingeschlagen war? Vielleicht war es beim nächsten Mal auch Deenie, die zwei Tage in der Wanne gelegen hatte, bis der Hausmeister es sattgehabt hatte zu klopfen, seinen Generalschlüssel gezückt und sie entdeckt hatte. Das konnte Dan zwar eigentlich gar nicht wissen, was Emil Kemmer – wäre er da gewesen – nachdrücklich bestätigt hätte, aber er wusste es trotzdem. Er wusste es. Warum sollte er sich also die Mühe machen?
Vielleicht geht diese übersteigerte Wahrnehmung vorüber. Vielleicht ist es nur eine Phase, ein übersinnliches Pendant von Delirium tremens. Vielleicht musst du dir nur noch etwas Zeit lassen …
Aber die Zeit war veränderlich. Das war etwas, was nur Säufer und Junkies begriffen. Wenn man nicht einschlafen konnte, wenn man wegen dem, was man womöglich sah, Angst hatte, sich umzublicken, dann dehnte die Zeit sich in die Länge und bekam scharfe Zähne.
»Kann ich Ihnen helfen?«, fragte der Kassierer, und Dan wusste
(verfluchtes Shining verfluchtes Ding)
dass er ihn nervös machte. Kein Wunder. Mit seinem verstrubbelten Kopf, seinen dunklen Augenringen und seinen ruckartigen, unsicheren Bewegungen sah er wahrscheinlich wie ein Meth-Süchtiger aus, der überlegte, ob er seine treue Pistole ziehen und den Gesamtinhalt der Kasse verlangen sollte.
»Nein«, sagte Dan. »Ich hab nur gerade gemerkt, dass ich mein Portemonnaie zu Hause liegen lassen habe.«
Er stellte die grünen Flaschen ins Kühlregal zurück. Als er die Tür zumachte, sprachen sie so freundlich zu ihm, wie zwei Freunde zueinander sprachen: Bis bald, Danny.
16
Billy Freeman erwartete ihn, bis zu den Augenbrauen eingepackt. Er streckte ihm eine altmodische Skimütze hin, auf die vorn der Schriftzug ANNISTON CYCLONES gestickt war.
»Wer zum Teufel sind die Anniston Cyclones?«, fragte Dan.
»Anniston liegt zwanzig Meilen nördlich von hier. Wenn’s um Football, Basketball und Baseball geht, sind die unsere Erzrivalen. Falls dich jemand mit dem Ding sieht, kriegst du wahrscheinlich einen Schneeball an den Schädel, aber es ist die einzige Mütze, die ich habe.«
Dan setzte sie auf. »Na, dann: Auf geht’s, Cyclones!«
»Genau, immer ran an die Braut!« Billy musterte ihn. »Geht’s dir nicht gut, Danno?«
»Hab heute Nacht nicht viel geschlafen.«
»Kein Wunder. Der verfluchte Wind hat richtig gekreischt, was? Hat sich angehört wie meine Ex, wenn ich gemeint hab, am Samstagabend könnten wir mal wieder miteinander kuscheln. Na, bereit, ans Werk zu gehen?«
»Auf jeden Fall.«
»Gut. Legen wir los. Das wird ein verflucht harter Tag.«
17
Es war tatsächlich ein verflucht harter Tag, aber gegen Mittag war die Sonne herausgekommen, und die Temperatur war wieder auf über zehn Grad Celsius gestiegen. Teenytown war vom Rauschen hundert kleiner Wasserfälle erfüllt, während der Schnee schmolz. Dans Laune stieg mit der Temperatur, und er erwischte sich sogar beim Singen (»Young man! I was once in your shoes!«), während er auf dem Hof des kleinen Einkaufszentrums neben dem Stadtpark hinter seiner Schneefräse hermarschierte. In der sanften Brise, die nichts mehr mit dem kreischenden Wind der vergangenen Nacht gemein hatte, flatterte über ihm ein Banner mit der Aufschrift FRÜHLINGSSCHNÄPPCHEN OHNE ENDE ZU TEENYTOWN-PREISEN!
Er hatte keinerlei Visionen.
Nachdem sie den Arbeitsschluss gestempelt hatten, lud er Billy in den Chuck Wagon ein und bestellte Steaks. Billy wollte Bier spendieren, aber Dan schüttelte den Kopf. »Ich lasse die Finger vom Alkohol. Sobald ich damit anfange, fällt es mir nämlich manchmal schwer, wieder aufzuhören.«
»Darüber könntest du dich mit Kingsley unterhalten«, sagte Billy. »Der ist deshalb vor etwa fünfzehn Jahren geschieden worden. Inzwischen ist er darüber hinweg, aber seine Tochter redet immer noch nicht mit ihm.«
Zum Essen tranken sie Kaffee. Massenhaft.
Müde, satt vom warmen Essen und froh, nüchtern zu sein, kehrte Dan in seine Höhle in der Eliot Street zurück. In seinem Zimmer stand kein Fernseher, aber er hatte die zweite Hälfte des Krimis vor sich und versank einige Stunden darin. Dabei lauschte er auf den Wind, der jedoch nicht anschwoll. Er hatte den Eindruck, dass der Sturm der vergangenen Nacht das letzte Aufbäumen des Winters gewesen war. Was ihm ganz recht war. Um zehn legte er sich ins Bett und schlief fast augenblicklich ein. An seinen morgendlichen Besuch im Supermarkt erinnerte er sich nur noch verschwommen, so als wäre er im Fieberwahn dorthin gegangen und das Fieber wäre nun vorüber.
18
In den frühen Morgenstunden wachte er auf, nicht weil der Wind wehte, sondern weil er wie ein Elch pissen musste. Er stand auf, schlurfte ins Bad und betätigte den Lichtschalter neben der Tür.
In der Wanne lag der Zylinder, und er war voller Blut.
»Nein«, sagte Dan. »Ich träume.«
Vielleicht träumte er doppelt. Oder dreifach. Womöglich sogar vierfach. Etwas hatte er Emil Kemmer nämlich verschwiegen: Er hatte Angst, sich irgendwie in einem Labyrinth aus gespenstischen Nachtgedanken zu verirren und nie wieder herauszufinden.
Ist, was wir scheinen oder schaun, doch nur ein Traum in einem Traum?
Dies war allerdings real. Der Hut ebenfalls. Außer ihm hätte es niemand gesehen, aber das änderte nichts. Der Hut war real. Es gab ihn irgendwo auf der Welt. Das wusste Dan.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass auf dem Spiegel über dem Waschbecken etwas geschrieben stand. Es war mit Lippenstift geschrieben.
Ich darf es nicht ansehen.
Zu spät. Sein Kopf drehte sich unwillkürlich; er hörte die Sehnen in seinem Hals wie alte Türangeln ächzen. Eigentlich war es ohnehin egal. Er wusste, was da stand. Mrs. Massey war verschwunden, Horace Derwent war verschwunden, die waren sicher in den Fächern weit hinten in seinem Geist eingesperrt, aber das Hotel Overlook war immer noch nicht mit ihm fertig. Auf dem Spiegel stand – nicht in Lippenstift, sondern in Blut – ein einziges Wort:
DROM
Darunter lag im Waschbecken ein blutbeflecktes Atlanta-Braves-T-Shirt.
Es wird nie aufhören, dachte Danny. Das Overlook ist abgebrannt, und die schrecklichsten seiner Untoten hab ich in Schließfächer gesteckt, aber mein Shining kann ich nicht wegsperren, weil es nicht nur in mir drin ist – ich bin es selbst. Wenn ich diese Visionen mit Alkohol nicht wenigstens betäube, werden sie weiterhin kommen, bis sie mich in den Wahnsinn treiben.
Im Spiegel sah er sein Gesicht, vor dem das Wort DROM schwebte, als wäre es ihm wie ein Markenzeichen auf die Stirn geprägt. Das war kein Traum. In seinem Waschbecken lag das T-Shirt eines ermordeten Kindes, in seiner Badewanne ein Hut voller Blut. Der Wahnsinn kam. Dan konnte in seinen hervorquellenden Augen sehen, wie er sich näherte.
Dann, wie der Lichtstrahl einer Taschenlampe im Dunkeln, die Stimme von Hallorann: Junge, du siehst zwar Dinge, aber die sind wie Bilder in einem Buch. Du warst als Kind im Overlook nicht hilflos, und das bist du jetzt auch nicht. Ganz im Gegenteil. Mach die Augen zu, und wenn du sie wieder öffnest, wird dieser ganze Mist verschwunden sein.
Er schloss die Augen und wartete. Er versuchte, die Sekunden abzuzählen, schaffte es jedoch nur bis vierzehn, bevor die Zahlen in der dröhnenden Verwirrung seiner Gedanken verloren gingen. Fast erwartete er, dass sich Hände – vielleicht die des Hutbesitzers – um seinen Hals schlossen. Aber er blieb stehen. Schließlich konnte er nirgendwo anders hin.
Nachdem er all seinen Mut zusammengenommen hatte, öffnete Dan die Augen. Die Wanne war leer. Das Waschbecken war leer. Auf dem Spiegel stand nichts geschrieben.
Aber es wird wiederkommen. Das nächste Mal sind es vielleicht ihre Schuhe – diese Korksandaletten. Oder ich sehe sie in der Wanne liegen. Gut möglich. Mrs. Massey habe ich ja auch so gesehen, und die beiden sind auf dieselbe Weise gestorben. Nur dass ich Mrs. Massey nie ihr Geld geklaut und mich dann aus dem Staub gemacht habe.
»Ich habe einen Tag durchgehalten«, erklärte er dem leeren Zimmer. »Immerhin.«
Ja, und obwohl es ein verflucht harter Tag gewesen war, war es auch ein verflucht guter Tag gewesen, das gab er gern zu. Die Tage waren nicht das Problem. Was die Nächte anging …
Die Gedanken waren eine Schultafel. Schnaps war der Schwamm.
19
Bis sechs lag Dan wach im Bett. Dann zog er sich an und marschierte wieder zum Supermarkt. Diesmal zögerte er nicht, bloß statt zwei Flaschen aus dem Kühlregal zu nehmen, nahm er gleich drei. Wie hieß es doch? Geh aufs Ganze oder geh nach Hause. Der Kassierer steckte die Flaschen kommentarlos in eine Tüte; er war an frühe Weinkäufer gewöhnt. Dan schlenderte zum Stadtpark, setzte sich auf eine der Bänke von Teenytown, nahm eine der Flaschen aus der Tüte und blickte darauf hinab wie Hamlet auf Yoricks Schädel. Durch das grüne Glas sah der Inhalt wie Rattengift aus statt wie Wein.
»Das sagst du, als ob’s was Schlechtes wäre«, sagte Dan und schraubte die Kappe ein Stück weit auf.
Diesmal war es seine Mutter, die sich meldete. Wendy Torrance, die bis zum bitteren Ende Zigaretten geraucht hatte. Denn wenn Selbstmord schon die einzige Option war, konnte man doch wenigstens die Waffe wählen.
Soll es so enden, Danny? Soll alles umsonst gewesen sein?
Er drehte die Kappe in die Gegenrichtung und schraubte sie fest. Dann wieder auf. Diesmal nahm er sie ab. Der Geruch des Weins war sauer; es war der Geruch von Jukebox-Musik, miesen Kneipen und sinnlosem Streit, gefolgt von Schlägereien auf dem Parkplatz. Letztlich war das Leben so dämlich wie eine dieser Schlägereien. Die Welt war gar kein Hospiz mit frischer Luft, die Welt war das Hotel Overlook, wo die Party nie zu Ende ging. Wo die Toten für immer lebten. Er setzte die Flasche an die Lippen.
Haben wir deshalb so hart darum gekämpft, aus diesem verfluchten Hotel zu entkommen, Danny? Und darum, ein neues Leben zu beginnen? In ihrer Stimme lag kein Tadel, nur Traurigkeit.
Danny schraubte die Kappe wieder zu. Lockerte sie. Schraubte sie zu. Lockerte sie.
Er dachte: Wenn ich trinke, siegt das Overlook. Obwohl es nach der Explosion des Kessels niedergebrannt ist, geht es als Sieger aus der Partie hervor. Aber wenn ich nicht trinke, werde ich wahnsinnig.
Er dachte: Ist, was wir scheinen oder schaun, doch nur ein Traum in einem Traum?
Er war immer noch damit beschäftigt, die Kappe auf- und zuzuschrauben, als Billy Freeman, der früh mit dem vagen, mulmigen Gefühl aufgewacht war, dass etwas nicht stimmte, ihn fand.
»Willst du das trinken, Dan, oder holst du der Flasche nur einen runter?«
»Trinken wahrscheinlich. Ich weiß nicht, was ich sonst tun soll.«
Also sagte Billy es ihm.
20
Casey Kingsley war nicht allzu überrascht, seinen neuen Mitarbeiter vor seinem Büro sitzen zu sehen, als er um Viertel nach acht dort eintraf. Ebenso wenig war er überrascht, die Flasche zu sehen, die Torrance in den Händen hielt, um die Kappe erst abzuschrauben, sie wieder aufzusetzen und zuzuschrauben – Dan hatte diesen ganz besonderen Blick von Anfang an gehabt, diesen auf tausend Meter erkennbaren Blick, wie man ihn in billigen Schnapsläden sah.
Billy Freeman war zwar nicht so hellsichtig wie Dan, nicht einmal annähernd, aber es war doch etwas mehr als nur ein Funkeln. Am ersten Tag hatte er Kingsley vom Geräteschuppen aus angerufen, sobald Dan über die Straße aufs Rathaus zugegangen war. Es komme jetzt ein junger Kerl, der Arbeit suche, hatte Billy gesagt. Der habe zwar wahrscheinlich keine besonders tollen Zeugnisse, sei jedoch seiner Meinung nach der Richtige, um bis Ende Mai auszuhelfen. Kingsley, der mit Billys Intuition bereits gute Erfahrungen gemacht hatte, war prinzipiell einverstanden gewesen. Ich weiß, wir brauchen jemand, hatte er gesagt.
Billys Antwort war merkwürdig gewesen, aber Billy war eben merkwürdig. Einmal, es war zwei Jahre her, hatte er den Rettungswagen gerufen, und zwar fünf Minuten bevor ein kleines Kind von einer Schaukel gefallen war und einen Schädelbruch erlitten hatte.
Er braucht uns mehr, als wir ihn brauchen, hatte Billy gesagt.
Und da saß dieser Mann vornübergebeugt da, als würde er bereits in seinem nächsten Bus oder auf seinem nächsten Barhocker sitzen. Kingsley hatte den Wein im Flur schon aus zwölf Metern Entfernung gerochen. Er besaß eine Kennernase für solche Düfte und konnte jeden einzelnen identifizieren. Das war der gute alte Thunderbird. Aber als der junge Kerl zu ihm hochblickte, sah Kingsley, dass in seinen Augen nichts stand als Verzweiflung.
»Billy hat mich hergeschickt.«
Kingsley sagte nichts. Er konnte sehen, wie der Mann vor ihm sich mühsam zusammennahm. Das war in seinen Augen erkennbar und daran, wie seine Mundwinkel nach unten hingen, vor allem jedoch daran, wie er die Flasche hielt, als würde er sie gleichzeitig hassen und lieben und brauchen.
Endlich brachte Dan die Worte heraus, vor denen er sein ganzes Leben lang davongelaufen war.
»Ich brauche Hilfe.«
Er wischte sich mit dem Arm über die Augen. Und während er das tat, bückte Kingsley sich und griff nach der Weinflasche. Sein Gegenüber hielt einen Moment lang fest … dann ließ er los.
»Sie haben es gründlich satt«, sagte Kingsley. »Das sehe ich. Aber haben Sie es satt, es sattzuhaben?«
Dan blickte zu ihm hoch. In seiner Kehle arbeitete es. Er plagte sich noch ein wenig, dann sagte er: »Sie ahnen nicht, wie sehr.«
»Vielleicht ahne ich es doch.« Aus seiner geräumigen Hose zog Kingsley einen riesigen Schlüsselbund. Er steckte einen Schlüssel in die Tür, auf deren Milchglasscheibe STÄDTISCHE DIENSTE FRAZIER stand. »Kommen Sie rein. Reden wir darüber.«
1
Die alte Dichterin mit dem italienischen Vornamen und dem amerikanischen Familiennamen saß mit ihrer schlafenden Urenkelin auf dem Schoß da und sah sich das Video an, das der Mann ihrer Enkelin drei Wochen zuvor im Entbindungsraum aufgenommen hatte. Es begann mit einer Titelkarte: ABRA BETRITT DIE WELT! Die Aufnahmen waren wacklig, und David hatte sich von allem allzu Medizinischen ferngehalten (Gott sei Dank), aber Concetta Reynolds sah die schweißnass an Lucias Stirn klebenden Haare, hörte sie »Tu ich doch!« schreien, als eine der Schwestern sie aufforderte zu pressen, und sah die Blutstropfen auf dem blauen Laken – nicht viele, gerade genug, das zu demonstrieren, was Chettas eigene Großmutter als »gute Leistung« bezeichnet hätte. Auf italienisch natürlich.
Das Bild zitterte, als endlich das Baby in Sicht kam, und Chetta spürte, wie ihr eine Gänsehaut über Rücken und Arme lief, als Lucy schrie: »Sie hat kein Gesicht!«
David, der neben Lucy auf dem Sofa saß, gluckste. Denn natürlich hatte Abra doch ein Gesicht, ein sehr süßes sogar. Chetta blickte darauf hinab, als wollte sie sich dessen vergewissern. Als sie wieder aufblickte, wurde das neugeborene Baby seiner Mutter in die Arme gelegt. Dreißig oder vierzig verwackelte Sekunden später erschien eine zweite Titelkarte: ALLES GUTE ZUM GEBURTSTAG, ABRA RAFAELLA STONE!
David drückte die rote Taste auf der Fernbedienung.
»Du gehörst zu den ganz wenigen Leuten, die das jemals zu sehen bekommen«, verkündete Lucy mit fester, unerbittlicher Stimme. »Es ist peinlich.«
»Es ist wunderbar«, sagte Dave. »Und es gibt eine Person, die es bestimmt zu sehen bekommt, nämlich Abra selbst.« Er warf einen kurzen Seitenblick auf seine Frau. »Wenn sie alt genug ist. Und nur wenn sie es will, natürlich.« Er tätschelte Lucy den Oberschenkel, dann grinste er seine Schwiegeroma an, eine Frau, die er respektierte, jedoch nicht besonders mochte. »Bis dahin kommt es ins Bankschließfach zu den Versicherungspolicen, den Unterlagen vom Haus und meinen Drogenmillionen.«
Concetta lächelte zur Bestätigung, dass sie den Scherz verstanden hatte, aber sie lächelte nur dünn, um auszudrücken, dass sie ihn nicht besonders witzig fand. Abra auf ihrem Schoß schlief tief und fest. In gewisser Weise wurden alle Babys mit einer Glückshaube geboren, dachte sie, denn deren winzige Gesichter waren Schleier aus Geheimnissen und Möglichkeiten. Vielleicht war das etwas, worüber sie schreiben sollte. Vielleicht auch nicht.
Concetta war im Alter von zwölf Jahren nach Amerika gekommen und sprach perfekt englisch – nicht weiter überraschend, da sie es am Vassar College studiert hatte und emeritierte Professorin ebendieses Fachs war –, aber in ihrem Kopf waren jeder Aberglaube und jede Altweibergeschichte noch lebendig. Manchmal gaben diese Elemente in ihrem Innern ihr Befehle, und wenn sie das taten, sprachen sie immer italienisch. Chetta fand, dass die meisten Künstler ausgesprochen funktionstüchtige Schizophrene waren, sie selbst eingeschlossen. Sie wusste zwar, dass Aberglaube völliger Blödsinn war, trotzdem spuckte sie zwischen ihre Finger, wenn eine Krähe oder eine schwarze Katze ihren Weg kreuzte.
Einen Großteil ihrer eigenen Schizophrenie verdankte sie den Barmherzigen Schwestern. Die glaubten an Gott, sie glaubten an die Göttlichkeit von Jesus, sie glaubten, Spiegel wären verhext und einem Kind, das zu lange in einen hineinsah, würden Warzen wachsen. Es waren die Frauen, die zwischen Chettas achtem und dreizehntem Lebensjahr den größten Einfluss auf ihr Leben ausgeübt hatten. Sie hatten Lineale in den Gürteln stecken – zum Schlagen, nicht zum Messen –, und sie sahen kein Kinderohr, ohne das Bedürfnis zu verspüren, im Vorübergehen daran zu ziehen.
Lucy streckte die Arme nach dem Baby aus. Widerstrebend überreichte Chetta es ihr. Die Kleine war einfach goldig.
2
Zwanzig Meilen südöstlich des Ortes, an dem Abra in den Armen von Concetta Reynolds geschlafen hatte, saß Dan Torrance bei einem Treffen der Anonymen Alkoholiker, während irgendeine Tusse gerade über Sex mit ihrem Ex schwadronierte. Casey Kingsley hatte ihm aufgetragen, innerhalb von neunzig Tagen an neunzig Meetings teilzunehmen, und dieses, ein Mittagstermin im Untergeschoss der Methodistenkirche von Frazier, war sein achtes. Er saß in der ersten Reihe, weil Casey – in diesen Kreisen als Big Casey bekannt – ihm das ebenfalls aufgetragen hatte.
»Kranke, die genesen wollen, sitzen vorn, Danny. In den hinteren Reihen sitzen bei AA-Meetings nur die Leugner.«
Casey hatte ihm ein kleines Notizbuch geschenkt. Auf dem Einband war ein Foto von Meereswellen, die sich an einem Felsvorsprung brachen. Darüber stand ein Motto, das Dan zwar nachvollziehen konnte, aber nicht besonders treffend fand: NICHTS GROSSES ENTSTEHT IM AUGENBLICK.
»In dem Büchlein da notierst du jedes einzelne Meeting, zu dem du gehst. Und jedes Mal wenn ich es sehen will, holst du es aus der Tasche und zeigst mir, dass du tatsächlich täglich teilgenommen hast.«
»Darf ich mir nicht mal einen Krankheitstag erlauben?«
Casey lachte. »Du bist doch ohnehin schon täglich krank, mein Freund – schließlich bist du ein waschechter Alkoholiker. Willst du noch etwas wissen, was mein eigener Sponsor mir gesagt hat?«
»Ich glaube, das hast du mir schon erzählt. Aus einem Omelett kann man kein Ei mehr machen, stimmt’s?«
»Sei kein Klugscheißer, hör einfach zu.«
Dan seufzte. »Ich höre.«
»›Beweg deinen Arsch zu den Meetings‹, hat er gesagt. ›Und wenn dir der Arsch abfällt, steck ihn in eine Tüte, und nimm ihn zum Meeting mit.‹«
»Reizend. Was ist, wenn ich es mal vergesse?«
Casey hatte mit den Achseln gezuckt. »Dann musst du dir einen anderen Sponsor suchen, einen, der an Vergesslichkeit glaubt. Ich tu das nicht.«
Dan fühlte sich wie ein zerbrechlicher Gegenstand, der an den Rand eines hohen Regals gerutscht, aber noch nicht ganz heruntergefallen war, und er wollte keinen anderen Sponsor oder irgendwelche sonstigen Veränderungen. Er fühlte sich ganz gut, aber empfindlich. Sehr empfindlich. Fast hautlos. Die Visionen, die ihn nach seiner Ankunft in Frazier geplagt hatten, waren verschwunden, und er dachte zwar oft an Deenie und ihren kleinen Jungen, aber diese Gedanken waren längst nicht mehr so schmerzhaft. Am Ende fast jeden AA-Meetings las jemand die Versprechen vor. Eines davon lautete: Wir wollen die Vergangenheit weder beklagen noch die Tür hinter ihr zuschlagen. Dan dachte, er würde die Vergangenheit immer beklagen, aber er versuchte wenigstens nicht mehr, die Tür hinter ihr zuzuschlagen. Wieso sollte er sich auch die Mühe machen, wenn sie sich doch gleich wieder öffnete? Das verfluchte Ding hatte ja keinen Riegel, geschweige denn ein Schloss.
Während er dasaß, begann er in Druckbuchstaben ein einzelnes Wort auf die aktuelle Seite des Büchleins zu schreiben, das Casey ihm geschenkt hatte. Er malte große, verschnörkelte Buchstaben. Weshalb er das tat und was es bedeutete, wusste er nicht. Das Wort war ABRA.
Inzwischen hatte die Sprecherin ihre Vorstellung beendet und brach in Tränen aus. Weinend erklärte sie, ihr Ex sei ein Scheißkerl und sie liebe ihn immer noch, aber sie sei dankbar, jetzt trocken zu sein. Dan schloss sich dem Beifall der anderen Teilnehmer an, dann begann er, die Buchstaben mit seinem Kugelschreiber zu kolorieren. Sie dicker zu machen. Sie hervorzuheben.
Kenne ich diesen Namen? Ich glaube schon.
Während der nächste Teilnehmer zu sprechen anfing und Dan zum Kaffeespender ging, um sich eine neue Tasse zu holen, fiel es ihm ein. Abra war der Name einer jungen Frau in einem Roman von John Steinbeck. Jenseits von Eden. Wo hatte er den nur gelesen … er erinnerte sich nicht mehr. Bei einem Zwischenstopp. Irgendwo. War auch egal.
Ein anderer Gedanke
(hast du sie aufbewahrt)
stieg an die Oberfläche seines Bewusstseins wie eine Luftblase und platzte.
Was aufbewahrt?
Frankie P., der alte Kerl, von dem das Meeting geleitet wurde, erkundigte sich, ob jemand die Medaillen verteilen wolle. Als niemand die Hand hob, zeigte Frankie auf Dan. »Was ist mit dir da hinten beim Kaffee?«
Verlegen ging Dan nach vorn und hoffte, sich an die Reihenfolge der Medaillen erinnern zu können. Die erste – weiß für Neulinge – besaß er bereits. Während er die zerbeulte Keksdose mit den Chips und Medaillen entgegennahm, meldete der Gedanke sich wieder.
Hast du sie aufbewahrt?
3
Dies war der Tag, an dem der Wahre Knoten, der auf einem öffentlichen Campingplatz in Arizona überwintert hatte, aufbrach und wieder nach Osten reiste. In der üblichen Karawane fuhr man auf der Route 77 in Richtung Show Low: vierzehn Wohnmobile, teils mit angehängten Pkws, teils mit am Heck befestigten Gartenstühlen oder Fahrrädern. Es waren Southwinds und Winnebagos, Monacos und Bounders. Der EarthCruiser von Rose – ein siebenhunderttausend Dollar teures Prachtstück aus importiertem Stahl, das beste Wohnmobil auf dem Markt – führte die Parade an. Aber langsam, mit nicht mehr als fünfundfünfzig Meilen pro Stunde.
Sie hatten keine Eile. Es war noch viel Zeit. Bis zum Festmahl waren es noch mehrere Monate.
4
»Hast du sie aufbewahrt?«, fragte Concetta, während Lucy ihre Bluse aufknöpfte, um Abra die Brust zu geben. Abby blinzelte schläfrig, nuckelte ein wenig und verlor wieder das Interesse. Sobald deine Brustwarzen wund werden, wirst du sie ihr nicht anbieten, bevor sie sich bemerkbar macht, dachte Chetta. Und zwar aus voller Lunge.
»Was aufbewahrt?«, fragte David.
Lucy hatte verstanden. »Gleich als man sie mir in die Arme gegeben hat, bin ich in Ohnmacht gefallen. Dave sagt, ich hätte sie fast fallen lassen. Es war keine Zeit, Momo.«
»Ach, dieses klebrige Zeug auf ihrem Gesicht«, sagte David wegwerfend. »Das haben sie abgezogen und entsorgt. War auch gut so, wenn du meine Meinung hören willst.« Er lächelte, aber sein fordernder Blick hatte eine unmissverständliche Botschaft. Du weißt, dass du nicht mehr davon anfangen solltest. Das weißt du genau, also hör einfach auf.
Sie wusste es … und sie wusste es nicht. War sie in jüngeren Jahren schon so unentschlossen gewesen? Daran erinnerte sie sich nicht, obwohl sie sich offenbar an sämtliche Lektionen über die Schmerzhaften Geheimnisse und die immerwährenden Höllenqualen erinnerte, die ihr von den Barmherzigen Schwestern, diesen Banditti in Schwarz, eingebleut worden waren. An die Geschichte des Mädchens, das mit Blindheit geschlagen worden war, weil sie ihren Bruder nackt in der Badewanne beobachtet hatte, und die über den Mann, der mit dem Tod bestraft wurde, weil er den Papst geschmäht hatte.
Gebt sie uns in die Hände, wenn sie jung sind, dann ist es egal, wie viele Vorlesungen sie später halten, wie viele Gedichtbände sie schreiben und wie viele Preise diese Bücher erhalten werden. Gebt sie uns in die Hände, wenn sie jung sind … dann gehören sie uns für immer.
»Du hättest die Glückshaube aufbewahren sollen. Wie der Name sagt, bringt sie Glück.«
Das sagte sie direkt zu ihrer Enkeltochter und schloss David völlig aus. Er war ein guter Kerl, ihrer Lucia ein guter Ehemann, aber seinen respektlosen Ton konnte er sich abschminken. Und seinen fordernden Blick erst recht.
»Ich hätte es ja getan, aber ich hatte keine Chance, Momo. Und Dave wusste nicht Bescheid.« Sie knöpfte ihre Bluse wieder zu.
Chetta beugte sich vor und berührte mit der Fingerspitze die zarte Haut von Abras Wange. Altes Fleisch glitt über neues. »Es heißt, wer mit einer Glückshaube geboren wird, hat das Zweite Gesicht.«
»Das glaubst du doch nicht wirklich, oder?«, sagte David. »Diese sogenannte Glückshaube ist nichts als ein Fetzen Fruchtblase. Sie …«
Er sprach weiter, aber Concetta beachtete ihn nicht mehr. Abra hatte die Augen aufgeschlagen. In ihnen lag eine ganze Welt aus Poesie, Zeilen, die zu großartig waren, als dass sie je geschrieben würden. Nicht einmal einprägen konnte man sie sich.
»Vergiss es«, sagte Concetta. Sie nahm das Baby und küsste den glatten Schädel dort, wo die Fontanelle pulsierte. Direkt darunter wirkte die Magie der Gedanken. »Hin ist hin.«
5
Eines Nachts, etwa fünf Monate nach dem halben Streit über Abras Glückshaube, träumte Lucy, dass ihre Tochter weinte – so sehr, als würde ihr das Herz brechen. In diesem Traum befand sich Abby nicht mehr im Schlafzimmer des Hauses am Richland Court, sondern irgendwo in einem langen Flur. Lucy rannte auf das Weinen zu. Zuerst waren Türen an beiden Seiten, aber dann waren es Sitze. Blau mit hoher Lehne. Sie war in einem Flugzeug oder vielleicht auch in einem Zug. Nachdem sie meilenweit, wie es ihr vorkam, gelaufen war, kam sie zur Tür einer Toilette. Dahinter schrie ihr Baby. Es war kein hungriges, sondern ein verängstigtes Schreien. Vielleicht schrie sie auch
(o Gott, o Maria)
vor Schmerzen.
Lucy hatte furchtbare Angst, dass die Tür verschlossen war und von ihr aufgebrochen werden musste – war es nicht genau das, was in Albträumen immer geschah? –, aber der Knauf ließ sich drehen, und sie zog die Tür auf. Während sie das tat, überkam sie eine neue Befürchtung: Wenn Abra nun in der Toilettenschüssel war? Man las immer wieder, dass so etwas passierte. Babys in Kloschüsseln, Babys in Müllcontainern. Wenn sie nun in einem dieser hässlichen Stahlbecken ertrank, die man in öffentlichen Toiletten vorfand, bis zum Mund und zur Nase in mit blauem Desinfektionsmittel vermischtem Wasser zappelnd?
Aber Abra lag auf dem Boden. Sie war nackt. Aus Augen, die in Tränen schwammen, starrte sie zu ihrer Mutter auf. Auf ihre Brust war mit etwas, was wie Blut aussah, die Zahl 11 geschrieben.
6
David Stone träumte, dass er den Schreien seiner Tochter eine endlose Rolltreppe hinauf folgte, die langsam, aber unerbittlich in die falsche Richtung lief. Schlimmer noch, diese Rolltreppe befand sich in einem Einkaufscenter, und das Center stand in Flammen. Er hätte schon ersticken müssen, lange bevor er das obere Ende der Treppe erreichte, aber das Feuer brachte keinen Rauch hervor, nur eine flammende Hölle. Er hörte auch keinerlei anderes Geräusch als Abras Schreie, obwohl er Menschen wie mit Kerosin getränkte Fackeln brennen sah. Als er es endlich nach oben schaffte, sah er Abby wie Abfall, den jemand weggeworfen hatte, auf dem Boden liegen. Männer und Frauen rannten achtlos um sie herum, und trotz den Flammen versuchte niemand, die Rolltreppe zu benutzen, obwohl sie nach unten lief. Alle rannten einfach ziellos in alle Richtungen wie Ameisen, deren Haufen von der Egge eines Traktors aufgerissen wurde. Eine Frau mit Stöckelschuhen wäre fast auf seine Tochter getreten, was diese garantiert umgebracht hätte.
Abra war nackt. Auf ihrer Brust prangte die Zahl 175.
7
Als die Stones gemeinsam aufwachten, waren beide anfangs davon überzeugt, dass die Schreie, die sie hörten, ein Überbleibsel ihres Traums waren. Aber nein, die Schreie erschallten in ihrem Zimmer. Abby lag mit weit aufgerissenen Augen, geröteten Wangen und geballten Fäusten in ihrem Bettchen unter ihrem Shrek-Mobile und schrie sich die Seele aus dem Leib.
Frische Windeln konnten sie ebenso wenig beruhigen wie die Brust, schier endlose Wanderungen den Flur auf und ab und das tausendfache Absingen eines Wiegenlieds. Voller Angst, weil Abby ihr erstes Kind war und sie nicht mehr weiterwusste, rief Lucy schließlich Concetta in Boston an. Obwohl es zwei Uhr morgens war, nahm ihre Momo schon beim zweiten Läuten ab. Sie war fünfundachtzig, und ihr Schlaf war so dünn wie ihre Haut. Dem Heulen ihrer Urenkelin lauschte sie aufmerksamer als Lucys verwirrter Aufzählung der üblichen Maßnahmen, mit denen sie es versucht hätten, dann stellte sie die einschlägigen Fragen. »Hat sie vielleicht Fieber? Zieht sie an einem ihrer Ohren? Zappelt sie mit den Beinen, als müsste sie Cacca machen?«
»Nein«, sagte Lucy. »Das ist es alles nicht. Sie ist vom Schreien ein bisschen erhitzt, aber ich glaube nicht, dass sie Fieber hat. Momo, was soll ich nur tun?«
Chetta, die inzwischen an ihrem Schreibtisch saß, zögerte nicht. »Lass ihr noch fünfzehn Minuten Zeit. Wenn sie sich nicht beruhigt und die Brust nimmt, bring sie ins Krankenhaus.«
»Was? Nach Boston?« So verwirrt und erregt, wie sie war, fiel Lucy nichts anderes ein. Dort hatte sie entbunden. »Bis dahin sind es hundertfünfzig Meilen!«
»Nein, nein. Nach Bridgton. Gleich hinter der Grenze von Maine. Das ist sogar ein wenig näher als das in Concord.«
»Bist du dir da sicher?«
»Ja. Schließlich sitze ich an meinem Computer.«
Abra beruhigte sich nicht. Ihr Schreien war monoton, unerträglich, erschreckend. Als sie im Krankenhaus von Bridgton ankamen, war es Viertel vor vier, und Abra schrie immer noch in voller Lautstärke. Autofahrten wirkten normalerweise besser als eine Schlaftablette, an diesem Morgen jedoch nicht. David dachte an ein Gehirnaneurysma und fragte sich, ob er noch ganz bei Sinnen war. Babys bekamen keinen Schlaganfall … oder doch?
»Davey?«, sagte Lucy mit leiser Stimme, als sie auf das Schild mit der Aufschrift NOTAUFNAHME zufuhren. »Babys bekommen doch keinen Schlaganfall oder einen Herzinfarkt … nicht wahr?«
»Nein, bestimmt nicht, da bin ich mir ganz sicher.«
Doch da kam ihm etwas Neues in den Sinn. Womöglich hatte die Kleine irgendwie eine Sicherheitsnadel verschluckt, die in ihrem Magen aufgegangen war? Das ist bescheuert – wir verwenden doch Pampers, keine Stoffwindeln, wie soll sie da an eine Sicherheitsnadel kommen.
Dann musste sie etwas anderes geschluckt haben. Eine von Lucys Haarklemmen. Einen verirrten Reißnagel, der in ihr Bettchen gefallen war. Vielleicht sogar, du lieber Himmel, ein Stück Plastik, das von Shrek, Esel oder Prinzessin Fiona abgefallen war. Aber bestand das Mobile nicht aus Schaumstoff?
In seiner Verzweiflung wusste er das nicht mehr genau.
»Davey? Was denkst du?«
»Ach nichts.«
Das Mobile war völlig unversehrt. Da war er sich sicher.
Ziemlich sicher.
Abra brüllte immer weiter.
8
David hatte gehofft, der diensthabende Arzt würde seiner Tochter ein Beruhigungsmittel geben, aber das tat man bei Säuglingen, bei denen man keine Diagnose stellen konnte, nicht, und mit Abra Rafaella Stone schien alles in Ordnung zu sein. Sie hatte kein Fieber und keinen Hautausschlag, und der Ultraschall hatte gezeigt, dass auch keine Pylorusstenose vorlag. Im Röntgenbild waren keinerlei Fremdkörper in Hals oder Magen zu sehen, eine Darmobstruktion ebenfalls nicht. Eigentlich ging es nur darum, dass Abra einfach nicht aufhörte zu schreien. Zu dieser Stunde an einem Dienstagmorgen waren die Stones die einzigen Patienten in der Notaufnahme, und jede der drei diensthabenden Schwestern hatte versucht, das Kind zu beruhigen. Keiner war es gelungen.
»Sollte man ihr nicht etwas zu essen geben?«, fragte Lucy den Arzt, als er wiederkam, um nach dem Rechten zu sehen. Der Ausdruck Ringerlösung kam ihr in den Sinn. Den kannte sie aus einer der Arztserien, die sie regelmäßig sah, seit sie als Teenager für George Clooney geschwärmt hatte. Aber eigentlich hatte sie keine Ahnung, was das war, und womöglich wurde Ringerlösung für rissige Füße, zur Gerinnungshemmung oder gegen Magengeschwüre eingesetzt. »Sie nimmt weder die Brust noch die Flasche.«
»Wenn sie genug Hunger bekommt, wird sich das ändern«, sagte der Arzt, was jedoch weder Lucy noch David besonders tröstete. Zum einen sah der Arzt jünger aus, als sie es waren. Zum anderen (was wesentlich schlimmer war) hörte er sich so an, als wäre er sich nicht völlig sicher. »Haben Sie schon Ihren Kinderarzt angerufen?« Er blickte in die Akte. »Dr. Dalton?«
»Wir haben eine Nachricht hinterlassen«, sagte David. »Wahrscheinlich ruft er erst am gegen Mittag zurück, und bis dahin wird das hier vorüber sein.«
Auf die eine oder andere Weise, dachte er, und sein Hirn – durch zu wenig Schlaf und zu viel Angst unbeherrschbar geworden – lieferte ihm ein ebenso klares wie erschreckendes Bild: eine Trauergemeinde, die rund um ein kleines Grab stand. Und um einen noch kleineren Sarg.
9
Um halb acht stürmte Chetta Reynolds in das Untersuchungszimmer, in das man die Stones und deren unablässig schreiendes Töchterchen abgeschoben hatte. Die Lyrikerin, die Gerüchten nach auf der Vorschlagsliste für die Freiheitsmedaille des Präsidenten stand, trug Röhrenjeans und ein Sweatshirt der Boston University mit einem Loch am Ellbogen. Das Outfit ließ erkennen, wie dürr sie in den vergangenen drei, vier Jahren geworden war. Nicht weil ich Krebs hätte, falls du das denken solltest, sagte sie, wenn jemand etwas zu ihrer Modelfigur bemerkte, die sie normalerweise mit einem weiten Kleid oder einem Kaftan kaschierte. Ich trainiere bloß für die letzte Runde ums Stadion.
Ihr Haar, sonst zu einem Zopf geflochten oder gekonnt strähnenweise hochgesteckt, um ihre Sammlung aus erlesenen Haarclips zur Geltung zu bringen, stand nun ungekämmt im Einstein-Stil von ihrem Kopf ab. Sie trug kein Make-up, und trotz ihrer Verzweiflung war Lucy geschockt, wie alt ihre Großmutter aussah. Klar, sie war ja auch alt, fünfundachtzig war sehr alt, aber bis zu diesem Morgen hatte sie wie eine Frau Ende sechzig ausgesehen – höchstens. »Ich wäre schon eine Stunde früher da gewesen, wenn ich jemand gefunden hätte, der sich um Betty kümmert«, sagte Chetta. Betty war ihre alte, kranke Boxerhündin.
Chetta fing Davids vorwurfsvollen Blick auf.
»Betty liegt im Sterben, David. Und nach allem, was ihr mir am Telefon gesagt habt, habe ich mir um Abra keine besonderen Sorgen gemacht.«
»Machst du dir jetzt vielleicht welche?«, fragte David.
Lucy warf ihm einen warnenden Blick zu, aber Chetta schien bereit zu sein, den unausgesprochenen Tadel zu akzeptieren. »Ja.« Sie streckte die Hände aus. »Gib sie mir, Lucy. Sehen wir mal, ob sie sich bei Momo beruhigt.«
Aber Abra beruhigte sich nicht bei Momo, egal wie lange sie gewiegt wurde. Ebenso wenig Erfolg hatte ein leises und erstaunlich melodisches Wiegenlied (soweit David das beurteilen konnte, war es dasselbe, mit dem sie es auch versucht hatten, nur auf italienisch). Dann versuchten alle es noch einmal mit der Tragekur, indem sie Abra erst durch das kleine Untersuchungszimmer, dann durch den Flur und schließlich wieder ins Untersuchungszimmer transportierten. Das Schreien ging immer weiter. Irgendwann wurde es draußen hektisch – offenbar wurde jemand mit tatsächlich sichtbaren Verletzungen hereingeschoben –, aber davon nahmen die drei in Untersuchungszimmer 4 kaum Notiz.
Um fünf vor neun öffnete sich die Tür, und der Kinderarzt der Stones kam herein. Dr. John Dalton war jemand, den auch Dan Torrance kannte, allerdings nicht mit seinem Familiennamen. Für ihn war er nur Doctor John, der jeden Donnerstagabend beim AA-Meeting in North Conway Kaffee kochte.
»Gott sei Dank!«, sagte Lucy und legte dem Arzt ihr heulendes Kind in die Arme. »Wir waren stundenlang auf uns allein gestellt!«
»Ich war schon unterwegs, als ich die Nachricht erhalten habe.« Dalton hob Abra auf die Schulter. »Muss hier Visite machen und dann drüben in Castle Rock. Sie haben schon gehört, was passiert ist, oder?«
»Was sollen wir gehört haben?«, fragte David. Da die Tür nun offen stand, nahm er den gedämpften Trubel draußen zum ersten Mal bewusst wahr. Mehrere Leute unterhielten sich mit lauter Stimme. Manche weinten. Die Schwester, die sie empfangen hatte, ging mit rot geflecktem Gesicht und nassen Wangen vorbei. Den schreienden Säugling würdigte sie keines Blickes.
»Gerade ist ein Passagierflugzeug ins World Trade Center gerast«, sagte Dalton. »Und niemand denkt, dass das ein Unfall war.«
Die Rede war vom American-Airlines-Flug 11. Siebzehn Minuten später, um 9.03 Uhr, schlug United-Airlines-Flug 175 in den Südturm des World Trade Centers ein. Um 9.03 Uhr hörte Abra Stone unvermittelt auf zu schreien. Um 9.04 Uhr schlief sie tief und fest.
Auf der Rückfahrt nach Anniston hörten David und Lucy Radio, während Abra hinter ihnen friedlich in ihrem Babysitz schlief. Die Nachrichten waren unerträglich, und doch war es undenkbar, sie abzustellen … zumindest nicht, bevor ein Sprecher die Namen der Fluggesellschaften und die Flugnummern der Maschinen bekanntgegeben hatte: zwei in New York, eine in Washington, eine im ländlichen Pennsylvania abgestürzt. Dann streckte David endlich die Hand zum Radio hin und brachte die Flut aus Katastrophen zum Schweigen.
»Lucy, ich muss dir etwas erzählen. Ich hab geträumt …«
»Ich weiß.« Sie sagte das so ausdruckslos wie jemand, der gerade einen Schock erlitten hatte. »Das hab ich auch.«
Als sie die Grenze zu New Hampshire überquerten, hatte David allmählich den Eindruck, dass womöglich doch etwas an der Sache mit der Glückshaube dran war.
10
In einer am Westufer des Hudsons gelegenen Stadt in New Jersey gab es einen Park, der nach dem berühmtesten Sohn der Stadt benannt war. An klaren Tagen bot sich von dort ein herrlicher Blick auf die Südspitze von Manhattan. Der Wahre Knoten kam am achten September in Hoboken an und stellte seine Wohnmobile auf einem privaten Campingplatz auf, den man für zehn Tage exklusiv gemietet hatte. Das hatte Crow Daddy eingefädelt. Dem Augenschein nach etwa vierzig Jahre alt, war er gut aussehend und gesellig, und auf seinem Lieblings-T-Shirt stand MIT MIR IST GUT KIRSCHEN ESSEN. Nicht dass er je ein T-Shirt getragen hätte, wenn er Verhandlungen für den Wahren Knoten führte; dann trug er immer Anzug und Krawatte. Das erwarteten die Tölpel eben. Sein bürgerlicher Name lautete Henry Rothman. Er war Anwalt, hatte in Stanford Jura studiert (Abschluss 1938) und hatte in der Tasche immer Bargeld stecken. Auf verschiedenen, über die ganze Welt verteilten Depots hatten die Wahren über eine Milliarde Dollar gebunkert – teils in Gold, teils in Diamanten, teil in Form von seltenen Büchern, Briefmarken und Gemälden –, aber sie zahlten nie mit Scheck oder Kreditkarte. Alle, selbst Pea und Pod, die wie Kinder aussahen, trugen ein Bündel Zehner und Zwanziger mit sich herum.
»Nur Bares ist Wahres«, hatte Jimmy Numbers einmal gesagt. »Da machen die Tölpel gern Männchen.« Jimmy war der Buchhalter des Wahren Knotens. In seinen Tagen als Tölpel war er mit einer Truppe herumgezogen, die lange nach dem Krieg, in dem sie gekämpft hatte, als Quantrill’s Raiders bekannt geworden war. Damals war er ein wilder Typ samt Büffelfelljacke und Sharps-Gewehr gewesen, doch in den seither vergangenen Jahren war er zahm geworden. Inzwischen stand ein gerahmtes, handsigniertes Bild von Ronald Reagan in seinem Wohnmobil.
Am Morgen des elften Septembers beobachteten die Wahren die Angriffe auf die Twin Towers vom Parkplatz aus, wobei vier Ferngläser von Hand zu Hand gingen. Im Sinatra-Park hätten sie einen besseren Blick gehabt, aber Rose musste ihnen nicht erst sagen, dass es Argwohn geweckt hätte, sich frühzeitig dort zu versammeln … und in den folgenden Monaten und Jahren sollten die Vereinigten Staaten zu einer sehr argwöhnischen Nation werden: Wann immer du was siehst, zeig es an!
Gegen zehn Uhr, als sich am Flussufer überall Scharen von Menschen versammelt hatten, zogen sie schließlich zum Park. Pea und Pod, die Little-Zwillinge, schoben den Rollstuhl von Grampa Flick. Grampa trug seine Mütze, die ihn als Veteranen kennzeichnete. Sein langes, babyfeines, weißes Haar wallte unter den Rändern der Mütze hervor wie Seidenfäden. Früher hatte er sich als Veteran des Spanisch-Amerikanischen Krieges ausgegeben. Später des Ersten Weltkrieges. Inzwischen war es der Zweite Weltkrieg. In weiteren zwanzig Jahren musste er seine Story wohl nach Vietnam verlegen. Plausibel hatte Grampa immer geklungen, denn in Militärgeschichte kannte er sich blendend aus.
Der Sinatra-Park war überfüllt. Die meisten Menschen schwiegen, manche weinten. Was das anging, waren Apron Annie und Black-Eyed Susie sehr nützlich, weil beide auf Befehl weinen konnten. Die anderen setzten einen passenden Ausdruck aus Kummer, Ernst und Verblüffung auf.
Alles in allem fügte der Wahre Knoten sich perfekt ein. Das war seine Masche.
Die Schaulustigen kamen und gingen, aber die Wahren blieben fast den ganzen Tag, der wolkenlos und wunderschön war (freilich mit Ausnahme der dichten, schmutzigen Rauchwolken, die im Süden von Manhattan aufstiegen). Sie standen am Eisengeländer, ohne sich miteinander zu unterhalten. Sie sahen bloß zu und taten dabei langsame, tiefe Atemzüge wie Touristen aus dem Mittleren Westen, die zum ersten Mal in Maine am Pemaquid Point oder am Leuchtturm von Quoddy Head standen und tief die frische Meeresluft einsogen. Als Ausdruck ihres Respekts nahm Rose ihren Zylinder ab und hielt ihn an der Seite.
Um vier Uhr nachmittags marschierten sie gestärkt in ihr Lager auf dem Parkplatz zurück. Sie würden am nächsten Tag wiederkommen, am übernächsten und am Tag danach. Sie würden wiederkommen, bis der gute Steam verbraucht war, und dann würden sie weiterziehen.
Bis dahin war das weiße Haar von Grampa Flick bestimmt wieder eisengrau geworden, und den Rollstuhl brauchte er dann auch nicht mehr.
1
Es waren zwanzig Meilen von Frazier nach North Conway, aber Dan Torrance fuhr dennoch jeden Donnerstagabend mit dem Auto hin, teilweise einfach deshalb, weil er es konnte. Inzwischen arbeitete er im Hospiz, verdiente anständig und hatte seinen Führerschein wieder. Das Auto, das er sich dazu gekauft hatte, war nichts Besonderes, bloß ein drei Jahre alter Caprice mit stinknormalen Reifen und einem nicht immer funktionierenden Radio, aber der Motor war in Ordnung, und jedes Mal wenn er den Wagen anließ, fühlte er sich wie der glücklichste Mensch in ganz New Hampshire. Wenn er nie wieder einen Bus besteigen musste, dachte er, konnte er glücklich sterben. Es war Januar 2004. Mit Ausnahme einiger zufälliger Gedanken und Bilder – und natürlich der besonderen Aufgabe, die er manchmal im Hospiz erfüllte – lief sein Shining in ruhigeren Bahnen. Die sozusagen ehrenamtliche Tätigkeit im Hospiz hätte er in jedem Fall übernommen, aber dank seiner Zeit bei den Anonymen Alkoholikern sah er sie auch als eine Möglichkeit zur Wiedergutmachung, was Leute, die von ihrer Sucht genasen, für fast ebenso wichtig hielten, wie sich von ihrem nächsten Glas Schnaps fernzuhalten. Wenn er es noch weitere drei Monate schaffte, die Finger von der Flasche zu lassen, konnte er drei trockene Jahre feiern.
Wieder Auto fahren zu dürfen war ein wichtiger Aspekt der täglichen Dankbarkeitsmeditation, auf der Casey K. beharrte (weil, wie er mit der verdrießlichen Gewissheit eines alten AA-Mitglieds sagte, ein dankbarer Alkoholiker sich nicht besäuft). Vor allem aber fuhr Dan am Donnerstag hin, weil es bei diesem Meeting um das Blaue Buch ging, und das wirkte tröstlich auf ihn. Es hatte einen intimen Charakter. An manchen der offenen Meetings in der Gegend nahmen unangenehm viele Leute teil, aber am Donnerstagabend in North Conway war das nie der Fall. Ein alter AA-Spruch lautete: Wenn du etwas vor einem Alkoholiker verbergen willst, steck es ins Blaue Buch, und die Teilnehmerzahl in North Conway wies darauf hin, dass das nicht ganz falsch war. Selbst während der Hauptsaison, die von Anfang Juli bis Anfang September dauerte, hatten sich selten mehr als ein Dutzend Leute im Veteranenheim versammelt, wenn es losging. Aus diesem Grund hörte Dan Dinge, die bei Meetings, an denen fünfzig oder gar siebzig reumütige Säufer und Drogensüchtige teilnahmen, wohl nie laut ausgesprochen worden wären. Bei solchen Treffen neigten die Sprecher dazu, sich in Plattheiten zu flüchten, von denen es Hunderte gab, und persönliche Aussagen zu meiden. Zum Beispiel hörte man da Gelassenheit zahlt sich aus oder Der Wille hat dich zum Saufen gebracht – glaubst du wirklich, dass er dich jetzt vom Saufen abhält, aber man hörte nie Ich hab mit der Frau meines Bruders gefickt, als wir eines Abends beide besoffen waren.
Bei den Nüchternheitsabenden am Donnerstag las die kleine Versammlung Bill Wilsons großes blaues Handbuch von vorn bis hinten. Bei jedem Treffen nahm man den Faden dort wieder auf, wo man beim letzten Mal aufgehört hatte. Wenn man das Ende des Buchs erreicht hatte, kehrte man zum Kapitel »Aus der Sicht des Arztes« zurück und fing wieder von vorn an. In den meisten Meetings schaffte man etwa zehn Seiten. Das dauerte etwa eine halbe Stunde. In der verbleibenden halben Stunde sollte die Gruppe über die soeben vorgelesenen Gedanken sprechen. Manchmal tat sie das tatsächlich. Ziemlich oft schweifte das Gespräch jedoch in andere Richtungen ab wie ein unter den Fingern eines neurotischen Teenagers unruhig über ein Ouija-Brett gleitender Zeiger.
Dan erinnerte sich an ein Donnerstagstreffen, an dem er teilgenommen hatte, als er etwa acht Monate trocken gewesen war. Das besprochene Kapitel, »An die Ehefrauen«, war voll veralteter Klischees, die bei den jüngeren Frauen im Raum fast immer scharfe Reaktionen auslösten. Die Teilnehmerinnen wollten wissen (zu Recht, wie Dan dachte), wieso niemand in den gut fünfundsechzig Jahren seit der ersten Veröffentlichung des Blauen Buchs ein Kapitel mit dem Titel »An die Ehemänner« hinzugefügt hatte.
Als Gemma T. – eine Frau in den Dreißigern, die nur über zwei Gefühlszustände zu verfügen schien: wütend und total angepisst – an jenem Abend die Hand gehoben hatte, da hatte Dan eine feministische Tirade erwartet. Stattdessen sagte sie wesentlich ruhiger als üblich: »Ich muss euch etwas erzählen. Es steckt seit meinem achtzehnten Lebensjahr in mir, und wenn ich es nicht loslasse, werde ich nie die Finger von Koks und Wein lassen.«
Die Gruppe wartete.
»Als ich besoffen von einer Party heimgefahren bin, hab ich mit meinem Auto einen Mann angefahren«, sagte Gemma. »Das war zu Hause in Somerville. Ich hab ihn am Straßenrand liegen lassen. Ich hatte keine Ahnung, ob er tot oder noch am Leben war. Das weiß ich immer noch nicht. Ich hab darauf gewartet, dass die Polizei mich festnimmt, aber die kam nie. Ich bin damit davongekommen.«
Darüber hatte sie gelacht, wie man über einen besonders guten Witz lachte, dann hatte sie den Kopf auf den Tisch sinken lassen und war in ein so tiefes Schluchzen ausgebrochen, dass es ihren spindeldürren Körper geschüttelt hatte. Das war Dans erste Erfahrung damit gewesen, wie furchterregend die verlangte »absolute Ehrlichkeit« sein konnte, wenn man sie tatsächlich in die Praxis umsetzte. Wie er es immer noch ab und zu tat, hatte er daran gedacht, wie er Deenies Portemonnaie geleert und wie der kleine Junge nach dem Kokain auf dem Couchtisch gegriffen hatte. Er hatte ziemlichen Respekt vor Gemma, aber so viel nackte Ehrlichkeit brachte er nicht auf. Wenn er die Wahl gehabt hätte, diese Geschichte zu erzählen oder ein Glas Schnaps zu trinken …
Ich würde den Schnaps nehmen. Keine Frage.
2
Heute Abend wurde »Maulheldentum« vorgelesen, eine der Lebensgeschichten aus dem Teil des Blauen Buchs, dem man den aufmunternden Titel »Sie haben fast alles verloren« gegeben hatte. Die Erzählung folgte einem Muster, das Dan inzwischen sehr vertraut war: gute Familie, sonntäglicher Kirchgang, erster Schluck, erstes Besäufnis, durch Alkohol torpedierte berufliche Entwicklung, eskalierende Lügen, erste Festnahme, gebrochene Versprechungen, sich zu bessern, Entzugsklinik und schließlich ein Happy End. Alle Geschichten im Blauen Buch hatten ein Happy End. Das war ein Teil seines Zaubers.
Es war ein kalter Abend, aber viel zu warm im Raum, und Dan wäre fast eingedöst, als Doctor John die Hand hob. »Ich belüge meine Frau«, sagte er. »Und ich weiß nicht, wie ich damit aufhören soll.«
Das weckte Dan auf. Er mochte DJ nämlich sehr.
Es stellte sich heraus, dass Johns Frau ihm zu Weihnachten eine Uhr geschenkt hatte, eine ziemlich teure sogar, und als sie ihn vor einigen Tagen gefragt hatte, wieso er die nicht trage, hatte John geantwortet, er habe sie in seiner Praxis vergessen.
»Bloß ist sie da nicht. Ich hab überall gesucht, und sie ist einfach nicht da. Ich muss oft Visite im Krankenhaus machen, und wenn ich mich dort umziehe, lege ich meine Sachen im Aufenthaltsraum in eines der Schließfächer. Die haben Zahlenschlösser, aber die verwende ich fast nie, weil ich nicht viel Geld mit mir herumtrage und sonst auch nichts dabeihabe, was man klauen könnte. Außer der Uhr offenbar. Ich kann mich zwar nicht daran erinnern, dass ich sie abgenommen und in ein Schließfach gelegt habe – in Concord oder drüben in Bridgton –, aber das habe ich wohl getan. Es geht nicht um die Kosten. Es ruft nur die Erinnerung an die Tage zurück, als ich mir jeden Abend die Hucke vollgesoffen und am nächsten Morgen Speed geschnupft habe, um irgendwie in die Gänge zu kommen.«
Manche nickten und ließen ähnliche Geschichten darüber folgen, wie sie Menschen aus Schuldgefühlen heraus getäuscht hatten. Einen Ratschlag gab niemand, das galt als Einmischung und war verpönt. Alle erzählten einfach ihre Geschichte. John lauschte mit gesenktem Kopf und zwischen den Knien gefalteten Händen. Nachdem der Korb herumgereicht worden war (»Unsere Ausgaben müssen durch unsere freiwilligen Beiträge gedeckt werden«), dankte er allen für ihre Kommentare. Dabei machte er nicht den Eindruck, dass besagte Kommentare ihm viel geholfen hätten.
Nach dem Vaterunser räumte Dan die übrig gebliebenen Kekse auf und stapelte die zerflederten Blauen Bücher der Gruppe in das Schränkchen mit der Aufschrift EIGENTUM DER AA. Einige Teilnehmer standen draußen noch um den Kippeneimer herum – das war das sogenannte Meeting nach dem Meeting –, aber die Küche hatten John und Dan für sich allein. Letzterer hatte während des Gesprächs nichts gesagt; er war zu sehr damit beschäftigt gewesen, eine innere Debatte mit sich selbst zu führen.
Sein Shining hatte sich ruhig verhalten, aber das hieß nicht, dass es verschwunden war. Dan wusste aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit, dass es sogar stärker war denn je seit seiner Kindheit, nur schien er es inzwischen besser beherrschen zu können. Dadurch wirkte es weniger erschreckend und war wesentlich nützlicher. Seine Kolleginnen und Kollegen im Hospiz wussten, dass er irgendeine besondere Eigenschaft besaß, aber sie nannten es Empathie und ließen es dabei bewenden. Er wiederum scheute nun, da sein Leben in ruhigeren Bahnen verlief, nichts mehr, als sich einen Ruf als eine Art Medium zu erwerben. Da war es am besten, diesen ausgeflippten Kram für sich zu behalten.
Doctor John war allerdings ein richtig guter Kerl. Und er litt.
DJ stellte die Kaffeekanne umgekehrt in den Geschirrablauf, nahm das am Backofengriff hängende Handtuch, um sich die Hände abzutrocknen, und drehte sich dann zu Dan um. Er schenkte ihm ein Lächeln, das so echt aussah wie der Kaffeeweißer, den Dan neben die Kekse und die Zuckerdose gestellt hatte. »Tja, dann mache ich mich mal auf die Socken. Bis nächste Woche wahrscheinlich.«
Letztlich fiel die Entscheidung von selbst; Dan konnte den armen Kerl einfach nicht so ziehen lassen. Er streckte die Arme aus. »Komm schon!«
Die berühmte AA-Männerumarmung. Dan hatte sie schon oft gesehen, aber selbst noch nie jemand eine angeboten. John blickte eine Moment zweifelnd drein, dann trat er auf ihn zu. Als Dan ihn an sich zog, dachte er: Wahrscheinlich passiert gar nichts.
Aber es passierte etwas. Es kam so unversehens wie in seiner Kindheit, wenn er seinen Eltern manchmal geholfen hatte, verloren gegangene Gegenstände wiederzufinden.
»Hör mal, Doc«, sagte er, als er John losließ. »Du machst dir Sorgen um das Kind mit Gotscheh, stimmt’s?«
John wich einen Schritt zurück. »Was sagst du da?«
»Ich weiß schon, dass ich es nicht richtig ausspreche. Gotscheh? Glotscheh? Es hat irgendwas mit den Knochen zu tun.«
John starrte ihn mit offenem Mund an. »Sprichst du etwa von Norman Lloyd?«
»Das musst du mir sagen.«
»Normie leidet an Morbus Gaucher. Das ist eine Störung des Fettstoffwechsels. Erblich und sehr selten. Führt zu einer vergrößerten Milz, neurologischen Störungen und normalerweise zu einem frühen, unangenehmen Tod. Der arme Junge hat praktisch Glasknochen und wird wahrscheinlich sterben, bevor er zehn ist. Aber woher weißt du überhaupt davon? Von seinen Eltern? Die Lloyds wohnen doch unten in Nashua, und das ist verdammt weit weg!«
»Du hattest Angst davor, mit ihm zu sprechen – wer unheilbar krank ist, bringt dich total durcheinander. Deshalb bist du in die Tigger-Toilette gegangen, um dir die Hände zu waschen, obwohl das gar nicht nötig war. Dabei hast du deine Armbanduhr abgenommen und sie auf das Regal gelegt, auf dem man Plastikflaschen mit diesem roten Desinfektionszeug aufbewahrt. Ich weiß nicht, wie es heißt.«
John D. starrte ihn an, als wäre er wahnsinnig geworden.
»In welchem Krankenhaus liegt dieser Junge?«, fragte Dan.
»Im Elliot. Von der Zeit her stimmt das in etwa, und ich bin tatsächlich auf die Toilette in der Nähe vom Stationszimmer gegangen, um mir die Hände zu waschen.« Er schwieg und runzelte die Stirn. »Stimmt, dort kleben die Disney-Figuren aus Winnie Puuh an der Wand. Aber wenn ich meine Uhr abgenommen hätte, dann würde ich mich doch daran erinn…« Er verstummte.
»Du erinnerst dich tatsächlich daran«, sagte Dan und lächelte. »Jetzt tust du’s jedenfalls. Oder etwa nicht?«
»Ich hab dort im Fundbüro nachgefragt. In Bridgton und Concord übrigens auch. Nichts.«
»Okay, dann ist vielleicht jemand nach dir reingekommen, hat die Uhr gesehen und sie geklaut. Wenn das so ist, hast du Pech gehabt … aber du kannst deiner Frau wenigstens sagen, was passiert ist. Und wieso es passiert ist. Du hast an diesen Jungen gedacht, hast dir Sorgen um ihn gemacht, und da hast du vergessen, deine Uhr wieder anzulegen, bevor du das Klo verlassen hast. So einfach ist das. Aber, hör mal, vielleicht ist sie sogar noch da. Schließlich ist das Regal ziemlich hoch, und das Zeug in diesen Plastikflaschen wird kaum verwendet, weil direkt neben dem Waschbecken ein Seifenspender ist.«
»Das Zeug auf dem Regal heißt Betadine«, sagte John. »Und das Regal ist so hoch, damit die Kinder nicht drankommen. Ist mir bisher nie richtig aufgefallen. Aber … Dan, warst du denn schon mal im Elliot?«
Das war keine Frage, die Dan beantworten wollte. »Sieh einfach mal auf dem Regal nach, Doc. Vielleicht hast du Glück.«
3
Am folgenden Donnerstag traf Dan früher als sonst beim Nüchternheitsmeeting ein. Sollte Doctor John beschlossen haben, wegen einer verloren gegangenen Armbanduhr seine Ehe und womöglich sogar seinen Beruf wegzuschmeißen (Alkoholiker taten das oft aus wesentlich geringfügigeren Gründen), dann musste jemand andres Kaffee kochen. Aber John war da. Die Uhr ebenfalls.
Diesmal war es John, von dem die Umarmung ausging. Eine ausgesprochen herzliche. Dan erwartete schon, nach französischer Sitte links und rechts auf die Wange geküsst zu werden, bevor DJ ihn losließ.
»Sie war genau da, wo du gesagt hast. Immer noch. Nach zehn Tagen. Es ist fast ein Wunder.«
»Na ja«, sagte Dan. »Die meisten Leute sehen nie nach oben. Das ist wissenschaftlich erwiesen.«
»Wie konntest du das nur wissen?«
Dan schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht erklären. Manchmal weiß ich so was einfach.«
»Wie kann ich dir danken?«
Das war eine Frage, die Dan erwartet und erhofft hatte. »Indem du dich an den zwölften Schritt hältst, Dummkopf.«
John D. hob die Augenbrauen.
»Anonymität. Simpel ausgedrückt – halt bloß die Klappe!«
Auf Johns Gesicht machte sich Verständnis breit. Er grinste. »Das schaff ich.«
»Gut. Dann mach jetzt Kaffee. Ich lege die Bücher raus.«
4
In den meisten AA-Gruppen Neuenglands wurden Jahrestage als Geburtstage bezeichnet und nach dem Meeting mit einer Party samt Kuchen gefeiert. Kurz bevor Dan sein drittes trockenes Jahr auf diese Weise begehen wollte, fuhren David Stone und Abras Urgroßmutter bei John Dalton – in manchen Kreisen als Doctor John oder DJ bekannt – vorbei, um ihn zur Feier eines anderen dritten Geburtstags einzuladen. Diese wurde von den Stones zu Ehren Abras veranstaltet.
»Das ist aber nett von Ihnen«, sagte John. »Und ich werde gern vorbeikommen, wenn es geht. Aber warum habe ich das Gefühl, dass das noch nicht alles ist?«
»Weil es tatsächlich nicht alles ist«, sagte Chetta. »Und dieser Trotzkopf da hat beschlossen, dass es endlich Zeit ist, darüber zu reden.«
»Ist mit Abra etwas nicht in Ordnung? Dann sagen Sie es mir, bitte. Laut ihrer letzten Untersuchung geht es ihr ausgezeichnet. Sie ist furchtbar intelligent. Hat eine ausgezeichnete soziale Kompetenz. Die sprachliche Ausdrucksfähigkeit ist fantastisch. Lesen kann sie scheinbar auch schon. Als sie das letzte Mal hier war, hat sie mir Wo die wilden Kerle wohnen vorgelesen. Das war zwar wahrscheinlich auswendig gelernt, aber für ein Kind, das noch keine drei Jahre alt ist, trotzdem bemerkenswert. Weiß Lucy eigentlich, dass Sie hier sind?«
»Natürlich«, sagte David. »Lucy und Chetta haben mich schließlich unter Druck gesetzt hierherzukommen. Lucy ist mit Abra zu Hause und backt Kuchen für die Party. Als ich gegangen bin, hat die Küche wie ein Schlachtfeld ausgesehen.«
»Also, worum geht es? Soll ich als Beobachter zu Abras Party kommen?«
»Genau«, sagte Concetta. »Niemand von uns weiß, ob etwas passieren wird, aber wenn sie aufgeregt ist, dann ist die Wahrscheinlichkeit größer, und was ihre Party angeht, ist sie sehr aufgeregt. Alle ihre kleinen Freunde aus der Tagesstätte kommen, außerdem haben wir einen Clown bestellt, der Zaubertricks vorführen wird.«
John zog eine Schreibtischschublade auf und holte einen Notizblock heraus. »Was erwarten Sie eigentlich genau?«
David zögerte. »Das ist … schwer zu sagen.«
Chetta sah ihn an. »Nun mach schon, David. Für einen Rückzieher ist es jetzt zu spät.« Ihr Ton war leicht, fast fröhlich, aber John Dalton fand dennoch, dass sie besorgt aussah. Eigentlich sahen beide besorgt aus. »Fang mit der Nacht an, in der sie losgebrüllt hat und nicht aufhören wollte.«
5
David Stone unterrichtete am College seit zehn Jahren Grundkurse in amerikanischer Geschichte und moderner europäischer Geschichte und wusste, wie man eine Erzählung so aufbaut, dass ihre innere Logik Wirkung zeigt. Er begann mit dem Hinweis, dass das Marathongezeter seiner Tochter fast augenblicklich geendet hatte, nachdem die zweite Passagiermaschine in das World Trade Center gerast war. Es folgte eine Rückblende auf die Träume, in denen seine Frau die Nummer des American-Airlines-Flugs auf Abras Brust gesehen hatte und er die des United-Flugs.
»In Lucys Traum war Abra auf einer Flugzeugtoilette. In meinem war sie in einem brennenden Einkaufszentrum. Daraus können Sie Ihre eigenen Schlüsse ziehen. Oder auch nicht. Aus meiner Sicht sind die Flugnummern jedenfalls ein ziemlich eindeutiger Beweis. Wofür, weiß ich allerdings nicht.« Er lachte wenig überzeugend, hob die Hände und ließ sie wieder sinken. »Vielleicht habe ich auch Angst, es zu wissen.«
John Dalton erinnerte sich sehr gut an den Morgen des elften Septembers und an Abras Nonstop-Geschrei. »Nur damit ich’s richtig verstehe: Sie meinen, dass Ihre Tochter – die damals erst fünf Monate alt war – eine Vorahnung der Anschläge hatte und Sie davon auf telepathische Weise unterrichtet hat.«
»Genau«, sagte Chetta. »Sehr prägnant ausgedrückt. Bravo.«
»Ich weiß, wie sich das anhört«, sagte David. »Deshalb haben Lucy und ich es ja auch für uns behalten. Chetta ist die einzige Ausnahme. Lucy hat es ihr schon in jener Nacht erzählt. Sie erzählt ihrer Momo alles.« Er seufzte. Concetta warf ihm einen kühlen Blick zu.
»Sie selber haben aber keinen solchen Traum gehabt?«, fragte John sie.
Concetta schüttelte den Kopf. »Ich war in Boston. Außerhalb ihrer … wie soll ich sagen … Sendereichweite?«
»Seit Nine-Eleven sind fast drei Jahre vergangen«, sagte John. »Ich nehme mal an, dass inzwischen noch andere Dinge geschehen sind.«
Eine Menge andere Dinge waren geschehen, und da David es nun über sich gebracht hatte, von dem ersten (und unglaublichsten) Vorfall zu berichten, war er in der Lage, relativ leicht über den Rest zu sprechen.
»Das Klavier. Das kam als Nächstes. Wissen Sie, dass Lucy Klavier spielt?«
John schüttelte den Kopf.
»Das tut sie seit ihrer Schulzeit. Nicht großartig, aber sie ist ziemlich gut. Wir haben ein Vogel-Klavier, das meine Eltern ihr als Hochzeitsgeschenk gekauft haben. Es steht im Wohnzimmer, wo früher auch Abras Laufställchen war. Tja, eines der Geschenke, die ich Lucy zu Weihnachten 2001 gemacht habe, war ein Buch mit Beatles-Partituren für Klavier. Abra lag immer in ihrem Ställchen, hat sich mit ihren Spielsachen beschäftigt und zugehört. Daran, wie sie gestrahlt und mit den Füßen gestrampelt hat, sah man, dass sie die Musik mochte.«
Das fand John nicht weiter bemerkenswert. Die meisten Babys mochten Musik und verfügten über bestimmte Methoden, das ihrer Umwelt mitzuteilen.
»In dem Buch waren alle Hits – ›Hey Jude‹, ›Lady Madonna‹, ›Let It Be‹ –, aber am liebsten mochte Abra einen der weniger bekannten Songs, eine B-Seite mit dem Titel ›Not a Second Time‹. Kennen Sie den?«
»Nicht dem Titel nach«, sagte John. »Wenn ich ihn höre, vielleicht.«
»Er ist peppig, aber im Gegensatz zu den meisten schnellen Titeln der Beatles ist er auf einem Piano-Riff aufgebaut statt auf dem üblichen Gitarrensound. Es ist zwar kein Boogie-Woogie, aber doch so ähnlich. Abra war begeistert davon. Wenn Lucy den Song gespielt hat, dann hat sie nicht einfach nur mit den Beinen gestrampelt, sondern ist regelrecht Rad gefahren.« David lächelte bei der Erinnerung daran, wie Abra in ihrem hellvioletten Strampler auf dem Rücken gelegen und wie eine Diskoqueen getanzt hatte, obwohl sie noch gar nicht laufen konnte. »Die Instrumentaleinlage wird fast vollständig vom Klavier bestritten und ist ausgesprochen simpel. Die linke Hand spielt einfach eine Note nach der anderen. Es sind nur neunundzwanzig, ich hab nachgezählt. Das könnte selbst ein Kind spielen. Und unser Kind hat es getan.«
John hob die Augenbrauen, bis sie fast den Haaransatz berührten.
»Es hat im Frühjahr 2002 angefangen. Lucy und ich lagen im Bett und haben gelesen. Im Fernsehen lief der Wetterbericht, und der kommt etwa in der Mitte der Elf-Uhr-Nachrichten. Abra war in ihrem Zimmer und hat tief und fest geschlafen. Dachten wir jedenfalls. Lucy hat mich gebeten, den Fernseher auszuschalten, weil sie schlafen wollte. Ich hab auf die Fernbedienung gedrückt, und da haben wir es gehört. Die Instrumentaleinlage aus ›Not a Second Time‹, diese neunundzwanzig Noten. Perfekt. Keine einzige war falsch, und sie kamen von unten.
Doc, wir sind zu Tode erschrocken. Wir dachten, ein Einbrecher ist im Haus, bloß welche Sorte Einbrecher spielt erst ein paar Takte Beatles, bevor er das Tafelsilber einsackt? Ich habe keine Pistole, und meine Golfschläger waren in der Garage, also habe ich einfach das größte Buch genommen, das ich finden konnte, und bin nach unten geschlichen, um dem Eindringling entgegenzutreten. Ziemlich dämlich, ich weiß. Ich hab Lucy gesagt, wenn ich schreie, soll sie zum Telefon greifen und die Polizei rufen. Aber unten war niemand, und alle Türen nach draußen waren verriegelt. Außerdem war am Klavier die Klappe über den Tasten geschlossen.
Ich bin wieder raufgegangen und hab Lucy gesagt, ich hätte nichts und niemand entdeckt. Dann sind wir gemeinsam durch den Flur zu Abras Zimmer gegangen, um nach ihr zu schauen. Wir haben vorher nicht darüber gesprochen, sondern es einfach getan. Ich glaube, wir wussten, dass es Abra gewesen war, aber keiner von uns wollte es laut aussprechen. Sie lag wach in ihrem Bettchen und sah uns an. Sie kennen doch die klugen Äuglein, die so kleine Kinder haben, oder?«
John kannte sie. Als könnten solche Kinder einem alle Geheimnisse des Universums offenbaren, wenn sie nur sprechen könnten. Manchmal dachte er, sie wüssten vielleicht wirklich alle Geheimnisse, nur habe Gott es so eingerichtet, dass sie dann, wenn sie mehr als nur Gu-gu-ga-ga zustande brachten, alles wieder vergessen hatten, so wie man selbst seine lebhaftesten Träume vergaß, sobald man einige Stunden wach war.
»Als sie uns sah, hat sie gelächelt und die Augen geschlossen, und dann ist sie eingeschlafen. In der nächsten Nacht ist es wieder passiert. Zur selben Zeit. Diese neunundzwanzig Noten aus dem Wohnzimmer … dann Stille … und dann sind wir in Abras Zimmer gegangen und haben sie wach vorgefunden. Sie hat kein Theater gemacht, hat nicht mal an ihrem Schnuller genuckelt, sondern uns nur angesehen. Dann ist sie eingeschlafen.«
»Und das ist alles wahr«, sagte John. Es war eigentlich keine Frage, er wollte sich nur letzte Klarheit verschaffen. »Sie wollen mich nicht auf den Arm nehmen.«
David lächelte nicht. »Nicht mal ansatzweise.«
John sah Chetta an. »Haben Sie das auch schon einmal mitbekommen?«
»Nein. Lassen Sie David zu Ende erzählen.«
»Wir haben uns ein paar Abende freigenommen, und … Sie wissen ja, dass das Geheimnis einer erfolgreichen Erziehung, wie man so schön sagt, darin besteht, immer einen Plan aufzustellen.«
»Klar.« Das war der wichtigste Rat, den John Dalton frischgebackenen Eltern gab. Wie geht man mit dem nächtlichen Füttern um? Man stellt einen Plan auf, damit immer jemand bereitsteht und niemand zu stark strapaziert wird. Wie geht man mit Baden und Füttern und Anziehen und Spielen um, damit das Kind eine geregelte – und daher beruhigende – Routine hat? Man macht einen Stundenplan. Wie weiß man, was im Notfall zu tun ist, zum Beispiel wenn das Kinderbett zusammenbricht oder das Kind etwas verschluckt hat und keine Luft bekommt? Wenn man einen Plan aufgestellt hatte, wusste man es, und in neunzehn von zwanzig Fällen klappte auch alles wunderbar.
»Deshalb haben wir genau das getan. In den folgenden drei Nächten hab ich auf dem Sofa direkt gegenüber dem Klavier geschlafen. In der dritten Nacht hat die Musik angefangen, gerade als ich mich hinlegen wollte. Die Tastenklappe war geschlossen, also bin ich hingelaufen und hab sie aufgeklappt. Die Tasten bewegten sich nicht. Was mich nicht groß überrascht hat, weil die Musik auch nicht aus dem Klavier kam.«
»Wie bitte?«
»Sie kam von irgendwo darüber. Aus der leeren Luft. Inzwischen war Lucy in Abras Zimmer gelaufen. Die anderen Male hatten wir nichts gesagt, wir waren zu verblüfft gewesen, aber diesmal war Lucy bereit. Sie hat Abra gesagt, sie soll es noch einmal spielen. Es gab eine kleine Pause … und dann hat sie’s getan. Ich stand so nahe bei ihr, dass ich die Töne fast aus der Luft hätte pflücken können.«
Schweigen im Sprechzimmer von John Dalton, der aufgehört hatte, sich Notizen zu machen. Chetta sah ihn mit ernster Miene an. Endlich sagte er: »Passiert das immer noch?«
»Nein. Lucy hat Abra auf den Schoß genommen und ihr gesagt, sie soll nachts nicht mehr spielen, weil wir sonst nicht schlafen könnten. Und das war das Ende des Ganzen.« David machte eine nachdenkliche Pause. »Fast das Ende. Einmal, etwa drei Wochen später, haben wir die Musik wieder gehört, aber ganz leise, und diesmal kam sie aus unserer Etage. Aus Abras Zimmer.«
»Sie hat es für sich gespielt«, sagte Concetta. »Sie ist aufgewacht … konnte nicht gleich wieder einschlafen … und da hat sie sich ein kleines Wiegenlied vorgespielt.«
6
An einem Montagnachmittag, fast genau ein Jahr nach dem Einsturz der Zwillingstürme, war Abra – die inzwischen laufen konnte und in deren ständigem Geplapper allmählich erkennbare Wörter auftauchten – zur Haustür getapst, wo sie sich zu Boden plumpsen ließ und mit ihrer Lieblingspuppe auf dem Schoß sitzen blieb.
»Was willst du denn da, Schatz?«, fragte Lucy. Sie saß am Klavier und spielte einen Ragtime von Scott Joplin.
»Dada!«, verkündete Abra.
»Liebling, Dada kommt erst nach dem Abendessen heim«, sagte Lucy, aber eine Viertelstunde später bog Daves Acura in die Einfahrt ein, und Dave stieg samt seiner Aktentasche aus. In dem Gebäude, in dem er montags, mittwochs und freitags unterrichtete, hatte es einen Wasserrohrbruch gegeben, und alle Kurse waren abgesagt worden.
»Lucy hat mir davon erzählt«, sagte Concetta zu John Dalton. »Und von dem Schreikrampf am 11. September und dem Phantomklavier wusste ich natürlich schon. Ein, zwei Wochen später kam ich zu Besuch. Ich hatte Lucy gesagt, sie soll Abra nichts davon verraten, aber die wusste trotzdem Bescheid. Zehn Minuten vor meiner Ankunft hat sie sich an der Haustür postiert. Als Lucy fragte, wer da kommt, hat Abra ›Momo‹ geantwortet.«
»So was passiert oft«, sagte David. »Nicht jedes Mal wenn jemand kommt, aber wenn es jemand ist, den sie kennt und mag … fast immer.«
Im späten Frühling 2003 fand Lucy ihre Tochter im Schlafzimmer. Abra zerrte an der zweiten Schublade von Lucys Frisierkommode.
»Gell!«, sagte sie zu ihrer Mutter. »Gell, gell!«
»Ich versteh nicht, was du meinst, Liebling«, sagte Lucy. »Aber wenn du willst, kannst du gern in die Schublade schauen. Da ist bloß alte Unterwäsche und übrig gebliebener Kosmetikkram drin.«
Abra hatte jedoch offenbar gar kein Interesse an der Schublade, denn als Lucy diese herauszog, um ihr den Inhalt zu zeigen, schaute sie nicht einmal hinein.
»Hin! Gell!« Sie holte tief Luft. »Gell hin, Mama!«
Ganz fließend sprachen Eltern die Babysprache nie – dazu war nicht genug Zeit –, aber die meisten erwarben gewisse Kenntnisse darin, weshalb Lucy schließlich begriff, dass ihre Tochter sich nicht für den Inhalt der Frisierkommode interessierte, sondern für etwas dahinter.
Neugierig zog sie das Möbel ein Stück weit von der Wand weg. Abra flitzte sofort in den entstandenen Spalt. Lucy, die befürchtete, es könnte dort ziemlich staubig sein, von Insekten und Mäusen ganz zu schweigen, grabschte nach Abras T-Shirt, erwischte es jedoch nicht. Als sie die Kommode weit genug hervorgezogen hatte, dass sie selbst hätte dahinterschlüpfen können, hielt Abra einen Zwanzigdollarschein in der Hand, der offenbar durch den Spalt zwischen Spiegel und Platte gerutscht war. »Da!«, sagte sie vergnügt. »Gell! Mein Gell!«
»Von wegen«, sagte Lucy und zupfte ihr den Schein aus dem Fäustchen. »Kleine Kinder kriegen kein Geld, weil sie nämlich keins brauchen. Aber du hast dir gerade ein Eis verdient.«
»Aaais!«, rief Abra. »Mein Aaais!«
»Die Sache mit Mrs. Judkins kannst ja du erzählen«, sagte David zu seiner Schwiegeroma. »Die hast du schließlich selbst mitbekommen.«
»Allerdings«, sagte Concetta. »Das war ein Wochenende!«
Im Sommer 2003 hatte Abra begonnen, in – mehr oder weniger – vollständigen Sätzen zu sprechen. Concetta war gekommen, um das Feiertagswochenende nach dem vierten Juli bei den Stones zu verbringen. Am Sonntag, der auf den sechsten Juli fiel, war Dave zum Supermarkt gefahren, um eine neue Flasche Propangas für den Gartengrill zu besorgen. Abra spielte im Wohnzimmer mit ihren Bauklötzen. Lucy und Chetta waren in der Küche, wobei eine der beiden gelegentlich nach der Kleinen sah, um zu verhindern, dass diese den Stecker des Fernsehers aus der Dose zog und daran lutschte oder den Sofa-Berg erklomm. An solchen Unternehmungen zeigte Abra jedoch kein Interesse; sie war damit beschäftigt, aus ihren Plastikklötzen eine Art Stonehenge zu bauen.
Lucy und Chetta räumten gerade die Geschirrspülmaschine aus, als Abra losbrüllte.
»Es hat sich angehört, als würde sie sterben«, erzählte Chetta. »Sie wissen doch, wie erschreckend so was ist, oder?«
John nickte. Das wusste er.
»In meinem Alter kommt man nicht mehr so ohne Weiteres ins Rennen, aber an dem Tag bin ich gerannt wie Wilma Rudolph. Hab es ein gutes Stück vor Lucy ins Wohnzimmer geschafft. Zuerst hab ich tatsächlich Blut gesehen, so sehr war ich davon überzeugt, dass die Kleine sich wehgetan hatte. Aber es war ihr nichts passiert. Körperlich jedenfalls. Sie ist auf mich zugelaufen und hat die Arme um meine Beine geschlungen. Ich hab sie aufgehoben. Inzwischen war Lucy bei mir, und gemeinsam haben wir es geschafft, Abra ein wenig zu beruhigen. ›Wannie!‹, hat sie gesagt. ›Hilf Wannie, Momo! Wannie hindefallen!‹ Ich wusste nicht, wer Wannie war, aber Lucy schon – Wanda Judkins, die Nachbarin gegenüber.«
»Das ist Abras Lieblingsnachbarin«, warf David ein. »Wenn sie Kekse backt, bringt sie nämlich meist einen für Abra rüber. Da steht dann deren Name drauf, manchmal in Rosinen, manchmal in Zuckerguss. Sie ist Witwe. Lebt allein.«
»Also sind wir rübergegangen«, erzählte Chetta weiter. »Ich voraus, Lucy mit Abra auf dem Arm dahinter. Niemand hat aufgemacht. ›Wannie im Essenzimmer!‹, hat Abra gesagt. ›Hilf Wannie, Momo! Hilf Wannie, Mama! Wannie hat wehdemacht, Blut kommt raus!‹
Die Tür war nicht abgeschlossen. Wir sind rein. Sofort hab ich den Geruch von verbrannten Keksen gerochen. Mrs. Judkins lag im Esszimmer neben einer Trittleiter auf dem Boden. Das Tuch, mit dem sie den Sims abgestaubt hatte, war noch in ihrer Hand, und da war tatsächlich Blut – eine ganze Lache rund um den Kopf wie ein Heiligenschein. Ich dachte, sie ist tot, weil man nicht sah, ob sie atmete, aber Lucy hat einen Puls gefunden. Bei dem Sturz hatte sie sich den Schädel gebrochen, und sie hatte eine kleine Gehirnblutung, ist aber schon am nächsten Tag aufgewacht. Übrigens kommt sie zu Abras Geburtstagsparty. Wenn Sie auch kommen, können Sie sie kennenlernen.« Chetta sah John Dalton direkt in die Augen. »Der Arzt in der Notaufnahme hat gesagt, wenn sie länger da gelegen hätte, wäre sie entweder gestorben oder in ein Wachkoma gefallen … was meiner bescheidenen Meinung nach wesentlich schlimmer ist als der Tod. Jedenfalls hat die Kleine ihr das Leben gerettet.«
John warf seinen Kugelschreiber auf den Notizblock. »Ich weiß nicht, was ich sagen soll.«
»Das ist noch nicht alles«, sagte David. »Aber die anderen Sachen sind schwer zu beurteilen. Vielleicht nur weil Lucy und ich uns daran gewöhnt haben. So wie man sich wahrscheinlich daran gewöhnt, ein Kind zu haben, das blind geboren ist. Bloß ist es das genaue Gegenteil davon. Ich glaube, das wussten wir schon vor der Sache mit dem World Trade Center. Schon als wir mit ihr aus der Klinik nach Hause gekommen sind, wussten wir wohl, dass irgendetwas mit ihr ist. Es ist, als ob …«
Er stieß die Luft aus und blickte an die Decke, als würde er nach Worten suchen. Concetta drückte ihm den Arm. »Sprich weiter. Immerhin hat er noch nicht die Männer mit den Schmetterlingsnetzen gerufen.«
»Na gut, es ist, als würde immer ein Wind durchs Haus wehen, bloß dass man nicht genau spüren oder sehen kann, was der bewirkt. Ich denke ständig, die Vorhänge müssten sich bauschen und die Bilder müssten von den Wänden fallen, aber so was passiert nie. Andere Sachen schon. Zwei- oder dreimal pro Woche – manchmal sogar zwei- oder dreimal täglich – fliegen die Sicherungen raus. Wir hatten schon zwei verschiedene Elektriker da, bei vier verschiedenen Gelegenheiten. Die haben die Sicherungen überprüft und uns gesagt, es wäre alles bestens. Manchmal kommen wir morgens nach unten, und die Kissen von den Stühlen und dem Sofa liegen auf dem Boden. Wir sagen Abra, sie soll vor dem Schlafengehen ihre Spielsachen aufräumen, und wenn sie nicht übermüdet und quengelig ist, tut sie das auch. Aber manchmal steht die Spielzeugkiste am nächsten Tag offen, und manche der Sachen liegen wieder auf dem Boden. Meistens die Bauklötze. Die mag sie am liebsten.«
Er schwieg einen Moment und blickte auf das Sehtestplakat an der gegenüberliegenden Wand. John dachte, Concetta würde ihn wieder antreiben, aber sie verhielt sich ruhig, bis er von selbst weitersprach.
»Okay, das ist zwar total irre, aber ich schwöre Ihnen, es ist passiert. Als wir eines Abends den Fernseher angemacht haben, liefen auf jedem Sender die Simpsons. Abra hat gelacht, als wäre das der beste Witz der Welt. Lucy ist fast durchgedreht. ›Abra Rafaella Stone‹, hat sie gesagt. ›Wenn du das bist, hör sofort damit auf!‹ So scharf spricht sie die Kleine fast nie an, und wenn sie es tut, ist Abra ganz aufgelöst. Das war auch an dem Abend so. Ich hab den Fernseher ausgeschaltet, und als ich ihn wieder angeschaltet hab, war alles ganz normal. Es gäbe noch ein halbes Dutzend anderer Geschichten … Vorfälle … Phänomene … aber das meiste war so unauffällig, dass man es kaum bemerkt hat.« Er zuckte die Achseln. »Wie schon gesagt, man gewöhnt sich daran.«
»Ich komme zur Party«, sagte John. »Nach allem, was ich gerade gehört habe, kann ich gar nicht anders.«
»Wahrscheinlich wird gar nichts passieren«, sagte Dave. »Sie kennen doch den alten Witz, wie man einen tropfenden Wasserhahn abstellt, oder? Da muss man nur den Klempner anrufen.«
Concetta schnaubte. »Wenn du das wirklich glaubst, mein Junge, dann wirst du wahrscheinlich eine Überraschung erleben.« An Dalton gewandt, fügte sie hinzu: »Ich hab ihn fast mit Gewalt hierherschleifen müssen.«
»Nun mach mal halblang, Momo.« Daves Wangen hatten sich gerötet.
John seufzte. Die Feindseligkeit, die zwischen den beiden herrschte, war ihm früher schon aufgefallen. Den Grund dafür kannte er nicht – vielleicht eine Art Konkurrenz um Lucy –, und er wollte vermeiden, dass Streit ausbrach. Das bizarre Problem, vor dem sie standen, hatte sie vorübergehend zu Verbündeten gemacht, und dabei sollte es aus seiner Sicht auch bleiben.
»Lassen Sie das bitte.« Das sprach er so scharf aus, dass die beiden den Blick voneinander lösten und ihn verblüfft ansahen. »Ich glaube Ihnen. So etwas habe ich zwar bisher nicht im Entferntesten gehört …«
Oder doch? Er unterbrach sich, weil ihm seine verlorene Uhr eingefallen war.
»Doc?«, sagte David.
»Entschuldigung. Ein Gehirnkrampf.«
Daraufhin lächelten seine beiden Besucher. Sie waren wieder Verbündete. Gut.
»Auf jeden Fall werde ich nicht die Männer in den weißen Kitteln auf Sie hetzen. Ich kenne Sie beide als vernünftige Menschen – und als gebildete Menschen, die nicht zu Hysterie oder Halluzinationen neigen. Wenn nur eine einzelne Person mir von diesen … diesen übersinnlichen Ausbrüchen erzählen würde, würde ich vielleicht eher auf eine merkwürdige Form des Münchhausen-Syndroms tippen. Aber Sie sind ja zu dritt. Womit sich die Frage stellt: Was erwarten Sie eigentlich von mir?«
Dave schien das nicht recht klar zu sein, seine Schwiegeroma wusste jedoch Bescheid. »Sie sollen Abra beobachten, so wie sie es bei einem Kind mit irgendeiner Krankheit tun würden …«
Vorübergehend war die Farbe aus David Stones Wangen gewichen, aber jetzt kehrte sie zurück. Auf einen Schlag. »Abra ist nicht krank!«, blaffte er.
Sie sah ihn an. »Das weiß ich doch! Mamma mia! Lässt du mich bitte ausreden?«
Dave setzte eine leidende Miene auf und hob die Hände. »Verzeihung, Verzeihung, Verzeihung.«
»Hör auf, mich anzuschnauzen, David!«
»Wenn ihr unbedingt weiterstreiten wollt, liebe Kinder, muss ich euch in die Ecke stellen«, sagte John.
Concetta seufzte. »Es ist sehr stressig. Für uns alle. Tut mir leid, Davey, ich hab mich nicht richtig ausgedrückt.«
»Kein Problem, cara mia. Wir sitzen ja im selben Boot.«
Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht. »Ja. Ja, das tun wir. Beobachten Sie Abra, wie Sie jedes andere Kind mit einem undiagnostizierten Zustand beobachten würden, Dr. Dalton. Mehr können wir nicht von Ihnen verlangen, und ich glaube, das reicht vorläufig auch. Vielleicht fällt Ihnen etwas ein. Das hoffe ich jedenfalls. Wissen Sie …«
Mit einem hilflosen Ausdruck, der wahrscheinlich nur selten auf ihr strenges Gesicht trat, richtete sie den Blick auf David Stone.
»Wir haben Angst«, sagte Dave. »Ich, Lucy, Chetta – wir haben furchtbare Angst. Nicht vor Abra, sondern um sie. Weil sie noch so klein ist, verstehen Sie? Was ist, wenn diese Kraft in ihr … ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll … was ist, wenn die noch nicht ihre volle Stärke erreicht hat? Wenn sie noch wächst? Was tun wir dann? Womöglich wird Abra dann … ich weiß auch nicht …«
»Er weiß es«, sagte Chetta. »Womöglich verliert Abra dann die Beherrschung und fügt sich oder jemand andres Schaden zu. Ich weiß zwar nicht, wie wahrscheinlich das ist, aber allein schon die Vorstellung, dass so etwas geschehen könnte …« Sie berührte Johns Hand. »Die ist furchtbar.«
7
Dan Torrance wusste, dass er im Turmzimmer des Hospizes wohnen würde, seit sein alter Freund Tony ihm von dort aus zugewinkt hatte – aus einem Fenster, das beim zweiten Blick mit Brettern zugenagelt war. Als er sich bei Mrs. Clausen, der Verwalterin, nach dem Raum erkundigte, arbeitete er bereits sechs Monate im Rivington, als Hausmeister/Pfleger … und inoffizieller Arzt des Hauses. Natürlich gemeinsam mit seinem treuen Begleiter Azzie.
»Dieses Zimmer ist doch komplett zugemüllt«, hatte Mrs. Clausen gesagt. Sie war Anfang sechzig und hatte unglaubwürdig rote Haare. Wenngleich sie eine sarkastische und oft anzügliche Schnauze hatte, war sie eine kluge, mitfühlende Verwalterin. Noch mehr schätzte der Vorstand des Hospizes jedoch ihre unglaublichen Fähigkeiten, Spenden zu beschaffen. Dan war sich nicht sicher, ob er sie mochte, aber er hatte Respekt vor ihr.
»Dann räume ich es aus«, sagte er. »In meiner Freizeit. Es wäre doch besser, wenn ich hier wohnen würde, meinen Sie nicht? Immer auf Abruf sozusagen.«
»Ich würde gern mal was wissen, Danny. Wie kommt es, dass Sie Ihre Sache so gut machen?«
»Das weiß ich eigentlich auch nicht.« Mindestens zur Hälfte stimmte das. Vielleicht sogar zu siebzig Prozent. Er lebte schon seit seiner Geburt mit dem Shining, begriff es aber immer noch nicht.
»Abgesehen von dem ganzen Gerümpel ist es da oben im Sommer heiß und im Winter so kalt, dass Sie sich die Eier abfrieren werden.«
»Das lässt sich beheben.«
»Ach ja? Ab ist ab, da ist nichts mehr zu machen.« Mrs. Clausen sah ihn über ihre Lesebrille hinweg streng an. »Wenn die Leute vom Vorstand wüssten, was ich Ihnen hier erlaube, würden sie mich wahrscheinlich zum Korbflechten ins betreute Wohnen unten in Nashua schicken. Da gibt’s rosa Wände und Kaufhausmusik aus dem Lautsprecher.« Sie schnaubte. »Doctor Sleep nennt man Sie, ja?«
»Der Doktor bin nicht ich«, sagte Dan zahm. Er wusste, dass er bekommen würde, was er wollte. »Das ist Azzie. Ich bin bloß sein Assistent.«
»Azreel ist ein verfluchter Kater«, sagte sie. »Ein struppiger Streuner, der direkt von der Straße hier hereinmarschiert ist und von Patienten adoptiert wurde, die inzwischen alle in die ewigen Jagdgründe abgeschwirrt sind. Den interessiert doch nur, dass man ihm zweimal am Tag seinen Napf mit Friskies hinstellt.«
Darauf hatte Dan nichts geantwortet. Das war nicht notwendig, weil sie beide wussten, dass es nicht stimmte.
»Ich dachte, Sie hätten eine prima Bude in der Eliot Street. Pauline Robertson lobt Sie über den grünen Kleister. Das weiß ich, weil ich mit ihr im Kirchenchor singe.«
»Was ist denn da Ihr Lieblingslied?«, fragte Dan. »›Weißt du, wie viel Sternlein stehen?‹«
»Na schön«, hatte sie gesagt und ihre spezielle Version eines Lächelns aufgesetzt. »Räumen Sie das Zimmer aus. Ziehen Sie ein. Lassen Sie sich einen Kabelanschluss legen, stellen Sie einen Hi-Fi-Turm auf, bauen Sie sich ’ne Bar ein. Ist mir doch scheißegal, schließlich bin ich bloß die Chefin.«
»Danke. Mrs. C.«
»Ach, und vergessen Sie das elektrische Heizgerät nicht, ja? Vielleicht finden Sie auf dem Sperrmüll eines mit einem schön ausgefransten Kabel. Wenn dieser verfluchte Kasten in einer kalten Februarnacht niederbrennt, kann man hier endlich ein Backsteinmonstrum hochziehen, das zu den beiden Scheußlichkeiten links und rechts passt.«
Dan stand auf und hob den Handrücken an die Stirn zu einem nicht ganz korrekten britischen Salut. »Zu Diensten, Boss.«
Sie scheuchte ihn mit einer Handbewegung fort. »Raus hier, bevor ich es mir anders überlege, Doc!«
8
Er besorgte sich tatsächlich ein Heizgerät, aber das Kabel war nicht ausgefranst, und das Ding schaltete sich sofort selbsttätig ab, wenn es umfiel. Was den Sommer anging, war es illusorisch, im Turmzimmer eine Klimaanlage zu installieren, aber er stellte zwei Ventilatoren von Walmart in die offenen Fenster, sodass ein angenehmer Durchzug entstand. An Sommertagen wurde es trotzdem richtig heiß, doch tagsüber war Dan fast nie dort oben. Und in den Sommernächten kühlte es in New Hampshire normalerweise deutlich ab.
Der meiste Kram, den man im Raum aufbewahrt hatte, war reif für die Müllabfuhr, aber Dan behielt eine große, altmodische Schultafel, die an der Wand gelehnt hatte. Offenbar war sie dort mindestens fünfzig Jahre lang hinter einem Schrotthaufen aus antiken Schwerverwundetenrollstühlen verborgen gewesen. Die Tafel war nützlich. Dan notierte darauf die Hospizpatienten und ihre Zimmernummern. Starb jemand, löschte er den Namen, kam jemand Neues, schrieb er ihn dazu. Im Frühling 2004 standen zweiunddreißig Namen auf der Tafel. Zehn waren in Rivington eins und zwölf in Rivington zwei – das waren die hässlichen Backsteinbauten zu beiden Seiten der viktorianischen Villa, in der die berühmte Helen Rivington früher gelebt und unter dem aufregenden Namen Jeannette Montparsse spannende Liebesromane verfasst hatte. Die übrigen Patienten waren in den beiden Stockwerken unterhalb von Dans engem, aber zweckdienlichem Turm-Apartment untergebracht.
»War Mrs. Rivington noch für etwas anderes berühmt als für ihre Kitschromane?«, hatte Dan sich bei Claudette Albertson erkundigt, kurz nachdem er im Hospiz angefangen hatte. Die beiden hatten im Raucherzimmer gesessen, um ihrer schlechten Angewohnheit zu frönen. Claudette, eine immer gut aufgelegte afroamerikanische Krankenschwester mit den Schultern eines Footballspielers, hatte den Kopf in den Nacken geworfen und gelacht.
»Und ob! Dafür, dass sie dieser Stadt eine Wagenladung Geld hinterlassen hat, mein Lieber! Und für die Stiftung dieses Hauses natürlich. Sie dachte, alte Leute sollten einen Ort haben, an dem sie in Würde sterben können.«
Und im Rivington taten das die meisten. Dan – assistiert von Azzie – trug inzwischen sein Teil dazu bei. Er glaubte, seine Berufung gefunden zu haben. Im Hospiz fühlte er sich nun zu Hause.
9
Am Morgen von Abras Geburtstagsparty stieg Dan aus dem Bett und sah, dass sämtliche Namen von seiner Tafel gewischt worden waren. Wo sie gestanden hatten, befand sich in großen, ungelenken Buchstaben ein einziges Wort:
hAllJ
Lange saß Dan in seiner Unterwäsche auf der Bettkante und tat nichts anderes, als die Tafel zu betrachten. Dann stand er auf, legte eine Hand auf die Buchstaben und verschmierte sie ein bisschen in der Hoffnung, eine Verbindung herzustellen. Wenigstens ein kleines Funkeln. Nach einer Weile nahm er die Hand weg und rieb sich den Kreidestaub auf seinen nackten Oberschenkel.
»Selber hallo«, sagte er … und dann: »Sag mal, heißt du vielleicht Abra?«
Nichts. Er schlüpfte in seinen Bademantel, nahm Seife und Handtuch und ging hinunter in die Personaldusche auf der ersten Etage. Als er zurückkam, nahm er den Schwamm, den er zusammen mit der Tafel gefunden hatte, und begann das Wort wegzuwischen. Als er zur Hälfte damit fertig war, kam ihm ein Gedanke
(Daddy sagt wir kriegen Luftballons)
und er hielt inne, um auf Weiteres zu warten. Es kam jedoch nichts, weshalb er den Rest abwischte und dann anfing, auf der Basis der aktuellen Belegungsliste die Namen und Zimmernummern wieder hinzuschreiben. Als er mittags nach oben kam, hätte er sich nicht gewundert, die Tafel wieder leer und anstelle der Namen und Nummern ein hAllJ vorzufinden, aber alles war so, wie er es hinterlassen hatte.
10
Abras Geburtstagsparty fand im Garten der Stones statt, einer wunderschönen grünen Rasenfläche mit Apfel- und Hartriegelbäumen, die gerade zu blühen begannen. Das Tor in dem Maschendrahtzaun am Ende des Gartens war durch ein Zahlenschloss gesichert. Der Zaun war ausgesprochen unschön, was David und Lucy jedoch egal war, denn dahinter kam der Saco River, der sich durch Frazier und North Conway nach Südosten in Richtung Maine schlängelte. Flüsse und kleine Kinder waren nach Meinung der Stones keine gute Kombination, besonders nicht im Frühling, wenn der Saco durch die Schneeschmelze anschwoll und turbulent wurde. Jedes Jahr berichtete das wöchentlich erscheinende Lokalblatt von mindestens einem Ertrunkenen.
An diesem Tag war im Garten allerdings genügend los, dass die Kinder beschäftigt waren. Das einzige organisierte Spiel, das man zustande brachte, war eine kurze Polonaise, aber die Kleinen waren nicht zu klein, als dass sie kreuz und quer auf dem Rasen herumrannten (beziehungsweise sich gelegentlich herumrollten), wie Äffchen auf Abras Spielturm herumkletterten, durch die bunten Tunnels krochen, die David mithilfe einiger anderer Väter aufgebaut hatte, und die inzwischen überall herumtreibenden Luftballons durch die Gegend hauten. Letztere waren alle gelb (Abras absolute Lieblingsfarbe), und es waren, wie John Dalton bestätigen konnte, mindestens sechs Dutzend. Er hatte Lucy und deren Großmutter geholfen, sie aufzublasen. Für eine Frau in den Achtzigern hatte Chetta erstaunlich viel Puste.
Abra eingerechnet, waren es neun Kinder, und da von jedem mindestens ein Elternteil mitgekommen war, gab es genügend Aufpasser. Auf der Veranda hatte man Gartenstühle aufgestellt, und als die Party so richtig in Gang gekommen war, ließ John sich dort neben Concetta nieder, die sich in Designerjeans und ihr Sweatshirt mit der Aufschrift BESTE UROMA DER WELT geworfen hatte. Sie arbeitete sich durch ein Riesenstück Geburtstagskuchen. John, der den Winter über ein paar Kilo zugelegt hatte, begnügte sich mit einer einzigen Kugel Erdbeereis.
»Ich weiß gar nicht, wo Sie das hinstecken«, sagte er und deutete mit dem Kinn auf das zusehends kleiner werdende Kuchenstück auf Chettas Pappteller. »Sie haben überhaupt nichts am Leib. Dünn wie eine Bohnenstange.«
»Mag sein, mein Lieber, aber ich hab einen hohlen Zahn.« Sie ließ den Blick über die lärmende Kinderschar schweifen und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Ich wünschte, meine Tochter hätte das noch erlebt. Es gibt nicht viel in meinem Leben, was ich bedaure, aber das gehört dazu.«
John beschloss, sich nicht auf dieses Gesprächsthema einzulassen. Lucys Mutter Sandra war bei einem Autounfall ums Leben gekommen, als Lucy jünger gewesen war als Abra jetzt. Das wusste er aus dem Blatt mit der Familiengeschichte, das die Stones gemeinsam ausgefüllt hatten.
Ohnehin wechselte Chetta das Thema selbst. »Wissen Sie, was ich an Kindern dieses Alters mag?«
»Nein.« John mochte Kinder jedes Alters … zumindest bis sie vierzehn wurden. Dann spielten ihre Hormone nämlich verrückt, und die meisten fühlten sich verpflichtet, ihrer Umgebung in den folgenden fünf Jahren gewaltig auf die Nerven zu gehen.
»Schauen Sie sich die Szene doch mal an, Johnny. Es ist die Kinderversion dieses Gemäldes von Edward Hicks, Das Königreich des Friedens. Sechs von ihnen sind weiß – klar, schließlich sind wir in New Hampshire –, aber da sind auch zwei schwarze und ein wunderhübsches koreanisch-amerikanisches Mädchen, das wie aus einem Katalog für Kindermode entsprungen aussieht. Sie kennen doch das Lied, das man oft in der Sonntagsschule singt – ›Rot und gelb, schwarz und weiß, Gott liebt alle Menschen gleich‹? Genau das sehen wir hier. Zwei Stunden läuft die Party schon, und keines der Kinder hat die Faust geballt oder ein anderes aus Zorn geschubst.«
John – dem schon viele Kleinkinder untergekommen waren, die getreten, geschubst, geboxt und gebissen hatten – setzte ein Lächeln auf, in dem sich Zynismus und Wehmut die Waage hielten. »Was anderes ist ja nicht zu erwarten, schließlich gehen sie alle in die schickste Tagesstätte weit und breit. Dort verlangt man entsprechende Gebühren. Das bedeutet, dass die Eltern alle mindestens zur oberen Mittelschicht gehören, einen Universitätsabschluss haben und daran glauben, dass man miteinander auskommen muss. Deshalb hat man diesen Kindern ein perfektes Sozialverhalten antrainiert.«
John ließ es dabei bewenden, weil Chetta ihn böse anfunkelte, aber er hätte noch weitergehen können. Er hätte sagen können, dass die meisten Kinder bis zum Alter von etwa sieben Jahren, dem sogenannten Alter der Vernunft, wie emotionale Echokammern reagierten. Wenn sie bei Menschen aufwuchsen, die miteinander auskamen und sich nicht anschnauzten, dann verhielten sie sich ebenso. Wurden sie hingegen von Leuten aufgezogen, die kratzten und brüllten, dann … nun ja …
Er behandelte Kinder nun schon zwanzig Jahre lang, ganz zu schweigen von der Erziehung zweier eigener Kinder, die inzwischen in guten, einem perfekten Sozialverhalten zuträglichen Internaten untergebracht waren. In dieser Zeit waren die romantischen Vorstellungen, die ihn bei der Entscheidung, Pädiater zu werden, beeinflusst hatten, zwar nicht völlig zunichtegemacht, aber doch modifiziert worden. Vielleicht kamen Kinder wirklich auf Wolken aus Herrlichkeit auf die Welt, wie Wordsworth so vertrauensvoll verkündet hatte, aber sie kackten auch in die Hose, bis sie gelernt hatten, dass man das lieber nicht tun sollte.
11
Silberhelle Glöckchen – wie die eines Eiswagens – erklangen in der Nachmittagsluft. Die Kinder drehten sich danach um, neugierig, was da wohl ankam.
Von der Garageneinfahrt der Stones her rollte eine liebenswerte Erscheinung auf den Rasen: ein junger Mann auf einem extrem überdimensionierten roten Dreirad. Er trug weiße Handschuhe und einen Anzug mit stark wattierten Schultern. Im Knopfloch hatte er eine Blume von der Größe einer Treibhausorchidee stecken. Seine ebenfalls übergroßen Hosen waren bis zu den Knien hochgezogen, damit er gefahrlos in die Pedale treten konnte. Am Lenker hingen diverse Glöckchen, die er mit den Fingen läutete, während sein Dreirad ständig von einer Seite auf die andere schwankte, ohne ganz umzufallen. Auf dem Kopf des jungen Mannes saß eine wirre, blaue Perücke, bedeckt von einer riesigen, braunen Melone. Hinter ihm kam David Stone, in einer Hand einen großen Koffer, in der anderen einen Klapptisch. Er sah nachdenklich drein.
»Hallo, Kinder!«, rief der Mann auf dem Dreirad. »Hallo, Kinder! Herbei, herbei, denn jetzt beginnt sie gleich, die Show!« Das musste er nicht zweimal sagen, denn die Kleinen liefen schon lachend und kreischend auf sein Dreirad zu.
Lucy gesellte sich zu John und Chetta, setzte sich, schob clownesk die Unterlippe vor und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. Am Kinn hatte sie einen Fleck aus Schokoglasur. »Da ist er, der Zauberer. Im Sommer tritt er als Straßenkünstler in Frazier und North Conway auf. Dave hat in einem von diesen Wochenblättchen eine Anzeige von ihm entdeckt, sich seine Show mal angesehen und ihn angeheuert. Eigentlich heißt er Reggie Pelletier, aber er nennt sich Der große Mysterio. Sehen wir mal, wie lange er die Kleinen bei der Stange halten kann, sobald sie sich sein schickes Dreirad angeschaut haben. Ich glaube, drei Minuten – höchstens.«
John fand, dass sie da unrecht haben könnte. Der Auftritt des jungen Mannes war perfekt darauf kalkuliert, die kindliche Fantasie anzuregen, und seine Perücke war lustig, statt den Kleinen Angst einzujagen. Auf seinem fröhlichen Gesicht war keine Spur Schminke, was ebenfalls eine gute Idee war. Die Wirkung von Clowns wurde nach Johns Meinung völlig falsch eingeschätzt. Kindern unter sechs Jahren jagten sie eine Heidenangst ein, ältere Kinder fanden sie hingegen einfach langweilig.
Meine Güte, hab ich heute eine miese Laune.
Das lag vielleicht daran, dass er irgendein krasses Ereignis erwartet hatte, und nichts war geschehen. Aus seiner Sicht war Abra ein völlig normales kleines Kind. Womöglich fröhlicher als die meisten ihrer Altersgenossen, aber die gute Laune schien in der Familie zu liegen. Außer wenn Chetta und Dave sich gegenseitig angifteten, natürlich.
»Man darf die Aufmerksamkeitsspanne kleiner Kinder nicht unterschätzen.« Er beugte sich an Chetta vorbei zu Lucy, um ihr mit seiner Papierserviette die Schokolade vom Kinn zu wischen. »Wenn er was vorbereitet hat, wird er sie mindestens fünfzehn Minuten bei der Stange halten. Vielleicht sogar zwanzig.«
»Ja, wenn er was vorbereitet hat.«
Es stellte sich heraus, dass Reggie Pelletier alias Der große Mysterio tatsächlich etwas vorbereitet hatte, und zwar etwas Gutes. Während sein treuer Assistent, der nicht-so-große Dave, den Tisch aufstellte und den Koffer öffnete, forderte Mysterio das Geburtstagskind und dessen Gäste auf, die Blume im Knopfloch zu bewundern. Als die Kinder näher kamen, spritzte ihnen daraus Wasser ins Gesicht, zuerst rot, dann grün, dann blau. Vom reichlich genossenen Süßkram aufgeputscht, kreischten die Kleinen vor Lachen.
»Und nun, liebe Kinder … Uh! Ah! Ih! Das kitzelt!«
Er nahm die Melone ab und zog ein weißes Kaninchen daraus hervor. Den Kindern verschlug es den Atem. Mysterio reichte das Kaninchen Abra, die es streichelte und weitergab, ohne dass man sie dazu auffordern musste. Dem Tier schien die Aufmerksamkeit nichts auszumachen. Vielleicht hatte es vor der Vorstellung ein paar mit Valium getränkte Pellets geknabbert, dachte John. Das letzte Kind gab es Mysterio zurück, der es wieder in den Hut steckte, mit der Hand darüberfuhr und dann die Innenseite des Huts vorzeigte. Bis auf das Futter in den Farben der amerikanischen Fahne war es leer.
»Wo ist das Häschen hin?«, fragte die kleine Susie Soong-Bartlett.
»In deine Träume, junge Dame«, sagte Mysterio. »Da wird es heute Nacht herumhüpfen. Na, wer will jetzt einen Zauberschal?«
Jungen wie Mädchen riefen »Ich, ich!«, worauf Mysterio Schals aus seinen Fäusten zog und verteilte. Es folgten weitere Tricks in rascher Abfolge. Laut John Daltons Armbanduhr standen die Kinder mindestens fünfundzwanzig Minuten im Halbkreis um den Zauberer und machten Stielaugen. Gerade als im Publikum erste Anzeichen von Unruhe erkennbar wurden, kam Mysterio zum Ende. Er zog fünf Teller aus seinem Koffer (der, als er ihn vorgezeigt hatte, scheinbar so leer gewesen war wie sein Hut), jonglierte damit und sang dabei »Happy Birthday«. Alle Kinder stimmten ein, und Abra schien vor Freude fast in der Luft zu schweben.
Die Teller kamen wieder in den Koffer. Mysterio zeigte dessen Inneres noch einmal vor, damit die Kinder sehen konnten, dass er leer war, dann zog er ein halbes Dutzend Löffel heraus. Die hängte er sich ins Gesicht, den letzten an die Nasenspitze. Davon war das Geburtstagskind besonders begeistert; es ließ sich lachend ins Gras plumpsen und umklammerte sich vor Freude mit den Armen.
»Abba kann das auch!«, verkündete Abra, die in letzter Zeit gern in der dritten Person von sich sprach, was David als ihre Cäsarenphase bezeichnete. »Abba kann Löffeln machen!«
»Na, das ist aber prima, Schatz«, sagte Mysterio, ohne den Einwurf richtig zu beachten. Das konnte man ihm nicht übel nehmen, schließlich hatte er gerade eine erstklassige Kindershow hingelegt. Trotz der kühlen Brise, die vom Fluss heraufzog, war sein Gesicht rot und verschwitzt, und er hatte noch seinen großen Abgang vor sich, bei dem er mit seinem Riesendreirad den Hang hinauffahren musste.
Er beugte sich zu Abra und tätschelte ihr mit seinem weißen Handschuh den Kopf. »Alles Gute zum Geburtstag! Und danke, liebe Kinder, dass ihr so ein tolles Pub…«
Im Inneren des Hauses ertönte ein lautes, musikalisches Klirren, ganz ähnlich wie der Klang der Glöckchen, die am Lenker des Godzilla-Dreirads hingen. Die Kinder warfen nur einen kurzen Blick in die Richtung, aus der das Geräusch kam, dann drehten sie sich wieder um und beobachteten, wie Mysterio davonfuhr. Lucy hingegen stand auf, um nachzusehen, was da wohl in der Küche umgefallen war.
Zwei Minuten später kam sie wieder in den Garten. »John, sehen Sie sich das mal an«, sagte sie. »Ich glaube, darauf haben Sie gewartet.«
12
John, Lucy und Concetta standen in der Küche und blickten schweigend an die Decke. Keiner der drei drehte sich um, als David zu ihnen stieß; sie waren regelrecht hypnotisiert. »Was ist …«, fing er an, dann sah er, was war. »Heiliger Bimbam!«
Darauf erhielt er keine Antwort. David starrte noch ein wenig länger hin und versuchte zu begreifen, was er da sah, dann verschwand er wieder. Als er wenig später zurückkam, hatte er seine Tochter an der Hand. Abra hielt einen Luftballon. Sie hatte den von Mysterio stammenden Schal wie eine Schärpe um die Taille geschlungen.
John Dalton ließ sich neben ihr auf ein Knie nieder. »Warst du das, Schatz?« Das war eine Frage, deren Antwort sie sicherlich kannte, aber er wollte hören, was sie zu sagen hatte. Wie viel war ihr wohl bewusst?
Zuerst blickte Abra auf den Boden, wo die Besteckschublade lag. Einige der Messer und Gabeln waren herausgehüpft, als die Schublade aus ihrer Führung geschossen war, aber die lagen alle daneben. Die Löffel hingegen nicht. Die hingen an der Decke, als würden sie von irgendeiner exotischen magnetischen Kraft angezogen. Einige schaukelten träge an den Deckenlampen. Der größte, ein Servierlöffel, baumelte an der Dunstabzugshaube über dem Herd.
Alle Kinder besaßen ihren eigenen Mechanismus, sich zu beruhigen. Aus Erfahrung wusste John, dass das meistens ein fest im Mund verankerter Daumen war. Abras Mechanismus war ein wenig anders. Sie legte die rechte Hand über die untere Hälfte ihres Gesichts und rieb sich mit der Handfläche über die Lippen. Als sie antwortete, waren ihre Worte daher unverständlich. John zog ihr behutsam die Hand weg. »Was sagst du, Schatz?«
»Ist das schlimm?«, sagte sie leise. »Ich … ich …« Ihre kleine Brust begann zu zittern. Sie versuchte, die beruhigende Hand wieder über den Mund zu legen, aber John hielt sie fest. »Ich wollte bloß wie Miastrosio sein.« Sie begann zu weinen. John ließ ihre Hand los, die sie sofort wieder über den Mund legte, um hektisch daran zu reiben.
David nahm sie hoch und gab ihr einen Kuss auf die Wange. Lucy schlang die Arme um beide und küsste ihre Tochter auf den Scheitel. »Nein, Schatz, nein. Das ist überhaupt nicht schlimm. Alles in Ordnung.«
Abra vergrub das Gesicht am Hals ihrer Mutter. Als sie das tat, fielen die Löffel herab. Das Geklapper ließ alle zusammenzucken.
13
Zwei Monate später, als der Sommer Einzug in die White Mountains von New Hampshire hielt, saßen David und Lucy Stone in John Daltons Sprechzimmer, dessen Wände mit den Fotos lächelnder Kinder gepflastert waren. Im Lauf der Jahre hatte er sie alle behandelt, und viele von ihnen waren inzwischen alt genug, selber Kinder zu haben.
»Ich hab einen Neffen, der sich gut mit dem Internet auskennt, und den hab ich beauftragt festzustellen, ob Fälle wie der Ihrer Tochter dokumentiert sind, und gegebenenfalls eingehender zu recherchieren. Keine Angst, er verlangt nicht viel, außerdem geht das auf meine Kappe. Er hat sich bei seiner Suche auf die letzten dreißig Jahre beschränkt und über neunhundert Fälle gefunden.«
David stieß einen Pfiff aus. »So viele!«
John schüttelte den Kopf. »So viele sind das nicht. Wenn es sich um eine Krankheit handeln würde – und davon müssen wir nicht noch mal anfangen, weil es keine ist –, dann wäre sie so selten wie Elephantiasis. Oder wie die Blaschko-Linien, bei denen die Erkrankten sich sozusagen in ein menschliches Zebra verwandeln. Davon ist etwa einer von sieben Millionen Menschen betroffen. Das, was Abra hat, fiele in diese Kategorie.«
»Und was genau ist das, was Abra hat?« Lucy hatte die Hand ihres Mannes ergriffen und hielt sie fest umklammert. »Telepathie? Telekinese? Irgendwas anderes mit Tele?«
»Diese Phänomene spielen eindeutig eine Rolle. Ist sie telepathisch veranlagt? Da sie vorab weiß, wenn jemand zu Besuch kommt, und da sie gespürt hat, dass diese Nachbarin von der Leiter gefallen ist, trifft das offenbar zu. Hat sie telekinetische Fähigkeiten? Nach dem, was ich bei ihrer Geburtstagsparty in der Küche gesehen habe, eindeutig ja. Ist sie medial veranlagt? Eine Hellseherin, um es etwas flotter zu formulieren? Das ist nicht ganz so eindeutig, wenngleich die Sache mit dem Zwanzigdollarschein hinter der Kommode darauf hinweist. Aber was ist mit dem Abend, an dem in Ihrem Fernseher auf allen Sendern die Simpsons liefen? Wie soll man so was nennen? Und was ist mit der mysteriösen Beatles-Melodie? Wenn die Töne aus dem Klavier gekommen wären, könnte man von Telekinese sprechen … aber Sie haben gesagt, das sei nicht der Fall gewesen.«
»Und was nun?«, fragte Lucy. »Worauf sollen wir achten?«
»Das weiß ich auch nicht. Es gibt keine erprobte Prozedur, der wir folgen könnten. Das Problem mit übersinnlichen Phänomenen ist, dass es sich um kein richtiges Forschungsgebiet handelt. Da gibt es zu viel Scharlatanerie und zu viele Leute, die nicht alle Tassen im Schrank haben.«
»Das heißt, langer Rede kurzer Sinn, Sie können uns nicht sagen, was wir tun sollen«, stellte Lucy fest.
John grinste. »Ich kann Ihnen genau sagen, was Sie tun sollen: Abra weiterhin liebhaben. Wenn mein Neffe recht hat – aber vergessen Sie nicht, dass er a) erst siebzehn ist und b) seine Schlussfolgerungen auf unsicheren Daten beruhen –, dann werden Sie wahrscheinlich noch allerhand erleben, bis Abra zum Teenager wird. Manches davon wird ziemlich krass sein. Im Alter von dreizehn bis vierzehn Jahren wird das einen Höhepunkt erreichen und dann allmählich abnehmen. Wenn Abra zwanzig ist, werden die verschiedenen Phänomene, die sie verursacht, wahrscheinlich nur noch belangloser Natur sein.« Wieder grinste er. »Aber sie wird ihr ganzes Leben lang fantastisch Poker spielen können.«
»Was ist, wenn sie tote Menschen sieht wie der kleine Junge in diesem Film?«, fragte Lucy. »Was tun wir dann?«
»Dann werden Sie wohl einen Beweis dafür haben, dass es ein Leben nach dem Tod gibt. Machen Sie sich einstweilen bitte keine Sorgen. Und halten Sie dicht, ja?«
»Oh, darauf können Sie sich verlassen«, sagte Lucy. Sie brachte ein Lächeln zustande, aber da sie sich den Großteil ihres Lippenstifts abgekaut hatte, sah es nicht besonders zuversichtlich aus. »Schließlich wollen wir definitiv nicht, dass unsere Tochter auf dem Titel vom Inside View landet.«
»Gott sei Dank hat das mit den Löffeln niemand von den anderen Eltern gesehen«, sagte David.
»Ich habe eine Frage«, sagte John. »Meinen Sie, Abra weiß, wie besonders sie ist?«
Die Stones tauschten einen Blick.
»Also, ich glaube … nicht«, sagte Lucy schließlich. »Obwohl wir um die Sache mit den Löffeln ja ein ziemliches Theater gemacht haben.«
»Den Eindruck haben Sie vielleicht, aber auf Abra hat es wahrscheinlich nicht so gewirkt«, sagte John. »Sie hat ein bisschen geweint, aber als sie in den Garten gegangen ist, hatte sie schon wieder ein Lächeln auf dem Gesicht. Sie haben sie ja nicht angebrüllt, getadelt oder gar verprügelt. Ich würde Ihnen raten, es vorläufig einfach laufen zu lassen. Wenn Abra etwas älter ist, können Sie sie davor warnen, ihre Tricks in der Schule vorzuführen. Abgesehen davon sollten Sie sie ganz normal behandeln, weil sie das ja hauptsächlich ist. Stimmt’s?«
»Stimmt«, sagte David. »Sie hat keine Flecke, Beulen oder ein drittes Auge.«
»Doch, das hat sie«, sagte Lucy. Ihr war die Glückshaube eingefallen. »Ein drittes Auge hat sie auf jeden Fall. Man kann es zwar nicht sehen … aber es ist da.«
John erhob sich. »Ich werde meinem Neffen sagen, er soll mir alles ausdrucken, damit ich es Ihnen schicken kann, wenn Sie wollen.«
»Natürlich«, sagte David. »Auf jeden Fall. Unsere liebe, alte Momo will es bestimmt auch sehen.« Bei diesen Worten rümpfte er leicht die Nase. Lucy sah es und runzelte die Stirn.
»Ansonsten sollten Sie sich einfach über Ihre Tochter freuen«, sagte John. »Nach allem, was ich mitbekommen habe, ist sie ein sehr liebes Kind. Das andere geht vorbei.«
Eine Weile hatte es sogar den Anschein, als würde er recht behalten.
1
Es war Januar 2007. Im Turmzimmer des Hospizes lief Dans Heizgerät auf Hochtouren, aber es war trotzdem kalt. Ein Nordostwind mit Orkanböen war von den Bergen herabgeweht und hatte pro Stunde fünfzehn Zentimeter Schnee auf das schlafende Frazier abgeladen. Als der Sturm am folgenden Nachmittag endlich nachließ, waren die Schneewehen, die sich an der Nord- und Ostseite der Gebäude an der Cranmore Avenue auftürmten, vier Meter hoch.
Dan machte die Kälte nichts aus; unter zwei Federbetten gekuschelt, war ihm mollig warm. Allerdings hatte der Wind sich in seinen Kopf geschlichen, so wie er sich durch die Fensterspalte und über die Türschwellen des alten viktorianischen Baus schlich, der nun Dans Zuhause war. In seinem Traum konnte er diesen Wind um das Hotel heulen hören, in dem er als Junge einen Winter verbracht hatte. In seinem Traum war er dieser Junge.
Er ist in der ersten Etage des Overlooks. Mami schläft, und Daddy ist im Keller, um sich alte Zeitungen anzuschauen. Er RECHERCHIERT. Das tut er für das Buch, das er schreiben will. Danny soll eigentlich nicht hier oben sein, und den Generalschlüssel, den er mit einer Hand umklammert, sollte er auch nicht haben, aber er hat sich einfach nicht bezähmen können. Momentan starrt er auf einen Löschschlauch, der an der Wand hängt. Der ist vielfach zusammengefaltet und sieht aus wie eine Schlange mit Messingkopf. Eine schlafende Schlange. Natürlich ist es keine Schlange – was er da sieht, ist Hanfgewebe, keine Schuppen –, aber es sieht eindeutig wie eine Schlange aus.
Manchmal ist es auch eine Schlange.
»Los, mach schon!«, flüstert er ihr in diesem Traum zu. Er zittert vor Entsetzen, aber irgendetwas treibt ihn an. Und weshalb? Weil er selber RECHERCHIERT, deshalb. »Los, beiß mich! Das kannst du aber nicht, stimmt’s? Weil du doch bloß ein dämlicher SCHLAUCH bist!«
Die Düse des dämlichen Schlauchs bewegt sich, und plötzlich sieht Danny sie nicht mehr von der Seite her, er blickt in ihre Öffnung. Oder vielleicht in ihren Mund. Unterhalb des schwarzen Lochs erscheint ein einzelner, klarer Tropfen, der sich langsam auseinanderzieht. Danny kann darin das Spiegelbild seiner eigenen, weit geöffneten Augen sehen.
Ein Wassertropfen oder ein Tropfen Gift?
Ist das eine Schlange oder ein Schlauch?
Wer kann das schon sagen, mein lieber Drom … Drom, mein Lieber? Wer kann das schon sagen?
Das Ding summt ihn an, und aus seinem hektisch schlagenden Herzen springt ihm Entsetzen in die Kehle. So summen Klapperschlangen.
Nun bewegt sich die Düse der Schlauchschlange von dem zusammengefalteten Schlauch weg, auf dem sie gelegen hat, und fällt mit dumpfem Poltern auf den Teppichboden. Dort summt sie wieder, und er weiß, dass er zurückweichen sollte, bevor sie auf ihn zuschießen und ihn beißen kann, aber er ist erstarrt, er kann sich nicht bewegen, und sie summt …
»Wach auf, Danny!«, ruft Tony von irgendwoher. »Wach auf, wach auf!«
Aber er kann ebenso wenig aufwachen, wie er sich bewegen kann, dies ist das Overlook, sie sind eingeschneit, und jetzt ist alles anders. Schläuche werden zu Schlangen, tote Frauen öffnen die Augen, und sein Vater … o lieber Gott, WIR MÜSSEN HIER RAUS, WEIL MEIN VATER WAHNSINNIG WIRD.
Die Klapperschlange summt. Sie summt. Sie
2
Dan hörte den Wind heulen, aber nicht um das Overlook. Nein, um das Türmchen vom Hospiz. Er hörte Schnee an das Nordfenster prasseln. Es klang wie Sand. Und er hörte, wie die Sprechanlage ihr tiefes Summen von sich gab.
Er schlug die Federbetten zurück, schwang die Beine aus dem Bett und zuckte zusammen, als er mit den warmen Zehen den kalten Boden berührte. Auf den Fußballen balancierend, durchquerte er das Zimmer. Er schaltete die Schreibtischlampe an und hauchte dabei seinen Atem in die Luft. Kein Dampf zu sehen, doch obwohl die Spulen des Heizgeräts dunkelrot glühten, war die Zimmertemperatur heute Nacht bestimmt nicht höher als sieben oder acht Grad.
Bsss.
Er drückte die Taste der Sprechanlage und sagte: »Hier bin ich. Wer ist dort?«
»Claudette. Ich glaube, ich hab jemand für dich, Doc.«
»Mrs. Winnick?« Er war sich ziemlich sicher, dass es um sie ging, und das bedeutete, er musste seinen Parka anziehen, denn Vera Winnick lag in Gebäude zwei, und der Fußweg dorthin war vermutlich kälter als ein Gefrierfach. Oder als ein Grabstein. Oder wie immer die Redensart lautete. Veras Leben hing nun schon eine Woche lang am seidenen Faden, sie lag im Koma, verfiel immer wieder in Cheyne-Stokes-Atmung, und das war genau die Sorte Nacht, die Leute in einem solchen Zustand für ihren Übergang wählten. Normalerweise um vier Uhr morgens. Er blickte auf seine Armbanduhr. Erst zwanzig nach drei, aber das war pünktlich genug.
Claudette Albertson hatte eine Überraschung parat. »Nein, es ist Mr. Hayes, gleich hier unten bei uns im Erdgeschoss.«
»Bist du dir da sicher?« Erst am vergangenen Nachmittag hatte Dan mit Charlie Hayes Dame gespielt, und für einen Mann mit akuter myeloischer Leukämie war sein Spielpartner ihm so lebendig wie ein Fisch im Wasser vorgekommen.
»Nein, aber Azzie ist in seinem Zimmer, und du weißt ja selber, was du immer sagst.«
Er sagte immer, Azzie täusche sich niemals, und diese Aussage basierte auf einer fast sechsjährigen Beobachtung. Azreel streifte ungehindert durch die drei Gebäude, aus denen der Hospizkomplex bestand, wobei er den Nachmittag meist zusammengerollt auf einem Sofa im Gemeinschaftsraum verbrachte. Es war jedoch nicht ungewöhnlich, ihn dort auf einem der Kartentische – mit oder ohne ein halb fertiges Puzzle – wie eine nachlässig darübergeworfene Stola liegen zu sehen. Alle Gäste schienen ihn zu mögen (falls es Klagen über den Hauskater gegeben hatte, so waren sie Dan nicht zu Ohren gekommen), und Azzie erwiderte dieses Gefühl. Manchmal sprang er einem der halb toten Alten auf den Schoß … aber leichtfüßig, ohne ihr oder ihm jemals wehzutun. Was angesichts seiner Größe bemerkenswert war. Azzie war ein richtiger Brocken.
Außerhalb seiner Nachmittagsruhe blieb Azzie nur selten lange an einem Ort. Er war immer unterwegs, machte Besuche, unternahm etwas. (»Dieser Kater ist ein echter Gesellschaftslöwe«, hatte Claudette einmal zu Danny gesagt.) Zum Beispiel sah man ihn im Wellnessbereich hocken, wo er sich wärmte und die Pfoten leckte. Oder er entspannte sich im Fitnessraum auf einem stillstehenden Laufband. Saß auf einer leeren Transportliege und starrte in die Luft auf jene Dinge, die nur Katzen sehen konnten. Manchmal pirschte er mit angelegten Ohren durch den Garten, der Inbegriff eines Raubtiers, aber wenn er Vögel oder Streifenhörnchen fing, trug er sie in einen Nachbargarten oder über die Straße in den Stadtpark, um sie dort zu zerlegen.
Der Gemeinschaftsraum war rund um die Uhr geöffnet, aber Azzie suchte ihn nur selten auf, wenn der Fernseher ausgeschaltet war und die Gäste ihn verlassen hatten. Wenn der Abend zur Nacht wurde und der Pulsschlag des Hospizes sich verlangsamte, wurde Azzie unruhig und patrouillierte durch die Flure wie ein vierbeiniger Wachposten am Rande von Feindesland. Sobald die Beleuchtung heruntergedreht wurde, bemerkte man ihn womöglich gar nicht, wenn man den Blick nicht direkt auf ihn richtete. Sein unauffälliges, mausgraues Fell verschwamm im Schatten.
In die Zimmer der Bewohner ging er nie, es sei denn, einer lag im Sterben.
Dann jedoch schlüpfte er entweder hinein (wenn die Tür einen Spalt weit offen stand), oder er hockte sich davor, den Schwanz um die Hinterbeine gelegt, und verlangte mit leisem, höflichem Miauen Einlass. Wenn man ihm aufmachte, sprang er auf das Bett des betreffenden Gastes (im Rivington House sprach man immer von Gästen, nie von Patienten) und ließ sich dort schnurrend nieder. War die darin liegende Person wach, so wurde er von ihr manchmal gestreichelt. Soweit Dan wusste, hatte niemand je verlangt, Azzie hinauszuwerfen. Alle schienen zu wissen, dass er als Freund gekommen war.
»Wer ist der diensthabende Arzt?«, fragte Dan.
»Du«, erwiderte Claudette prompt.
»Du weißt schon, was ich meine. Der echte Arzt.«
»Emerson, aber als ich seinen Telefondienst angerufen habe, hat mir die Frau da gesagt, das könnten wir vergessen. Von Berlin bis Manchester ist alles eingeschneit. Die Schneepflüge fahren bloß auf den Schnellstraßen, hat sie gesagt, überall sonst wartet man aufs Tageslicht.«
»Na gut«, sagte Dan. »Ich bin schon unterwegs.«
3
Nachdem er eine Weile im Hospiz gearbeitet hatte, war Dan klar geworden, dass selbst für die Sterbenden ein Klassensystem existierte. Die Gästezimmer im Haupthaus waren größer und teurer als jene in den beiden Nebengebäuden. In der viktorianischen Villa, in der Helen Rivington einst residiert und ihre Liebesromane geschrieben hatte, wurden die Zimmer als Suiten bezeichnet und trugen die Namen berühmter Persönlichkeiten aus New Hampshire. Charlie Hayes lag in dem nach Alan Shepard benannten Raum. Um dorthin zu gelangen, musste Dan an der Imbissecke unten an der Treppe vorbei, wo Verkaufsautomaten und einige Stühle aus Hartplastik standen. Auf einem davon lümmelte Fred Carling, mampfte Erdnussbuttercracker und las eine alte Ausgabe von Popular Mechanics. Carling war einer der drei Pfleger in der von Mitternacht bis acht Uhr morgens laufenden Schicht. Die anderen beiden rotierten zweimal monatlich; Carling tat das nie, weil er nachts besser seine Zeit absitzen konnte. Deshalb bezeichnete er sich als Nachtmensch. Er war bullig, und seine muskulösen, mit verschlungenen Tätowierungen bedeckten Arme ließen auf eine Biker-Vergangenheit schließen.
»Sieh mal an, wer da kommt«, sagte er. »Der liebe Danny. Oder bist du gerade in deiner Geheimidentität unterwegs?«
Dan war erst halb wach und nicht in der Stimmung, Witze zu reißen. »Was weißt du von Mr. Hayes?«, fragte er.
»Nichts, außer dass der Kater bei ihm drin ist, und das bedeutet normalerweise ja, dass da bald jemand ins Gras beißen wird.«
»Keine Blutungen?«
Carling hob die massigen Schultern. »Na ja, ein bisschen Nasenbluten hatte er schon. Ich hab die blutigen Handtücher in ’nen Seuchensack gesteckt, genau nach Vorschrift. Sie sind in Wäschekammer A, falls du sie dir anschauen willst.«
Dan wollte schon fragen, wie man ein Nasenbluten, für das man mehr als ein Handtuch brauchte, mit »ein bisschen« charakterisieren konnte, verzichtete jedoch darauf. Carling war ein gefühlloser Trottel, und wie er hier einen Job ergattert hatte – selbst für die Nachtschicht, wenn die meisten Gäste entweder schliefen oder versuchten, sich so ruhig zu verhalten, dass sie niemand störten –, war Dan völlig schleierhaft. Wahrscheinlich hatte irgendjemand ein paar Strippen gezogen. So lief es eben. Hatte nicht sein eigener Vater dasselbe getan, um seine letzte Stelle zu bekommen – als Hausmeister im Hotel Overlook? Das war zwar kein eindeutiger Beweis dafür, dass Beziehungen nicht die beste Methode waren, einen Job an Land zu ziehen, aber es ließ zumindest darauf schließen.
»Schönen Abend, Doctor Sleeeep«, rief Carling ihm noch hinterher, ohne sich groß die Mühe zu machen, die Stimme zu dämpfen.
Im Stationszimmer arbeitete Claudette an der Liste für die Medikamentenverteilung, während Janice Barker vor einem kleinen, leise gestellten Fernseher saß. Auf dem Bildschirm flimmerte eine Dauerwerbesendung mit einem endlosen Infomercial zum Thema Darmreinigung, das Janice mit großen Augen und halb offenem Mund betrachtete. Als Dan mit den Fingernägeln auf die Theke trommelte, fuhr sie auf, was bedeutete, dass sie nicht gebannt ferngesehen, sondern vor sich hin gedämmert hatte.
»Kann eine von euch beiden mir was Substanzielles über Charlie sagen? Carling hat nämlich keine Ahnung.«
Claudette warf einen Blick in den Flur, um sich zu vergewissern, dass Fred Carling nicht in Sicht war, dann senkte sie zur Sicherheit zudem die Stimme. »Dieser Typ ist so unnütz wie ein Kropf. Ich hoffe immer noch, dass man ihn irgendwann rausschmeißt.«
Dan war derselben Meinung, behielt diese jedoch für sich. Wie er herausgefunden hatte, förderte konsequente Nüchternheit die Fähigkeit zur Diskretion ungemein.
»Ich hab vor einer Viertelstunde nach Charlie gesehen«, sagte Janice. »Das tun wir bei den Gästen oft, wenn unser Kater zu Besuch kommt.«
»Wie lange ist Azzie schon im Zimmer?«
»Er saß miauend vor der Tür, als wir um Mitternacht zum Dienst gekommen sind«, sagte Claudette. »Ich hab ihm aufgemacht, und er ist sofort aufs Bett gesprungen. Du weißt ja, wie das läuft. Fast hätte ich dich da schon angerufen, aber Charlie war wach und ansprechbar. Als ich ihn begrüßt hab, hat er den Gruß erwidert und angefangen, Azzie zu streicheln. Deshalb hab ich beschlossen zu warten. Etwa eine Stunde später bekam er Nasenbluten. Fred hat ihn sauber gemacht. Dem musste ich erst mal sagen, dass er die Handtücher in einen Seuchensack stecken soll.«
Als Seuchensack bezeichnete das Personal die biologisch abbaubaren Kunststoffbeutel, in denen mit Körperflüssigkeiten oder Gewebe verunreinigte Kleidung, Bettwäsche und Handtücher aufbewahrt wurden. Das war gesetzlich vorgeschrieben, um die Verbreitung von durch Blut übertragbaren Krankheiten zu verhindern.
»Als ich vor einer knappen Dreiviertelstunde nach ihm gesehen habe, schlief er«, sagte Janice. »Ich hab ihn geschüttelt. Da hat er die Augen geöffnet, und die waren ganz blutunterlaufen.«
»Daraufhin hab ich bei Emerson angerufen«, sagte Claudette. »Und nachdem die Frau von seinem Telefondienst mir gesagt hat, das könnte ich vergessen, hab ich mich bei dir gemeldet. Gehst du jetzt runter?«
»Ja.«
»Viel Glück«, sagte Janice. »Ruf an, wenn du etwas brauchst.«
»Mach ich. Sag mal, Jannie, wieso informierst du dich eigentlich über Darmreinigung? Oder ist das eine zu persönliche Frage?«
Sie gähnte. »Zu dieser Zeit läuft sonst nur noch Werbung für den Ahh Bra. Und den hab ich schon.«
4
Die Tür der Shepard-Suite stand halb offen, aber Dan klopfte trotzdem. Als keine Antwort kam, drückte er sie ganz auf. Jemand (wahrscheinlich eine der Schwestern, denn Fred Carling war es bestimmt nicht gewesen) hatte das Bett ein Stück hochgekurbelt. Das Laken war bis zur Brust von Charlie Hayes hochgezogen. Er war einundneunzig, erschreckend mager und so bleich, dass er kaum noch am Leben zu sein schien. Dan musste dreißig Sekunden reglos dastehen, bevor er sich völlig sicher war, dass sich die Schlafanzugjacke des alten Mannes hob und senkte. Neben einem der sich schwach unter dem Laken abzeichnenden Hüftgelenke hatte sich Azzie zusammengerollt. Als Dan hereinkam, betrachtete der Kater ihn mit seinen unergründlichen gelben Augen.
»Mr. Hayes? Charlie?«
Charlies Augen öffneten sich nicht. Die Lider waren bläulich, und die Haut unter den Augen hatte sich zu einem dunklen, fast schwarzen Violett verfärbt. Als Dan neben das Bett trat, sah er noch eine andere Farbe: eine kleine Blutkruste unter jedem Nasenloch und in einem Winkel des geschlossenen Mundes.
Dan ging ins Bad und nahm einen Waschlappen, den er mit warmem Wasser tränkte und auswrang. Als er wieder zu Charlies Bett kam, erhob sich Azzie und trat behutsam auf die andere Seite des Schlafenden, damit Dan genug Platz hatte, sich zu setzen. Das Laken war noch warm von Azzies Körper. Sanft wischte Dan das Blut unter Charlies Nase ab. Während er mit dem Mundwinkel beschäftigt war, schlug Charlie die Augen auf. »Dan. Sie sind es doch, nicht wahr? Meine Augen sind ein wenig trübe.«
Blutunterlaufen waren sie.
»Wie geht es Ihnen, Charlie? Tut Ihnen etwas weh? Wenn Sie Schmerzen haben, kann Claudette Ihnen eine Tablette bringen.«
»Keine Schmerzen«, sagte Charlie. Sein Blick wanderte zu Azzie, dann zurück zu Dan. »Ich weiß, weshalb er da ist. Und ich weiß auch, weshalb Sie da sind.«
»Ich bin da, weil der Wind mich aufgeweckt hat. Azzie hat sich wahrscheinlich nur nach etwas Gesellschaft gesehnt. Katzen sind immerhin nachtaktive Tiere.«
Dan schob den Ärmel von Charlies Schlafanzugjacke hoch, um ihm den Puls zu fühlen. Auf dem dürren Unterarm des alten Mannes waren in einer Reihe vier violette Blutergüsse sichtbar. Bei fortgeschrittener Leukämie bekamen die Patienten schon blaue Flecke, wenn man sie nur anhauchte, aber diese Dinger waren von Fingern verursacht worden, und Dan wusste nur zu gut, wer dafür verantwortlich war. Seit er trocken war, hatte er seine Wut besser unter Kontrolle, aber sie war immer noch da, genau wie der gelegentliche starke Drang, sich einen hinter die Binde zu kippen.
Carling, du mieses Schwein! Hat er sich nicht schnell genug bewegt? Oder war es dir bloß zu lästig, ihm das Blut abzuwischen, statt in irgendwelchen Zeitschriften zu blättern und diese verfluchten gelben Cracker zu mampfen?
Er versuchte, seine Gefühle nicht zu zeigen, aber Azzie schien sie zu spüren und gab ein kurzes, kummervolles Miauen von sich. Unter anderen Umständen hätte Dan womöglich ein paar Fragen gestellt, aber jetzt musste er sich um dringendere Angelegenheiten kümmern. Azzie hatte wieder recht gehabt. Dan musste den Alten nur berühren, um das zu erkennen.
»Ich hab ziemlich Angst«, sagte Charlie. Seine Stimme war kaum mehr als ein Flüstern. Das leise, beständige Stöhnen des Windes draußen war lauter. »Das hätte ich nicht erwartet, aber so ist es.«
»Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssten.«
Statt Charlie den Puls zu fühlen – das war eigentlich völlig sinnlos –, ergriff er mit beiden Händen die Hand des alten Mannes. Er sah Charlies Söhne, Zwillinge, im Alter von vier Jahren auf der Schaukel sitzen. Er sah, wie Charlies Frau im Schlafzimmer die Jalousie herunterzog, nackt bis auf den Schlüpfer aus belgischer Spitze, den ihr Mann ihr zum ersten Hochzeitstag geschenkt hatte. Er sah, wie ihr Pferdeschwanz über eine Schulter schwang, als sie sich umdrehte, um ihn anzublicken, auf dem Gesicht ein strahlendes Lächeln, das voll und ganz ja sagte. Er sah einen Farmall-Traktor, dessen Sitz von einem gestreiften Regenschirm geschützt war. Er roch Frühstücksspeck und hörte Frank Sinatra »Come Fly with Me« singen. Die Musik kam aus einem ramponierten Motorola-Radio, das auf einem Arbeitstisch mit allerhand Werkzeug stand. Er sah eine mit Regenwasser gefüllte Radkappe, in der sich eine rote Scheune spiegelte. Er schmeckte Blaubeeren, weidete einen Hirsch aus und angelte in einem fernen See, auf dessen Oberfläche ein steter Herbstregen trommelte. Er war sechzig und tanzte mit seiner Frau im Saal der American Legion. Er war dreißig und hackte Holz. Er war fünf, trug kurze Hosen und zog ein rotes Wägelchen hinter sich her. Dann verschwammen die Bilder ineinander, wie es Karten taten, wenn sie von einem geübten Spieler gemischt wurden, und der Wind wehte Schneemassen von den Bergen herab, während hier im Zimmer Stille herrschte und Azzie das Geschehen mit großem Ernst beobachtete. In solchen Augenblicken wusste Dan, wozu er auf der Welt war. Er bedauerte nichts von dem Schmerz, dem Kummer, der Wut und dem ganzen Entsetzen, denn dies alles hatte ihn hierhergeführt, während draußen der Wind heulte. Charlie Hayes war an die Grenze gelangt.
»Vor der Hölle hab ich keine Angst. Ich hab ein anständiges Leben geführt, und ich glaube sowieso nicht, dass es so etwas gibt. Ich hab Angst, es könnte nachher gar nichts kommen.« Er rang nach Atem. Im Winkel des rechten Auges schwoll ein Blutstropfen an. »Vorher war jedenfalls nichts, das wissen wir alle, also liegt es da nicht nahe, dass nachher auch nichts kommt?«
»Aber es kommt etwas.« Dan wischte Charlie mit dem feuchten Waschlappen das Gesicht ab. »Wir hören nie völlig auf zu sein, Charlie. Ich weiß nicht, wieso das möglich ist und was es bedeutet, ich weiß bloß, dass es so ist.«
»Können Sie mir helfen hinüberzugelangen? Es heißt, Sie können so was.«
»Ja. Ich kann Ihnen helfen.« Dan ergriff nun auch Charlies andere Hand. »Es geht nur darum, einzuschlafen. Und wenn Sie aufwachen – das werden Sie nämlich –, wird alles besser sein.«
»Im Himmel? Meinen Sie den Himmel?«
»Das weiß ich nicht, Charlie.«
Die Kraft war in dieser Nacht ungeheuer stark. Er spürte sie wie eine elektrische Strömung durch die ineinander verschränkten Hände fließen und schärfte sich ein, ganz sanft zu sein. Ein Teil von ihm bewohnte den versagenden Körper und die schwindenden Sinne
(beeil dich bitte)
die allmählich versagten. Er bewohnte einen Geist
(beeil dich bitte es ist Zeit)
der immer noch so scharf wie früher war und sich der Tatsache bewusst war, dass er seine letzten Gedanken dachte … zumindest als Charlie Hayes.
Die blutunterlaufenen Augen schlossen sich, dann gingen sie wieder auf. Ganz langsam.
»Es ist alles gut so«, sagte Dan. »Sie brauchen nur Schlaf. Der Schlaf wird Sie heilen.«
»Nennen Sie das so?«
»Ja. Ich nenne es Schlaf, und Sie können gefahrlos einschlafen.«
»Gehen Sie nicht weg.«
»Das werde ich nicht. Ich bin bei Ihnen.« Das war er auch. Es war sein schreckliches Privileg.
Charlies Augen schlossen sich wieder. Als Dan seine ebenfalls schloss, sah er in der Dunkelheit einen langsamen, blauen Puls. Einmal … zweimal … stopp. Einmal … zweimal … stopp. Draußen wehte der Wind.
»Schlafen Sie ein, Charlie. Es geht Ihnen gut, aber Sie sind müde und Sie brauchen Schlaf.«
»Ich sehe meine Frau.« Ein ganz schwaches Flüstern.
»Tatsächlich?«
»Sie sagt …«
Mehr kam nicht, nur ein letzter blauer Pulsschlag hinter Dans Augen und ein letztes Ausatmen des Mannes auf dem Bett. Dan öffnete die Augen, lauschte dem Wind und wartete auf das, was als Letztes geschah. Es kam wenige Sekunden später: ein matter roter Dunst, der aus Charlies Nase, Mund und Augen aufstieg. Eine alte Krankenschwester in Tampa – sie hatte in etwa dasselbe Funkeln wie Billy Freeman – nannte es den »letzten Hauch«. Sie sagte, sie habe ihn schon viele Male gesehen.
Dan sah ihn jedes Mal.
Er stieg auf und schwebte über dem Körper des alten Mannes. Dann löste er sich auf.
Dan schob den rechten Ärmel von Charlies Schlafanzugjacke hoch, um nach dem Puls zu tasten. Aber das war nur noch reine Formalität.
5
Normalerweise verschwand Azzie, bevor es vorbei war, in dieser Nacht jedoch nicht. Er stand neben Charlies Hüfte auf der Bettdecke und starrte auf die Tür. In der Erwartung, dort Claudette oder Janice vorzufinden, drehte Dan sich um, aber da war niemand.
Genauer gesagt war da doch jemand.
»Hallo?«
Nichts.
»Bist du das kleine Mädchen, das manchmal was auf meine Tafel schreibt?«
Keine Antwort. Doch da war irgendjemand, ganz bestimmt.
»Ist dein Name Abra?«
Ganz leise, wegen dem Wind fast unhörbar, erklang eine Abfolge von Klaviertönen. Dan hätte das für Einbildung halten können (der Unterschied zwischen Einbildung und einem hellsichtigen Moment war nicht immer erkennbar), wäre da nicht Azzie gewesen, dessen Ohren zuckten und dessen Augen unverwandt auf den leeren Türrahmen blickten. Jemand war dort und beobachtete alles.
»Bist du Abra?«
Wieder erklangen mehrere Töne, dann herrschte Stille. Diesmal jedoch drückte sie Abwesenheit aus. Wie immer das Mädchen hieß, es war verschwunden. Azzie dehnte sich, sprang vom Bett und marschierte hinaus, ohne sich noch einmal umzublicken.
Dan blieb noch eine Weile an Ort und Stelle sitzen und lauschte dem Wind. Dann stellte er das Bett flach, zog Charlie das Laken übers Gesicht und machte sich auf den Weg zum Stationszimmer, um zu melden, dass jemand auf dem Stockwerk gestorben sei.
6
Nachdem er seinen Anteil an dem notwendigen Papierkram erledigt hatte, ging Dan zur Imbissecke. Früher wäre er gerannt, die Fäuste schon geballt, aber diese Zeit war vorüber. Nun setzte er einfach einen Fuß vor den anderen, wobei er langsame, tiefe Atemzüge tat, um Herzschlag und Gedanken zu beruhigen. »Denk nach, bevor du trinkst« lautete ein Spruch der Anonymen Alkoholiker, aber Casey K. ermahnte ihn während ihrer wöchentlichen Zusammenkünfte, grundsätzlich nachzudenken, bevor er etwas tue. Du bist nicht trocken geworden, um dich bescheuert zu verhalten, Danny. Denk dran, wenn du das nächste Mal anfängst, auf dieses beschissene Komitee in deinem Kopf zu hören.
Aber diese verfluchten Fingerspuren.
Carling fläzte auf seinem Stuhl, den er an die Wand zurückgekippt hatte. Inzwischen mampfte er Schokodragees mit Pfefferminz. Statt Popular Mechanics las er ein Fotomagazin, auf dessen Cover der neueste rüpelhafte TV-Serienstar abgebildet war.
»Mr. Hayes ist von uns gegangen«, sagte Dan sanft.
»Schade«, erwiderte Carling, ohne von seiner Zeitschrift aufzublicken. »Aber dafür sind die ja hier, nicht w…«
Dan hob einen Fuß, hakte ihn um eines der Vorderbeine von Carlings gekipptem Stuhl und zog ruckartig an. Der Stuhl drehte sich zur Seite, und Carling landete mit dem Hintern auf dem Boden. Die Schachtel Schokodragees flog ihm aus der Hand. Ungläubig starrte er zu Dan hoch.
»Habe ich nun deine Aufmerksamkeit?«
»Du verfluchter …« Carling wollte aufstehen. Dan pflanzte ihm einen Fuß auf die Brust und drückte ihn gegen die Wand.
»Offenbar ja. Gut. Es wäre besser, wenn du jetzt nicht aufstehst. Bleib einfach sitzen, und hör mir zu.« Dan beugte sich vor, stützte die Hände auf die Knie und hielt sich daran fest. Sehr fest, denn seine Hände wollten momentan nichts als zuschlagen. Und zuschlagen. Und zuschlagen. Seine Schläfen pochten. Nur die Ruhe, sagte er sich. Lass dich nicht davon übermannen.
Aber das war nicht leicht.
»Wenn ich das nächste Mal Fingerspuren an einem Patienten sehe, mache ich ein Foto und gehe damit zu Mrs. Clausen, und dann fliegst du in hohem Bogen raus, egal mit wem du bekannt sein solltest. Und sobald du hier nicht mehr arbeitest, finde ich dich und schlage dir die Fresse ein.«
Carling kam auf die Beine, wobei er die Wand als Stütze verwendete und Dan ständig im Blick behielt. Er war größer als dieser und wog etwa fünfzig Kilo mehr. Er ballte die Fäuste. »Das möchte ich mal sehen. Wie wär’s denn mit jetzt gleich?«
»Gern, aber nicht hier«, sagte Dan. »Hier wollen zu viele Leute schlafen, und da hinten liegt ein Toter. Einer mit den Spuren deiner Finger am Leib.«
»Ich hab ihm bloß den Puls gefühlt, sonst nichts. Du weißt doch, wie leicht die blaue Flecke kriegen, wenn sie Leukämie haben.«
»Das weiß ich«, sagte Dan. »Aber du hast ihm absichtlich wehgetan. Ich weiß zwar nicht, wieso, aber ich weiß, dass du’s getan hast.«
In Carlings trüben Augen flackerte es. Das war keine Beschämung, zu einer solchen Empfindung war der Kerl wohl kaum fähig. Nur ein Unbehagen, weil er durchschaut worden war. Und Furcht davor, erwischt zu werden. »Maulheld. Doctor Sleeeep. Meinst wohl, deine Scheiße stinkt nicht, was?«
»Komm schon, Fred, gehen wir nach draußen. Ich freue mich richtig darauf.« Das stimmte. In seinem Innern war ein zweiter Dan. Der saß zwar nicht mehr so nah an der Oberfläche wie früher, aber er war immer noch da und immer noch der miese, irrationale Scheißkerl, der er immer gewesen war. Aus den Augenwinkeln sah er Claudette und Janice im Flur stehen. Mit weit aufgerissenen Augen hielten sie sich aneinander fest.
Carling dachte nach. Ja, er war größer, und er hatte mehr Reichweite. Aber abgesehen davon war er außer Form – zu viele gefüllte Burritos, zu viele Dosen Bier, wesentlich weniger Puste, als er in seinen Zwanzigern gehabt hatte –, und im Gesicht des dürren Kerls da vor ihm war etwas Besorgniserregendes. So etwas hatte er früher schon gesehen, damals in seiner Biker-Zeit. Manche Typen hatten äußerst wacklige Sicherungen im Schädel. Die knallten leicht durch, und wenn das geschah, brannten solche Typen so lange, bis sie ausbrannten. Er hatte Torrance für einen schüchternen Waschlappen gehalten, der sich nicht traute, die Klappe aufzumachen, aber da hatte er sich wohl getäuscht. Die Geheimidentität dieses Typen hieß nicht Doctor Sleep, sie hieß Doctor Crazy.
Nachdem er das alles sorgfältig durchdacht hatte, sagte Fred: »Dafür ist mir meine Zeit zu schade.«
Dan nickte. »Gut. Dann holen wir uns beide keine Frostbeulen. Aber denk dran, was ich gesagt habe: Wenn du nicht im Krankenhaus landen willst, passt du in Zukunft gut auf deine Hände auf.«
»Mal ehrlich: Wer gibt dir eigentlich das Recht, dich derart aufzuspielen?«
»Keine Ahnung«, sagte Dan. »Ganz ehrlich.«
7
Dan ging auf sein Zimmer zurück und stieg gleich wieder ins Bett, konnte jedoch nicht einschlafen. Seit er im Hospiz arbeitete, hatte er etwa vier Dutzend Besuche am Totenbett gemacht, und normalerweise war er danach ruhig gewesen. In dieser Nacht war er es nicht, woran Fred Carling schuld war. Er zitterte immer noch vor Zorn. Seinem Bewusstsein war dieses rote Unwetter zuwider, aber irgendein primitiver Teil von ihm genoss es. Wahrscheinlich hatte das schlichtweg genetische Ursachen; die Natur triumphierte über das, was anerzogen war. Je länger er trocken blieb, desto mehr alte Erinnerungen kamen an die Oberfläche. Besonders klar waren die an die Wutanfälle seines Vaters. Er hatte gehofft, Carling würde auf sein Angebot eingehen. Dann wären sie hinaus in den Schnee und den Wind gegangen, wo Dan Torrance, der Sohn von Jack, diesem wertlosen Penner eine Abreibung verpasst hätte.
Weiß Gott, er wollte nicht wie sein Vater sein, der sich auch in seinen nüchternen Phasen nur mit größter Mühe hatte beherrschen können. Das AA-Programm sollte dabei helfen, mit der eigenen Wut umzugehen, und meistens tat es das auch, aber es gab Zeiten wie diese Nacht, in denen Dan bewusst wurde, wie wacklig die Barriere war. Zeiten, in denen er sich wertlos fühlte, und dann kam es ihm so vor, als wäre Schnaps das Einzige, was er verdiente. In solchen Zeiten fühlte er sich seinem Vater ganz nah.
Er dachte: Mama.
Er dachte: Zucka.
Er dachte: Wertlose Penner müssen ihre Medizin einnehmen. Und du weißt ja, wo die verkauft wird, oder? Praktisch überall.
Der Wind steigerte sich zu einer wilden Bö und ließ den Turm ächzen. Als er nachließ, war das Mädchen von der Tafel da. Dan konnte es fast atmen hören.
Er zog eine Hand unter dem Federbett hervor. Einen Moment lang schwebte sie einfach in der kalten Luft, und dann fühlte er, wie ihre – klein, warm – sich hineinschob. »Abra«, sagte er. »Du heißt Abra, aber manchmal nennt man dich Abby. Das stimmt doch, oder?«
Es kam keine Antwort, und eigentlich brauchte er auch keine. Alles, was er brauchte, war das Gefühl dieser warmen Hand in seiner. Es dauerte nur einige Sekunden, aber das war lang genug, ihn zu trösten. Er schloss die Augen und schlief ein.
8
Zwanzig Meilen weit entfernt, in der kleinen Stadt Anniston, lag Abra Stone wach in ihrem Bett. Die Hand, die ihre umschlossen hatte, hielt sie einige Augenblicke fest. Dann verwandelte sie sich in Dunst und war verschwunden. Aber sie war da gewesen. Er war da gewesen. Sie hatte ihn in einem Traum gefunden, doch als sie aufwachte, hatte sie festgestellt, dass dieser Traum echt war. Sie hatte in der Tür eines Zimmers gestanden. Was sie dort gesehen hatte, war gleichermaßen schrecklich und wunderbar. Da war der Tod, und der Tod war beängstigend, doch da war auch Hilfe gewesen. Der Mann, von dem die Hilfe gekommen war, hatte Abra nicht sehen können, der Kater jedoch schon. Der Kater hatte einen Namen, der so ähnlich war wie ihrer, aber nicht derselbe.
Er hat mich nicht gesehen, sondern gespürt. Und wir waren gerade eben noch zusammen. Ich glaube, ich hab ihm geholfen, so wie er dem Mann, der gestorben ist, geholfen hat.
Das war ein guter Gedanke. Abra hielt sich daran fest (wie sie die Phantomhand festgehalten hatte), während sie sich auf die Seite drehte, ihren Stoffhasen an die Brust drückte und einschlief.
1
Der Wahre Knoten war zwar kein amtlich eingetragenes Unternehmen, aber wenn er eines gewesen wäre, dann hätte man manche Käffer in Maine, Florida, Colorado und New Mexico als seine Firmenstädte bezeichnet. Es waren Orte, in denen sämtliche größeren Geschäfte und viele große Grundstücke im Besitz des Knotens waren, verschleiert durch ein Gewirr von Holding-Gesellschaften. Diese Orte, die schillernde Namen wie Dry Bend, Jerusalem’s Lot, Oree und Sidewinder trugen, dienten dem Knoten als gelegentliche Zuflucht, aber die Wahren blieben nie lange dort; sie zogen meistens durch die Lande. Auf der Fahrt über die Schnell- und Fernstraßen Amerikas habt ihr sie vielleicht schon einmal gesehen. Vielleicht war es auf der I-95 in South Carolina, irgendwo südlich von Dillon und nördlich von Santee. Vielleicht war es auf der I-80 in Montana, in der hügligen Landschaft westlich von Draper. Oder in Georgia, während ihr euch langsam – wenn ihr wisst, was gut für euch ist – auf dem Highway 41 an der berüchtigten Radarfalle bei Tifton vorbeigemogelt habt.
Wie oft habt ihr wohl schon hinter einem schwerfälligen Wohnmobil festgehangen, Auspuffgase eingeatmet und ungeduldig auf eine Chance zum Überholen gewartet? Wie oft seid ihr mit vierzig Stundenmeilen dahingekrochen, wenn ihr stattdessen gut die legalen fünfundsechzig oder gar siebzig Meilen hättet schaffen können? Und wenn sich endlich eine Lücke in der Überholspur auftut und ihr nach links zieht, seht ihr – du lieber Himmel! – eine lange Kolonne aus diesen verfluchten Dingern vor euch, diese Spritfresser, die exakt zehn Meilen unterhalb der gesetzlich vorgeschriebenen Höchstgeschwindigkeit dahinrollen, gesteuert von bebrillten, rüstigen Rentnern, die sich vornübergebeugt an ihren Lenkrädern festklammern, als fürchteten sie, die Dinger könnten ihnen wegfliegen.
Vielleicht seid ihr ihnen auch auf Raststätten begegnet, wenn ihr angehalten habt, um euch die Beine zu vertreten und ein paar Münzen in einen der Verkaufsautomaten zu werfen. Die Zufahrten zu diesen Raststätten teilen sich nach einer Weile doch immer, nicht wahr? Pkws auf den einen Parkplatz, Lastzüge und Wohnmobile auf den anderen. Normalerweise ist der für die Trucks und die Mobile ein Stück weiter weg. Vielleicht habt ihr die rollenden Heimstätten der Wahren auf diesem Parkplatz stehen sehen, alle dicht beieinander. Habt die Eigentümer zum Hauptgebäude gehen sehen – langsam, weil viele von ihnen alt aussehen und weil viele ziemlich fett sind –, immer in der Gruppe, immer auf Distanz zu anderen.
Manchmal nehmen sie eine der Ausfahrten, an denen reihenweise Tankstellen, Motels und Fast-Food-Schuppen stehen. Und wenn ihr diese ganzen Wohnmobile vor einem McDonald’s oder Burger King stehen seht, dann fahrt ihr weiter, weil ihr wisst, da drin stehen sie alle an der Theke an, die Männer mit schlaffen Golfhüten oder Anglermützen mit langem Schirm, die Frauen in Stretchhosen (normalerweise taubenblau) und T-Shirts, auf denen Sprüche wie FRAG MICH NACH MEINEN ENKELKINDERN! oder JESUS LEBT oder IMMER UNTERWEGS stehen. Da fahrt ihr lieber ein Stück weiter zum Waffle House oder zu Shoney’s, nicht wahr? Weil ihr wisst, die brauchen ewig, bis sie etwas bestellt haben, stieren träge auf die Speisekarte, wollen ihren Royal TS immer ohne Zwiebeln oder ihren Whopper ohne die Soße. Fragen, ob es in der Gegend irgendwelche interessanten Touristenattraktionen gibt, obwohl jeder sehen kann, dass dies bloß eines dieser Käffer mit ganzen drei Ampeln ist, das die jungen Leute verlassen, sobald sie die nächstgelegene Highschool absolviert haben.
Ihr seht sie gar nicht richtig, stimmt’s? Wieso solltet ihr das auch tun? Es sind bloß die Wohnmobilleute, ältere Rentner und einige jüngere Gesinnungsgenossen, die ihr wurzelloses Leben auf den Schnell- und Fernstraßen verbringen, die auf Campingplätzen hausen, wo sie in ihren Klappsesseln von Walmart herumhocken und sich auf ihrem Gartengrill was brutzeln, während sie sich über Geldanlagen, Angelwettbewerbe, Eintopfrezepte und weiß Gott was auslassen. Es sind die, die an jedem privaten Flohmarkt halten und ihre verfluchten Dinosaurier dabei von der Schnauze bis zum Hinterteil halb auf dem Bankett und halb auf der Straße parken, sodass ihr bremsen müsst, um im Schneckentempo an den Staatskarossen vorbeizukriechen. Sie sind das Gegenteil der Motorradclubs, die ihr manchmal auf denselben Schnell- und Fernstraßen seht, sie sind die milden statt die wilden Engel.
Sie nerven wie wahnsinnig, wenn sie im Pulk über eine Raststätte herfallen und sämtliche Toiletten besetzen, doch sobald ihre träge, vom langen Fahren betäubte Verdauung endlich funktioniert und ihr euch endlich ebenfalls erleichtern könnt, vergesst ihr sie wieder, nicht wahr? Sie sind nicht bemerkenswerter als ein Vogelschwarm auf einer Telefonleitung oder eine Herde Kühe, die auf einer Wiese neben der Straße grast. Gut, ihr fragt euch womöglich, wie sie sich diese monströsen Benzinschleudern leisten können (denn ein komfortables festes Einkommen müssen sie haben, wie könnten sie sonst ihre ganze Zeit damit verbringen, durch die Gegend zu gondeln), und ihr wundert euch, wie jemand wohl auf die Idee kommen kann, seinen Lebensabend zu verbringen, indem er auf den endlosen Straßen Amerikas von einem Kaff zum anderen fährt, aber abgesehen davon verschwendet ihr wahrscheinlich nie einen Gedanken an sie.
Und falls ihr zu den unglückseligen Menschen gehören solltet, die ein Kind verloren haben – nichts mehr da als ein Fahrrad auf dem unbebauten Grundstück am anderen Ende der Straße oder eine kleine Mütze, die zwischen den Sträuchern am Ufer eines nahen Flusses liegt –, habt ihr wahrscheinlich nicht an die gedacht. Wieso auch? Nein, das war wahrscheinlich irgendein Landstreicher. Oder (eine schlimmere, aber fürchterlich plausible Überlegung) irgendein krankes Arschloch aus eurer eigenen Stadt, vielleicht sogar aus eurem eigenen Viertel, vielleicht sogar aus eurer eigenen Straße, irgendein mordlüsterner Perversling, dem es wunderbar gelingt, völlig normal auszusehen, und der weiterhin allen normal vorkommen wird, bis jemand einen Haufen Knochen findet, den der Kerl in seinem Keller verstaut oder in seinem Garten vergraben hat. An die Wohnmobilleute denkt ihr nie, an diese mittelalterlichen Rentner und diese vergnügten alten Knacker mit ihren Golfhüten und ihren Sonnenvisieren, auf denen Blümchen appliziert sind.
Und meistens habt ihr recht. Es gibt Tausende von Wohnmobilleuten, aber im Jahr 2011 war in Amerika nur noch ein einziger Knoten übrig: der Wahre Knoten. Seine Mitglieder zogen gern durch die Lande, und das traf sich gut, weil sie sich so verhalten mussten. Wären sie an einem Ort geblieben, hätten sie irgendwann Aufmerksamkeit erregt, weil sie nämlich nicht wie andere Leute altern. Zum Beispiel hat es den Anschein, als würden Apron Annie, die so heißt, weil sie ein Faible für Schürzenkleider hat, oder Dirty Phil (Tölpelnamen Anne Lamont und Phil Caputo) über Nacht zwanzig Jahre älter werden. Oder als wären die Little-Zwillinge (Pea und Pod) schlagartig nicht mehr zweiundzwanzig, sondern zwölf (in etwa), das Alter, in dem sie ihre Umwandlung durchgemacht haben, aber das ist schon lange her. Das einzige Mitglied des Knotens, das tatsächlich jung ist, ist Andrea Steiner, inzwischen als Snakebite Andi bekannt … und selbst die ist nicht so jung, wie sie aussieht.
Eine klapperige, mürrische alte Dame von achtzig Jahren wird plötzlich wieder sechzig. Ein zerknautschter alter Kerl Anfang siebzig kann seine Krücke weglegen; die Hauttumore auf seinen Armen und seinem Gesicht verschwinden.
Black-Eyed Susie verliert ihr ruckartiges Hinken.
Diesel-Doug, gerade noch halbblind vom grauen Star, bekommt scharfe Augen, und die kahle Stelle auf seinem Kopf ist fort. Urplötzlich ist er – Simsalabim! – wieder fünfundvierzig.
Der krumme Rücken von Steamhead Steve richtet sich auf. Seine Frau, Baba the Red, wirft ihre unbequemen Inkontinenzslips in den Mülleimer, schlüpft in ihre mit Strass besetzten Cowboystiefel und sagt, sie will wieder mal zum Line Dance gehen.
Hätten die Leute Zeit, solche Veränderungen zu beobachten, so würden sie sich wundern, und ruck, zuck gäbe es Gerede. Irgendwann würde ein Reporter auftauchen, und der Wahre Knoten scheut die Öffentlichkeit ebenso, wie Vampire angeblich das Sonnenlicht scheuen.
Aber da seine Mitglieder nicht ständig am selben Ort leben (und wenn sie längere Zeit in einer ihrer Firmenstädte bleiben, halten sie Abstand), fallen sie nicht auf. Wieso sollten sie? Sie tragen dieselben Klamotten wie die anderen Wohnmobilleute, sie tragen dieselben billigen Sonnenbrillen, sie kaufen dieselben Souvenir-T-Shirts und konsultieren dieselben AAA-Straßenkarten. Sie kleben dieselben Sticker auf ihre Bounders und Winnebagos, um zu zeigen, welch interessante Orte sie besucht haben (ICH HAB IN CHRISTMASLAND DEN GRÖSSTEN BAUM DER WELT GESTUTZT!), und wenn man hinter ihnen festhängt und auf eine Chance wartet, sie zu überholen, stiert man immer auf dieselben Stoßstangenaufkleber (ALT, ABER NICHT TOT; RETTET MEDICARE; ICH BIN KONSERVATIV UND ICH GEHE WÄHLEN!!). Sie essen panierte Hähnchenteile vom Colonel und kaufen gelegentlich Rubbellose in jener Sorte von Supermärkten, die Bier, Fischköder, Munition, Autozeitschriften und zehntausend verschiedene Sorten Schokoriegel führen. Ist in einer Stadt, in der sie Station machen, ein Bingo-Saal, so gehen wahrscheinlich ein paar von ihnen hin, nehmen einen Tisch in Beschlag und spielen, bis das letzte Coverall-Spiel gelaufen ist. Bei einem solchen Spiel hat Greedy G (Tölpelname Greta Moore und bekannt für ihre Unersättlichkeit) einmal fünfhundert Dollar gewonnen. Damit brüstete sie sich monatelang, und obwohl die Mitglieder des Knotens mehr als genug Geld zur Verfügung haben, haben sich einige der anderen Damen schwarzgeärgert. Token Charlie war ebenfalls nicht gerade begeistert. Er sagte, er habe fünf Ziehungen lang auf B7 gewartet, als G schließlich Bingo gerufen habe.
»Greedy, du hast mehr Glück als Verstand«, hat er gesagt.
»Und du hast mehr Unverstand als Glück«, hat sie erwidert und ist glucksend davongegangen.
Wenn einer der Wahren in eine Radarfalle gerät oder wegen einem geringfügigen Verkehrsdelikt angehalten wird – das kommt selten, aber doch mal vor –, findet der betreffende Cop nichts als gültige Führerscheine, Versicherungskarten und sonstige Dokumente in makelloser Anordnung. Niemand wird laut, während der Cop mit seinem Strafzettelblock dasteht, selbst wenn er seine Opfer offensichtlich hereinlegen will. Die Vorwürfe werden nie bestritten, und sämtliche Strafen werden prompt bezahlt. Amerika ist ein lebendiger Körper, die Highways sind seine Arterien, und der Wahre Knoten gleitet wie ein lautloses Virus auf ihnen entlang.
Nur Hunde hat er keine.
Gewöhnliche Wohnmobilleute reisen meist mit Hundebegleitung, normalerweise mit diesen kleinen Kackmaschinen mit weißem Fell, kitschigem Halsband und fiesem Charakter. Ihr kennt die Sorte; ihr Kläffen tut in den Ohren weh, und in ihren hinterlistigen Äuglein leuchtet eine beunruhigende Intelligenz. An Raststätten sieht man sie in dem Gras der ausgewiesenen Hundeauslaufflächen schnüffeln, gefolgt von ihren Besitzern, die Plastiktüten und Kotschaufeln parat halten. Neben den üblichen Stickern und Stoßstangenaufklebern sieht man auf den Wohnmobilen dieser gewöhnlichen Wohnmobilleute gelbe, rautenförmige Abzeichen mit der Aufschrift SPITZ AN BORD oder ICH ♥ MEINEN PUDEL.
Nicht so beim Wahren Knoten. Dessen Mitglieder mögen keine Hunde, und das beruht auf Gegenseitigkeit. Man könnte sagen, Hunde durchschauen ihre Tarnung. Hunde sehen die scharfen, wachsamen Augen hinter den billigen Sonnenbrillen. Die starken, sehnigen Jägerbeine unter den Polyesterhosen von Walmart. Die scharfen Zähne, die unter den Prothesen darauf warten, sich zu entblößen.
Der Wahre Knoten mag keine Hunde, aber Kinder mag er durchaus.
O ja, Kinder mag er sogar sehr.
2
Im Mai 2011, nicht lange nachdem Abra Stone ihren zehnten Geburtstag gefeiert hatte und Dan Torrance sein zehntes trockenes AA-Jahr, klopfte Crow Daddy an der Tür von Rose’ EarthCruiser. Die Wahren hatten sich momentan auf dem Kozy Kampground am Rand von Lexington, Kentucky, niedergelassen. Sie waren auf dem Weg nach Colorado, wo sie den größten Teil des Sommers in einem ihrer Rückzugsorte verbringen wollten. Es war ein Ort, den Dan manchmal in seinen Träumen wieder aufsuchte. Normalerweise hatten sie es nicht eilig, irgendwohin zu kommen, doch in diesem Sommer herrschte eine gewisse Dringlichkeit. Das war allen bewusst, obwohl keiner darüber sprach.
Rose würde sich darum kümmern. Das hatte sie immer getan.
»Komm rein«, sagte sie, und Crow Daddy trat ein.
Wenn er geschäftlich unterwegs war, trug er immer einen guten Anzug und teure, auf Hochglanz polierte Schuhe. Fühlte er sich danach, wie ein Gentleman der alten Schule aufzutreten, nahm er sogar einen Spazierstock mit. An diesem Morgen trug er von Hosenträgern gehaltene Schlabberhosen, ein Träger-T-Shirt mit einem Fisch darauf (darunter stand FISCH MICH!) und eine flache Arbeitermütze, die er sich vom Kopf wischte, während Rose hinter ihm die Tür schloss. Er fungierte gelegentlich als ihr Lover und außerdem als ihr Stellvertreter, aber er versäumte es nie, ihr seinen Respekt zu bezeugen. Das gehörte zu den vielen Aspekten, die Rose an ihm schätzte. Sie hatte keinen Zweifel, dass die Wahren unter seiner Führung weitermachen konnten, falls sie starb. Eine Weile zumindest. Aber weitere hundert Jahre? Womöglich nicht. Wahrscheinlich nicht. Crow war ausgesprochen eloquent und kam wunderbar zurecht, wenn er mit Tölpeln umgehen musste, aber er besaß nur rudimentäre planerische Fähigkeiten und keinen echten Weitblick.
An diesem Morgen sah er besorgt aus.
Rose saß in Caprihosen und einem einfachen weißen BH auf dem Sofa, rauchte eine Zigarette und betrachtete auf ihrem großen, an die Wand montierten Fernseher die dritte Stunde der Today Show. Das war die Stunde mit dem Vermischten, in der berühmte Köche auftraten und Schauspieler für ihre neuen Filme warben. Ihren Zylinder hatte Rose in den Nacken geschoben. Crow Daddy kannte sie schon länger, als die Lebenszeit eines Tölpels betrug, und trotzdem konnte er immer noch nicht sagen, welche Art von Magie das Ding in diesem der Schwerkraft hohnsprechenden Winkel fixierte.
Sie griff nach der Fernbedienung, um den Ton abzustellen. »Na, das ist ja Henry Rothman in voller Pracht und Schönheit! Richtig zum Anbeißen siehst du aus, obwohl du wohl nicht gekommen bist, um verspeist zu werden. Nicht um Viertel vor zehn am Morgen und nicht mit einer solchen Miene. Wer ist gestorben?«
Das war als Scherz gemeint, aber die Falten, in die sich seine Stirn vorübergehend legte, machten ihr klar, dass es keiner war. Sie schaltete den Fernseher aus und drückte umständlich ihre Zigarette aus, damit er nicht sah, wie bestürzt sie war. Früher hatte der Wahre Knoten einmal über zweihundert Mitglieder gehabt. Gestern waren es nur noch einundvierzig gewesen. Und wenn sie die Bedeutung dieses Stirnrunzelns richtig deutete, war es heute einer weniger.
»Tommy the Truck«, sagte er. »Ist im Schlaf gegangen. Ist einmal gekreist, und dann rums. Hat überhaupt nicht gelitten. Was verflucht selten ist, wie du weißt.«
»Hat Nut ihn gesehen?« Während man ihn noch sehen konnte, dachte sie, sprach es aber nicht aus. Walnut, dessen Führerschein und dessen verschiedene Kreditkarten ihn als Peter Wallis aus Little Rock, Arkansas, auswiesen, war der Arzt des Knotens.
»Nein, es ging zu schnell. Heavy Mary war bei ihm. Tommy hat sie aufgeweckt, weil er herumgezappelt hat. Sie dachte, es wär ein schlechter Traum, und hat ihm den Ellbogen in die Rippen gerammt … bloß war da inzwischen schon nichts mehr zum Rammen außer seinem Pyjama. Wahrscheinlich war es ein Herzinfarkt. Tommy hatte eine üble Erkältung. Nut meint, das könnte ein zusätzlicher Faktor gewesen sein. Und du weißt ja, dass der Trottel immer wie ein Schlot geraucht hat.«
»Wir erleiden keine Herzinfarkte.« Dann, widerstrebend: »Allerdings fangen wir uns normalerweise auch keine Erkältung ein. In den letzten paar Tagen hat er wirklich schwer geschnauft, nicht? Armer, alter TT.«
»Ja, armer, alter TT. Nut sagt, ohne eine Autopsie kann man unmöglich was Eindeutiges sagen.«
Wobei es bleiben musste. Inzwischen war keine Leiche mehr vorhanden, die man hätte aufschneiden können.
»Wie geht Mary damit um?«
»Was meinst du wohl? Scheiße, es hat ihr das Herz gebrochen. Die beiden waren schon zusammen, als Tommy the Truck noch Tommy the Wagon war. Fast neunzig Jahre. Sie hat sich nach seiner Umwandlung um ihn gekümmert. Hat ihm seinen ersten Steam gegeben, als er am nächsten Tag aufgewacht ist. Jetzt sagt sie, sie will sich umbringen.«
Rose war nur selten geschockt, aber das schockte sie nun doch. Keiner der Wahren hatte sich je selbst das Leben genommen. Das Leben war – um es prägnant auszudrücken – ihr einziger Grund zu leben.
»Wahrscheinlich nur dahingesagt«, sagte Crow Daddy. »Bloß …«
»Bloß was?«
»Du hast recht, dass wir uns normalerweise keine Erkältung einfangen, aber in letzter Zeit gab es eine ganze Menge davon. Meist nur ein kleiner Schnupfen, der kommt und geht. Nut meint, es könnte an der Mangelernährung liegen. Natürlich ist das nur eine Vermutung.«
Rose saß nachdenklich da, trommelte mit den Fingern auf ihren nackten Bauch und starrte auf das leere Rechteck des Fernsehers. Schließlich sagte sie: »Okay, ich gebe zu, dass die Ernährung in letzter Zeit ein bisschen mager war, aber wir haben erst vor einem Monat in Delaware Steam genommen, und da ging es Tommy gut. Er ist richtig aufgeblüht.«
»Ja, aber, Rosie – dieser Knabe aus Delaware hatte nicht viel Steam im Tank. Mehr Zahnfüllung als Festmahl.«
So hatte sie es bisher nie gesehen, aber es stimmte. Außerdem war der Bursche laut seinem Führerschein schon neunzehn gewesen. Ein ganzes Stück jenseits des kümmerlichen Höhepunkts, den er in der Pubertät gehabt haben musste. Weitere zehn Jahre, dann wäre er ein stinknormaler Tölpel gewesen. Vielleicht hätte es sogar nur fünf Jahre gedauert. Richtig, er war keine anständige Mahlzeit gewesen. Aber man konnte halt nicht immer Steak futtern. Manchmal musste man sich mit Bohnensprossen und Tofu zufriedengeben. Zumindest hielt das Leib und Seele zusammen, bis man die nächste Kuh schlachten konnte.
Nur dass das übersinnliche Sprossen-und-Tofu-Mahl Tommy the Trucks Leib und Seele nicht zusammengehalten hatte, nicht wahr?
»Früher gab’s mehr Steam«, sagte Crow.
»Sei nicht albern. Das ist, wie wenn die Tölpel sagen, vor fünfzig Jahren wären die Leute freundlicher gewesen. Das ist ein Mythos, und ich will nicht, dass du so was verbreitest. Die Leute sind so schon nervös genug.«
»Du solltest eigentlich wissen, dass ich mit so was nicht hausieren gehe. Aber ich glaube nicht, dass das ein Mythos ist, mein Schatz. Wenn man darüber nachdenkt, ist es durchaus plausibel. Vor fünfzig Jahren war mehr von allem da – Öl, wilde Tiere, Ackerland, saubere Luft. Es gab sogar ein paar ehrliche Politiker.«
»Ja!«, rief Rose. »Richard Nixon, erinnerst du dich noch an den? Der Tölpel par excellence?«
Aber er ließ sich nicht davon abbringen, diese falsche Spur zu verfolgen. Selbst wenn es Crow ein wenig an Weitblick mangelte, war er nur selten unkonzentriert. Deshalb war er auch ihr Stellvertreter. Womöglich hatte er sogar nicht einmal unrecht. Wer konnte schon mit Sicherheit sagen, dass die Zahl der Menschen, die als geeignete Nahrung für die Wahren infrage kamen, nicht ebenso abnahm wie die Zahl der Thunfischschwärme im Pazifik?
»Du solltest wirklich eine der Steam-Flaschen öffnen, Rosie.« Er sah, wie ihre Augen sich weiteten, und hob die Hand, um sie am Sprechen zu hindern. »Niemand spricht das laut aus, aber die ganze Familie denkt darüber nach.«
Rose zweifelte nicht daran, dass dem so war, und die Vorstellung, dass Tommy an Komplikationen infolge von Mangelernährung gestorben war, besaß eine gewisse schaurige Plausibilität. Wenn Steam knapp war, wurde das Leben schwer und verlor seinen Geschmack. Sie waren zwar keine Vampire aus einem dieser alten Horrorfilme von Hammer Productions, aber essen mussten sie trotzdem.
»Und wie lange ist es her, seit wir eine siebente Welle hatten?«, sagte Crow.
Er kannte die Antwort, und Rose kannte sie ebenfalls. Der Wahre Knoten besaß begrenzte präkognitive Fähigkeiten, aber wenn ein wirklich großes Tölpel-Desaster – eine siebente Welle – im Anzug war, dann spürten sie es alle. Die Einzelheiten des Anschlags auf das World Trade Center waren ihnen zwar erst im Spätsommer 2001 klar geworden, aber schon Monate vorher hatten sie gewusst, dass in New York irgendetwas geschehen würde. Rose erinnerte sich noch an die Freude und die gespannte Erwartung. Wahrscheinlich fühlten sich hungrige Tölpel genauso, wenn sie rochen, dass in der Küche gerade eine besonders schmackhafte Mahlzeit zubereitet wurde.
An jenem Tag war mehr als genug für alle da gewesen, in den folgenden Tagen ebenfalls. Unter den Leuten, die beim Einsturz der Türme zu Tode gekommen waren, waren womöglich nur wenige echte Steamheads gewesen, aber wenn eine Katastrophe groß genug war, dann hatten die Qualen und der gewaltsame Tod selbst bei gewöhnlichen Menschen eine anreichernde Wirkung. Deshalb wurden die Wahren von solchen Orten angezogen wie Insekten von hellem Licht. Einzelne Steamheads unter den Tölpeln aufzuspüren war wesentlich schwieriger, und momentan hatten nur drei der Wahren dieses spezielle Sonargerät im Kopf: Grampa Flick, Barry the Chink und Rose selbst.
Sie stand auf, griff nach einem weit ausgeschnittenen Top, das zusammengefaltet auf dem Schränkchen lag, und zog es sich über. Wie immer sah sie großartig aus. Sie wirkte zwar einerseits irgendwie unheimlich (diese hohen Wangenknochen und diese leicht schrägen Augen), aber andererseits auch extrem sexy. Dann setzte sie ihren Hut wieder auf und klopfte einmal darauf, weil das Glück brachte. »Wie viele volle Flaschen sind wohl übrig, Crow?«
Er zuckte die Achseln. »Ein Dutzend? Fünfzehn?«
»In etwa«, stimmte sie zu. Besser, dass keiner der anderen die Wahrheit kannte, nicht einmal ihr Stellvertreter. Dass die herrschende Unsicherheit sich in offene Panik verwandelte, konnte sie gar nicht brauchen. Wenn Leute in Panik gerieten, rannten sie in alle Richtungen, und wenn das geschah, gerieten die Wahren in Gefahr, sich aufzulösen.
Währenddessen studierte Crow sie, und zwar aufmerksam. Bevor er zu viel sehen konnte, sagte sie: »Kannst du den Campingplatz hier für heute Nacht exklusiv buchen?«
»Kein Problem. Seit Benzin und Diesel so teuer geworden sind, bekommt der Besitzer ihn kaum halb voll, selbst an Wochenenden. Der ist begeistert, wenn er mal die Chance hat.«
»Dann tu es. Wir werden Flaschen-Steam nehmen. Sorg dafür, dass alle es erfahren.«
»Gute Entscheidung.« Er küsste sie, wobei er eine ihrer Brüste liebkoste. »Das ist mein Lieblingstop.«
Sie lachte und schob ihn weg. »Jedes Top mit Titten drin ist dein Lieblingstop. Los, mach dich auf die Socken!«
Aber er zögerte, die Mundwinkel zu einem Grinsen verzogen. »Schnüffelt die kleine Klapperschlange eigentlich immer noch vor deiner Tür herum, Schatz?«
Sie griff nach unten und drückte unterhalb seines Gürtels kurz zu. »Ach, du jemine! Bist du etwa eifersüchtig?«
»Schon möglich.«
Das bezweifelte sie zwar, war jedoch trotzdem geschmeichelt. »Die ist jetzt mit Sarey zusammen, und die beiden sind ausgesprochen glücklich. Aber da wir schon über Andi sprechen, die kann uns helfen. Du weißt schon, wie. Sag allen Bescheid, aber sprich zuerst mit ihr.«
Nachdem er gegangen war, verriegelte sie die Tür der Wohnkabine, ging ins Fahrerhaus und ließ sich auf die Knie nieder. Sie schob die Finger unter den Teppichboden zwischen dem Fahrersitz und den Pedalen. Ein Streifen löste sich. Darunter kam eine rechteckige Metallklappe mit einer kleinen Tastatur zum Vorschein. Rose tippte die Zahlen ein, und der Safe sprang ein kleines Stück weit auf. Sie klappte die Tür ganz auf und sah hinein.
Zwölf, vielleicht auch fünfzehn volle Flaschen. Das hatte Crow geschätzt, und obwohl sie die Gedanken von Mitgliedern der Wahren nicht so lesen konnte wie die von Tölpeln, war Rose sich sicher, dass er die Lage bewusst schöngefärbt hatte, um sie aufzumuntern.
Wenn er nur wüsste, dachte sie.
Der Safe war mit Styropor ausgekleidet, um die Stahlflaschen bei einem Autounfall zusätzlich zu schützen, und es gab vierzig fest eingebaute Fächer. An diesem schönen Maivormittag in Kentucky waren siebenunddreißig der Flaschen in den Fächern leer.
Rose nahm einen der drei verbliebenen vollen Flaschen heraus und hob sie in die Höhe. Sie war leicht; hätte man sie in der Hand gewogen, so hätte man vermutet, dass sie ebenfalls leer war. Sie schraubte die Kappe auf, untersuchte das Ventil darunter, um sich zu vergewissern, dass die Versiegelung noch intakt war, und klappte den Safe wieder zu. Dann trug sie die Flasche in die Wohnkabine und stellte sie – fast ehrfürchtig – auf das Schränkchen, auf dem ihr zusammengefaltetes Top gelegen hatte.
Nach der kommenden Nacht würden nur noch zwei übrig sein.
Sie mussten irgendwo eine große Steam-Quelle auftun, um wenigstens ein paar von den leeren Flaschen aufzufüllen, und das musste bald geschehen. Die Wahren standen zwar nicht mit dem Rücken zur Wand, noch nicht ganz jedenfalls, aber die Wand war nur noch wenige Zentimeter entfernt.
3
Der Besitzer vom Kozy Kampground und seine Frau lebten in ihrem eigenen Wohnwagen. Das Ding stand permanent auf angemalten Betonblöcken. Nach dem regnerischen April waren viele Maiblumen gesprossen, und der Vorgarten von Mr. und Mrs. Kozy war voll davon. Andrea Steiner blieb einen Augenblick stehen, um die Tulpen und Stiefmütterchen zu bewundern, bevor sie die drei Stufen zur Tür des großen Redman-Domizils erklomm und klopfte.
Nach einer ganzen Weile machte Mr. Kozy auf. Er war ein kleiner Mann mit einem dicken Bauch, der momentan von einem hellroten Trägerunterhemd umhüllt war. In der einen Hand hielt er eine Dose Pabst Blue Ribbon, in der anderen eine mit Senf beschmierte Bratwurst in einer Scheibe schwammigem Weißbrot. Weil seine Frau gerade im anderen Zimmer war, nahm er sich ein wenig Zeit, die junge Frau vor ihm zu beglotzen, vom Pferdeschwanz bis zu den Sneakers. »Was gibt’s?«
Nicht wenige Mitglieder der Wahren besaßen ein gewisses Schläfertalent, aber Andi war darin bei Weitem am besten, weshalb ihre Umwandlung für den Knoten ein gewaltiger Glücksfall gewesen war. Sie nutzte ihre Fähigkeit immer noch gelegentlich, um die Geldbörse gewisser älterer Tölpel mit Gentleman-Allüren zu erleichtern, die von ihr magisch angezogen wurden. Rose fand das riskant und kindisch, wusste jedoch aus Erfahrung, dass das, was Andi als ihre Probleme bezeichnete, mit der Zeit von selbst abklingen würde. Das einzige Problem des Wahren Knotens war, zu überleben.
»Ich hab bloß eine kurze Frage«, sagte Andi.
»Wenn’s hier um die Toiletten geht, Schätzchen – der Kackesauger kommt erst Donnerstag.«
»Nein, darum geht es nicht.«
»Worum dann?«
»Sind Sie denn nicht müde? Wollen Sie nicht vielleicht einschlafen?«
Mr. Kozy schloss sofort die Augen. Bier und Bratwurst fielen ihm aus den Händen und versauten den Teppich. Na ja, dachte Andi, Crow hat dem Kerl zwölfhundert in den Rachen geworfen, da kann er sich schon eine Flasche Teppichreiniger leisten. Vielleicht sogar zwei.
Andi nahm ihn am Arm und führte ihn ins Wohnzimmer. Dort standen zwei mit Chintz bezogene Kozy-Sessel, vor denen Klapptischchen aufgebaut waren.
»Setzen!«, sagte sie.
Mit geschlossenen Augen setzte Mr. Kozy sich hin.
»Du fummelst gern an kleinen Mädchen rum, was?«, sagte Andi. »Jedenfalls würdest du das tun, wenn du könntest, oder etwa nicht? Wenn du schnell genug laufen könntest, um sie zu fangen, jedenfalls.« Die Hände in die Hüften gestützt, betrachtete sie ihn. »Du bist widerlich. Kannst du das auch selber sagen?«
»Ich bin widerlich«, stimmte Mr. Kozy zu. Dann begann er zu schnarchen.
Mrs. Kozy kam aus der Küche. Sie nagte an einem Sandwich-Eis. »Nanu? Wer sind denn Sie? Was sagen Sie ihm da? Was wollen Sie?«
»Dass Sie einschlafen«, sagte Andi zu ihr.
Mrs. Kozy ließ ihr Eis fallen. Dann wurden ihre Knie wacklig, und sie setzte sich drauf.
»Ach, du Scheiße!«, sagte Andi. »Ich hab nicht gleich da gemeint. Aufstehen!«
Als Mrs. Kozy aufstand, klebte das zerquetschte Sandwich-Eis hinten an ihrem Kleid. Snakebite Andi legte ihr den Arm um die praktisch nicht vorhandene Taille und führte sie zu dem zweiten Kozy-Sessel. Dabei hielt sie kurz inne, um ihr das schmelzende Sandwich-Eis vom Hintern zu ziehen. Bald saßen die beiden mit geschlossenen Augen Seite an Seite da.
»Ihr werdet die ganze Nacht schlafen«, wies Andi sie an. »Sie, Mister, können davon träumen, kleinen Mädchen nachzustellen. Und Sie, Missus, können davon träumen, dass er an einem Herzinfarkt gestorben ist und Ihnen eine millionenschwere Lebensversicherung hinterlassen hat. Na, wie klingt das? Prima, oder?«
Sie schaltete den Fernseher ein und stellte den Ton lauter. Pat Sajak, Moderator des Glücksrads, wurde von einer Frau mit gewaltigen Titten umarmt, die gerade das Rätsel gelöst hatte. Die Lösung lautete: RUH DICH NIE AUF DEINEN LORBEEREN AUS. Andi gönnte sich einen Moment, um den Mammutbusen der Frau zu bewundern, dann wandte sie sich wieder den Kozys zu.
»Wenn die Elf-Uhr-Nachrichten vorbei sind, könnt ihr den Fernseher ausschalten und ins Bett gehen. Und wenn ihr morgen aufwacht, werdet ihr euch nicht daran erinnern, dass ich hier war. Irgendwelche Fragen?«
Die beiden hatten keine. Andi ließ sie sitzen und eilte zu den im Pulk aufgestellten Wohnmobilen zurück. Sie war hungrig, seit Wochen schon, und heute Nacht würde es genug für jeden geben. Was morgen anging … es war die Aufgabe von Rose, sich darum Sorgen zu machen, und aus der Sicht von Snakebite Andi durfte sie das gern tun.
4
Gegen acht Uhr abends war es vollständig dunkel. Um neun versammelten die Wahren sich im Picknickbereich des Campingplatzes. Rose the Hat kam mit der Flasche in der Hand als Letzte. Bei seinem Anblick erhob sich ein leises, gieriges Gemurmel. Rose wusste, wie sich alle fühlten. Sie war selber mächtig hungrig.
Sie bestieg einen der mit eingeritzten Initialen übersäten Picknicktische und blickte allen nacheinander in die Augen. »Wir sind der Wahre Knoten.«
»Wir sind der Wahre Knoten«, erwiderten die anderen. Ihre Gesichter wirkten ernst und feierlich, ihre Augen waren lebhaft und hungrig. »Was gebunden ist, darf nie gelöst werden.«
»Wir sind der Wahre Knoten, und wir dauern fort.«
»Wir dauern fort.«
»Wir sind die Auserwählten. Wir sind die Glückseligen.«
»Wir sind auserwählt und glückselig.«
»Sie sind die Macher, wir sind die Nehmer.«
»Wir nehmen, was sie machen.«
»Nehmt dies und nutzt es gut.«
»Wir werden es gut nutzen.«
Einmal, zu Anfang des letzten Jahrzehnts vom 20. Jahrhundert, hatte in Enid, Oklahoma, ein Junge namens Richard Gaylesworthy gelebt. Ich schwöre, das Kind kann meine Gedanken lesen, sagte seine Mutter manchmal. Das wurde von den Leuten zwar belächelt, war jedoch nicht als Scherz gemeint. Vielleicht konnte er sogar nicht nur ihre Gedanken lesen. Richard absolvierte schulische Tests, auf die er sich überhaupt nicht vorbereitet hatte, mit der Bestnote. Er wusste, ob sein Vater in guter Laune nach Hause kommen würde oder ob er sich beim Heimkommen noch über irgendeinen Mist in der Firma für Sanitärzubehör ärgerte, die er besaß. Einmal flehte der Junge seine Mutter an, Lotto zu spielen, weil er sich sicher sei, die Gewinnzahlen zu kennen. Mrs. Gaylesworthy weigerte sich – sie waren gute Baptisten –, aber später bereute sie das. Es stimmten zwar nicht alle sechs Zahlen, die Richard auf den Einkaufszettelblock in der Küche gekritzelt hatte, aber immerhin fünf. Ihre religiösen Überzeugungen hatten die Familie siebzigtausend Dollar gekostet. Sie hatte den Jungen inständig gebeten, seinem Vater nichts zu erzählen, was Richard prompt versprochen hatte. Er war ein guter Junge, ein wunderbarer Junge.
Etwa zwei Monate nach dem Lottogewinn, der keiner gewesen war, wurde Mrs. Gaylesworthy in ihrer Küche erschossen, und der ebenso gute wie wunderbare Junge verschwand. Inzwischen war seine Leiche schon lange in dem verwahrlosten Acker einer aufgelassenen Farm verwest, doch als Rose the Hat das Ventil der metallisch glänzenden Flasche öffnete, entwich seine Essenz – sein Steam – als Wolke aus glitzerndem, weißem Dunst. Sie stieg bis zu einer Höhe von einem knappen Meter über die Flasche auf, dann breitete sie sich flach aus. Die Wahren standen mit erwartungsvoller Miene da und blickten zu ihr empor. Die meisten zitterten. Einige weinten sogar.
»Nehmt Nahrung auf und dauert fort«, sagte Rose und hob die Hände, bis ihre gespreizten Finger sich direkt unter der Fläche aus silbernem Dunst befanden. Sie bewegte die Hände leicht nach unten. Sofort begann der Dunst sich zu senken und nahm eine Schirmform an, während er auf die Wartenden zuschwebte. Als deren Köpfe von weißem Dunst umhüllt waren, begannen sie tief zu atmen. In den nächsten fünf Minuten gerieten einige ins Hyperventilieren und sanken ohnmächtig zu Boden.
Rose wiederum spürte, wie sie körperlich anschwoll und ihr Geist sich schärfte. Jeder einzelne Duft dieser Frühlingsnacht offenbarte sich ihr. Sie wusste, dass die feinen Fältchen um ihre Augen und ihren Mund verschwanden. Die weißen Strähnen in ihrem Haar wurden wieder dunkel. Im weiteren Verlauf der Nacht würde Crow in ihr Wohnmobil kommen, und dann würden sie in ihrem Bett wie Fackeln lodern.
Sie inhalierten Richard Gaylesworthy, bis er verschwunden war – wirklich und wahrhaftig verschwunden. Der weiße Dunst wurde dünner und löste sich dann auf. Wer in Ohnmacht gefallen war, setzte sich auf und sah sich lächelnd um. Grampa Flick griff sich Petty the Chink, Barrys Frau, und legte ein flottes kleines Tänzchen mit ihr hin.
»Lass mich los, du alter Esel!«, fuhr sie ihn an, lachte dabei aber.
Snakebite Andi und Silent Sarey tauschten tiefe Küsse. Andis Hände wühlten dabei in Sareys mausgrauen Haaren.
Rose sprang vom Picknicktisch herunter und sah Crow an. Der bildete mit Daumen und Zeigefinger einen Kreis und grinste sie an.
Alles in bester Ordnung, drückte dieses Grinsen aus, und so war es auch. Vorläufig. Trotz ihrer Euphorie musste Rose an die Flaschen in ihrem Safe denken. Nun waren nicht mehr nur siebenunddreißig leer, sondern achtunddreißig. Sie standen mit dem Rücken noch einen Tick näher an der Wand.
5
Am nächsten Morgen rollten die Wahren weiter, sobald es dämmerte. Sie nahmen die Route 12 zur I-64, vierzehn Wohnmobile in einer eng geschlossenen Karawane. Sobald sie die Interstate erreicht hatten, würden sie mehr Abstand voneinander halten, damit sie nicht so offensichtlich zusammengehörig erschienen. Per CB-Funk hielten sie Kontakt für den Fall, dass es Scherereien gab.
Oder falls eine Gelegenheit an die Tür klopfte.
Ernie und Maureen Salkowicz, frisch aus einem wunderbaren Schlaf erwacht, waren sich einig, dass diese Wohnmobilleute die besten Gäste gewesen waren, die sie je gehabt hatten. Die hatten nicht nur bar bezahlt und ihre Standplätze blitzsauber hinterlassen, jemand hatte sogar einen Brotpudding mit Äpfeln auf die oberste Stufe des Wohnwagens gestellt, samt einer wirklich netten Dankeskarte. Wenn sie Glück hatten, sagten die Salkowiczs sich, während sie ihr Geschenk zum Frühstück statt als Dessert verzehrten, kamen die Leute im nächsten Jahr wieder.
»Weißt du was?«, sagte Maureen. »Ich hab geträumt, diese Lady aus der Versicherungswerbung – Flo – hätte dir ’ne riesige Lebensversicherung verkauft. Ist das nicht ein irrer Traum?«
Ernie grunzte und klatschte sich noch einen Löffel Schlagsahne auf seinen Brotpudding.
»Hast du auch etwas geträumt, Schatz?«
»Nee.«
Er wandte den Blick jedoch von ihr ab, während er ihre Frage beantwortete.
6
An einem heißen Julitag in Iowa wendete sich das Glück des Wahren Knotens. Wie immer führte Rose die Karawane an, und gleich westlich von Adair gab das Sonargerät in ihrem Kopf ein Ping von sich. Dieses Ping war nicht markerschütternd, aber dennoch recht laut. Sofort nahm sie per Funk Kontakt mit Barry the Chink auf, der in etwa so asiatisch war wie Tom Cruise. Allerdings hatte er tatsächlich leicht nach oben gezogene Augen. Seine Frau ebenfalls, was nach Rose’ Meinung bloß bewies, dass Gleich und Gleich sich gern gesellte.
»Barry, hast du das gespürt? Bitte kommen!«
»Jau.« Barry war kein besonders redseliger Typ.
»Bei wem fährt Grampa Flick heute mit?«
Bevor Barry antworten konnte, knackste es im Funkgerät zweimal, und Apron Annie sagte: »Er ist bei mir und Long Paul, Süße. Ist es … ist es ein Guter?« Annie klang besorgt, was Rose verstehen konnte. Richard Gaylesworthy war ein sehr Guter gewesen, aber sechs Wochen waren eine lange Zeit zwischen zwei Mahlzeiten, und seine Wirkung ließ allmählich nach.
»Ist der alte Knacker ansprechbar, Annie?«
Statt dieser antwortete jemand mit kratziger Stimme: »Mir geht’s prima.« Für einen Kerl, der sich manchmal nicht an seinen eigenen Namen erinnern konnte, hörte Grampa Flick sich tatsächlich ganz ordentlich an. Gereizt, klar, aber gereizt war wesentlich besser als verwirrt.
In ihrem Kopf erklang ein zweites Ping, diesmal nicht ganz so laut. Wie um etwas zu unterstreichen, was nicht unterstrichen werden musste, sagte Grampa: »Scheiße, wir fahren in die falsche Richtung.«
Rose verzichtete auf eine Antwort und drückte stattdessen zweimal auf die Taste ihres Mikrofons. »Crow? Bitte kommen, Süßer.«
»Bin schon da.« Prompt wie immer. Er hatte wohl schon darauf gewartet, angefunkt zu werden.
»Hol an der nächsten Raststätte alle raus. Außer mir, Barry und Flick. Wir nehmen die nächste Ausfahrt, wenden und fahren zurück.«
»Brauchst du ein Team?«
»Das weiß ich erst, wenn wir näher dran sind, aber … ich glaube nicht.«
»Okay.« Eine Pause, dann fügte er hinzu: »Scheiße.«
Rose hängte das Mikro auf und ließ den Blick über die endlosen Maisfelder zu beiden Seiten der vier Fahrspuren schweifen. Crow war enttäuscht, klar. Das würden alle sein. Wirklich ergiebige Steamheads brachten Probleme mit sich, weil sie praktisch immun gegen alle Suggestionsbemühungen waren. Das bedeutete, man musste sie mit Gewalt unter Kontrolle bringen, wobei Freunde oder Familienmitglieder oft einzugreifen versuchten. Manchmal konnte man sie in Schlaf versetzen, aber nicht immer; jemand mit starkem Steam konnte selbst Snakebite Andis beste Anstrengungen abblocken. Deshalb musste man manchmal jemand töten. Das war zwar nicht gut, aber das Ergebnis war es immer wert: Leben und Kraft, gespeichert in einer Stahlflasche. Gespeichert für einen schlechten Tag. In vielen Fällen gab es sogar noch einen Bonus. Steam war erblich, und oft besaß jeder in der Familie der Beute zumindest ein wenig davon.
7
Während die meisten Mitglieder des Wahren Knotens auf einer angenehm schattigen Raststätte vierzig Meilen östlich von Council Bluffs warteten, wendeten die Wohnmobile mit den drei Findern, verließen bei Adair die I-80 und wandten sich nach Norden. Sobald sie Abstand vom Highway gewonnen hatten und sich in der Pampa befanden, trennten sie sich und begannen, das Netz aus gepflegten Schotterstraßen zu erkunden, die diesen Teil von Iowa in große Rechtecke teilten. Aus verschiedenen Richtungen bewegten sie sich wie Landvermesser bei der Triangulation auf das Ping zu.
Es wurde stärker … noch ein wenig stärker … dann pendelte es sich ein. Guter Steam, aber kein besonders starker Steam. Na ja. In der Not fraß der Teufel Fliegen.
8
Bradley Trevor musste an diesem Tag nicht wie üblich auf der Farm mithelfen, damit er zum Training des örtlichen Baseballvereins gehen konnte. Hätte sein Vater ihm das verboten, so wäre der Trainer wahrscheinlich samt den übrigen Jungs gekommen, um seinen Alten zu lynchen, denn Brad war der beste Schlagmann der Adair All-Stars. Seinem Aussehen nach hätte man das nicht gedacht – er war dürr wie ein Besenstiel und erst elf –, trotzdem trieb er selbst die besten Werfer des Distrikts immer wieder zur Verzweiflung. Die leichten Bälle schlug er fast immer weit ins Feld. Teilweise lag das schlicht daran, dass er auf der Farm hart arbeitete, aber das erklärte bei Weitem nicht alles. Brad schien einfach zu wissen, was für ein Ball als Nächstes kam. Dabei gab ihm niemand versteckt irgendwelche Zeichen (eine Möglichkeit, über die einige der anderen Trainer im Distrikt finster nachgegrübelt hatten). Er wusste einfach Bescheid. So wie er auch wusste, welches der beste Ort für einen neuen Brunnen als Viehtränke war oder wo eine entlaufene Kuh sich hingetrollt hatte oder wo der Verlobungsring seiner Mutter gewesen war, als sie ihn verloren hatte. Schau unter der Fußmatte im Auto nach, hatte er gesagt, und da hatte das Ding tatsächlich gelegen.
An diesem Tag lief es im Training besonders gut, aber während der anschließenden Teambesprechung war Brad irgendwie in den Wolken. Als man ihm eine Limo aus dem mit Eis gefüllten Kübel anbot, lehnte er ab. Er sagte, er wolle lieber nach Hause, um seiner Mutter zu helfen, die Wäsche abzuhängen.
»Wird es denn regnen?«, fragte Coach Micah Johnson. Inzwischen vertrauten sie ihm alle, was solche Dinge anging.
»Keine Ahnung«, sagte Brad teilnahmslos.
»Was ist denn los, Junge? Du siehst irgendwie krank aus.«
Brad ging es tatsächlich nicht gut. Als er am Morgen aufgewacht war, hatte er Kopfschmerzen gehabt und sich ziemlich fiebrig gefühlt. Allerdings war das nicht der Grund, weshalb er jetzt nach Hause gehen wollte; er hatte einfach das Gefühl, nicht länger auf dem Baseballplatz sein zu wollen. Seine Gedanken schienen ihm irgendwie nicht selber zu gehören. Er war sich nicht sicher, ob er tatsächlich da war oder alles nur träumte – was ihm völlig irre vorkam. Abwesend kratzte er an einem roten Fleck an seinem Unterarm. »Morgen zur selben Zeit, stimmt’s?«
Coach Johnson sagte, ja, so sei es geplant, und Brad ging davon, den Handschuh schlaff in der Hand. Normalerweise joggte er nach Hause – das taten sie alle –, aber heute fühlte er sich nicht danach. Der Kopf tat ihm immer noch weh, und nun schmerzten auch noch die Beine. Er schlug sich in das Maisfeld hinter der Tribüne, um eine Abkürzung zu der zwei Meilen weit entfernten Farm zu nehmen. Als er auf der Town Road D wieder herauskam und sich mit einer langsamen, träumerischen Handbewegung Spinnweben aus den Haaren strich, wartete ein mittelgroßer WanderKing mit laufendem Motor auf dem Schotter. Daneben stand lächelnd Barry the Chink.
»Na, da bist du ja«, sagte Barry.
»Wer sind Sie?«
»Ein Freund. Steig ein. Ich bringe dich nach Hause.«
»Okay«, sagte Brad. So, wie er sich fühlte, ließ er sich gern mitnehmen. Er kratzte an dem roten Fleck auf seinem Arm. »Sie sind Barry Smith. Sie sind ein Freund von mir. Ich werde einsteigen, und Sie bringen mich nach Hause.«
Er kletterte in das Wohnmobil. Die Tür ging zu. Der WanderKing fuhr davon.
Am nächsten Tag war die ganze County auf den Beinen und suchte nach dem besten Schlagmann der Adair All-Stars. Ein Sprecher der State Police forderte die Bürger auf, sämtliche auffälligen Pkws und Kleinbusse zu melden. Es trafen viele entsprechende Berichte ein, die jedoch allesamt zu nichts führten. Und obwohl die drei Wohnmobile mit den Findern wesentlich größer waren als Kleinbusse (das von Rose the Hat war sogar regelrecht riesig), meldete niemand ihr Erscheinen. Schließlich waren das die Wohnmobilleute, die gemeinsam durchs Land zogen. Brad war einfach … verschwunden.
Wie Tausende andere unglückselige Kinder war er verschluckt worden, scheinbar mit einem einzigen Biss.
9
Sie brachten ihn in eine verlassene Ethanolfabrik, die mehrere Meilen vom nächsten Farmhaus entfernt war. Crow trug den Jungen auf den Armen aus Rose’ EarthCruiser und legte ihn behutsam auf den Boden. Brad war mit Klebeband gefesselt und weinte. Als der Wahre Knoten sich um ihn versammelte (wie Trauernde an einem offenen Grab), sagte er: »Bitte bringt mich nach Hause. Ich verrate es niemand.«
Rose sank neben ihm auf ein Knie und seufzte. »Das würde ich gern tun, Junge, aber es geht nicht.«
Sein Blick fand Barry. »Du hast gesagt, du wärst einer von den Guten! Ich hab’s gehört! Du hast es gesagt!«
»Tut mir leid, Kumpel.« Barry sah allerdings nicht so aus, als täte es ihm leid. Er sah hungrig aus. »Nimm’s nicht persönlich.«
Brad richtete den Blick wieder auf Rose. »Werdet ihr mir wehtun? Bitte tut mir nicht weh.«
Natürlich würden sie ihm wehtun. Das war bedauerlich, aber der Schmerz reinigte den Steam, und die Wahren mussten essen. Auch Hummer verspürten Schmerz, wenn man sie in einen Topf mit kochendem Wasser warf, aber das hielt die Tölpel nicht davon ab, es zu tun. Essen war Essen, und Überleben war Überleben.
Rose verbarg die Hände hinter dem Rücken. In eine davon legte Greedy G ein Messer. Es war kurz, aber sehr scharf. Rose blickte lächelnd auf den Jungen hinab und sagte: »So wenig wie möglich.«
Der Junge hielt lange durch. Er schrie, bis seine Stimmbänder rissig und seine Schreie zu einem rauen Bellen wurden. Irgendwann hielt Rose inne und sah sich um. An ihren langen, kräftigen Händen trug sie blutig rote Handschuhe.
»Was ist?«, fragte Crow.
»Wir sprechen später darüber«, sagte Rose und machte sich wieder an die Arbeit. Das Licht vieler Taschenlampen hatte ein Stück des Bodens hinter der Ethanolfabrik in einen provisorischen Operationssaal verwandelt.
»Bitte töte mich«, flüsterte Brad Trevor.
Rose the Hat schenkte ihm ein tröstliches Lächeln. »Bald.«
Aber dem war nicht so.
Das raue Bellen hob wieder an, und irgendwann verwandelte es sich in Steam.
Im Morgengrauen vergruben sie die Leiche des Jungen. Dann zogen sie weiter.
1
Es war mindestens drei Jahre lang nicht mehr geschehen, aber manches vergaß man nicht. Zum Beispiel wenn das eigene Kind mitten in der Nacht zu schreien anfing. Lucy war allein, weil David in Boston an einer zweitägigen Konferenz teilnahm, aber wenn er da gewesen wäre, so wäre er sofort durch den Flur in Abras Zimmer gerannt, das wusste sie. Er hatte es nämlich auch nicht vergessen.
Ihre Tochter saß aufrecht im Bett, mit bleichem Gesicht und vom Schlaf verstrubbelten Haaren, die ihr vom Kopf abstanden. Mit weit aufgerissenen Augen starrte sie ins Leere. Das Laken – mehr brauchte sie nicht, um sich bei warmem Wetter zuzudecken – war um sie herumgewickelt wie ein wirrer Kokon.
Lucy setzte sich neben Abra und legte ihr den Arm um die Schultern. Es war, als würde sie einen Stein umarmen. Diese Phase war immer am schlimmsten – bevor Abra ganz aus ihrem Zustand auftauchte. Von den Schreien der eigenen Tochter aus dem Schlaf gerissen zu werden war furchtbar, aber diese Nichtansprechbarkeit war schlimmer. Im Alter von fünf bis sieben Jahren waren solche schrecklichen Nächte relativ häufig vorgekommen, und Lucy hatte immer Angst gehabt, das Gemüt des Kindes könnte unter der Belastung zerbrechen. Abra atmete zwar immer weiter, aber ihr Blick wandte sich nie von der Welt ab, die sie sah, ihre Eltern aber nicht sehen konnten.
Es wird nicht dazu kommen, hatte David sie beruhigt, und John Dalton hatte ihm zugestimmt. Kinder sind widerstandsfähig, hatte der Arzt gesagt. Wenn sie keine bleibenden Nachwirkungen zeigt – Zurückgezogenheit, Isolation, obsessives Verhalten, Bettnässen –, dann ist wahrscheinlich alles in bester Ordnung.
Aber es war nicht in Ordnung, dass Kinder schreiend aus Albträumen erwachten. Es war nicht in Ordnung, dass danach im Erdgeschoss manchmal wilde Klaviertöne erklangen, dass die Wasserhähne in dem Badezimmer am Ende des Flurs sich selbst aufdrehten und dass die Birne in der Lampe über Abras Bett manchmal platzte, wenn Lucy oder David den Schalter betätigten.
Dann war ihr unsichtbarer Freund gekommen, und der Abstand zwischen den Albträumen hatte sich vergrößert. Irgendwann hatten sie aufgehört. Bis zu dieser Nacht. Eigentlich war es jetzt gar keine Nacht mehr; Lucy sah das erste schwache Leuchten am östlichen Horizont – Gott sei Dank.
»Abs? Ich bin’s, Mami. Sprich mit mir.«
Fünf bis zehn weitere Sekunden gab es keine Reaktion. Dann endlich entspannte sich die Statue, um die Lucy den Arm gelegt hatte, und wurde wieder zu einem kleinen Mädchen. Abra tat einen tiefen, zittrigen Atemzug.
»Ich hatte einen von meinen schlimmen Träumen. Wie früher.«
»Das hab ich mir schon gedacht, Liebes.«
Abra konnte sich anscheinend kaum je an viel erinnern. Manchmal brüllten Menschen sich an oder schlugen mit den Fäusten aufeinander ein. Er hat den Tisch umgestoßen, als er hinter ihr hergelaufen ist, berichtete sie zum Beispiel. Ein anderes Mal hatte sie davon geträumt, dass eine einäugige Raggedy-Ann-Puppe am Rande eines Highways gelegen hatte. Einmal, als Abra erst vier gewesen war, hatte sie ihren Eltern erzählt, sie habe Geisterleute auf der Helen Rivington fahren sehen, einer beliebten Touristenattraktion in Frazier. Der Zug fuhr in einem großen Bogen von Teenytown zum Wolkentor und wieder zurück. Ich konnte sie sehen, weil der Mond schien, hatte Abra gesagt. Lucy und David hatten links und rechts neben ihr gesessen und die Arme um sie gelegt. Lucy erinnerte sich immer noch daran, wie feucht Abras schweißnasses Pyjamaoberteil sich angefühlt hatte. Ich wusste, dass es Geisterleute sind, weil sie Gesichter wie alte Äpfel hatten, und der Mond hat einfach durch sie hindurchgeschienen.
Am darauffolgenden Nachmittag war Abra wieder mit ihren Freunden herumgerannt, hatte gespielt und gelacht, aber dieses Bild hatte Lucy nie vergessen: tote Menschen, die in dem kleinen Zug durch den Wald fuhren, mit Gesichtern, die im Mondlicht wie durchsichtige Äpfel aussahen. Sie hatte Concetta gefragt, ob diese mit Abra schon einmal während eines ihrer »Mädelstage« mit der Eisenbahn gefahren sei. Chetta hatte das verneint. Die beiden waren zwar in Teenytown gewesen, aber der Zug hatte sich gerade in Reparatur befunden, weshalb sie stattdessen mit dem Karussell gefahren waren.
Nun blickte Abra zu ihrer Mutter hoch und fragte: »Wann kommt Daddy wieder?«
»Übermorgen. Er hat gesagt, dass er zum Mittagessen wieder da ist.«
»Das ist zu spät«, sagte Abra. Eine Träne quoll ihr aus dem Auge, kullerte an ihrer Wange herab und fiel auf ihr Pyjamaoberteil.
»Zu spät wofür? Woran erinnerst du dich, Abba-Doo?«
»Sie haben dem Jungen wehgetan.«
Lucy wollte das Ganze eigentlich nicht weiterverfolgen, aber sie hatte das Gefühl, es dennoch tun zu müssen. Es gab zu viele Verbindungen zwischen Abras früheren Träumen und Dingen, die tatsächlich geschehen waren. Zum Beispiel hatte David in der Sun – dem Lokalblatt von North Conway – ein Foto der einäugigen Stoffpuppe entdeckt, unter der Schlagzeile DREI TOTE BEI AUTOUNFALL IN OSSIPEE. Nach Abras Berichten über Leute, die sich angeschrien und aufeinander eingeschlagen hatten, hatte Lucy bei zwei verschiedenen Gelegenheiten in den darauffolgenden Tagen den Polizeibericht nach Festnahmen wegen häuslicher Gewalt durchforscht. Selbst John Dalton war der Meinung, dass Abra womöglich irgendwelche Übertragungen auffing – mit dem »schrägen Radio in ihrem Kopf«, wie er es nannte.
»Was für ein Junge?«, fragte sie daher. »Wohnt er hier in der Gegend? Weißt du das vielleicht?«
Abra schüttelte den Kopf. »Weit weg. Kann mich nicht erinnern.« Dann hellte ihr Gesicht sich auf. Die Schnelligkeit, mit der sie ihre Zustände hinter sich ließ, kam Lucy fast so unheimlich vor wie die Zustände selbst. »Aber ich glaube, ich hab es Tony gesagt. Und der sagt es vielleicht seinem Daddy.«
Tony, ihr unsichtbarer Freund. Den hatte sie schon einige Jahre lang nicht mehr erwähnt, und Lucy hoffte, dass dies keine Regression war. Mit zehn Jahren war man ein bisschen zu alt für unsichtbare Freunde.
»Tonys Daddy kann es vielleicht aufhalten.« Dann verdüsterte Abras Gesicht sich wieder. »Aber ich glaube, dafür ist es zu spät.«
»Tony war schon eine ganze Weile nicht mehr da, stimmt’s?« Lucy stand auf und schüttelte das zerknüllte Laken aus. Abra kicherte, als es an ihr Gesicht schwebte. Für Lucy war dies das schönste Geräusch der Welt. Ein gesundes Geräusch. Außerdem wurde es im Zimmer immer heller. Bald würden die ersten Vögel zwitschern.
»Mami, das kitzelt!«
»Mamis kitzeln ihre Kinder eben gern. Das gehört dazu. Also, was ist mit Tony?«
»Er hat gesagt, er kommt immer, wenn ich ihn brauche«, sagte Abra und schlüpfte unter das Laken. Sie klopfte neben sich aufs Bett, worauf Lucy sich hinlegte und das Kissen mit ihr teilte. »Das war ein schlimmer Traum, und ich hab Tony gebraucht. Ich glaube, er ist gekommen, aber ich kann mich nicht richtig erinnern. Sein Daddy arbeitet in einem Hotspitz.«
Das war etwas Neues. »Ist das ein Restaurant oder ein Laden?«
»Nein, so was Doofes! Das ist für Leute, die sterben werden.« Abra klang gutmütig, fast oberlehrerhaft, aber Lucy lief es trotzdem kalt den Rücken hinunter.
»Tony sagt, wenn Leute so krank sind, dass sie nicht mehr gesund werden, gehen sie in das Hotspitz, und sein Daddy kümmert sich drum, dass sie sich besser fühlen. Tonys Daddy hat einen Kater, der so ähnlich wie ich heißt. Ich heiße Abra, und der Kater heißt Azzie. Ist das nicht seltsam, aber so, dass es lustig ist?«
»Ja. Seltsam, aber lustig.«
John und David hätten wahrscheinlich gesagt, angesichts der Ähnlichkeit der beiden Namen handle es sich bei diesem Kater um die Erfindung eines sehr klugen kleinen Mädchens. Aber das hätten sie nur halb geglaubt, und Lucy glaubte es so gut wie gar nicht. Wie viele Zehnjährige wussten schon, was ein Hospiz war, selbst wenn sie das Wort falsch aussprachen?
»Erzähl mir von dem Jungen in deinem Traum.« Da Abra sich nun beruhigt hatte, schien ein Gespräch über dieses Thema ungefährlicher zu sein. »Sag mir, wer ihm wehgetan hat, Abba-Doo.«
»Das weiß ich nicht mehr, bloß noch, dass er dachte, Barney wäre sein Freund. Vielleicht war es auch Barry. Mami, kann ich Hoppy haben?«
Das war ihr Stoffhase, der mit hängenden Ohren auf dem höchsten Regalbrett ihres Zimmers im Exil saß. Abra hatte ihn schon mindestens zwei Jahre lang nicht mehr zum Schlafen mit ins Bett genommen. Lucy holte das Langohr und legte es ihrer Tochter in die Arme. Die drückte Hoppy an ihr rosa Pyjamaoberteil und schlief fast augenblicklich ein. Mit ein bisschen Glück schlief sie noch eine Stunde, vielleicht sogar zwei. Lucy setzte sich neben sie, um sie zu betrachten.
Bitte, lass das wirklich in ein paar Jahren aufhören, wie John es angekündigt hat. Noch besser: Lass es heute schon aufhören, an diesem Morgen. Bitte, ich will das nicht mehr. Ich will nicht mehr die Lokalzeitungen durchstöbern, um festzustellen, ob ein kleiner Junge von seinem Stiefvater umgebracht oder von irgendwelchen jungen Typen totgeprügelt wurde, die Klebstoff geschnüffelt haben. Mach, dass es ein Ende hat.
»Gott«, sagte sie mit sehr leiser Stimme. »Wenn es dich gibt, kannst du dann etwas für mich tun? Machst du bitte das Radio im Kopf meiner kleinen Tochter kaputt?«
2
Als die Wahren auf der I-80 wieder nach Westen rollten, auf den Ort im Hochland von Colorado zu, wo sie den Sommer verbringen wollten (immer vorausgesetzt, es ergab sich nicht die Gelegenheit, in der Nähe eine große Steam-Quelle anzuzapfen), saß Crow Daddy auf dem Beifahrersitz von Rose’ EarthCruiser. Jimmy Numbers, das Finanzgenie der Wahren, steuerte derweil den Affinity Country Coach von Crow. In Rose’ Satellitenradio lief auf Outlaw Country gerade »Whiskey Bent and Hellbound« von Hank Williams Jr. Das war ein guter Song, und Crow ließ ihn bis zum Ende laufen, bevor er die Aus-Taste drückte.
»Du hast gesagt, wir unterhalten uns später. Jetzt ist es später. Was ist vorhin passiert?«
»Wir hatten einen Zuschauer.«
»Tatsächlich?« Crow hob die Augenbrauen. Er hatte so viel von dem Steam des Jungen eingesogen wie alle anderen, sah jedoch trotzdem nicht jünger aus. Das tat er nach dem Essen nur selten. Dafür sah er zwischen zwei Mahlzeiten auch nur selten älter aus, falls der zeitliche Abstand nicht sehr groß ausfiel. Rose fand, das war ein guter Ausgleich. Wahrscheinlich hatte es mit seinen Genen zu tun. Vorausgesetzt, sie hatten überhaupt noch Gene. Nach Meinung von Nut war das fast sicher der Fall. »Ein Steamhead, meinst du.«
Sie nickte. Vor ihnen erstreckte die I-80 sich unter einem blassblauen, mit dahintreibenden Haufenwolken getüpfelten Himmel in die Ferne.
»Viel Steam?«
»O ja. Massenhaft.«
»Weit weg von hier?«
»An der Ostküste. Glaube ich.«
»Willst du etwa sagen, da hat uns jemand aus, na, fast fünfzehnhundert Meilen Entfernung zugeschaut?«
»Womöglich noch weiter weg. Könnte sogar oben in Kanada gewesen sein.«
»Ein Junge oder ein Mädchen?«
»Wahrscheinlich ein Mädchen, aber es war bloß ein Flash. Höchstens drei Sekunden. Ist das so wichtig?«
Das war es nicht. »Wie viele Flaschen könnte man mit jemand füllen, der so viel Steam im Kessel hat?«
»Schwer zu sagen. Drei … mindestens.« Diesmal war es Rose, die untertrieben hatte. Ihrer Schätzung nach konnte man mit der unbekannten Zuschauerin (falls es tatsächlich ein weiblicher Zuschauer war) zehn Flaschen füllen, vielleicht sogar ein Dutzend. Die Anwesenheit war kurz, aber machtvoll gewesen. Die Zuschauerin hatte gesehen, was sie taten, und ihr Entsetzen war so stark gewesen, dass Rose plötzlich die Hände nicht bewegen konnte und vorübergehend Ekel vor dem empfand, was sie tat. Natürlich war das nicht ihr eigenes Gefühl gewesen – einen Tölpel auszuweiden war nicht ekliger, als das bei einem Reh zu tun –, sondern eine Art übersinnlicher Querschläger.
»Vielleicht sollten wir wenden«, sagte Crow. »Um sie uns zu schnappen, während sie im optimalen Zustand ist.«
»Nein. Ich glaube, sie wird noch stärker werden. Wir lassen sie noch etwas reifen.«
»Weißt du das mit Sicherheit, oder ist es nur Intuition?«
Rose wedelte mit der Hand.
»Eine Intuition, die stark genug ist zu riskieren, dass sie von irgendeinem Trottel überfahren wird oder ein Kinderschänder sie in die Finger kriegt?« Crow sagte das ohne jede Ironie. »Und was ist mit Leukämie oder ’ner anderen Sorte Krebs? Du weißt doch, dass die für so was anfällig sind.«
»Wenn du Jimmy Numbers fragen würdest, dann würde der sagen, dass die Statistik auf unserer Seite steht.« Rose lächelte und tätschelte ihm liebevoll den Oberschenkel. »Du machst dir zu viele Sorgen, Daddy. Wir fahren wie geplant nach Sidewinder, und dann geht es in ein paar Monaten nach Florida. Barry und Grampa Flick meinen, dieses Jahr gibt’s massenhaft Hurrikane.«
Crow verzog das Gesicht. »Das ist so, als würde man sein Essen aus dem Müllcontainer holen.«
»Mag sein, aber das Zeug in manchen von diesen Containern ist ziemlich gehaltvoll. Ich ärgere mich immer noch schwarz, dass wir diesen Tornado in Joplin verpasst haben. Aber bei so plötzlich auftretenden Stürmen ist die Vorahnung natürlich nicht so stark.«
»Dieses Mädchen. Sie hat uns gesehen.«
»Stimmt.«
»Und was wir getan haben.«
»Worauf willst du hinaus, Crow?«
»Könnte sie uns ans Messer liefern?«
»Süßer, wenn die Kleine älter als elf ist, fresse ich meinen Hut.« Rose klopfte zur Bekräftigung daran. »Ihre Eltern wissen wahrscheinlich nicht, was sie ist und zu was sie fähig ist. Und selbst wenn, geben sie sich bestimmt die größte Mühe, es möglichst zu verharmlosen, damit sie nicht zu viel darüber nachdenken müssen.«
»Oder sie schicken sie zu einem Psychiater, der ihr Pillen verschreibt«, sagte Crow. »Dadurch wird sie gedämpft und ist schwerer zu finden.«
Rose lächelte. »Wenn ich es richtig gespürt habe, und ich bin mir ziemlich sicher, dass dem so ist, dann wirkt ein Beruhigungsmittel bei der Kleinen so dämpfend wie ein Stück Klarsichtfolie vor einem Suchscheinwerfer. Wir finden sie, wenn es an der Zeit ist. Mach dir keine Sorgen.«
»Wenn du meinst. Du bist der Boss.«
»Korrekt, Süßer.« Statt ihm den Oberschenkel zu tätscheln, drückte sie ihm diesmal die Eier. »Heute Abend sind wir in Omaha?«
»In ’nem La Quinta Inn. Ich hab den gesamten hinteren Teil vom Erdgeschoss reserviert.«
»Gut. Hab nämlich vor, dich zu reiten wie einen Zuchthengst.«
»Sehen wir mal, wer wen reitet«, sagte Crow. Durch den Steam des Jungen fühlte er sich spitz wie Rettich. Rose ebenfalls. Die anderen auch. Er schaltete das Radio wieder ein. Cross Canadian Ragweed sangen über die Jungs aus Oklahoma, die ihre Joints total falsch rollten.
Die Wahren rollten westwärts.
3
Es gab nachsichtige AA-Sponsoren, strenge AA-Sponsoren, und dann gab es noch solche wie Casey Kingsley, die sich von ihren Schützlingen nicht den geringsten Scheiß bieten ließen. Als die Beziehung der beiden noch am Anfang gestanden hatte, hatte Casey Dan aufgetragen, neunzig Treffen in neunzig Tagen zu absolvieren und ihn jeden Morgen um sieben anzurufen. »Wenn du zu früh anrufst, lege ich auf. Wenn du zu spät anrufst, sage ich dir, du sollst morgen wieder anrufen … aber nur falls du bis dahin noch trocken bist. Und wenn du besoffen oder verkatert anrufst, merke ich das, sobald dir drei Wörter aus dem Munde gekommen sind.«
Nachdem Dan seine neunzig fortlaufenden Meetings hinter sich gebracht hatte, erhielt er die Erlaubnis, auf die morgendlichen Anrufe zu verzichten. Stattdessen trafen sich die beiden seither dreimal pro Woche zum Kaffee im Sunspot Café. Casey thronte in einer Sitznische, als Dan an einem Julinachmittag des Jahres 2011 hereinkam, und obwohl Casey es noch nicht ganz bis zur Rente geschafft hatte, fand Dan, dass sein langjähriger AA-Sponsor (und sein erster Chef in New Hampshire) sehr alt aussah. Er hatte nicht mehr viel Haar und ging mit einem deutlichen Hinken. Eigentlich hätte er längst eine neue Hüfte gebraucht, schob die OP aber weiter vor sich her.
Dan sagte hallo, setzte sich, verschränkte die Hände und wartete auf das, was Casey als Katechismus bezeichnete.
»Bist du heute nüchtern, Danno?«
»Ja.«
»Wie war dieses Wunder an Beherrschung möglich?«
»Dank dem Programm der Anonymen Alkoholiker und Gott, wie ich ihn verstehe. Mein Sponsor hat da vielleicht auch eine kleine Rolle gespielt.«
»Nettes Kompliment, aber blas mir keinen Zucker in den Arsch, dann lasse ich auch die Finger von deinem.«
Patty Noyes kam mit der Kaffeekanne und goss Dan ungefragt eine Tasse ein. »Na, wie geht’s, mein Hübscher?«
Dan grinste sie an. »Mir geht’s gut.«
Sie zerzauste ihm die Haare, dann schritt sie mit etwas zusätzlichem Schwung zur Theke zurück. Die beiden Männer verfolgten das anregende Ticktack ihrer Hüften, wie Männer es eben taten, dann richtete Casey den Blick wieder auf Dan.
»Hast du mit dem Gott, wie du ihn verstehst, irgendwelche Fortschritte gemacht?«
»Keine großen«, sagte Dan. »Ich hab so eine Ahnung, es könnte sich da um eine dieser lebenslangen Aufgaben handeln.«
»Aber du bittest morgens um Hilfe, damit du die Finger vom Schnaps lassen kannst?«
»Ja.«
»Auf den Knien?«
»Ja.«
»Und abends sagst du danke?«
»Ja. Ebenfalls auf den Knien.«
»Weshalb?«
»Weil ich mich daran erinnern muss, dass der Schnaps mich dahin gebracht hat«, sagte Dan. Das entsprach der Wahrheit.
Casey nickte. »Das sind die ersten drei Schritte. Sag mir die Kurzform auf.«
»Ich kann’s nicht, Gott kann es, ich vertraue mich ihm an.« Er fügte hinzu: »Gott, wie ich ihn verstehe.«
»Beziehungsweise: den du nicht verstehst.«
»Genau.«
»Sag mir jetzt mal, wieso du früher gesoffen hast.«
»Weil ich ein Säufer bin.«
»Nicht weil deine Mama dich nicht geliebt hat?«
»Nein.« Wendy hatte ihre Fehler gehabt, aber ihre Liebe zu ihm – und seine zu ihr – war nie ins Wanken geraten.
»Oder weil dein Daddy dich nicht geliebt hat?«
»Nein.« Obwohl er mir einmal den Arm gebrochen und mich am Ende fast umgebracht hat.
»Weil es erblich ist?«
»Nein.« Dan nippte an seinem Kaffee. »Aber das ist es. Das weißt du doch, oder?«
»Klar. Ich weiß aber auch, dass das belanglos ist. Wir haben gesoffen, weil wir Säufer sind. Davon genesen wir nie. Auf der Basis unseres spirituellen Zustands erhalten wir täglich eine Bewährungsfrist, und damit hat sich’s.«
»Ja, Boss. Sind wir mit diesem Thema fertig?«
»Fast. Hast du daran gedacht, dir heute vielleicht einen Drink zu gönnen?«
»Nein. Und du?«
»Auch nicht.« Casey grinste. Das Grinsen erfüllte sein Gesicht mit Licht und ließ ihn wieder jung werden. »Es ist ein Wunder. Würdest du auch sagen, dass es ein Wunder ist, Danny?«
»Ja. Das würde ich.«
Patty kam mit einem großen Teller Vanillepudding an – garniert mit zwei Kirschen statt nur einer – und stellte ihn Dan vor die Nase. »Iss das. Geht aufs Haus. Du bist zu mager.«
»Was ist mit mir, Schätzchen?«, fragte Casey.
Patty rümpfte die Nase. »Du bist ein wahres Nilpferd. Ich bringe dir ’nen Fichtenbecher, wenn du willst. Das ist ein Glas Wasser mit einem Zahnstocher drin.« Womit sie das letzte Wort gehabt hatte und davontänzelte.
»Legst du sie immer noch flach?«, fragte Casey, während Dan sich an seinen Pudding machte.
»Charmante Frage«, sagte Dan. »Sehr einfühlsam und echt New Age.«
»Danke. Also, legst du sie immer noch flach?«
»Da lief mal was, das etwa vier Monate gedauert hat, und das ist drei Jahre her, Casey. Jetzt ist Patty mit einem sehr netten Kerl aus Grafton verlobt.«
»Grafton«, sagte Casey abfällig. »Hübsche Aussicht, mieses Kaff. Wenn du hier im Café auftauchst, benimmt sie sich nicht gerade so, als wäre sie verlobt.«
»Casey …«
»Moment, versteh mich nicht falsch. Ich würde zwar nie einem meiner Schützlinge raten, seine Nase – oder seinen Schwanz – in eine bestehende Beziehung zu stecken. So was ist die ideale Voraussetzung für ein Glas Schnaps. Aber … hast du überhaupt irgendeine Art Beziehung?«
»Geht dich das was an?«
»Zufällig ja.«
»Okay, die Antwort lautet: Momentan nicht. Es gab mal eine Schwester aus dem Hospiz – von der hab ich dir ja erzählt …«
»Sarah Soundso.«
»Olson. Wir haben schon davon gesprochen zusammenzuziehen, aber dann hat sie einen tollen Job im Mass General bekommen. Manchmal schreiben wir uns E-Mails.«
»Keine Beziehungen im ersten Jahr, das ist die Daumenregel«, sagte Casey. »Die allerdings nur sehr wenige genesende Säufer ernstnehmen. Du hast es getan. Aber, Danno … es ist an der Zeit, dass du ’ne feste Beziehung aufbaust. Mit irgendjemand.«
»Oje, mein Sponsor hat sich in Doctor Phil verwandelt«, sagte Dan.
»Ist dein Leben heute besser? Besser, als es damals war, als du hier aus dem Bus gestiegen bist, schlapp und mit blutigen Augen?«
»Du weißt ja, dass es das ist. Besser, als ich es mir je hätte vorstellen können.«
»Dann denk daran, es mit jemand zu teilen. Mehr will ich gar nicht sagen.«
»Ich werd’s mir notieren. Können wir jetzt über was anderes sprechen? Über die Red Sox zum Beispiel?«
»Zuerst muss ich dich als dein Sponsor noch was fragen. Dann können wir einfach nur wieder zwei Freunde sein, die zusammen Kaffee trinken.«
»Na gut …« Dan sah ihn argwöhnisch an.
»Wir haben nie viel darüber gesprochen, was du im Hospiz tust. Wie du den Menschen dort hilfst.«
»Nein«, sagte Dan. »Und es wäre mir lieber, wenn wir es dabei belassen könnten. Du weißt doch, was wir am Ende jedes Treffens sagen oder? ›Wen du hier siehst, was du hier hörst, wenn du gehst, bitte lass es hier.‹ So denke ich über den anderen Teil meines Lebens.«
»Wie viele Teile deines Lebens waren vom Saufen beeinträchtigt?«
Dan seufzte. »Das weißt du schon. Alle.«
»Aha?« Und als Dan nichts erwiderte: »Das Personal im Hospiz nennt dich Doctor Sleep. So was spricht sich herum, Danno.«
Dan schwieg. Es war noch etwas von dem Pudding übrig, und Patty würde ihn ausschimpfen, wenn er nicht aufaß, aber sein Appetit war verflogen. Wahrscheinlich hatte er geahnt, dass dieses Gespräch irgendwann kommen musste, und nach zehn Jahren ohne einen Tropfen Alkohol (und da er inzwischen ein paar eigene Schützlinge hatte) würde Casey sicher seine Grenzen respektieren, aber er war trotzdem nicht scharf darauf.
»Du hilfst den Menschen beim Sterben. Nicht, indem du ihnen ein Kissen aufs Gesicht drückst oder so, das denkt niemand, sondern einfach, indem du … ich weiß auch nicht. Anscheinend weiß das niemand.«
»Ich setze mich zu ihnen, das ist alles. Spreche ein wenig mit ihnen. Wenn sie es wollen.«
»Arbeitest du mit den Schritten, Danno?«
Wäre das ein neues Gesprächsthema gewesen, so hätte Dan sich gefreut, aber er wusste, dass dem nicht so war. »Du weißt, dass ich das tue. Schließlich bist du mein Sponsor.«
»Ja, morgens bittest du um Hilfe, und abends sagst du danke. Das tust du auf den Knien. Womit wir die ersten drei Schritte hätten. Im vierten geht es um diesen Kram mit der moralischen Inventur. Aber wie steht es mit Nummer fünf?«
Insgesamt waren es zwölf Schritte. Da Dan mitbekommen hatte, wie sie am Anfang der Treffen, an denen er teilgenommen hatte, vorgelesen worden waren, kannte er sie auswendig. »Wir gaben Gott, uns selbst und einem anderen Menschen gegenüber unverhüllt unsere Fehler zu.«
»Genau.« Casey hob seine Kaffeetasse, nahm einen Schluck und sah Dan über den Rand hinweg an. »Hast du diesen Schritt getan?«
»Mehr oder weniger.« Dan wäre am liebsten irgendwo anders gewesen. Fast egal wo. Außerdem stellte er fest, dass er sich nach einem Schnaps sehnte, und zwar zum ersten Mal seit geraumer Zeit. Auf dieses Gespräch war er nicht gefasst gewesen.
»Lass mich mal raten. Du hast dir selbst gegenüber alle deine Fehler zugegeben, du hast dem Gott deines Nichtverständnisses alle deine Fehler zugegeben, und du hast einem anderen Menschen gegenüber – das dürfte ich sein – die meisten deiner Fehler zugegeben. Stimmt’s, oder hab ich recht?«
Dan sagte nichts.
»Ich verrate dir mal, was ich glaube«, fuhr Casey fort. »Und du kannst mich gern korrigieren, falls ich unrecht habe. In Schritt acht und neun ist davon die Rede, den Schaden zu beseitigen, den wir hinterlassen haben, als wir praktisch sieben Tage pro Woche vierundzwanzig Stunden lang besoffen waren. Ich glaube, zumindest bei einem Teil deiner Arbeit im Hospiz, dem wichtigen Teil, geht es um diese Wiedergutmachung. Aber ich glaube auch, dass es einen Fehler gibt, über den du nicht ganz hinwegkommst, weil du dich zu sehr schämst, darüber zu sprechen. Wenn das der Fall ist, wärst du nicht der Erste, darauf kannst du wetten.«
Dan dachte: Mama.
Dan dachte: Zucka.
Er sah das rote Portemonnaie und das erbärmliche Bündel Lebensmittelmarken. Außerdem sah er etwas Geld. Siebzig Dollar, genug für ein viertägiges Besäufnis. Sogar für ein fünftägiges, wenn man es sorgfältig aufteilte und feste Nahrung auf ein absolutes Mindestmaß beschränkte. Er sah das Geld zuerst in seiner Hand und dann, wie es in seiner Tasche verschwand. Er sah das Kind in dem Braves-T-Shirt und die herunterhängende Windel.
Er dachte: Der Kleine hieß Tommy.
Nicht zum ersten und nicht zum letzten Mal dachte er: Darüber werde ich nie sprechen.
»Danno? Ist da noch etwas, was du mir erzählen willst? Ich hab so den Eindruck. Ich weiß nicht, wie lange du diesen Mist schon mit dir herumschleppst, aber du kannst ihn bei mir lassen und mit einer gewaltigen Last weniger hier rausmarschieren. So funktioniert das nämlich.«
Er dachte, wie das Kind zu seiner Mutter getapst war
(Deenie sie hieß Deenie)
und wie sie, obwohl sie gerade ihren Rausch ausschlief, den Arm um den Jungen gelegt und ihn an sich gezogen hatte. Dann hatten die beiden Gesicht an Gesicht in der Morgensonne gelegen, die durch das verdreckte Fenster des Schlafzimmers drang.
»Da gibt’s nichts«, sagte er.
»Lass es los, Dan. Das sage ich dir als Freund ebenso wie als dein Sponsor.«
Dan blickte seinem Gegenüber unverwandt in die Augen und sagte nichts.
Casey seufzte. »Bei wie vielen Treffen hast du gehört, wie jemand gesagt hat, das man nur so krank wie die Geheimnisse ist, die man hat? Bei hundert? Wahrscheinlich eher bei tausend. Von den alten Sprüchen, die wir haben, ist das wohl der älteste.«
Dan schwieg weiter.
»Wir haben alle einen absoluten Tiefpunkt«, sagte Casey. »Eines Tages wirst du irgendjemand von deinem Tiefpunkt erzählen müssen. Wenn du das nicht tust, wirst du dich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden.«
»Botschaft empfangen«, sagte Dan. »Können wir uns jetzt endlich über die Red Sox unterhalten?«
Casey warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Ein andermal. Ich muss nach Hause.«
Genau, dachte Dan. Zu deinem Hund und deinen Goldfischen.
»Okay.« Er schnappte sich die Rechnung, bevor Casey dazu kam. »Ein andermal.«
4
In sein Turmzimmer zurückgekehrt, starrte Dan lange auf seine Tafel, bevor er langsam wegwischte, was dort stand:
Die bringen den Baseballjungen um!
Als die Tafel wieder leer war, fragte er: »Was für ein Baseballjunge ist das?«
Keine Antwort.
»Abra? Bist du noch da?«
Nein. Aber sie war da gewesen; wäre er zehn Minuten früher von seinem unangenehmen Kaffeeklatsch mit Casey wiedergekommen, hätte er womöglich ihre phantomhafte Gestalt gesehen. Aber war sie wirklich zu ihm gekommen? Wohl nicht. Es war zweifellos völlig verrückt, aber er hatte den Eindruck, dass sie zu Tony gekommen war. Der früher sein unsichtbarer Freund gewesen war, vor langer Zeit. Der manchmal Visionen mitgebracht hatte. Der ihn manchmal gewarnt hatte. Der sich als eine tiefere und weisere Version seiner selbst entpuppt hatte.
Für den verängstigten kleinen Jungen, der versucht hatte, im Hotel Overlook zu überleben, war Tony wie ein beschützender älterer Bruder gewesen. Die Ironie lag darin, dass Daniel Anthony Torrance sich mit seinem Sieg über den Alkohol zu einem echten Erwachsenen entwickelt hatte und Tony immer noch ein Kind war. Vielleicht sogar das berühmte innere Kind, von dem die New-Age-Gurus immer schwafelten. Dan hatte zwar den Eindruck, dass das Konzept des inneren Kindes oft missbraucht wurde, um selbstsüchtiges und zerstörerisches Verhalten zu rechtfertigen (Casey nannte das gern das Ich-muss-das-jetzt-sofort-haben-Syndrom), aber er zweifelte trotzdem nicht daran, dass erwachsene Männer und Frauen jedes Stadium ihrer Entwicklung irgendwo im Gehirn gespeichert hatten – nicht nur das innere Kind, sondern auch den inneren Säugling, den inneren Teenager und den inneren jungen Erwachsenen. Und wenn diese mysteriöse Abra ihn besuchte, lag es da nicht nahe, dass sie hinter seinem erwachsenen Denken nach jemand suchte, der ihr eigenes Alter hatte?
Nach einem Spielgefährten?
Vielleicht sogar nach einem Beschützer?
Wenn das der Fall war, so handelte es sich um eine Aufgabe, die Tony früher erfüllt hatte. Aber brauchte sie wirklich Schutz? Ihre Botschaft war zwar von Qual erfüllt gewesen
(die bringen den Baseballjungen um)
aber Shining war von Natur aus mit Qualen verbunden, wie Dan schon vor langer Zeit festgestellt hatte. Ein Kind hätte eigentlich nicht so viel wissen und sehen sollen. Klar, er konnte sie aufspüren und versuchen, mehr zu entdecken, aber was hätte er zu ihren Eltern gesagt? Guten Tag, Sie kennen mich zwar nicht, aber ich kenne Ihre Tochter, die besucht mich gelegentlich in meinem Zimmer, und wir haben uns schon ganz gut angefreundet?
Dan wusste zwar nicht, ob sie ihm den Sheriff auf den Hals geschickt hätten, aber falls ja, hätte er ihnen keinen Vorwurf gemacht, und angesichts seiner bewegten Vergangenheit hatte er kein Bedürfnis, das zu riskieren. Es war besser, wenn Tony ein Freund in der Ferne blieb, falls er das für Abra tatsächlich war. Auch wenn er unsichtbar war, passte er wenigstens mehr oder weniger zu ihrem Alter.
Die Namen und Zimmernummern, die auf seine Tafel gehörten, konnte er später wieder notieren. Jetzt nahm er den Kreidestummel von der Ablage und schrieb: Tony und ich wünschen dir einen schönen Sommertag, Abra! Dein ANDERER Freund – Dan.
Er studierte das Geschriebene kurz, dann nickte er und trat zum Fenster. Es war ein wunderschöner Spätsommertag, und er hatte heute frei. Er beschloss, einen Spaziergang zu machen, um das beunruhigende Gespräch mit Casey aus dem Kopf zu bekommen. Ja, der Morgen in Deenies Wohnung in Wilmington war wohl tatsächlich sein Tiefpunkt gewesen, aber dass er das für sich behalten hatte, hatte ihn nicht daran gehindert, zehn trockene Jahre hinter sich zu bringen. Wieso sollte es ihn dann daran hindern, weitere zehn Jahre zu schaffen? Oder zwanzig? Und wieso sollte er überhaupt in solchen Zeiträumen denken, wenn das AA-Motto doch Tag für Tag lautete?
Wilmington war lange her. Jener Teil seines Lebens war beendet.
Als er sein Zimmer verließ, schloss er wie immer ab, aber das würde die mysteriöse Abra nicht davon abhalten, zu Besuch zu kommen. Wenn er wiederkam, stand womöglich eine weitere Botschaft von ihr auf der Tafel.
Vielleicht können wir Brieffreunde werden.
Klar, und vielleicht gelang es einem Trupp Unterwäschemodels von Victoria’s Secret, das Geheimnis der Wasserstofffusion zu knacken.
Grinsend trat Dan auf die Straße.
5
In der Stadtbücherei von Anniston fand wie jeden Sommer ein Bücherflohmarkt statt, und als Abra am Nachmittag hingehen wollte, war Lucy gern bereit, den Haushalt ruhen zu lassen und mit ihrer Tochter zur Main Street zu spazieren. Auf dem Rasen hatte man Klapptische aufgebaut, auf denen stapelweise gespendete Bücher lagen, und während Lucy das Taschenbuchangebot (1 BUCH 1 $, 6 FÜR 5 $, FREIE WAHL) nach Titeln von Jodi Picoult durchstöberte, die sie noch nicht gelesen hatte, widmete Abra sich der Auswahl auf den Tischen mit dem Schild JUGENDBÜCHER. Sie war zwar vom Alter her noch eher dem Kinderbuch zuzurechnen, aber sie war eine begeisterte (und sehr frühreife) Leserin mit einer besonderen Vorliebe für Fantasy und Science-Fiction. Die Vorderseite ihres Lieblings-T-Shirts war mit einer riesigen, komplexen Maschine bedruckt, unter der sich der Schriftzug STEAMPUNK RULES befand.
Als Lucy gerade feststellte, dass sie sich wohl mit einem alten Dean Koontz und einem etwas neueren Werk von Lisa Gardner zufriedengeben musste, kam Abra angerannt. Sie strahlte übers ganze Gesicht. »Mama! Mami! Er heißt Dan!«
»Wer heißt Dan, Liebes?«
»Der Vater von Tony! Er hat mir einen schönen Sommertag gewünscht!«
Lucy sah sich um. Sie hätte sich nicht gewundert, einen unbekannten Mann in Begleitung eines Jungen in Abras Alter zu sehen. Es waren zwar viele unbekannte Leute da – schließlich war es Sommer –, aber ein solches Paar war nicht vorhanden.
Abra sah, was ihre Mutter tat, und kicherte. »Ach, der ist doch nicht hier!«
»Wo ist er dann?«
»Das weiß ich nicht genau. In der Nähe jedenfalls.«
»Tja … das ist wohl gut so, Schatz.«
Lucy hatte gerade genug Zeit, ihrer Tochter die Haare zu zausen, bevor sie wieder wegrannte, um nach Raumfahrern, Zeitreisenden und Zauberern zu suchen. Lucy stand da und blickte ihr hinterher, die ausgewählten Bücher achtlos in der Hand. Sollte sie David erzählen, was gerade passiert war, wenn er aus Boston anrief, oder nicht? Eher nicht.
Das übliche schräge Radio, mehr nicht.
So was vergaß man lieber.
6
Dan beschloss, bei Java Express vorbeizuschauen, um zwei Becher Kaffee zu kaufen, einen für sich und einen für Billy Freeman in Teenytown. Obwohl Dan nur ganz kurz bei den städtischen Diensten von Frazier beschäftigt gewesen war, hatte die Freundschaft zwischen den zweien zehn Jahre lang gehalten. Teilweise lag das daran, dass sie beide mit Casey zu tun hatten – der Billys Chef und Dans Sponsor war –, aber vor allem mochten sie sich einfach. Dan gefiel Billys nüchterne, direkte Art.
Außerdem steuerte er gern die Helen Rivington. Daran war wahrscheinlich wieder sein inneres Kind schuld, jedenfalls hätte das sicher jeder Psychiater behauptet. Normalerweise war Billy bereit, ihn ans Steuer zu lassen, und während der Sommersaison tat er das sogar ausgesprochen gern. Zwischen Anfang Juli und Anfang September fuhr die Riv zehnmal täglich zum Wolkentor und zurück, und Billy wurde auch nicht jünger.
Während Dan über den Rasen zur Cranmore Avenue ging, sah er Fred Carling auf einer schattigen Bank am Weg zwischen dem Haupthaus und dem rechten Nebengebäude des Hospizes sitzen. Der Pfleger, der vor Jahren seine Fingerabdrücke auf dem armen, alten Charlie Hayes hinterlassen hatte, war immer noch für die Nachtschicht eingeteilt, und er war immer noch so faul und übellaunig wie eh und je, aber er hatte zumindest gelernt, Doctor Sleep aus dem Weg zu gehen. Dan war das recht so.
Carling, dessen Schicht bald beginnen würde, hatte eine fettfleckige McDonald’s-Tüte auf dem Schoß und mampfte einen Big Mac. Die beiden Männer fixierten sich einen Augenblick. Keiner sagte hallo. Dan hielt Fred Carling für einen üblen Nichtsnutz, der nur seine Zeit bis zur Rente absaß, und Carling hielt Dan für ein selbstgerechtes Arschloch, das sich überall einmischte, wodurch ein Gleichgewicht hergestellt war. Solange sie sich nicht gegenseitig in die Quere kamen, war alles in bester, wenn nicht gar allerbester Ordnung.
Dan besorgte die beiden Becher Kaffee (den von Billy mit vier Tütchen Zucker, wie gewohnt), dann ging er über die Straße zum Stadtpark, der im goldenen Licht des frühen Abends dalag. Dort war viel los. Frisbeescheiben schwebten durch die Luft. Mütter und Väter schubsten ihre auf Schaukeln sitzenden Kinder an oder fingen sie auf, wenn sie von den Rutschen sausten. Auf dem Softballplatz war ein Spiel im Gang, Kinder vom YMCA von Frazier gegen eine Mannschaft aus Anniston, wie die orangefarbenen T-Shirts belegten. Am Bahnhof sah er Billy, der auf einem Hocker stand und die Chromverzierung der Riv polierte. Das sah alles so gut aus. Es sah nach zu Hause aus.
Wenn es nicht so sein sollte, dachte Dan, dann kommt es dem Zuhausesein so nahe, wie ich es je erreichen werde. Jetzt brauche ich nur noch eine Frau namens Sally, einen Sohn namens Pete und einen Hund namens Rover.
Er schlenderte die Miniaturversion der Cranmore Avenue entlang und trat in den Schatten des Bahnhofs von Teenytown. »He, Billy, ich hab dir ’nen Becher Zucker mit Kaffeegeschmack mitgebracht, genau wie du ihn magst.«
Beim Klang seiner Stimme drehte der erste Mensch, der Dan in Frazier ein freundliches Wort geschenkt hatte, sich um. »Na, das ist aber wirklich nett von dir. Ich dachte gerade, so was könnte ich jetzt mal – ach du Scheiße, das war’s dann wohl.«
Das Papptablett war Dan aus den Händen gefallen. Er spürte etwas Warmes, weil heißer Kaffee auf seine Tennisschuhe klatschte, aber das kam ihm weit weg und unwichtig vor.
Über Billy Freemans Gesicht krochen Fliegen.
7
Am folgenden Morgen weigerte Billy sich anfangs standhaft, Casey Kingsley aufzusuchen. Er wollte sich den Tag nicht freinehmen, und zum Arzt gehen wollte er erst recht nicht. Er fühle sich gut, erklärte er Dan ein ums andere Mal, blendend, pudelwohl. Selbst von der Sommergrippe, die ihn normalerweise im Juni oder Juli erwische, sei er diesmal verschont worden.
Dan hatte in der vorangegangenen Nacht jedoch die meiste Zeit schlaflos im Bett gelegen und dachte gar nicht daran, sich abwimmeln zu lassen. Wäre er davon überzeugt gewesen, dass es bereits zu spät war, so hätte er sich vielleicht anders verhalten, aber das war es wohl nicht. Er sah die Fliegen nicht zum ersten Mal und hatte gelernt, ihre Bedeutung zu interpretieren. Traten sie im Schwarm auf – in so großer Zahl, dass die Gesichtszüge des Betroffenen von einem Gewimmel aus scheußlichen Leibern verborgen wurden –, dann wusste man, dass es keine Hoffnung gab. Ein Dutzend oder so bedeutete, es konnte eventuell noch etwas unternommen werden. Waren es nur wenige, so war noch Zeit. Auf Billys Gesicht waren nur drei oder vier gewesen.
Auf den Gesichtern der todkranken Patienten im Hospiz sah Dan nie irgendwelche Fliegen.
Er erinnerte sich daran, wie er seine Mutter neun Monate vor ihrem Tod besucht hatte, an einem Tag, an dem sie ebenfalls behauptet hatte, sie fühle sich toll, blendend, pudelwohl. Was guckst du so, Danny, hatte Wendy Torrance gefragt. Hab ich irgendwo einen Fleck? Als sie sich scherzhaft die Nasenspitze abgewischt hatte, waren ihre Finger direkt durch die Scharen von Todesfliegen geglitten, die sie vom Kinn bis zum Haaransatz wie eine Maske bedeckt hatten.
8
Casey war es gewohnt, zu vermitteln. Mit der ihm eigenen Ironie erklärte er den Leuten gern, das sei der Grund für seinen gewaltigen sechsstelligen Jahresverdienst.
Zuerst hörte er Dan an. Dann lauschte er Billys Einwänden, wieso dieser angeblich auf keinen Fall seinen Posten verlassen könne – mitten in der Hauptsaison, während die Leute schon Schlange stünden, um die Riv zu ihrer ersten Fahrt um acht Uhr morgens zu besteigen. Außerdem sei vermutlich kein Arzt bereit, ihm so kurzfristig einen Termin zu geben. Schließlich hätten die Ärzte auch Feriensaison.
»Wann warst du eigentlich das letzte Mal zur Vorsorge?«, fragte Casey, als Billy endlich der Dampf ausging. Dan und Billy standen vor seinem Schreibtisch. Casey hatte seinen Bürostuhl nach hinten gekippt und den Hinterkopf an den gewohnten Ort gleich unter dem Kreuz an der Wand gelegt. Die Hände hatte er über dem Bauch verschränkt.
Billy sah schuldbewusst drein. »Ich glaube, das war 2006. Aber damals war alles in Ordnung, Case. Der Doc hat gesagt, mein Blutdruck wäre zehn Punkte niedriger als seiner.«
Caseys Blick richtete sich auf Dan. Er drückte Mutmaßung und Neugier aus, aber keine Zweifel. Gegenüber Außenstehenden verhielten AA-Mitglieder sich im Allgemeinen schweigsam, aber innerhalb der Gruppen wurde ziemlich freimütig gesprochen und manchmal auch geschwatzt. Deshalb wusste Casey, dass Dans Gabe, Todkranken beim Sterben zu helfen, nicht seine einzige Gabe war. Es ging auch das Gerücht, Dan T. habe von Zeit zu Zeit nützliche Eingebungen. Und zwar die Sorte Eingebungen, die man nicht genau erklären konnte.
»Du bist doch ganz gut mit Johnny Dalton befreundet, oder?«, fragte Casey. »Dem Kinderarzt?«
»Ja«, sagte Dan. »Ich treffe ihn meistens am Donnerstagabend oben in North Conway.«
»Hast du seine Telefonnummer?«
»Die habe ich tatsächlich.« Hinten in dem kleinen Notizbuch, das er einmal von Casey bekommen hatte und immer noch bei sich trug, stand eine ganze Liste mit AA-Kontaktnummern.
»Ruf ihn an. Sag ihm, es ist wichtig, dass dieser Bursche hier sofort von jemand untersucht wird. Du weißt nicht etwa, welche Sorte Arzt er braucht, oder? Für einen Kinderarzt ist er nämlich eindeutig zu alt.«
»Casey …«, warf Billy ein.
»Klappe«, sagte Casey und wandte sich wieder an Dan. »Ich glaube, du weißt es tatsächlich. Menschenskind! Ist es seine Lunge? So, wie er qualmt, liegt das am nächsten.«
Dan hatte den Eindruck, sich zu weit vorgewagt zu haben, als dass er jetzt noch einen Rückzieher machen konnte. Er seufzte und sagte: »Nein, ich glaube, es ist etwas in seinem Bauch.«
»Bis auf eine kleine Magenverstimmung ist mein Bauch …«
»Klappe, hab ich gesagt!« Und an Dan gewandt: »Also ein Internist. Sag Johnny D., es ist wichtig.« Er schwieg einen Augenblick. »Wird er dir glauben?«
Das war eine Frage, über die Dan sich freute. Seit er in New Hampshire war, hatte er mehreren Anonymen Alkoholikern geholfen, und er hatte zwar alle gebeten, nichts zu verraten, wusste jedoch nur zu gut, dass manche geplaudert hatten und das immer noch taten. Es war schön zu erfahren, dass John Dalton nicht dazugehörte.
»Ich glaube, das wird er.«
»Okay.« Casey deutete auf Billy. »Du hast heute Urlaub, und zwar bezahlten. Medizinische Gründe.«
»Die Riv …«
»In dieser Stadt gibt’s ein Dutzend Leute, die die Riv steuern können. Ich mache ein paar Anrufe und übernehme die ersten zwei Fahrten dann selbst.«
»Deine kaputte Hüfte …«
»Die interessiert mich nicht. Tu mir den Gefallen, und verschwinde jetzt aus meinem Büro.«
»Aber, Casey, ich fühle mich völlig …«
»Das ist mir egal, selbst wenn du dich gut genug fühlst, bis zum Lake Winnipesaukee zu joggen. Du gehst zum Arzt, und damit basta.«
Billy sah Dan vorwurfsvoll an. »Siehst du, in was du mich reingeritten hast? Ich hatte noch nicht mal meinen Morgenkaffee.«
Die Fliegen waren an diesem Morgen verschwunden – nur dass sie immer noch da waren. Dan wusste, dass er sich nur konzentrieren musste, um sie wieder zu sehen, wenn er das wollte … aber wer um Himmels willen hätte das gewollt?
»Ich weiß«, sagte Dan. »Das Leben ist ungerecht. Darf ich dein Telefon benutzen, Casey?«
»Nur zu.« Casey erhob sich. »Ich werde mal zum Bahnhof latschen und anfangen, die Fahrkarten zu lochen. Hast du ’ne Lokführermütze, die mir passt, Billy?«
»Nee.«
»Meine passt dir schon«, sagte Dan.
9
Für eine Organisation, die für ihre Aktivitäten keine Werbung machte, keine Waren verkaufte und sich mit zerknüllten Dollarscheinen finanzierte, die in herumgereichte Körbe oder Baseballmützen geworfen wurden, übten die Anonymen Alkoholiker im Stillen einen mächtigen Einfluss aus, der weit über die gemieteten Säle und Kirchenkeller hinausreichte, wo die Treffen stattfanden. Es war eine regelrechte Seilschaft, fand Dan, allerdings keine von alten Jungs, sondern eine von alten Säufern.
Nachdem er John Dalton angerufen hatte, setzte der sich mit einem Internisten namens Greg Fellerton in Verbindung. Fellerton war zwar nicht im Programm, schuldete Johnny D. jedoch einen Gefallen. Weshalb, wusste Dan nicht, und es war ihm auch egal. Hauptsache, Billy Freeman kam noch am selben Tag auf die Untersuchungsliege in Fellertons Praxis in Lewiston. Diese Praxis war neunzig Meilen von Frazier entfernt, und auf der ganzen Fahrt meckerte Billy vor sich hin.
»Bist du dir sicher, dass dich nur deine Verdauung plagt?«, fragte Dan, als sie auf Fellertons kleinen Parkplatz an der Pine Street einbogen.
»Klar«, sagte Billy. Dann fügte er widerstrebend hinzu: »In letzter Zeit ist es etwas schlimmer geworden, aber nachts schlafe ich immer noch prima.«
Lügner, dachte Dan, verzichtete jedoch auf einen Kommentar. Immerhin hatte er den alten Querkopf hierhergeschleust, und das war der schwierigste Teil gewesen.
Dan saß im Wartezimmer und blätterte in einer Ausgabe von OK!, auf deren Cover Prinz William und seine spindeldürre Braut abgebildet waren, als er vom Flur her einen kräftigen Schmerzensschrei hörte. Zehn Minuten später kam Fellerton heraus und setzte sich neben Dan. Er warf einen Blick auf das Cover von OK! und sagte: »Auch wenn der Bursche der britische Thronerbe ist, mit vierzig ist der so kahl wie eine Billardkugel.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht.«
»Natürlich hab ich recht. Das Einzige, was bei uns Menschen wirklich zählt, ist die Genetik. Ich überweise Ihren Freund ans Central Maine General zu einer Tomografie. Allerdings bin ich mir schon ziemlich sicher, was dabei herauskommen wird. Wenn es stimmt, melde ich Mr. Freeman gleich für morgen früh bei einem Gefäßchirurgen zu einer kleinen Operation an.«
»Was hat er denn?«
Billy kam den Flur entlang, damit beschäftigt, seinen Gürtel zuzuschnallen. Sein gebräuntes Gesicht war fahl und mit Schweiß bedeckt. »Er sagt, meine Aorta hat eine Blase. Wie eine Blase an einem Autoreifen. Bloß dass ein Autoreifen nicht brüllt, wenn man draufdrückt.«
»Ein Aneurysma in der Bauchaorta«, sagte Fellerton. »Gut, es besteht eine gewisse Chance, dass es sich um einen Tumor handelt, aber das glaube ich nicht. Jedenfalls drängt die Zeit. Das verdammte Ding ist so groß wie ein Pingpongball. Gut, dass Sie ihn zur Untersuchung hergebracht haben. Wenn so was platzt, ohne dass ein Krankenhaus in der Nähe ist …« Fellerton schüttelte den Kopf.
10
Die Computertomografie bestätigte Fellertons Diagnose, dass es sich um ein Aneurysma handelte, und um sechs Uhr abends lag Billy in einem Krankenhausbett, in dem er stark geschwächt aussah. Dan setzte sich neben ihn.
»Für eine Zigarette würde ich jetzt einen Mord begehen«, sagte Billy wehmütig.
»Dabei kann ich dir leider nicht helfen.«
Billy seufzte. »Ist sowieso höchste Zeit, dass ich damit aufhöre. Vermisst man dich im Hospiz eigentlich nicht?«
»Hab meinen freien Tag.«
»Na, das ist ja ’ne tolle Art und Weise, den zu verbringen. Hör mal, wenn die mich morgen früh nicht mit ihren Messern und Gabeln umgebracht haben, verdanke ich dir wohl mein Leben. Ich hab zwar keine Ahnung, wie du da draufgekommen bist, aber wenn es mal was gibt, was ich für dich tun kann – ganz egal was –, dann musst du’s mir bloß sagen.«
Dan dachte daran, wie er vor zehn Jahren die Treppe eines Fernbusses hinabgestiegen und in ein Schneegestöber, fein wie zarte Spitze, getreten war. Er dachte an seine Freude, als er die leuchtend rote Lokomotive gesehen hatte, von der die Helen Rivington gezogen wurde. Und daran, dass dieser Mann da ihn gefragt hatte, ob ihm der Zug gefalle, statt ihm zu sagen, er solle sich gefälligst verpissen, weil er hier nichts zu suchen habe. Nur ein wenig Freundlichkeit, aber die hatte ihm das Tor zu allem geöffnet, was er jetzt hatte.
»Billy, mein Junge, ich bin derjenige, der dir was schuldet, und zwar mehr, als ich dir je vergelten könnte.«
11
In den Jahren, die er nun schon trocken war, war ihm etwas Merkwürdiges aufgefallen. Wenn es in seinem Leben nicht so gut lief – da fiel ihm ein Morgen des Jahres 2008 ein, wo er entdeckt hatte, dass das Rückfenster seines Wagens mit einem Stein zerschmettert worden war –, dachte er kaum an Alkohol. Lief es hingegen gut, neigte der alte Durst dazu, sich wieder in Erinnerung zu rufen. Als er sich an diesem Abend von Billy verabschiedet hatte und von Lewiston nach Hause fuhr, war alles in bester Ordnung, und schon sah er am Straßenrand eine Kneipe namens Cowboy Boot und verspürte einen schier unüberwindlichen Drang einzukehren. Einen Krug Bier zu bestellen und sich genügend Quarter zu besorgen, um mindestens eine Stunde lang die Jukebox zu füttern. Dazusitzen und Jennings und Jackson und Haggard zu lauschen, ohne sich mit irgendjemand zu unterhalten, ohne irgendwelchen Mist zu bauen, sich einfach nur zu besaufen. Spüren, wie das Gewicht der Nüchternheit – manchmal war es, als würde er Schuhe aus Blei tragen – von ihm abfiel. Wenn er nur noch fünf Quarter-Münzen hatte, würde er jeweils sechsmal hintereinander »Whiskey Bent and Hellbound« laufen lassen.
Er fuhr an der Kneipe vorbei, bog auf den riesigen Parkplatz von Walmart gleich dahinter ein und klappte sein Handy auf. Er ließ den Finger über Caseys Nummer schweben, dann erinnerte er sich an das schwierige Gespräch im Café. Womöglich wäre Casey darauf zurückgekommen, vor allem auf die Frage, was Dan womöglich verschweige. Das wäre ein echter Rohrkrepierer.
Dan kam sich vor wie bei einer außerkörperlichen Erfahrung, während er zur Kneipe zurückfuhr und sich ganz hinten auf den ungeteerten Parkplatz stellte. Er fühlte sich gut dabei. Außerdem fühlte er sich wie jemand, der gerade eine geladene Pistole in die Hand genommen hatte und sich an die Schläfe hielt. Sein Fenster war offen, und er hörte, wie eine Live-Band einen alten Song der Derailers spielte: »Lover’s Lie«. Die Typen hörten sich gar nicht schlecht an, und mit ein paar Gläsern Bier intus würden sie sich toll anhören. Bestimmt saßen da drin ein paar Frauen, die tanzen wollten. Frauen mit lockigen Haaren und allerhand Schmuck, mit Röcken und Cowboyblusen. Die waren immer da. Er fragte sich, welche Sorte Whiskey man da wohl einschenkte, und Mann, Mann, Mann, o Mann, er war so durstig. Er öffnete die Wagentür, stellte einen Fuß auf den Boden, blieb jedoch mit gesenktem Kopf sitzen.
Zehn Jahre. Zehn gute Jahre, und die konnte er in den nächsten zehn Minuten wegschmeißen. Es wäre leicht genug, das zu tun. Wie Honig für eine Biene.
Wir haben alle einen absoluten Tiefpunkt. Eines Tages wirst du irgendjemand von deinem Tiefpunkt erzählen müssen. Wenn du das nicht tust, wirst du dich irgendwann mit einem Glas Schnaps in der Hand in einer Kneipe wiederfinden.
Und daran kann ich dir die Schuld geben, Casey, dachte er kühl. Ich kann sagen, das hast du mir beim Kaffeetrinken in den Kopf gesetzt.
Über der Tür war ein rot blinkender Pfeil angebracht, dazu der Schriftzug: BIS 21 UHR $ 2 PRO KRUG MILLER LITE LOS KOMM REIN.
Dan zog die Wagentür zu, klappte sein Handy wieder auf und rief John Dalton an.
»Na, wie geht es deinem Kumpel?«, fragte John.
»Der liegt gut versorgt im Krankenhaus und wird morgen früh um sieben operiert. John, ich hab Lust, mir einen hinter die Binde zu kippen.«
»O neiiin!«, rief John mit hoher Fistelstimme. »Doch nicht etwa Alkohoool?!«
Und mir nichts, dir nichts war das Bedürfnis verschwunden. Dan lachte. »Okay, das hab ich jetzt gebraucht. Aber wenn du je wieder Michael Jackson spielst, trinke ich tatsächlich was.«
»Du solltest mich mal hören, wenn ich ›Billie Jean‹ zum Besten gebe. Ich bin ein wahres Karaoke-Monster. Darf ich dich was fragen?«
»Klar.« Durch die Windschutzscheibe sah Dan, wie die Gäste des Cowboy Boot kamen und gingen. Vermutlich unterhielten sie sich nicht gerade über Michelangelo.
»Diese Gabe, die du da hast, hat das Saufen sie … wie soll ich sagen … zum Schweigen gebracht?«
»Es hat sie gedämpft. Hat ihr ein Kissen aufs Gesicht gepresst, sodass sie nach Luft ringen musste.«
»Und jetzt?«
»Wie Superman nutze ich meine Kräfte, um Wahrheit, Gerechtigkeit und dem American Way of Life Geltung zu verschaffen.«
»Das heißt, du willst nicht drüber sprechen.«
»Nein«, sagte Dan. »Das will ich nicht. Aber es ist besser geworden. Besser, als ich es mir je hätte vorstellen können. Als Jugendlicher …« Er verstummte. Als Jugendlicher hatte er jeden Tag dagegen angekämpft, verrückt zu werden. Die Stimmen in seinem Kopf waren schlimm gewesen, die Bilder häufig noch schlimmer. Er hatte sowohl seiner Mutter wie sich selbst versprochen, dass er nie wie sein Vater trinken werde, aber als er in seinem ersten Highschool-Jahr damit angefangen hatte, war es eine so gewaltige Erleichterung gewesen, dass er sich – zuerst – gewünscht hatte, früher damit angefangen zu haben. Der Kater am Morgen war wesentlich besser als Albträume die ganze Nacht. Was alles irgendwie zu einer ganz bestimmten Frage führte: Wie sehr war er der Sohn seines Vaters? In wie vieler Hinsicht?
»Als Jugendlicher, was war da mit dir?«, fragte John.
»Nichts. Ist nicht so wichtig. Hör mal, ich sollte hier verschwinden. Ich stehe nämlich auf dem Parkplatz einer Kneipe.«
»Tatsächlich?« John klang interessiert. »Welche ist es denn?«
»Der Schuppen nennt sich Cowboy Boot. Bis neun kostet der Krug Bier bloß zwei Dollar.«
»Dan.«
»Ja, John.«
»Ich kenne den Laden von früher. Wenn du dein Leben schon ins Klo spülen willst, fang bitte nicht dort damit an. Die Frauen sind mit Speed zugedröhnte Schlampen, und auf der Männertoilette riecht es nach muffigen Tangas. Dieser Laden ist genau das Richtige, wenn man am absolutenTiefpunkt angekommen ist.«
Da war er wieder, dieser Ausdruck.
»Wir haben alle einen Tiefpunkt«, sagte Dan. »Stimmt doch, oder?«
»Scher dich da weg, Dan.« Jetzt klang John todernst. »Sofort. Keine Spielchen mehr. Und bleib am Telefon, bis dieser große Cowboystiefel aus Neon auf dem Dach aus deinem Rückspiegel verschwunden ist.«
Dan ließ den Motor an und lenkte den Wagen aus dem Parkplatz auf die Landstraße.
»Er wird jetzt kleiner«, sagte er. »Immer kleiner … unnnd … jetzt ist er ganz weg.« Er verspürte eine unsägliche Erleichterung. Außerdem verspürte er eine Art bitteres Bedauern – wie viele Krüge Bier für zwei Dollar hätte er wohl bis neun Uhr schaffen können?
»Du wirst dir doch nicht etwa einen Sechserpack oder eine Flasche Wein besorgen, bevor du nach Frazier zurückkommst, oder?«
»Nein. Ich bin brav.«
»Dann sehen wir uns am Donnerstagabend. Komm ein bisschen früher, den Kaffee koche ich. Folgers Coffee, aus meinem Spezialvorrat.«
»Ich komme«, sagte Dan.
12
Als er in sein Turmzimmer kam und das Licht anknipste, stand auf der Tafel eine neue Nachricht.
Ich hatte einen wunderschönen Tag!
Deine Freundin
ABRA
»Das ist fein, Kleines«, sagte Dan. »Ich freue mich.«
Ein Summen. Die Sprechanlage. Er ging hinüber und drückte auf die Taste.
»Hallo, Doctor Sleep«, sagte Loretta Ames. »Hab ich doch richtig gesehen, dass du reingekommen bist. Offiziell hast du heute zwar wohl frei, aber willst du vielleicht trotzdem einen Hausbesuch machen?«
»Bei wem? Bei Mr. Cameron oder bei Mr. Murray?«
»Cameron. Azzie sitzt schon seit kurz nach dem Abendessen bei ihm.«
Ben Cameron war in Gebäude eins untergebracht. Im Obergeschoss. Ein dreiundachtzigjähriger früherer Buchhalter mit Herzinsuffizienz. Ein unheimlich netter Kerl. Spielte gut Scrabble und war eine absolute Plage beim Mensch ärgere dich nicht, wo er Barrieren errichtete, die seine Gegner zum Wahnsinn trieben.
»Ich gehe gleich rüber«, sagte Dan. Auf dem Weg hinaus blieb er kurz stehen, um über die Schulter einen Blick auf die Tafel zu werfen. »Gute Nacht, Liebes«, sagte er.
Von da an hörte er zwei Jahre kein Wort von Abra Stone.
Während derselben zwei Jahre schlummerte etwas im Blutkreislauf des Wahren Knotens. Ein kleines Abschiedsgeschenk von Bradley Trevor, dem Baseballjungen.