Eine Hand lag auf seiner Stirn; schmal und kühl und sehr leicht - die Hand eines Kindes oder eines sehr kleinwüchsigen Planetenbewohners. Geräusche: das Murmeln von Stimmen, zu weit, als daß er die Worte verstehen konnte, Schritte, Lachen: alltägliche Geräusche einer menschlichen Ansiedlung. Keine Bedrohung.
Kyle öffnete die Augen. Sein Blickfeld war eingeschränkt, und im ersten Moment hatte er Mühe, die richtige Sehschärfe zu finden; alles war verschwommen, düster, das Licht ein wenig ins Rote verschoben. Eine Gestalt saß neben ihm, blickte in sein Gesicht und strich weiter sanft mit der Hand über seine Stirn. Er hatte Fieber. Die Berührung der schmalen Hand tat sonderbar gut. Kyle hatte entsetzlichen Durst.
»Verstehst du mich?«
Die Stimme klang so jung, wie sich die Berührung der Hand anfühlte. Kyle nickte schwach, konzentrierte sich einen Moment lang darauf, sein außer Kontrolle geratenes Sehvermögen zu korrigieren, und registrierte mit leiser Verwunderung, welche Anstrengung es ihn kostete.
Der verschwommene helle Fleck über ihm gerann zu einem schmalen, von schulterlangem schwarzen Haar eingefaßten Gesicht, wie er vermutet hatte, das Gesicht eines Mädchens. Er wollte etwas sagen, aber seine Stimme verweigerte ihm den Dienst. Sein Gaumen war geschwollen und hart. Der Durst hatte die Intensität echter körperlicher Schmerzen erreicht.
»Warte«, sagte das Menschenjunge. »Ich hole dir Wasser. Beweg dich nicht.« Es stand auf und verschwand aus seinem Sichtfeld, verließ die Hütte aber nicht; Kyle hörte es irgendwo rechts neben sich hantieren.
Besorgt lauschte er in sich hinein. Der Zusammenbruch und die Ohnmacht waren programmiert gewesen; vier, maximal fünf Stunden, in denen er fiebergeschüttelt dagelegen und Worte gestammelt hatte, die sein niemals schlafendes Unterbewußtsein pedantisch überwachte. Er wußte, daß er das Vertrauen der Planetenbewohner jetzt schon gewonnen hatte; die scheinbar zusammenhanglosen Wort- und Satzfetzen wiesen ihn als das aus, was sein Äußeres zu sein vorgab. Rasch rekapitulierte er noch einmal das, was er im Schlaf gesagt hatte, und registrierte zufrieden, daß ihm kein Fehler unterlaufen war. Trotzdem war etwas nicht so, wie es sein sollte. Er war erschöpfter, als er hätte sein dürfen, und sehr viel durstiger. Der Wassermangel hatte gefährliche Ausmaße angenommen. In seinem rechten Bein pulsierte ein heftiger, klopfender Schmerz.
Kyle konzentrierte sich einen Moment lang darauf und stellte fest, daß es gebrochen war. Mehrmals und nicht glatt, so daß Knochensplitter in sein Fleisch gedrungen waren und bereits eine Entzündung hervorgerufen hatten. Der Sturz vom Motorrad war schwerer gewesen, als er vermutete.
Aber der Schaden war nicht irreparabel. Noch bevor das Menschenjunge mit dem versprochenen Wasser zurückkehrte, aktivierte Kyle eine Anzahl schlafender Abwehrmechanismen, die es seinem Körper ermöglichten, mit der Infektion binnen weniger Stunden fertig zu werden. Gleichzeitig leitete er einen behutsamen Heilungsprozeß ein. In seinem rechten Bein machte sich ein taubes Prickeln bereit, der Schmerz verschwand wie abgeschaltet. Kyle hätte den Bruch auch innerhalb weniger Minuten heilen können, aber das durfte er nicht. Er hatte das Vertrauen dieser Menschen hier gewonnen, aber noch nicht die Informationen, die er benötigte.
Das Menschenjunge kam zurück, eine flache hölzerne Schale mit Wasser in beiden Händen haltend. Vorsichtig kniete es neben ihm nieder, stellte die Schale ab und schob dann eine Hand unter seinen Nacken, um seinen Kopf zu stützen. Dann hob es die Schale mit der anderen Hand wieder an und setzte sie an seine Lippen. »Hier«, sagte es. »Trink. Aber vorsichtig. Nur ganz kleine Schlucke - versprochen?«
Kyle deutete ein Nicken an, öffnete den Mund und trank. Das Wasser schmeckte schlecht. Es war warm und abgestanden und voller Krankheitserreger, und Kyle hätte es nicht einmal nötig gehabt - jetzt, als er wieder die volle Kontrolle über seinen Körper hatte, konnte er behutsam einen Teil des eingekapselten Flüssigkeitsvorrates freisetzen und den bedrohlich werdenden Wassermangel so regulieren. Trotzdem trank er mit großen gierigen Schlucken, so daß das Junge schließlich den Kopf schüttelte und die Schale mit einem bedauernden Seufzen wieder zurückzog.
»Nicht so hastig«, sagte es. »Du bekommst, so viel du willst, aber du mußt langsamer trinken.«
»Durst«, flüsterte Kyle. Seine Stimme zitterte und klang krank.
»Ich weiß«, sagte das Humanoidenjunge. »Du hast Fieber. Aber Stanley hat mir verboten, dir zuviel Wasser zu geben, bevor er dich nicht untersucht hat. Du hast zwölf Stunden dagelegen und phantasiert.«
Zwölf Stunden? Kyle erschrak. Mehr als doppelt so lange wie vorgesehen. Etwas war schiefgelaufen. Sein Körper war schwerer beschädigt, als er hätte sein dürfen.
Das Mädchen bemerkte sein Erschrecken und deutete es natürlich vollkommen falsch. »Keine Sorge«, sagte es rasch. »Du bist außer Gefahr. Stanley ist ein guter Arzt.« Es stand auf. »Ich hole ihn jetzt - einverstanden?«
Kyle nickte. Das Mädchen lächelte ihm noch einmal aufmunternd zu, drehte sich dann um und verschwand aus der Hütte.
Zwölf Stunden? Er hätte keine zwölf Stunden daliegen und fiebern dürfen. Und da war dieser Arzt - offensichtlich die planetare Bezeichnung für einen Biochemiker. Was hatte er getan, und was hatte er herausgefunden? Kyle wußte, daß sein Körper einer flüchtigen Untersuchung standhalten würde. Auf den ersten Blick unterschied er sich in nichts von einem Einheimischen, aber jemandem, der etwas von Biologie verstand, würden gewisse Unterschiede auffallen.
Besorgt lauschte er in sich hinein. Sein Verdacht bestätigte sich: In seinem Körper waren Substanzen, die nicht hineingehörten. Primitive Chemikalien, die der Arzt ihm verabreicht haben mußte, in dem Bemühen, das Fieber zu senken und seinen Allgemeinzustand zu stabilisieren. Sie hatten das Gegenteil erreicht - Kyle sah zwar aus wie ein Mensch, aber er war keiner. Die fremden Chemikalien hatten bedrohlich in seinen Körperhaushalt eingegriffen und zu einer besorgniserregenden Destabilisierung geführt. Kyle begriff ohne die Spur eines Schreckens, daß er um ein Haar gestorben wäre. Rasch schied er die verschiedenen organischen Gifte aus, mit denen der Humanoide ihn fast zu Tode gepflegt hatte, achtete aber sorgsam darauf, nichts an seinem Äußeren zu verändern.
Er sah noch immer mehr tot als lebendig aus, als der Junge zurückkam, begleitet von drei weiteren Planetenbewohnern, zwei männlichen und einem weiblichen Exemplar, alle wesentlich älter als das Menschenjunge. Einer der Männer kniete wortlos neben ihm nieder, betastete seine Stirn, blickte in seine Augen und fühlte dann mit spitzen Fingern über sein bandagiertes rechtes Bein. Kyle schloß, daß es sich bei ihm um Stanley handeln mußte.
»Das sieht gar nicht schlecht aus«, sagte Stanley, nachdem er seine Untersuchung beendet hatte. »Das Schlimmste scheint überstanden zu sein. Sie sind ein zäher Bursche, wie?« Seine Stimme klang ein bißchen unsicher. Kyle fragte sich, ob er Verdacht geschöpft hatte. Möglicherweise hatte er den Heilungsprozeß trotz allem zu sehr forciert. Er nahm sich vor, den Arzt bei der ersten sich bietenden Gelegenheit zu töten.
Laut sagte er: »Es geht. Ich fühle mich schon wieder ... besser.«
Der Arzt lächelte. »Sicher doch«, sagte er spöttisch. »Gleich werden Sie aufstehen und Bäume ausreißen, wie?« Er grinste, erhob sich wieder und machte für die beiden anderen Humanoiden Platz. Kyle musterte sie aufmerksam. Der Mann war alt - im letzten Viertel seiner Lebenserwartung, die Frau etwas jünger, aber verhärmt, mit großen, schlecht verheilten Narben auf Händen und Unterarmen. Ihre Bewegungen waren ein wenig schneller als die des Mannes, ihr Blick härter. Zweifellos war sie die Gefährlichere der beiden.
»Ich bin Antony. Das sind Stanley und Liz. Können Sie reden?« begann der Mann. Die Frau schwieg. Kyle konnte ihr Mißtrauen fühlen.
Er nickte. »Wo bin ich hier?«
»Vielleicht beantworten Sie uns erst einmal ein paar Fragen, ehe sie selbst welche stellen«, sagte die Frau scharf, ehe der Mann antworten konnte. »Wer sind Sie? Was wollen Sie hier bei uns?«
»Kyle«, antwortete Kyle. »Mein Name ist Kyle. Ich suche Skudder.«
In den Augen des Mannes erschien ein deutlicher Ausdruck von Erkennen, das Gesicht der Frau blieb starr. »Wer soll das sein?« fragte sie.
Kyle seufzte. Mühsam stemmte er sich auf die Ellbogen, versuchte sich ganz aufzusetzen und sank wieder zurück. Er hatte keine Kraft. Das Fieber war noch immer zu hoch. Er dämpfte es ein wenig. »Hören Sie, Liz«, sagte er. »Ich verstehe Ihr Mißtrauen. Aber wir haben keine Zeit für Spielchen. Ich muß Skudder und die anderen finden.«
»Müssen Sie das?« Liz lächelte dünn. »Und warum?«
»Weil sie in Gefahr sind«, antwortete Kyle mühsam. »Bitte, ich ... muß zu ihnen.«
»Sie gehen nirgendwo hin«, unterbrach ihn Stanley bestimmt. »Daß Sie überhaupt noch leben, ist ein Wunder, guter Mann. Sie bleiben mindestens eine Woche hier liegen, und ...«
»Bis dahin sind Skudder und Charity Laird tot«, sagte Kyle ruhig.
»Was soll das heißen?« schnappte Liz.
Kyle wartete einen Moment, ehe er antwortete. »Das versuche ich Ihnen ja die ganze Zeit über zu erklären«, sagte er. »Daniel hat einen Mann auf sie angesetzt. Einen... Spezialisten. Ich muß sie warnen.«
»So?« sagte Liz mißtrauisch. »Und wenn Sie dieser Spezialist sind? Nur so, als Gedankenspiel ...«
Kyle seufzte. »Wenn, dann wäre ich ein ziemlicher Idiot, halbtot hier anzukommen und das Risiko einzugehen, daß Ihr Knochenflicker mich umbringt«, sagte er heftig. Stanley grinste. Kyle hatte die richtige Tonart angeschlagen. Er spielte die Rolle eines Shark. Sharks waren nicht für ihre ausgesuchten Umgangsformen bekannt.
»Hören Sie zu«, fuhr er nach einer Weile fort. »Ich weiß, daß sie hier waren. Ich gehöre zu ihnen. Wir wurden getrennt, aber wir hatten ausgemacht, uns hier zu treffen.«
Er begriff im gleichen Moment, daß er einen Fehler gemacht hatte. Antony sah ihn überrascht an, und das Mißtrauen in Liz' Augen wurde wieder stärker. »Hier?«
»Hier oben in der ersten menschlichen Ansiedlung weiter südlich«, sagte er grob. »Wir ...«
Liz schnitt ihm mit einer energischen Handbewegung das Wort ab. »Okay«, sagte sie. »Nehmen wir an, das stimmt. Wer sind Sie? Wenn Sie zu ihm gehören, wieso sind Sie zurückgeblieben? Skudder und die anderen sind vor einer Woche hier durchgekommen.«
Die Offenheit dieser Antwort überraschte Kyle für einen Moment. Aber dann begriff er, daß Liz damit kein Risiko einging. Wenn er die falschen Antworten gab, würde sie ihn töten.
»Erzählen Sie von Anfang an«, sagte Antony. »Wir glauben Ihnen ja, aber wir müssen sichergehen.«
Liz warf ihm einen ärgerlichen Blick zu. Antony ignorierte ihn, lächelte aufmunternd in Kyles Richtung und machte eine Geste. »Bitte.«
»Also gut«, begann Kyle. »Wir wurden getrennt. Ich ... bin in der Stadt zurückgeblieben, um noch ein paar Dinge mitzunehmen. Nicht lange, eine Stunde vielleicht, aber als ich losfahren wollte, kamen die Gleiter.« Er sprach stockend, als bereite ihm allein die Erinnerung körperliche Schmerzen. Liz starrte ihn ausdruckslos an, aber er sah auch Mitgefühl in den Augen Antonys, Stanleys und des Mädchens. Mit zitternder Stimme und ins Leere gerichtetem Blick fuhr er fort: »Es war entsetzlich. Sie ... haben auf alles gefeuert, was sich bewegte. Wir ... wir haben uns zurückgezogen. Ein paar von uns haben versucht, durchzubrechen, aber sie haben sie alle erwischt. Wir anderen haben uns in die Keller verkrochen.«
»Und?« fragte Liz, als er nicht weitersprach, sondern absichtlich eine Pause einlegte, als fiele es ihm schwer, die Bilder aus seiner Erinnerung in Worte zu fassen.
»Dann kamen die Ameisen«, flüsterte er. »Es waren Hunderte. Sie ... sie haben die Stadt abgeriegelt und ... Haus für Haus durchsucht. Wir haben gekämpft, aber es ... es waren einfach zu viele. Sie haben alle umgebracht.«
»Alle?«
Kyle nickte. Dann deutete er auf seine bandagierte Schulter. »Ich hatte Glück, das ist alles. Ich wurde angeschossen, aber ich hab' diese verdammte Ameise auch erwischt, ehe sie mir den Rest geben konnte. Danach ...« Er stockte, hob hilflos die Hände. »Ich weiß nicht, wie lange ich bewußtlos war. Vielleicht ein paar Stunden, vielleicht Tage. Sie haben mich irgendwie übersehen. Dachten wohl, ich wäre tot.«
»Und weiter?«
Kyle blickte einen Moment lang an Liz vorbei ins Leere. »Es war gestern ... nein, vorgestern«, flüsterte er. »Ich habe ... Wasser gefunden, und ein bißchen Morphium, um die Schmerzen zu dämpfen. Ich wollte weg. Die Ameisen waren abgezogen, nachdem sie alle umgebracht hatten. Und dann ist der Gleiter gelandet.«
»Was für ein Gleiter?« fragte Liz mißtrauisch.
Kyle mußte davon ausgehen, daß das Transportschiff geradewegs über die Siedlung hinweggeflogen war. Er wußte nicht, welchen Kurs es genommen hatte. »Ein riesiges Ding«, antwortete er. »Eine Art ... Scheibe, fast eine halbe Meile groß. Ich hab' so etwas noch nie zuvor gesehen. Ein paar Ameisen sind herausgekommen, und dann ...« Er sah Liz an, als glaube er selbst nicht, was er da sagte. »Ich vermute, es war Daniel persönlich«, fuhr er fort. »Ein Mann in schwarzer Kleidung, mit dem Zeichen Morons. Jedenfalls jemand mit Macht. Er war nicht allein. Eine Ameise war bei ihm, und ein ... ein anderer Mann. Ich konnte hören, was sie sprachen.«
»Und dieser andere Mann war der Jäger, von dem Sie sprachen?« Liz' Mißtrauen war keineswegs besänftigt.
Kyle nickte. »Ja. Ich ... weiß nicht, wer er ist, oder was, aber ich muß Skudder warnen.«
Liz lächelte dünn. »Wie kommen Sie auf die Idee, daß ein einzelner Mann Skudder finden könnte?« fragte sie. »Daniel und all seine Ameisen haben es nicht geschafft.«
»Das ist kein normaler Mensch«, antwortete Kyle aufgebracht. »Ich weiß nicht, was er ist, aber er ... er muß eine Art menschlicher Spürhund sein.« Er hob erregt die Hände. »Hören Sie, Liz. Ich bin ihm gefolgt. Ein ... ein paar von unseren Jungs hatten sich in die Berge geschlagen, aber er hat sie gefunden. Es gab keine Spuren. Nichts, was sie hätten verraten können, und das Versteck war perfekt. Er hat nicht einmal eine Stunde gebraucht, um sie aufzuspüren. Er hat alle getötet.«
Antony starrte ihn an, und auch Liz schwieg einen Moment. Dann sagte sie: »Und jetzt glauben Sie, er wäre hinter Skudder her.«
»Ich weiß es!« widersprach Kyle. »Verdammt, begreifen Sie denn nicht, daß Sie auch in Gefahr sind? Er wird hierher kommen. Ich bin gefahren wie der Teufel, aber ich glaube nicht, daß ich einen allzu großen Vorsprung habe. Er wird euch alle umbringen!«
»Das glaube ich nicht«, antwortete Liz gelassen. »Wir sind nicht ganz wehrlos.« Sie wandte sich an Antony. »Stell ein paar Wachen auf.«
Der Mann nickte und entfernte sich. Liz drehte sich wieder zu Kyle um. »Eine ziemlich phantastische Geschichte, die Sie da erzählen, nicht?«
»Aber sie ist wahr!« widersprach Kyle heftig. »Verdammt, wenn Sie mir nicht glauben, dann schicken Sie wenigstens jemanden zu Skudder, der ihn warnt. Ihr müßt mir ja gar nicht sagen, wo er ist.«
Liz blickte ihn einen Moment lang sehr nachdenklich an. Dann zuckte sie mit den Schultern, drehte sich um und ging zur Tür, blieb aber noch einmal stehen. »Wir denken darüber nach«, sagte sie. »Wenn Ihre Geschichte stimmt, sehen wir weiter.«
Kyle starrte ihr mit perfekt geschauspielertem Zorn nach, sagte aber nichts mehr.
»Sie dürfen es ihr nicht übelnehmen«, sagte Stanley. »Liz ist das Mißtrauen in Person. Aber ohne sie wären wir alle schon lange nicht mehr am Leben.« Er schwieg einen Moment, schien darauf zu warten, daß Kyle antwortete.
»Spielt sowieso keine Rolle«, fuhr er in verändertem Tonfall fort. »Ob wir Ihnen glauben oder nicht - mit dem Bein gehen Sie nirgendwohin, in den nächsten zwei oder drei Wochen.« Er wandte sich an das Mädchen. »Du bleibst hier und paßt auf ihn auf, ja? Ich komme später noch einmal vorbei.«
Kyle schwieg weiter, bis auch er die Hütte verlassen hatte. Dann drehte er sich langsam zu dem Mädchen um und schüttelte den Kopf. »Was ist mit den beiden los?« fragte er. »Sind sie völlig bescheuert, oder arbeiten sie für die Ameisen?«
Das Menschenjunge lächelte, aber es sah irgendwie schmerzlich aus. »Du mußt das verstehen«, sagte es, während es näher kam. »Noch etwas Wasser?«
Kyle nickte, und das Mädchen setzte die Wasserschale wieder an seine Lippen. »Wir hatten vor vier Tagen Besuch von Daniels Freunden«, fuhr es fort, während er trank. »Sie suchen Skudder. Sie ... haben drei von uns umgebracht und eine Hütte niedergebrannt. Liz traut niemandem mehr. Aber sie weiß, daß du die Wahrheit sagst«, fügte sie hinzu.
Kyle sah überrascht auf.
»Du hast im Schlaf gesprochen«, erklärte das Mädchen. »Völlig wirres Zeug, aber jetzt ergibt es einen Sinn, weißt du? Ich denke, sie glaubt dir. Sie ist nur vorsichtig. Und Stanley hat recht«, fügte sie mit einer Geste auf sein Bein hinzu. »Du kannst sowieso nichts tun.«
»Ich kann fahren«, antwortete Kyle stur. »Ist meine Maschine in Ordnung?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Ich verstehe nichts davon«, antwortete es. »Ich denke schon. Aber das ändert nichts. Du kannst mit dem Bein auch nicht fahren, glaub mir.«
»Aber jemand muß Skudder warnen«, beharrte Kyle. Er sprach jetzt leiser, und etwas in seiner Tonart änderte sich, Nuancen, die das Mädchen nicht einmal bewußt registrierte, die aber ihre Wirkung taten. Es war eine Art äußerst subtiler Hypnose. Ohne daß das Mädchen es auch nur begriff, begann sein ohnehin schwach ausgeprägtes Mißtrauen zu zerbröckeln.
»Ich weiß«, sagte es.
Kyle lächelte. »Dann versprich mir etwas«, sagte er sanft. »Ich hänge hier fest, aber du kannst dafür sorgen, daß man jemanden zu Skudder schickt. Warnt ihn. Und verschwindet von hier, ehe dieser Killer auftaucht.«
Das Mädchen schwieg. Es sah verwirrt aus. Dann nickte es, schüttelte aber gleich darauf den Kopf. »Ich würde es ja tun, aber...«
»Du traust mir nicht«, stellte Kyle fest. Seine Stimme klang verletzt, aber nicht vorwurfsvoll. Trotzdem wußte er, daß sie heftige Schuldgefühle in dem Mädchen weckte. Diese Humanoiden waren so leicht zu beeinflussen.
»Das ist es nicht«, sagte sie. Sie lächelte nervös, drehte sich plötzlich um und sah rasch und fast erschrocken zur Tür, als fürchte sie, belauscht zu werden.
»Sondern?«
»Sie waren hier, das stimmt«, fuhr das Mädchen stockend fort. »Aber Liz weiß selbst nicht genau, wo sie hingegangen sind. Skudder meint, es ... es wäre sicherer, wenn sie es nicht wüßte. Sie wollten nach Osten.«
»An die Küste?«
Das Mädchen zuckte hilflos mit den Schultern. »Ich weiß nicht«, sagte es unsicher. »Der Zwerg, der bei ihnen war, erzählte von irgendwelchen Rebellen. Aber niemand hier weiß genau, wo sie zu finden sind.«
Kyle schwieg einen Moment. Er empfand keine Enttäuschung. Er hatte eine Spur - keine sehr gute, aber immerhin eine Spur. Es gab jetzt keinen Grund mehr für ihn, noch länger zu bleiben. Er wußte, daß das Mädchen die Wahrheit sprach. Er selbst hätte nicht anders gehandelt, an Skudders und Lairds Stelle.
Mit einem Ruck setzte er sich auf. Das Mädchen erschrak - und erstarrte mitten in der Bewegung, als es sah, welche unheimliche Veränderung mit Kyle vor sich ging.
Kyles zerfurchtes Gesicht glättete sich. Die Spuren von Fieber und Durst verschwanden binnen Sekunden. Plötzlich waren auf seinen Händen keine Narben mehr, und für eine Sekunde begann sich der graue Verband über seiner Schulter wie ein lebendes Wesen zu bewegen, als sich das Fleisch darunter glättete und die Wunde verschwand, die Kyle mit seiner puren Willenskraft geschaffen hatte.
Kyle gab dem Mädchen keine Chance, auch nur einen warnenden Schrei auszustoßen. Er tötete es, stand auf und konzentrierte sich für die nächsten drei Minuten darauf, sein gebrochenes Bein zu heilen. Dann verließ er die Hütte.
Als er das Dorf eine halbe Stunde später verließ, lebte in dem kleinen Felsental niemand mehr.