Was einmal Denver, Colorado, gewesen war, war jetzt eine Ruinenstadt. Die stolze Skyline mit ihren himmelhoch aufstrebenden Wolkenkratzern war ebenso verschwunden wie die kleinen, gepflegten Villenviertel, die die City umgeben hatten.
Der Anblick setzte Charity mehr zu, als sie sich eingestehen wollte. Mehr als den anderen, mehr als selbst Lydia, die noch vor weniger als einer Stunde voller Verbitterung erzählt hatte, was die Invasoren aus ihrer Heimat gemacht hatten. Vielleicht, weil sie von allen hier die einzige war, die diese Stadt gekannt hatte.
»Dort ist es.« Lydia deutete auf ein Gebäude schräg auf der anderen Seite der Straße. Es war sehr breit, hatte zahllose Fenster und maß sechs oder sieben Stockwerke. Die beiden oberen Etagen waren verkohlt und ausgebrannt, und ein gewaltiger Schuttberg streckte sich zu beiden Seiten des Gebäudes bis weit über die Straßenmitte hinaus.
»Deine Wohnung?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Die meiner Schwester«, sagte sie. »Ich kann nicht nach Hause zurück. Sie wissen, was ich getan habe. Sie suchen mich.«
Charity konzentrierte ihre Aufmerksamkeit wieder auf das Gebäude. Alles wirkte ruhig, fast ausgestorben, so wie die ganze Stadt - oder das, was davon übrig war. Sie waren kaum einem Dutzend Menschen begegnet. Aber Lydia hatte sie gewarnt - Morons Augen waren überall. Und die neuen Herrscher der Erde duldeten viel, nur eines nicht: daß sich ihnen jemand widersetzte. Sie würden nicht eher aufgeben, bis sie Lydia wieder eingefangen hatten.
»Worauf warten wir?« fragte Kent ungeduldig.
Charity warf ihm einen warnenden Blick zu. Für ihren Geschmack war es hier einfach zu ruhig. Auch wenn Denver - wie sie von Lydia wußte - nur noch knapp fünftausend menschliche Einwohner hatte, hätten sie mehr Menschen treffen müssen. Irgend etwas stimmte hier nicht. Die Stadt schien den Atem angehalten zu haben, als warte sie auf etwas.
»Vielleicht sollte ich allein vorgehen«, sagte Lydia. »Wenn es eine Falle ist, dann gilt sie nur mir. Sie wissen nicht, daß ihr da seid.«
»Blödsinn«, sagte Gurk. »Du ...«
»Halt die Klappe, Zwerg«, unterbrach ihn Kent grob. »Sie hat recht.« Einen Moment lang sah er Lydia nachdenklich an, dann griff er unter seine Jacke und zog eine Maschinenpistole hervor.
»Hier. Nur zur Sicherheit. Wir kommen nach, sobald du drinnen bist.«
Sekundenlang zögerte die junge Frau, nach der Waffe zu greifen. Dann nahm sie sie aus Kents Hand, schob sie scheinbar achtlos unter ihre Jacke und trat rasch und ohne ein weiteres Wort aus dem Schatten der Häuserfront.
Charity, Kent, Gurk und Skudder beobachteten sie aufmerksam, während sie die Straße überquerte. Sie bewegte sich ohne Hast, fast gelangweilt, wie ein Spaziergänger, der gar nicht genau weiß, wohin er überhaupt geht. Charity spürte eine gewisse Bewunderung für die Kaltblütigkeit der jungen Frau. Aber vielleicht war es auch nur Verzweiflung. Die Lydia, die dort die Straße überquerte, hatte kaum noch etwas mit der verzweifelten jungen Frau zu tun, die sie vor den Reitern gerettet hatten.
Sie verscheuchte den Gedanken.
Ihre Vorsicht erwies sich - diesmal - als überflüssig. Lydia erreichte unbehelligt die gegenüberliegende Straßenseite und verschwand im Inneren des Gebäudes. Nach wenigen Augenblicken tauchte ihre Gestalt wieder unter der Tür auf. Sie winkte. Alles okay.
Nacheinander folgten sie ihr. Charity und Gurk waren die letzten, die die Straße überquerten, wobei Gurk an ihrer Hand ging, damit sie den Eindruck einer Frau und eines Kindes erweckten. Charity wußte nicht, ob die Täuschung funktionierte - es gab niemanden, den sie narren konnten. Die Straße blieb leer wie in einer Geisterstadt.
Trotzdem atmete sie erleichtert auf, als sie in die verwüstete Eingangshalle des ehemaligen Wolkenkratzers traten. Gurk riß sich mit einem Ruck von ihrer Hand los und zerrte sich den Strohhut vom Kopf, während Kent und Skudder ihn mit unverhohlener Schadenfreude angrinsten.
»Warum läßt du ihn nicht auf?« erkundigte sich Kent feixend.
»Er steht dir ausgezeichnet«, fügte Skudder hinzu.
Gurks Augen verschossen kleine Giftpfeile in Richtung der beiden ungleichen Männer. »Zerreißt euch ruhig die Mäuler«, geiferte er. »Ich werde als letzter lachen, wenn Daniel ...«
»Schluß«, bestimmte Charity. »Alle drei. Wir haben wirklich Wichtigeres zu tun.«
Gurk knurrte etwas Unverständliches, und Charity wandte sich wieder an Lydia. »Wo wohnt deine Schwester?«
Lydia deutete auf die Treppe. »Im zweiten Stockwerk. Aber wir müssen vorsichtig sein. Es ... wohnen noch andere Diener der Moroni in diesem Haus. Folgt mir, aber paßt auf.«
»Gibt es sonst noch etwas, was du vergessen hast, uns zu erzählen?« fragte Skudder übellaunig. Lydia musterte ihn kalt und wandte sich ohne ein weiteres Wort ab.
Charity sah sich aufmerksam um, während sie der jungen Frau zur Treppe folgten. Das Gebäude mußte früher einmal ein Hotel oder ein großes Geschäftshaus gewesen sein - an einer der Wände waren noch Teile einer ehemals riesigen Empfangstheke zu sehen, und es gab gleich fünf Aufzüge, von denen natürlich keiner mehr funktionierte. Decke und Wände wiesen zahlreiche Brandspuren auf, aber auch Hunderte faustgroßer Löcher - unübersehbare Spuren eines Kampfes, der auch hier getobt hatte. Trotzdem war alles überraschend sauber, und die schlimmsten Schäden waren sogar repariert worden. Die Menschen, die hier lebten, hatten zumindest versucht, sich so etwas wie ein Heim zu schaffen. Als sie den Treppenschacht betraten, entdeckte sie ein paar Bilder an den Wänden, und über den nackten Beton der Stufen hatte jemand ein Flickwerk aus verschiedenen Teppichstücken gelegt. Der Anblick hätte ihr Mut machen sollen, aber er erfüllte sie nur mit noch größerer Verbitterung.
Sie passierten die Tür zur ersten Etage und erreichten die zweite. Lydia gab ihnen mit Gesten zu verstehen, daß sie zurückbleiben sollten, öffnete die schwere Brandschutztür, indem sie sich mit der Schulter dagegenwarf, und verschwand in dem dahinterliegenden Gang. Diesmal dauerte es lange, bis sie zurückkam, und als sie es tat, wirkte sie sehr besorgt.
»Was ist?« fragte Kent.
Lydia zögerte. »Meine Schwester ist zu Hause«, antwortete sie. »Aber sie ist nicht allein. Ich ... habe Stimmen gehört.«
»Wie viele?«
Lydia zuckte mit den Achseln. »Ich weiß nicht. Drei, vielleicht auch vier. Sie klangen sehr aufgeregt. Als stritten sie.« Kent griff unter seine Jacke und zog seine MP hervor. »Warum streiten wir nicht ein bißchen mit?«
Charity antwortete gar nicht darauf, und natürlich erwartete Kent auch gar keine Antwort. Er wußte so gut wie sie, daß sie unter gar keinen Umständen auffallen durften.
»Dann warten wir hier«, sagte Charity nach kurzem Überlegen. »Früher oder später wird dieser Besuch schon wieder gehen. Deine Schwester lebt doch allein, oder?«
»Angellica ist eine Shai-Priesterin«, antwortete Lydia, als wäre dies Erklärung genug. Als sie Charitys und Skudders irritierte Blicke bemerkte, fügte sie hinzu: »Sie müssen allein leben.«
»Dann warten wir hier«, bestimmte Charity.
»Und wenn jemand kommt?«
»Dann erklären wir, daß wir eine Umfrage im Auftrag von Pepsi-Cola machen«, antwortete Charity. Kent, Skudder und auch Lydia blickten sie verständnislos an, und sie beeilte sich, hinzuzufügen: »Wir müssen eben vorsichtig sein.«
»Und vielleicht fangt ihr damit an, etwas weniger laut zu werden«, sagte Gurk giftig. »Man hört euch wahrscheinlich bis nach New York.«
Kyle bekam Durst. Er war seit etwas mehr als vier Stunden unterwegs, und der Wasservorrat in seinem Körper hätte für mindestens noch einmal die gleiche Zeitspanne ausreichen müssen - aber etwas stimmte nicht.
Er hatte es schon gespürt, kurz nachdem er das kleine Dorf verlassen hatte. Seine Körperchemie war irgendwie durcheinandergeraten. Er beherrschte seinen eigenen Körper noch immer so virtuos wie andere ein Instrument, aber es kostete ihn erheblich mehr Mühe als gewöhnlich.
Die Tatsache allein beunruhigte ihn kaum. Trotz allem wußte er, daß er ein Wesen aus Fleisch und Blut war, eine unvorstellbar perfekte, aber dennoch verwundbare Einheit, die auch sterben konnte.
Was ihn beunruhigte, war vielmehr die Tatsache, daß er nicht wußte, was mit ihm geschehen war. Die Verletzungen, die er sich selbst mit bloßer Willenskraft zugefügt hatte, waren längst verheilt, und sein Körper hatte genug Energie gesammelt, um eigentlich tagelang zu funktionieren, ehe sich die ersten Ausfallerscheinungen einstellten.
Vielleicht hatte ihn die Medizin, die ihm der Arzt gegeben hatte, vergiftet?
Kyle konnte sich das nicht vorstellen. Er war immun gegen die meisten Gifte, die im kolonisierten Universum bekannt waren. Außerdem hatte man ihn speziell auf diese Welt konditioniert, ehe er diesen Einsatz begann. Unvorstellbar, daß man irgendein Gift oder auch nur eine schädliche Substanz übersehen haben sollte. Was also geschah dann mit ihm?
Kyle begriff, daß er die Antwort auf diese Frage durch bloßes Nachdenken kaum finden würde, und hörte auf, Energie darauf zu verschwenden. Statt die Ursachen zu behandeln, was er im Moment nicht konnte, konzentrierte er sich darauf, mit den Symptomen fertig zu werden. Er hatte kein Wasser mitgenommen, als er das Dorf verließ, aber das war das kleinste Problem. Er wußte, daß es eine Wasserstelle gab, nur wenige Meilen von seinem eigentlichen Kurs entfernt. Er schätzte, daß er dadurch eine Stunde verlieren würde, was bedauerlich war, aber er änderte trotzdem seinen Kurs. Es spielte keine Rolle, ob er Captain Laird eine Stunde früher oder später stellte, aber es spielte sehr wohl eine Rolle, ob er im entscheidenden Moment vielleicht einen Fehler beging, weil sein Körper unter Mangelerscheinungen litt.
Nach exakt zweiundzwanzig Minuten hatte Kyle das Wasserloch erreicht, stieg von der Maschine und kostete vorsichtig von der schmutzigbraunen Flüssigkeit, indem er einen Finger ins Wasser tauchte und daran leckte. Es war vergiftet, wie er vermutet hatte, und für einen Augenblick verspürte er wieder Verachtung für den Humanoiden, der sich Daniel nannte. Wenn Captain Laird auch nur halb so fähig war, wie er behauptete - woran Kyle mehr und mehr zu zweifeln begann -, würde er sie mit einem vergifteten Wasserloch kaum aufhalten. Dafür fügte er der Ökologie dieser Zone unwiederbringlichen Schaden zu, denn es war ein Gift, das auf jede Lebensform wirkte. Kyle nahm sich vor, nach seiner Rückkehr nach Hinweisen darauf zu suchen, ob es in der Nähe der Wasserstelle tote Reiter oder Dienerkreaturen gegeben hatte, und Daniel unter Umständen dafür zur Rechenschaft zu ziehen.
Er ging zu seinem Motorrad zurück, holte die Feldflasche und füllte sie. Erst dann beugte er sich zum Wasserloch hinab und trank. Sein Metabolismus hatte keine Schwierigkeiten, das Gift zu neutralisieren. Als er seinen Durst gestillt hatte, ging er zum Motorrad zurück und fuhr weiter. Er schätzte, daß es in zwei, allerhöchstens zweieinhalb Planetenstunden dunkel wurde.
Mit etwas Glück würde er Captain Laird bis dahin gefunden haben.
Sie mußten länger als zwei Stunden warten, bis Angellicas Besuch sich endlich verabschiedete. Allein viermal in dieser Zeit hörten sie über sich eine Tür fallen und zogen sich hastig auf den Korridor zurück, bis die Schritte auf der anderen Seite der Metalltür verklungen waren, und es kam Charity im nachhinein selbst wie ein kleines Wunder vor, daß niemand aus diesem Korridor gekommen war und sie überrascht hatte.
Um ein Haar wären sie dann doch noch entdeckt worden, denn sie waren so darauf konzentriert, auf Schritte auf der Treppe zu lauschen, daß sie die, die sich ihnen aus dem Gang näherten, fast zu spät bemerkt hätten. Erst im letzten Augenblick stieß Gurk eine geflüsterte Warnung aus, und sie zogen sich in aller Hast auf die nächste Etage zurück, gerade noch rechtzeitig, um die Tür unter sich auffliegen und fast ein halbes Dutzend Gestalten zu sehen, die hintereinander und heftig gestikulierend den Treppenschacht betraten. Charity konnte nicht verstehen, was sie sprachen, aber der Klang ihrer Unterhaltung war nicht unbedingt freundlich. Sie erinnerte sich wieder, daß Lydia vermutet hatte, die Männer in der Wohnung ihrer Schwester hätten miteinander gestritten.
Sie warteten, bis Schritte und Stimmen unter ihnen verklungen waren, und gaben vorsichtshalber noch gute zwei Minuten zu, ehe Charity Lydia zu verstehen gab, daß es soweit sei. Lydia ging ein Stück voraus, als sie den Korridor betraten, auf dem ihre Schwester wohnte.
Charity hatte kein gutes Gefühl. Der Anblick des Korridors bestätigte ihre Vermutung, daß es sich bei dem Gebäude um ein ehemaliges Hotel handelte. Aber auch hier waren Brandflecken an den Wänden zu sehen. Und: Es gab keine Fenster. Wenn sie in diesem Haus überrascht wurden, dann saßen sie in der Falle.
Sie bemerkte, wie Kent nervös an der Waffe unter seiner Jacke zu zupfen begann, und warf ihm einen warnenden Blick zu. »Nicht«, flüsterte sie. »Wir sind nur lieber Besuch, mehr nicht.«
Kent starrte sie finster an und nahm die Hand herunter. Charity war längst nicht mehr sicher, ob es richtig gewesen war, Kent mitzunehmen. Er war zu jung und zu unerfahren, und Charity befürchtete, daß er im entscheidenden Moment die Nerven verlieren könnte. Aber schließlich war dies hier sein Revier, und im Grunde konnten sie froh sein, daß er ihnen erlaubt hatte, ihn zu begleiten, und nicht umgekehrt.
Vor der letzten Tür des Ganges blieb Lydia stehen und klopfte. Skudder preßte sich gegen die Wand, während Kent auf der anderen Seite der Tür Aufstellung nahm, um nicht sofort gesehen zu werden.
Lydia mußte insgesamt dreimal gegen die Tür klopfen, und auch dann dauerte es noch eine geraume Weile, bis Schritte zu hören waren. Eine ziemlich mißgelaunt klingende Stimme rief etwas, das Charity nicht verstand, dann klirrte eine Kette.
»Was ist denn jetzt noch? Ich habe euch doch gesagt ...« Angellica hatte offensichtlich jemand anderen erwartet, denn sie verstummte mitten im Wort, als sie die Tür vollends öffnete und sah, wer davor stand.
Angellica war ein gutes Stück älter als ihre Schwester, machte aber keinen so verhärmten und ausgezehrten Eindruck. Sie hatte dunkles, lang bis auf die Schultern herabfallendes Haar und trug eine dünne Silberkette mit einem auffallend großen Edelstein um den Hals. Ihr Kleid war einfach, aber so gut geschneidert, daß es ein kleines Vermögen wert sein mußte. An ihren Fingern blitzten zahlreiche, schwere Ringe. Es schien gewisse Vorteile zu haben, dachte Charity, auf der Seite der Besatzer zu stehen. Manche Dinge änderten sich anscheinend nie.
»Lydia?« flüsterte sie. »Du? Du bist...« Sie brach wieder ab. Ihr Blick glitt kurz und taxierend über Charity, dann über Gurk, der wieder den Strohhut aufgesetzt hatte und mit gesenktem Kopf dastand.
»Was willst du hier?« fragte sie dann mit eisiger Stimme. »Was sind das für Leute?«
»Laß uns rein, Angellica«, bat Lydia. »Es sind ... Freunde von mir. Sie haben mir geholfen, aber jetzt brauchen wir selbst Hilfe.«
»Hilfe?« Angellicas Lippen verzogen sich zu einem kalten, abfälligen Lächeln. »Hilfe - wobei?« fragte sie. »Hast du noch nicht genug Schaden angerichtet?«
Kent warf Charity hinter der Tür einen fragenden Blick zu. Sie ignorierte ihn.
»Bitte, Angellica«, sagte Lydia. »Nur für einen Moment.«
Charity konnte direkt sehen, wie es hinter Angellicas Stirn arbeitete. Und es vergingen noch einmal endlose Sekunden, ehe sie schließlich mit sichtlichem Widerwillen nickte.
»Also gut«, sagte sie. »Fünf Minuten. Und gebt euch gar nicht erst die Mühe, euch irgendwie verrückte Geschichten auszudenken. Keine Sekunde länger.«
Was für ein Herzchen, dachte Charity. Laut sagte sie: »Ich danke Ihnen«, trat an Lydia und ihrer Schwester vorbei in die Wohnung und schob Gurk dabei wie ein Kind vor sich her. In der gleichen Bewegung und ohne die mindeste Spur von Hast trat sie hinter Angellica, legte ihr den Arm um den Hals und bog ihren Kopf in den Nacken, während sie ihr mit der anderen Hand den Mund zuhielt.
Angellica war viel zu überrascht, um auch nur den Versuch einer Gegenwehr zu machen. Aber Charity hielt sie trotzdem mit eiserner Kraft fest, bis auch Kent und Skudder das Zimmer betreten und die Tür hinter sich geschlossen hatten. Erst dann nahm sie die Hand von Angellicas Mund und lockerte den Druck auf ihren Nacken ein wenig. Gleichzeitig tastete sie mit der freien Hand nach Angellicas Arm und bog ihn auf den Rücken.
»Wenn du schreist, breche ich dir den Arm, Schätzchen«, sagte sie freundlich. »Verstanden?«
Angellica nickte. »Ich habe verstanden. Sie können mich loslassen.«
Charity zögerte. Aber dann fing sie einen Blick Lydias auf. Lydia nickte, und sie ließ Angellicas Arm los und trat rasch einen Schritt zurück.
Angellica drehte sich langsam zu ihr herum und blickte abwechselnd sie, Gurk und die beiden Männer an, während sie sich mit schmerzverzerrtem Gesicht ihren Arm rieb. Aber sie sagte kein Wort, sondern wandte sich zornig an ihre Schwester.
»Reizende Freunde hast du«, schnappte sie. »Aber dein Umgang war ja noch nie der beste. Also - was wollt ihr?«
»Die Fragen stellen wir hier«, sagte Kent.
In Angellicas Augen blitzte es auf. »So?« sagte sie. »Und ich dachte, das hier wäre meine Wohnung.«
Kent lächelte kalt. »So kann man sich täuschen, Gnädigste. Aber keine Sorge - wir bleiben nicht lange. Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie sie beantworten, sind wir schneller wieder weg, als wir gekommen sind.«
»Jetzt reicht es«, fauchte Angellica. »Verschwindet - alle fünf. Wenn ihr nicht auf der Stelle macht, daß ihr rauskommt, rufe ich die Wachen!« Sie fuhr herum, trat mit zwei, drei weit ausgreifenden Schritten an ein Schränkchen neben der Tür und streckte die Hand nach einem flachen schwarzen Kästchen aus.
»Ich an Ihrer Stelle würde das nicht tun«, sagte Skudder. Mit aller Seelenruhe griff er in seine Jacke, zog eine der kleinen, handlichen Maschinenpistolen heraus, mit denen Kent sie ausgerüstet hatte, und ließ den Sicherungshebel zurückschnappen.
Angellica sah nicht einmal in seine Richtung. Aber die Art, auf die sie mitten in der Bewegung erstarrte, als das metallische Schnappen erklang, überzeugte Charity davon, daß sie diesen Laut nicht zum ersten Mal in ihrem Leben hörte. Sie wurde noch ein wenig bleicher, als sie es ohnehin schon war, und drehte sich mit mühsam erzwungener Ruhe herum.
»Ihr gehört zu diesen Rebellen«, sagte sie ruhig.
Skudder nickte. »Stimmt.«
Angellica starrte ihn fast haßerfüllt an, dann wandte sie sich an ihre Schwester. »Und du?« fragte sie. »Gehörst du auch zu diesen ... Aufrührern?«
»Ja«, antwortete Lydia. »Jedenfalls haben sie mir das Leben gerettet.«
»Wie edel«, antwortete Angellica spöttisch. »Und was verlangen sie dafür? Mein Leben?«
»Nicht, wenn Sie vernünftig sind, Angellica«, antwortete Charity an Lydias Stelle. »Wir sind nicht Ihretwegen hier.« Sie deutete auf Kent. »Es ist so, wie Kent sagte: Wir haben nur ein paar Fragen an Sie. Wenn Sie sie beantworten, gehen wir.«
»Und wenn nicht?« fragte Angellica höhnisch. »Bringt ihr mich dann um, oder beschränkt ihr euch darauf, mich ein bißchen zu foltern?«
»Keines von beiden«, sagte Skudder. »Sie werden reden, meine Liebe. Das weiß ich.«
Angellica lachte. Sie hatte ihr Selbstsicherheit wiedergefunden - überraschend schnell wiedergefunden, dachte Charity alarmiert. Sie verhielt sich nicht wie ein Mensch, der sich in Gefahr glaubt.
»Ihr seid ja verrückt«, sagte sie. »Aber bitte - was wollt ihr wissen?«
»Sie sind Shai-Priesterin?« begann Charity. »Was immer das sein mag.«
»Das bin ich«, erklärte Angellica stolz. »Warum fragen Sie, wenn Sie es wissen?«
Charity überging die Frage. »Sie gehören also zu denen, die mithelfen, Kinder zu entführen und in dieses verdammte Ding dort draußen hinter dem Todesgürtel zu schaffen?« fuhr sie fort.
Angellica starrte ihre Schwester haßerfüllt an, ehe sie antwortete. »Nein, das tue ich nicht.«
»Nicht?«
Angellica gab einen Laut von sich, der eine Mischung aus Lachen und Schluchzen war. »Ich weiß nicht, was diese Verrückte Ihnen erzählt hat«, sagte sie mit einer Geste auf Lydia. »Aber wir entführen keine Kinder. Es ist meine und die Aufgabe meiner Schwestern, die Auserwählten in das Shaitaan zu bringen und sie den Herren zu übergeben.«
»O ja, ich verstehe«, sagte Charity. »Das kommt mir irgendwie bekannt vor. Aber Sie bringen die Kinder dorthin, das stimmt. Und sie kommen nie wieder? Ich meine, hat irgend jemand eines dieser Kinder je wiedergesehen?«
»Natürlich nicht!« sagte Angellica empört. Wieder blickte sie ihre Schwester voller Verachtung an. »Ich kenne die Geschichten, die man über uns erzählt. Sie sind nicht wahr. Den Auserwählten geschieht nichts - im Gegenteil! Es ist ein besseres Leben, das sie bei unseren Herren erwartet.«
»Ihr bringt sie um«, sagte Lydia.
»Manche sterben, das ist wahr«, antwortete Angellica ungerührt. »Doch nur die Schwachen, Lebensuntüchtigen. Die anderen werden in eine neue, bessere Welt gebracht.«
»Ach?« sagte Kent. »Und was geschieht mit ihnen - in dieser neuen, besseren Welt?«
»Sie dienen den Herren«, erwiderte Angellica stolz. »Aber warum rede ich überhaupt mit euch? Ihr seid schon tot. Ihr habt Hand an eine Shai-Priesterin gelegt.«
»Ich werde noch etwas ganz anderes an dich legen, Schätzchen«, sagte Skudder, »wenn du nicht ein wenig freundlicher wirst.«
Angellica starrte ihn voller Verachtung an, und Charity konnte spüren, wie zwischen ihr und dem Hopi etwas vorging. Trotz allem waren sich die beiden sehr ähnlich - beide waren stolz und beide sehr stark. Mit einem raschen Schritt trat sie zwischen Angellica und Skudder.
»Wir sind nicht hier, um Ihnen etwas anzutun, Ag«, sagte sie hastig. »Wir wollen nur ein paar Informationen von Ihnen, das ist alles.«
»So?« sagte Angellica. »Und welche?«
»Sie kennen den Weg in das Shaitaan«, sagte Charity. »Und Sie werden ihn uns verraten.«
Angellica riß erstaunt die Augen auf. Eine, zwei Sekunden lang starrte sie Charity voller maßloser Verblüffung an - und dann begann sie schallend zu lachen.
»Was ist daran so komisch?« erkundigte sich Gurk mißtrauisch.
»Ihr wollt ... in das Shaitaan eindringen?« fragte Angellica, noch immer atemlos vor Lachen. »Ihr seid ja verrückt. Ihr würdet ihm nicht einmal nahe kommen, selbst wenn ich euch den Weg verraten würde - und das werde ich nicht.«
Lydia trat wortlos neben sie, riß sie an der Schulter herum und versetzte ihr eine schallende Ohrfeige. Angellicas Kopf flog zurück. Sie taumelte gegen die Tür, fand im letzten Moment Halt und preßte die Hand gegen die schmerzende Wange. Ihre Augen flammten. Aber Charity las selbst jetzt in ihrem Blick nicht die mindeste Spur von Angst, sondern nur Verachtung und Zorn.
Plötzlich löste sie sich von der Tür, trat mit zwei raschen Schritten auf ihre Schwester zu und ergriff sie grob am Arm. Lydia versuchte ihre Hand abzuschütteln, aber Angellica zerrte sie einfach hinter sich her zum Fenster, ehe sie sie losließ.
»Was willst du eigentlich noch?« schrie sie. »Schau hinaus! Und dann sag mir, was du siehst!«
Lydia gehorchte verwirrt. Sekundenlang blickte sie wortlos auf die menschenleere Straße, ehe sie wieder ihre Schwester ansah. »Da ist nichts«, sagte sie.
»Eben!« Angellicas Stimme klang beinahe triumphierend. »Vor drei Tagen haben dort noch Menschen gelebt, kleine Schwester. Sie sind noch immer da, aber sie wagen sich nicht mehr aus dem Haus. Und weißt du auch, warum? Weil sie Angst haben. Deinetwegen!«
»Was soll das heißen?« fragte Charity scharf.
»Die Herren haben eine Strafexpedition losgeschickt«, antwortete Angellica zornig. »Aber warum fragen Sie das nicht Lydia? Sie weiß so gut wie ich, welche Strafe auf den Mord an einem Reiter steht. Hundert für einen.«
Im ersten Moment begriff Charity nicht einmal, was Angellica überhaupt meinte. Dann durchfuhr sie ein eisiger Schreck. Ungläubig starrte sie abwechselnd Lydia und ihre Schwester an.
»Hundert für ...«
»Sie töten dreihundert Menschen, ja«, sagte Lydia mit zitternder Stimme. »Einhundert für jeden Reiter, den ihr erschossen habt. Das ist immer so. Wenn ... wenn einer von ihnen getötet wird, dann ... dann schicken sie Reiter los, die sich wahllos ihre Opfer suchen. Niemand weiß, wen es trifft.«
»Und das hast du gewußt?« fragte Skudder fassungslos.
»Natürlich hat sie es gewußt«, antwortete Angellica an Lydias Stelle. »Aber ich glaube, sie hat vergessen, es euch zu erzählen.«
Charity fuhr herum und starrte Kent an. Der junge Rebell wich ihrem Blick aus.
»Und du?« fragte sie. »Hast du davon gewußt?«
Kent nickte. »Ja«, sagte er. »Aber was hätte sich geändert, wenn ich es erzählt hätte? Es ist nun einmal passiert. Verdammt!« fügte er in zornigem Ton hinzu, allerdings noch immer, ohne Charity oder Skudder anzusehen. »Warum glaubt ihr wohl, sind wir so vorsichtig bei dem, was wir unternehmen. Das ist nun einmal Morons Gesetz, und nicht nur hier - hundert für einen!«
»Ich glaube, meine Schwester hat Ihnen nicht alles erzählt«, fügte Angellica böse hinzu. »Hat sie Ihnen zum Beispiel gesagt, daß Moron die belohnt, deren Kinder auserwählt werden?«
»Belohnt? Wie?«
»Mit Leben«, antwortete Angellica. »Zehn Jahre für jedes Kind, das ihnen genommen wird. O ja, ich kann mir vorstellen, was Lydia euch erzählt hat. Aber sie wird dreißig Jahre länger leben als ich.« Sie schwieg einen Moment, ehe sie in höhnischem Ton fortfuhr: »Das hat sie nicht erzählt, wie?«
»Dreißig Jahre länger ...?« wiederholte Charity verwirrt.
Angellica nickte. »Vielleicht auch vierzig - wer weiß? Ihr Erbgut ist gut, sonst wäre sie nicht dreimal hintereinander erwählt worden.«
»Aber das ist doch Unsinn!« protestierte Charity. »Ich meine ... niemand weiß, wie lange er leben wird, und ... und ...«
Sie brach ab, als sie den betroffenen Ausdruck auf Skudders und Gurks Gesichtern sah. Kent blickte sie einfach nur verwirrt an. Und plötzlich machte sich ein furchtbarer Verdacht in ihr breit.
»Wie lange?« fragte sie. »Wie lange läßt Moron die Menschen auf diesem Planeten leben, Skudder?«
Der Hopi sah weg. Kent und Angellica tauschten verwirrte Blicke miteinander, während Gurk unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten begann.
»Wie lange?« fragte Charity noch einmal.
»Fünfzig Jahre«, antwortete Skudder leise.