6

Der Reiter lag halb im Sand begraben, und die Düne wies eindeutige Laserspuren auf. Es waren nicht die Spuren einer Moron- Waffe, wie Kyle sofort erkannt hatte. Die Energieabgabe dieser Waffe mußte doppelt so hoch gewesen sein wie die der kleinen Handfeuerwaffen, mit denen die Dienerkreaturen ausgestattet waren. Und wer immer sie benutzt hatte, verstand sein Handwerk: nur ein Schuß war fehlgegangen. Die beiden anderen hatten präzise ihr Ziel getroffen und auf der Stelle vernichtet.

Kyles Blick glitt noch einmal über die drei flachen Sandhügel, unter denen jemand die Kadaver der drei Reiter zu verbergen versucht hatte - nicht besonders geschickt allerdings. Selbst ohne seine überscharfen Sinne hätte er die drei Leichname wahrscheinlich entdeckt: Über der Wüste kreiste eine Anzahl dunkler, gefiederter Umrisse, aasfressende Geschöpfe der heimischen Ökologie, die die Kadaver gewittert und schon wieder halb aus dem Sand ausgegraben hatten. Und der Gestank der verwesenden Riesengeschöpfe war schon in einer Meile Entfernung deutlich zu spüren gewesen. Wer immer Charity Laird geholfen hatte, hatte sich nicht besonders viel Mühe gegeben, die Spuren dieser Hilfe zu verwischen. Das konnte zweierlei bedeuten: entweder, er war von einem bodenlosen Leichtsinn erfüllt, oder er fühlte sich absolut sicher. Kyle beschloß, sich zumindest fürs erste so zu verhalten, als träfe die zweite Annahme zu. Er hatte noch nie einen Gegner unterschätzt.

Langsam ging er zu seiner Maschine zurück und stieg in den Sattel. Aber er fuhr noch nicht los. Für einen Moment war er unschlüssig, was er tun sollte. Bisher hatte er angenommen, Charity Lairds Ziel sei die Stadt im Norden - eine kleine Ansiedlung der Planetengeborenen namens Denvercolorado -, aber jetzt war er nicht mehr sicher. Er an Captain Lairds Stelle hätte es sich zweimal überlegt, den eingeschlagenen Kurs weiterzuverfolgen, wäre er auf eine Patrouille gestoßen. Daß sie die drei Reiter getötet hatte, bedeutete nichts, denn zum einen bestand die Möglichkeit, daß diese vor ihrem Tod noch einen Hilferuf abgesetzt hatten, zum anderen würde ihr Wegbleiben auffallen, und Laird mußte die Regel der Hundert kennen.

Sein Blick streifte den zerklüfteten Schatten im Westen. Ein Shaitaan. Einen Moment lang erwog er die Möglichkeit, daß Laird sich dorthin gewandt hatte, verwarf diesen Gedanken aber fast sofort wieder. Nicht einmal er rechnete sich gute Chancen aus, in ein Shaitaan einzudringen.

Kyle streckte die Hand nach dem Startknopf des Motorrades aus - und zog sie wieder zurück.

Er war nicht mehr allein.

Der Rhythmus der Raubvögel am Himmel hatte sich verändert, als sie ein neues Objekt unter sich gewahrten. Kyle wußte nicht, wie viele es waren, aber er wußte, daß er beobachtet wurde.

Nach weniger als einer Sekunde streckte er erneut die Hand aus und startete die Maschine diesmal wirklich. Er fuhr schnell los, aber nicht zu schnell, und er fuhr nicht genau in die Richtung, in der er die Beobachter vermutete. Innerlich machte er sich kampfbereit: sein Körper produzierte eine adrenalinähnliche Substanz, die seine Reflexe gut zehnmal so schnell wie die eines normalen Menschen werden ließen, und seine Haut veränderte sich. Sie sah genau so aus wie zuvor, aber sie war jetzt zäh und widerstandsfähig wie gegerbtes Leder und würde selbst einem kleinkalibrigen Explosivgeschoß standhalten, solange es nicht aus unmittelbarer Entfernung abgefeuert wurde.

Kyle lenkte die Harley die Düne hinauf. Ein Geräusch drang an sein Ohr: das Rascheln von Sand, der sich unter einem oder mehreren schweren Körpern löste. Aber er reagierte nicht darauf, um sich nicht zu verraten, ebensowenig wie auf den Schatten, der für den Bruchteil einer Sekunde durch sein Gesichtsfeld huschte. Er roch heißes Metall und menschlichen Schweiß, und lange, ehe er den Kamm der Düne erreichte, wußte er, daß es mindestens drei, wahrscheinlich aber mehr Männer waren, die auf der anderen Seite des Sandhügels auf ihn warteten.

Wäre Kyle ein normaler Mensch gewesen, dann hätte ihn der Angriff vollkommen überrascht. Eine Gestalt in einem grünbraunen, fleckigen Tarnanzug sprang ihn an, als er die Harley über den Dünenkamm lenkte, und die Bewegung kam selbst für Kyle schnell.

Instinktiv duckte er sich und riß den linken Arm in die Höhe. Der Mann prallte gegen ihn, versuchte sich festzuklammern und wurde zurückgeschleudert, als Kyles Handrücken seine Schläfe traf. Hilflos stürzte er in den Sand zurück.

Aber der Anprall hatte auch Kyle aus dem Gleichgewicht gebracht. Die Harley schlingerte, Sandfontänen stoben unter den Rädern hoch, und der Motor brüllte auf, als Kyle hastig in einen kleineren Gang schaltete und Gas gab, um die bockende Maschine abzufangen.

Es wäre ihm leichtgefallen, sie mit bloßer Körperkraft wieder unter seine Kontrolle zu bringen, aber damit hätte er sich vollends verraten. Kyle bedauerte schon, den ersten Angreifer überhaupt abgewehrt zu haben, aber der Mann war so plötzlich aufgetaucht, daß er selbst ihn überrascht hatte. Statt die Harley herumzureißen und einfach davonzurasen, ließ er es zu, daß das Motorrad vollends aus dem Gleichgewicht geriet und zur Seite kippte. Im letzten Moment erst ließ er sich aus dem Sattel fallen und riß die Arme vor das Gesicht. Das Motorrad rutschte noch ein Stück den Hang hinab, und Kyle selbst prallte auf ein Stück Fels, das aus dem Sand ragte.

Sekunden vergingen, in denen Kyle vollkommen reglos liegenblieb. Er hörte Schreie, und durch den wirbelnden Sand konnte er drei, vier dunkle Gestalten ausmachen, die sich ihm näherten. Kyle spannte sich innerlich.

Als er sich mit perfekt geschauspielerten, mühsamen Bewegungen in die Höhe zu stemmen begann, hatten ihn die Männer erreicht. Eine Hand packte ihn grob an der Schulter und zerrte ihn hoch, eine zweite ergriff seinen linken Arm und drehte ihn mit einem Ruck auf den Rücken. Kyle krümmte sich. Ein Schmerzlaut kam über seine Lippen und brach wieder ab, als sich ein Gewehrlauf in seine Rippen bohrte.

»Okay, Freundchen«, sagte einer der Männer. »Keine Bewegung, oder es war deine letzte.«

Kyle erstarrte. Sein Gesicht verzerrte sich in gespieltem Schmerz, während er rasch, aber sehr aufmerksam die drei Männer musterte, die ihn gepackt hatten. Zwei von ihnen waren ungefähr in seinem Alter, aber selbst für Bewohner dieses Planeten in erstaunlich schlechter Verfassung. Kyle erkannte die Spuren von mindestens einem halben Dutzend verschiedener Krankheiten und Mangelerscheinungen auf ihren Gesichtern und ihrer Haut. Und sie waren sehr nervös.

Der dritte war etwas älter, dunkelhaarig, bärtig und sehr muskulös. Natürlich kein Gegner für einen Mann wie Kyle, aber eindeutig der Gefährlichste der drei, und das lag nicht nur an seiner besseren körperlichen Verfassung. In seinen Augen stand eine wache, mißtrauische Intelligenz geschrieben.

Außer diesen dreien gab es noch zwei weitere Männer - der, der ihn angesprungen hatte, und einen weiteren Mann in Tarnkleidung, der sich um die reglose Gestalt kümmerte.

»Wer bist du?« fragte der Bärtige. »Und was suchst du hier?«

Kyle spuckte einen Mund voll Blut und Sand aus, ehe er antwortete. Er mußte vorsichtig sein. Immerhin hatte er gerade einen schweren Sturz hinter sich. »Welche Frage soll ich zuerst beantworten?« fragte er mühsam.

Der Bärtige ohrfeigte ihn.

Der Schlag war nicht sehr heftig, aber Kyle stöhnte trotzdem wie unter Schmerzen und bog den Kopf zurück, um einem weiteren Hieb auszuweichen.

»Kyle«, sagte er. »Mein Name ist Kyle. Ich bin ... auf dem Weg nach Denver.«

»Und was willst du dort?« fragte der Bärtige mißtrauisch.

»Ich suche jemanden«, antwortete Kyle. Trotzig fügte er hinzu: »Was zum Teufel geht dich das an? Wer seid ihr überhaupt?«

Natürlich bekam er keine Antwort. Statt dessen drehte sich der Bärtige herum und wandte sich mit erhobener Stimme an den Mann auf der Hügelkuppe: »Was ist los? Wie geht es Pete?«

Die Gestalt im Tarnanzug hob den Kopf, und Kyle konnte einen Ausdruck ungläubigen Schreckens auf seinem Gesicht erkennen.

»Er ist tot«, antwortete er.

Kyle fluchte in Gedanken lautlos in sich hinein. Er hatte gespürt, daß er hart zugeschlagen hatte, und zudem hatte ihn der Mann aus einem sehr unglücklichen Winkel angesprungen. Seine eigene Bewegung hatte die Wucht seines Schlages noch verstärkt. Aber ein solcher Fehler durfte einfach nicht passieren!

»Tot?« vergewisserte sich der Bärtige.

»Sein Genick ist gebrochen. Er muß unglücklich gestürzt sein.«

»Das wollte ich nicht«, sagte Kyle hastig. »Wirklich, ich ... war selbst erschrocken, und ...«

Ein Faustschlag trieb ihm die Luft aus den Lungen. Kyle keuchte, fiel auf die Knie herab und krümmte sich vor Schmerz, als ihn ein zweiter, noch härterer Hieb traf.

»Das reicht!« sagte der Bärtige scharf. »Laßt ihn in Ruhe.«

»Das Schwein hat Pete umgebracht!«

»Möglich. Aber vielleicht war es wirklich nur ein Unfall.« Der Bärtige ging vor Kyle in die Hocke und benutzte den Lauf seines Gewehres, um Kyles Kinn anzuheben. »Das war es doch, oder?« fragte er lauernd.

Kyle nickte mühsam. »Ich ... wußte nicht einmal, daß ihr hier seid«, sagte er stockend. »Es tut mir wirklich leid. Ich ... wollte das nicht.«

»Schon gut. Ich glaube dir ja. Steh auf«, antwortete der Bärtige - in einem Ton, der Kyle klarmachte, daß dies vielleicht die Wahrheit war, aber rein gar nichts an seinem Schicksal ändern würde, sollte der Bärtige zu dem Schluß kommen, daß Kyle nicht auf seiner Seite stand.

»Also«, fragte er, nachdem sich Kyle erhoben hatte. »Du suchst jemanden. Wen?«

Kyle ließ seinen Blick lange und nachdenklich über die Tarnanzüge und Waffen der vier Männer gleiten, ehe er antwortete: »Vielleicht euch.«

»Uns?« Die Augen des Bärtigen wurden schmal. »Und wer sollen wir sein?«

»Ihr seid doch die Rebellen, zu denen Laird wollte, oder?« entgegnete Kyle.

»Rebellen?«

»Verdammt, ich habe keine Zeit für euren Blödsinn!« fuhr Kyle auf. »Ich muß Captain Laird warnen. Wenn sie bei euch ist, dann bringt mich hin - und wenn nicht, laßt mich gefälligst weiterfahren.«

»Von was für Rebellen sprichst du?« fragte der Bärtige. »Und wer soll das sein, Captain Laird?«

»Leg ihn um, Arson«, sagte einer der Männer, die Kyle hielten. »Ich traue ihm nicht.«

»Ist Charity Laird bei euch oder nicht?« fragte Kyle noch einmal. »Bitte - sie ist in Gefahr. Und ihr auch, wenn sie wirklich bei euch ist.«

»In Gefahr?« sagte Arson. »In welcher Gefahr?«

Kyle seufzte und tat so, als resigniere er. »Daniel hat einen Killer auf sie angesetzt«, sagte er. »So eine Art Superman. Ich bin ihm eine Weile gefolgt, bis ich seine Spur verloren habe. Aber er kann nicht mehr sehr weit sein. Seine Spur verlor sich im Dorf.«

»In welchem Dorf?« fragte Arson.

»Keine Ahnung, wie es hieß«, antwortete Kyle. »Die Leute, die dort gewohnt haben, konnten es mir nicht mehr sagen. Er hat sie alle umgebracht.«

Arson wurde bleich, und Kyle gab ihm eine genau abgemessene Zeitspanne, den Schrecken auch richtig zur Wirkung kommen zu lassen, ehe er hinzufügte: »Was ist jetzt? Wißt ihr, wo Captain Laird ist, oder nicht?«

»Ich traue ihm nicht«, sagte der Mann, der sich um seinen toten Kameraden bemüht hatte. »Wir sollten ihn umlegen.«

»Ich auch nicht«, sagte Arson nachdenklich. »Aber wenn er die Wahrheit sagt ...« Er zögerte, blickte einen Moment lang an Kyle vorbei ins Leere und kam schließlich zu dem Entschluß.

»Wir nehmen ihn mit«, sagte er. »Begrabt Pete - und grabt auch seine Maschine ein.« Er deutete mit einer Kopfbewegung auf Kyles Motorrad. »Das Ding ist auf eine Meile zu sehen wie ein Signalfeuer.«

»He!« protestierte Kyle. »Das ist ...«

»Keine Angst«, unterbrach ihn Arson kalt. »Wenn du die Wahrheit sagst, kommen wir zurück und holen sie. Ich helfe dir sogar selbst, sie sauberzumachen. Und wenn du gelogen hast«, fügte er mit einem fast freundlichen Lächeln hinzu, »verspreche ich dir, daß wir dich direkt neben ihr begraben.«


»Ihr hättet es mir sagen müssen«, sagte Charity.

»Wozu?« Skudder sah noch immer nicht in ihre Richtung, während er antwortete. »Was hätte es geändert?«

»Alles«, antwortete Charity heftig. »Ich ...«

»Unsinn«, unterbrach ihn Gurk. »Du wärst nur noch zorniger geworden. Und es hätte überhaupt nichts an deinen Plänen geändert. Und außerdem«, fügte er mit einer Kopfbewegung auf Skudder hinzu, »wollte er dir nicht weh tun.«

»Nicht weh tun?« Charity schrie fast. »Du erzählst mir, daß diese Monster uns nicht nur unsere Welt gestohlen haben und unsere Zivilisation in die Steinzeit zurückgebombt hatten, daß dieser Planet von Ungeheuern beherrscht wird und es bei Todesstrafe verboten ist, auch nur eine Uhr zu besitzen, und willst mir nicht weh tun? Du...« Sie brach mitten im Satz ab, als ihr klar wurde, daß sie Unsinn redete.

Natürlich hatte Gurk recht - Skudder war längst mehr nur als ein mehr oder weniger freiwillig Verbündeter für sie geworden. Trotz ihrer ständigen Streitereien verspürte Charity eine tiefe Zuneigung zu dem hochgewachsenen Hopi-Indianer, und sie ahnte, daß auch er etwas für sie empfand. Wenn Skudder ihr überhaupt irgend etwas absichtlich verschwieg, dann sicherlich nicht aus Heimtücke, sondern wirklich, um sie zu schützen. Aber das änderte nichts daran, daß es weh tat. Und sie fast wahnsinnig vor Zorn machte. Euthanasie ... Nach allem, was sie bisher erlebt hatte, hätte sie dieser weitere Schrecken nicht einmal mehr überraschen dürfen. Fast gewaltsam mußte sie ihre Gedanken zwingen, sich wieder wichtigeren Dingen zuzuwenden.

Mit einem Ruck drehte sie sich herum und wandte sich an Angellica. »Du wirst uns erzählen, wie wir in dieses Shaitaan hineinkommen«, sagte sie.

»Werde ich das?« antwortete Angellica. Sie lächelte flüchtig. »Eigentlich glaube ich das nicht. Ich ...«

»Ich kann dich auch eine Viertelstunde mit Kent oder Skudder allein lassen«, unterbrach sie Charity kalt. »Vielleicht ändert das deine Meinung ein wenig?«

Tatsächlich wirkte Angellicas Lächeln plötzlich nicht mehr völlig überzeugend. Ihr Blick flackerte.

»Das tust du nicht«, behauptete sie. »Und wenn - woher wollt ihr wissen, daß ich euch nicht in eine Falle laufen lasse?«

»Das ist das kleinste Problem«, sagte Charity. Sie deutete auf Gurk. »Er wird bei dir bleiben. Sollten wir nicht zurückkommen - oder sollte gar an unserer Stelle einer deiner Insektenfreunde hier auftauchen -, dann wird es Gurk ein Vergnügen sein, dich umzubringen.«

Die Drohung machte keinen besonderen Eindruck auf Angellica. »Ich bin Shai-Priesterin«, antwortete sie hochmütig. »Mein Leib und meine Seele sind den Göttern des Kosmos geweiht. Glaubst du, ich hätte Angst vor dem Tod, du Närrin?« Sie maß Charity mit einem langen, verächtlichen Blick, musterte dann rasch und sehr viel kälter ihre Schwester und seufzte gekünstelt.

»Aber ich mache euch einen anderen Vorschlag«, fuhr sie fort. »Ihr verschwindet jetzt, alle und auf der Stelle. Ich werde eine Stunde warten, bis ich Alarm schlage. Ich dürfte es nicht, aber ich tue es trotzdem.«

»Wie großzügig«, spöttelte Charity. »Womit haben wir diese Gnade nur verdient?«

»Ich riskiere mein Leben, wenn ich euch nicht sofort melde«, erwiderte Angellica ernst. »Aber ich tue es, weil Lydia meine Schwester ist. Ich weiß, daß sie mich haßt, aber das ändert nichts daran.«

»Jetzt reicht es mir aber«, sagte Kent. »Warum laßt ihr mich nicht einfach zwei Minuten mit dieser Priesterin allein? Danach wissen wir, wie wir in das Shaitaan kommen.«

»Sei still, Kent«, sagte Charity. Sie überlegte angestrengt. Angellicas Überheblichkeit war kein bißchen geschauspielert. Sie tat nicht nur so, als fühle sie sich absolut sicher - sie hatte wirklich keine Angst. Und Charity begriff auch, daß sie mit Drohungen rein gar nichts bei dieser Frau erreichen würden. Angellica war eine Fanatikerin. Sie glaubte an das, was sie sagte - und wie sollte man jemanden einschüchtern, der der Überzeugung war, nach dem Tod in eine bessere Welt zu kommen?

Nur, um ein wenig Zeit zu gewinnen, trat sie ans Fenster und blickte auf die Straße hinaus. Die Stadt war noch immer so ruhig wie vorher, aber jetzt, als Charity wußte, welchen Grund diese Ruhe hatte, hatte der Anblick nichts Friedliches mehr für sie. Im Gegenteil. Die Stille dort unten war die Stille des Todes.

Sie drehte sich wieder herum, lehnte sich gegen die Wand neben dem Fenster und verschränkte die Arme vor der Brust, während sie Angellica ansah. »Früher nannte man diese Situation ein Patt«, sagte sie.

»So heißt das heute auch noch«, antwortete Angellica gelassen. »Aber du täuschst dich - im Moment seid ihr vielleicht im Vorteil, aber das ändert nichts daran, daß ihr verlieren werdet.« Sie schüttelte beinahe traurig den Kopf, sah Charity eine Sekunde lang durchdringend an und begann unruhig im Zimmer auf und ab zu gehen. Ihre Hände vollführten kleine, unbewußte Bewegungen.

»Ich weiß nicht, wer du bist«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, daß du zu diesem Haufen von Kindsköpfen gehörst, der sich Rebellen nennt.« Sie maß Kent mit einem verächtlichen Blick. »Du solltest aufgeben.«

»So?« sagte Charity.

Angellica nickte heftig. »Du hast keine Chance. Niemand kann sich gegen Moron wehren.«

»Vielleicht hat es noch niemand versucht?« fragte Charity.

»Moron ist nicht einfach nur eine Welt«, antwortete Angellica ernsthaft. »Es sind Hunderte von Welten - vielleicht Tausende. Selbst, wenn ihr siegen solltet, würden sie wiederkommen. Was Lydia getan hat, ist dasselbe, was ihr tut: Töte einen Reiter, und sie töten hundert von uns. Befreie einen Planeten, und sie kommen zurück und zerstören ihn.« Sie sah Charity durchdringend an und schritt weiter durchs Zimmer. Ihre Hände hoben sich in einer fast beschwörenden Geste. »Glaubst du denn, ihr wärt die ersten, die versucht haben, Morons Herrschaft zu brechen?« sagte sie. »Es ist schon getan worden, auf Dutzenden von Welten. Keine von ihnen existiert heute noch. Moron zerstört, was es nicht in Besitz nehmen kann.«

»Du weißt eine Menge für eine kleine Priesterin«, sagte Charity.

Angellica lächelte nachsichtig. »Ich habe die Weihen erhalten«, sagte sie. »Ich war auf einigen dieser Welten, von denen ich erzählte. Ihr haltet Moron für grausam, aber das ist nicht wahr. Dieser Planet wäre zugrunde gegangen, wie viele vor ihm, wären die Herren nicht gekommen.«

»Ich verstehe«, erwiderte Charity spöttisch. »Sie wollten uns nur beschützen, nicht? Deshalb haben sie auch neunzig Prozent der Erde samt ihrer Bevölkerung in radioaktiven Staub verwandelt. Wie überaus großzügig von deinen Freunden.«

»Es tut weh, den Krebs herauszuschneiden«, antwortete Angellica kalt. »Aber es rettet manchmal auch das Leben.« Sie lachte ganz leise und machte wieder eine wedelnde Bewegung mit beiden Händen. »Ich habe nicht geglaubt, daß du mich verstehst. Aber es war einen Versuch wert.«

Ihre Bewegung war so schnell, daß Charity sie kaum sah. Sie begriff im gleichen Moment, in dem Angellica herumwirbelte, daß all ihre Worte nur dem einen Zweck gedient hatten - nämlich sie einzulullen und von Angellicas eigentlicher Absicht abzulenken. Aber diese Erkenntnis kam zu spät.

Angellica sprang mit einem überraschend kraftvollen Satz an Skudder vorbei; ihre ausgestreckte Hand klatschte auf den flachen Metallkasten auf dem Schrank neben der Tür, und Charity sah, wie ein grünes Licht darauf zu flackern begann.

Kent, Skudder und Charity schrien fast gleichzeitig auf und versuchten, sich auf die Shai-Priesterin zu werfen.

Gurk kreischte wütend und griff nach Angellicas Kleid, verfehlte es aber und fiel ungeschickt auf Hände und Knie herab.

Und Lydia zog die kleine Maschinenpistole, die Kent ihr gegeben hatte, unter dem Kleid hervor und schoß ihrer Schwester in den Rücken.

Das Krachen der MP-Salve war in dem winzigen Raum fast ohrenbetäubend. Angellica wurde herum und gegen die Wand gewirbelt, starrte ihre Schwester eine Sekunde lang aus ungläubig aufgerissenen, weiten Augen an und brach dann ganz langsam in die Knie. Sie war tot, ehe sie den Boden berührte.

Charity war mit einem Satz bei Lydia und entriß ihr die Waffe. »Bist du verrückt geworden?« keuchte sie.

Lydia sah sie an, aber ihr Blick schien geradewegs durch sie hindurchzugehen. Ein seltsames Lächeln lag auf ihrem Gesicht. Charity schauderte.

»Warum hast du das getan?« fragte sie. »Sie war deine Schwester, Lydia!«

»Sie hat mich auserwählt«, flüsterte Lydia. »Sie war es, die meine Kinder ausgesucht hat. Ich mußte sie töten.«

»Ja, und damit hast du uns wahrscheinlich alle umgebracht«, sagte Kent wütend. Er kniete neben Angellica nieder, drehte sie auf den Rücken und tastete mit den Fingerspitzen nach ihrer Halsschlagader. »Sie ist tot«, sagte er überflüssigerweise. Seine Augen flammten vor Zorn, als er zu Lydia aufsah. »Warum habe ich Idiot dir nur diese Waffe gegeben?«

»Vielleicht hört ihr einmal für einen Moment auf, euch zu streiten«, mischte sich Gurk ein, »und seht dorthin.« Sein dürrer Zeigefinger deutete auf das Kästchen, das Angellica berührt hatte. Das grüne Licht auf seiner Vorderseite flackerte noch immer, aber sein Rhythmus war jetzt schneller geworden.

Charity reichte Skudder die MP, die sie Lydia weggenommen hatte, trat zum Schrank und beugte sich über den winzigen Apparat. Die Konstruktion war ihr vollkommen fremd. Ein wenig ähnelte es einem altmodischen Telefon, denn es hatte eine Wählscheibe mit mehreren fremdartigen Symbolen. Es gab aber keinen Hörer, dafür aber eine Anzahl kleiner Knöpfe, von denen einer jetzt immer hektischer blinkte.

»Kannst du es abschalten?« fragte Skudder hinter ihr.

»Ich weiß nicht einmal, was es ist«, sagte Charity unglücklich. Einen Moment lang erwog sie den Gedanken, den Apparat einfach zu zerstören, verwarf ihn aber fast sofort wieder.

»Dann laß uns verschwinden«, sagte Skudder. »Und zwar auf der Stelle.«

»Das ist nicht nötig.«

Charity sah überrascht auf, als Lydia mit einem schnellen Schritt neben sie trat, aber sie erhob keine Einwände, als Lydia die Hand nach dem Kästchen ausstreckte, sondern trat im Gegenteil einen Schritt zur Seite, um ihr Platz zu machen. Lydias Hände flogen schnell und geschickt über die Tasten und drückten mehrere davon in einem komplizierten Rhythmus. Das grüne Licht erlosch.

»Der Alarm wird erst nach zwei Minuten wirklich ausgelöst«, sagte sie. »Ich habe ihn abgeschaltet.«

»Woher weißt du, wie das geht?« erkundigte sich Kent mißtrauisch.

»Ich bin einmal versehentlich an den Knopf gekommen«, antwortete Lydia. »Meine Schwester hat mir gezeigt, wie man ihn wieder entschärft.«

Charity atmete hörbar auf. »Danke«, sagte sie. »Das war knapp.«

»Danke?« Kent lachte böse. »Dann bedank dich doch gleich auch dafür, daß sie Angellica erschossen hat. Damit hat sie uns eine Menge Arbeit abgenommen. Jetzt brauchen wir uns wenigstens nicht mehr den Kopf darüber zu zerbrechen, wie wir in den Tempel kommen.«

»Hör auf, Kent«, sagte Charity müde. »Es nutzt überhaupt nichts, wenn wir uns jetzt gegenseitig Vorwürfe machen.«

»Na wunderbar«, knurrte Kent. »Dann können wir ja wieder gehen und so tun, als wäre überhaupt nichts gewesen.«

»Ich kann euch in den Tempel bringen«, sagte Lydia leise.

Kent sah mit einem Ruck auf, und auch Charity blickte sie ungläubig und überrascht zugleich an. »Wie?«

»Ich kenne den Weg«, sagte Lydia. Ihre Stimme war sehr leise, und ihr Blick ruhte unverwandt auf dem Gesicht ihrer toten Schwester. »Und ich kenne das Zeremoniell.«

Charity tauschte einen verwirrten Blick mit Skudder. »Du ... du meinst, du weißt, wie wir in dieses ... Ding hineinkommen?« vergewisserte sie sich.

Lydia nickte. »Es ist gefährlich. Aber es geht.«

»Ohne deine Schwester?« fragte Kent. Sein Gesicht färbte sich dunkel vor Zorn, als Lydia abermals mit einem Nicken auf seine Frage antwortete. Und plötzlich schrie er: »Warum zum Teufel sind wir dann überhaupt hier?!«

Lydia deutete auf Angellica. »Ihretwegen. Sie mußte sterben.«

»Du hast uns nur hierher gebracht, damit wir dir helfen, deine Schwester umzubringen?« brüllte Kent. »Wir haben das alles ...«

»Nein«, unterbrach ihn Lydia. »Nicht nur. Ich hätte sie so oder so getötet. Sie mußte sterben. Aber es gibt ein paar Dinge, die wir brauchen. Kleider und ein paar ... Gegenstände.«

Kent ballte zornig die Fäuste. »Ich glaube ihr kein Wort«, rief er erregt. »Sie ist ja völlig übergeschnappt!«

»Vielleicht«, sagte Gurk. »Aber vielleicht auch nicht.« Sein ohnehin zerknittertes Gesicht legte sich noch mehr in Falten, als er zu Charity aufsah. »Ich weiß nicht viel über die Shait-Priester - aber sie sind sehr mächtig. Niemand stellt Fragen, wenn sie etwas verlangen. Niemand hält sie auf. Nicht einmal die Reiter. Wenn sie ein Kind ausgewählt haben, dann nehmen sie es und bringen es in den Tempel.«

»Und wie?« fragte Skudder mißtrauisch.

»Ein Gleiter kommt und bringt sie durch die Todeszone«, antwortete Lydia an Gurks Stelle. Ihre Stimme war noch immer tonlos, und auf ihrem Gesicht lag noch immer das gleiche, furchtbare Lächeln, das Charity erneut einen eisigen Schauer über den Rücken laufen ließ. Langsam beugte sie sich zu Angellica herab, streckte die Hände aus und löste die dünne Silberkette mit dem Anhänger von ihrem Hals.

»Ein Druck auf diesen Edelstein genügt, um ihn herbeizuführen«, sagte sie.

Charity streckte die Hand nach dem vermeintlichen Schmuckstück aus und zögerte dann, es zu berühren. Ihr Blick glitt forschend über Lydias Gesicht. Charity verstand Kents Mißtrauen nur zu gut, nach dem, was gerade passiert war, und sie fühlte sich immer unbehaglicher - und gleichzeitig spürte sie, daß Lydia die Wahrheit sagte.

»Woher weißt du das alles?« fragte sie.

»Von Angellica«, antwortete Lydia. »Es ist lange her, aber sie hat mir ... alles gezeigt. Ich war sogar einmal mit im Shaitaan.«

»Du?« fragte Gurk zweifelnd. »Niemand betritt einen Shaitaan, der nicht die Priesterweihen hat.«

»Ich weiß«, flüsterte Lydia. »Ich selbst sollte Priesterin werden, wie sie. Aber ich wurde schwanger, ehe ich die Weihen erhielt. Von diesem Tag an hat sie mich gehaßt.«

»Warum?« fragte Skudder.

»Weil sie bestraft wurde«, antwortete Lydia. »Sie zeigte mir Dinge, die sie mir nicht hätte zeigen dürfen. Sie ... wollte mir helfen, damit ich es etwas leichter hätte als sie. Als ich dann schwanger wurde, da wurde sie zurückgestuft. Sie hätten sie getötet, hätte sie nicht Freunde gehabt, die sie schützten. Aber ihr Traum, zur Hohepriesterin geweiht zu werden, war zerschlagen.«

»Und sie hat sich an dir gerächt, indem sie dir deine Kinder nahm«, sagte Charity.

Lydia nickte. In ihren Augen schimmerten Tränen, aber ihr Gesicht blieb starr. »Ja. Sie wollte mich umbringen, damals. Aber dann ... fiel ihr eine bessere Rache ein.«

Charity schwieg betroffen. Sie akzeptierte den Mord an Angellica noch immer nicht, aber sie verstand jetzt wenigstens, warum Lydia es getan hatte. Vielleicht hätte sie nicht anders gehandelt, an ihrer Stelle.

Abermals streckte sie die Hand aus, löste die Kette aus Lydias Fingern und hängte sie sich vorsichtig um. Das Metall fühlte sich sonderbar an - es war weder warm noch kalt, sondern schien überhaupt keine Temperatur zu besitzen.

Und es stammte nicht von dieser Welt.

Charity fühlte sich fast sofort unbehaglich, kaum daß der Edelstein ihre Haut berührt hatte.

Es war wie damals im Sternenschiff, wie immer, wenn sie etwas berührte, das von Moron kam - etwas in ihr schien sich unter der Berührung zu krümmen, als hätte sie glühendes Eisen gestreift.

»Das funktioniert niemals!« behauptete Kent. »Angellicas Verschwinden wird auffallen. Und sie werden merken, daß wir nicht die sind, für die wir uns ausgeben.«

»Niemand wird etwas merken«, widersprach Lydia. »Es gibt Hunderte von Shai-Priesterinnen. Sie kommen von weither, um die Auserwählten zu bringen. Und manchmal unternehmen sie lange Reisen, um nach Kindern zu suchen. Angellica war manchmal wochenlang fort.«

»Und die Leute, die vorhin hier waren?« schnappte Kent.

»Schluß jetzt«, bestimmte Charity scharf. »Wir reden später darüber. Jetzt sollten wir erst einmal von hier verschwinden.« Sie wandte sich an Lydia. »Wir müssen die Leiche verstecken. Kennst du einen Ort, an dem man sie nicht so schnell findet?«

Lydia deutete mit einer Kopfbewegung nach oben. »Alles, was über dem fünften Stockwerk liegt, ist zerstört. Niemand wohnt dort. Niemand kommt je dorthin.«

»Gut«, sagte Charity. »Dann verstecken wir sie dort und hoffen, daß du recht hast und wirklich niemand nach ihr sucht. Und danach holen wir die Kleider deiner Schwester und was wir sonst noch brauchen, und gehen zurück in Kents Versteck.«

»Ich kann euch sofort ins Shaitaan bringen«, sagte Lydia. »Wir brauchen nur die Kette und ein paar Zeremonienmäntel.«

»Nein«, sagte Charity. »Das Risiko ist zu groß. Außerdem brauchen wir noch ein paar Dinge aus dem Versteck.« Sie schlug mit der flachen Hand auf die kleine Maschinenpistole in ihrem Gürtel. »Ich fühle mich nicht besonders sicher, nur mit diesem Spielzeug bewaffnet. Und wir können auch Net und Bart nicht einfach zurücklassen.«

Kent fuhr auf. »So eine Chance bekommen wir nie wieder!«

»Das kann schon sein«, antwortete er Charity ruhig. »Aber die haben wir auch morgen noch.«

Und genau in diesem Punkt sollte sie sich täuschen. Sie hatten sie nicht einmal in diesem Moment.

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