7
In den Verliesen der Erde

Siggi und Gunhild hetzten durch die Gänge. So schnell es ging, lief Laurion vor ihnen her. Ohne Rücksicht auf die Lautstärke gab er Anweisungen, wenn sie nach links oder rechts ausweichen mussten. Yngwe folgte ihnen wie ein Schatten.

Hinter ihnen wurde das Poltern immer lauter, und Siggi wagte während des Rennens einen Blick über die Schulter, konnte aber, da sie gerade durch eine lang gezogene Rechtskurve liefen, nicht sehen, was hinter ihm diesen Krach machte. Aber eines war klar: Der Lärm kam von Sekunde zu Sekunde näher.

Das bedrohliche Poltern schien Laurion anzuspornen. Mit unglaublicher Sicherheit lief der junge Lichtalbe durch den Gang, wich, ohne zu zögern, auf die linke oder rechte Gangseite aus.

Siggi und Gunhild hetzten auf den leichten Stiefeln der Lios-alfar hinterdrein, angetrieben von Yngwe, der hinter ihnen herkam. »Schneller«, drängte er. »Lauft!«

Siggi versuchte zu erkennen, ob es eine Abzweigung oder Kreuzung gab, aber nichts dergleichen war zu erkennen. Sie rannten wie in einen Schlauch hinein, und von hinten kam das Krachen und das Mahlen von Fels auf Fels immer näher.

Beim Laufen fiel Siggi auf, dass der Gang oben angeschrägt war, fast wie eine Bahn - eine Bahn für eine Kugel.

O nein!, schoss es ihm durch den Kopf.

Siggi riskierte noch einen Blick über die Schulter - und noch im selben Moment wünschte er sich, er hätte es nicht getan.

Ein riesiger Felsen rollte durch den abschüssigen Gang hinter ihnen her, und das Ding kam immer näher. Das Geräusch übertönte alles; das entsetzliche Mahlen war wie der Rhythmus des Todes und das Poltern des Felsens die Melodie dazu.

Sie würden zerquetscht werden, wenn nicht bald eine Abzweigung oder eine Kreuzung auftauchte. Der Riesenfelsen mochte noch fünfzehn Schritt hinter ihnen sein und kam immer näher, da der Gang zudem noch mit allen möglichen anderen Todesfallen durchsetzt war, auf die sie zu achten hatten.

Die Gefahr verlieh Laurion Flügel. Mit sicherem Instinkt schien er zu ahnen, wohin er ausweichen musste, aber auch er musste wissen, dass sie keine Chance mehr hatten. Doch stehenbleiben und das sichere Ende offenen Auges erwarten, wollte er auch nicht.

Noch waren sie nicht überrollt, noch liefen sie, noch waren sie am Leben. Siggi spürte in sich etwas, das sich gegen das Aufgeben wehrte, das sich weigerte, das Ende als unvermeidlich hinzunehmen.

Und doch, die Schräge des Ganges verstärkte sich, und so würde die Felskugel an Geschwindigkeit gewinnen, während sie wegen der Fallen aufpassen mussten - etwas, worauf die Felskugel keine Rücksicht zu nehmen brauchte. Obwohl, fragte sich Siggi, wo war da der Unterschied: Von einem Felsen überrollt oder von einer giftigen Speerspitze aufgespießt zu werden, das Ergebnis blieb dasselbe ...

Aber vielleicht war das Unausweichliche doch nicht so unausweichlich. Würde ihre beiden Begleiter sie sonst so antreiben, wenn sie nicht noch den Hauch einer Chance sahen? Oder war es nur ihre Ausbildung als Krieger, welche die Lios-alfar davon abhielt, aufzugeben?

Siggi riskierte wieder einen kurzen Blick, und er konnte sich der Faszination der Felskugel nicht entziehen, die mit zunehmender Geschwindigkeit hinter ihnen hergerollt kam. Die Präzision der Steinmetze war ungeheuerlich; der Stein passte fast genau in den Gang. Nur eine Maus oder etwas noch Kleineres hätte die Chance gehabt, ihm auszuweichen.

»Lauft!«, trieb Yngwe sie von hinten an.

Der Stein mochte fünf Schritt gutgemacht haben, war wohl noch zehn Meter von ihnen entfernt. In Siggis Ohren hallte das Knirschen, Krachen und Mahlen der Felskugel entsetzlich wider. Sollte er hier noch mal rauskommen, würde er dieses Geräusch nie vergessen.

»Weiter!«, rief Laurion. Der Lios-alf schien von einer wilden Hoffnung getrieben zu sein, die ihn auf den Füßen hielt und in einem Wahnsinnstempo an den Fallen vorbeizuführen schien, die hier überall sein mussten. Seinen Blick hielt er stur gesenkt.

»Springt!«, gellte der Befehl des Lichtalben, und im selben Moment machte er wie ein Weitspringer einen Satz nach vorn.

Siggi und Gunhild taten es ihm gleich, und als der Junge zu Boden blickte, meinte er so etwas wie einen Stolperdraht zu sehen, aber der Eindruck war zu flüchtig, um sich wirklich sicher zu sein.

Laurion spurtete fast wie ein Hundert-Meter-Läufer. Siggi und Gunhild hatten Mühe, Schritt zu halten; die Strapazen des langen Tages machten sich bei ihnen allmählich bemerkbar. Ihr Atem ging keuchend, die Luft brannte im Hals, und ihr Herz schlug so heftig, als wollte es die Rippen sprengen.

Laurion hingegen schien das Rennen überhaupt keine Kraft zu kosten. Vier, sieben, zehn Meter wurden in wenigen Schritten überbrückt. Siggi und Gunhild folgten, so schnell sie konnten, im Vertrauen darauf, dass Yngwe ihnen auf den Fersen blieb.

Dann hatte die Felskugel den Draht erreicht, und mit einem ohrenbetäubenden Donnern brach direkt hinter Gunhild der Boden, donnerte in die Tiefe, als hätte man darunter die Stützpfeiler weggeschlagen. Yngwe rettete sich mit einem Satz auf festen Grund. Wo sie noch vor einem Lidschlag gelaufen waren, befand sich nun auf zwei Meter Breite ein gähnendes Loch, doch damit nicht genug, wie Siggi mit Entsetzen erkannte, als er einen raschen Blick zurückwarf.

Aus den Wänden waren spitze Felsnadeln hervorgeschossen, die das Laufen an den Rändern unmöglich gemacht hätten. Hätte Laurion die Natur der Falle nicht so schnell erkannt, hätte Yngwe sie nicht so angetrieben, sie wären tot gewesen. Wieder einmal hatten die Lichtalben ihnen das Leben gerettet. Zum wievielten Mal eigentlich?

Das Krachen, als die Kugel die Felsnadeln zermalmte, riss Siggi wieder in die Gegenwart zurück. Die seitlichen Gesimse, die stehen geblieben waren, wirkten wie Schienen, sodass die Geschwindigkeit der Felskugel kaum abnahm. Durch den Spurt hatten die Fliehenden ein paar Meter Vorsprung gewonnen, aber nun verlangsamte Laurion wieder das Tempo, denn er musste versuchen, weitere Fallen auszumachen.

Siggi lief der Schweiß von der Stirn. Mit einer fahrigen Bewegung wischte er ihn weg, bevor ihm die salzige Brühe in die Augen laufen und ihn blenden konnte - und das womöglich für den Rest seines Lebens. Denn konnte Siggi auch nur einen Moment nichts sehen, mochte er im nächsten Augenblick tot sein, weil er entweder eines von Laurions Ausweichmanövern nicht mitbekam und so in eine Falle lief oder aber stolperte und Sekunden darauf zermalmt wurde.

Ein kurzer Blick über die Schulter bestätigte ihm, dass der Fels wieder aufholte. Unaufhörlich kam die massive Kugel näher ...

Laurion lief unbeirrt voran, versuchte weiter, das Unmögliche möglich zu machen. Mit fast schon wahnwitzigem Tempo wechselte er immer wieder die Richtung. Doch hatte das alles überhaupt einen Sinn? Entkamen sie den Tücken auf ihrem Weg, so war der Krach hinter ihnen Mahnung genug, das es nicht reichen würde.

»Nach rechts!«, schrie Laurion völlig unerwartet voll wilder Hoffnung.

Siggi konnte es nicht fassen. Dort vor ihnen war eine Gabelung. Noch fünf Schritte, so viel, wie der Fels hinter ihnen war.

»Links!«, gellte plötzlich Yngwes Stimme hinter ihnen, als Laurion schon zu einem Haken zur anderen Seite des Ganges ansetzte.

Ohne nachzudenken, folgten die Geschwister dem Befehl. Siggi konnte aus den Augenwinkeln den Felsen wie eine riesige Welle herandonnern sehen. Groß wie ein Haus, wuchtig wie ein Panzer. Fast versagten ihm die Beine bei dem Anblick.

Laurion warf sich in der Luft herum, hechtete zu Siggi und Gunhild in den Gang und schleuderte sie beiseite. Und hinter ihnen donnerte wie ein Ungeheuer der Felsen vorbei, keine Zehntelsekunde später, als Yngwe sich ebenfalls in Sicherheit gebracht hatte.

Keuchend lagen Siggi und Gunhild am Boden, versuchten, wieder zu Atem zu kommen, und konnten ihr Glück nicht fassen.

Die Lios-alfar waren schon wieder auf den Beinen und starrten der Steinkugel nach, deren ohrenbetäubendes Donnern und Malmen immer noch in ihren Ohren widerhallte. Der Felsen verschwand hinter der nächsten Biegung, und dann gab es ein Krachen; der Stein musste an eine Wand gehämmert sein. Da war eine Sackgasse, das Ende der Rollbahn. Hätte Yngwe nicht im letzten Augenblick die Laufrichtung des Felsens erkannt und Laurion nicht so gedankenschnell gehandelt, wären sie alle vier als blutige Masse zwischen einem riesigen Steinblock und einer Felswand geendet.

Siggi glaubte die Erschütterung noch zu spüren, konnte das aber nicht beschwören; es mochte auch einfach nur das erlöste Zittern seines Körpers gewesen sein.

»Wir machen eine kurze Rast«, sagte Laurion nur.

Er machte Siggi keine Vorwürfe, aber die machte sich der Junge auch schon selbst. Siggi wusste nur zu genau, das er es gewesen war, der den Mechanismus ausgelöst hatte.

»Ich bin schuld«, sagte er schließlich laut. »Ich hab'...«

»Das hätte jedem passieren können«, unterbrach ihn Laurion. »Schon sehr viel erfahrenere Krieger haben diese oder jene Falle ausgelöst, und sind darin umgekommen. Ich hätte sie ja auch sehen und dich warnen müssen. Aber wir haben es überstanden. Und nur das zählt.«

Siggi spürte, wie sich Gunhilds Hand in die seine schob. Er sah seine Schwester an, und ohne dass ein Wort zwischen ihnen gewechselt wurde, wusste er, dass sie ihm auch keine Vorwürfe machte. Sie schüttelte leicht den Kopf, als wollte sie sagen: Ach, Siggi, du..., und dann grinste sie.

Siggi war unendlich erleichtert. Was zwar nichts daran änderte, dass er sich die Schuld gab, aber es war gut, es nicht immer auch noch hören zu müssen.

Laurion griff nach der Feldflasche an seinem Gürtel, öffnete sie und reichte sie Siggi. Siggi nahm einen tiefen Schluck. Das kühle Wasser tat ihm gut. Fast augenblicklich fühlte er sich gestärkt und erfrischt.

»Auf dem Wasser«, erklärte Laurion, »liegt der Zauber der Königin. Es gibt uns unsere Kräfte zurück.«

Auch Gunhild nahm einen Zug aus der Flasche, die Yngwe ihr anbot, aber Siggi bemerkte, dass sie nicht in großen Zügen das Wasser - wie sonst - trank, sondern nur kleine Schlucke nahm. Das kannte er von seiner Schwester nicht. Siggi konnte nicht den Finger drauflegen, aber sie hatte sich doch irgendwie verändert.

Laurion hob ohne Vorwarnung den Kopf, als lauschte er nach irgendetwas. Siggi war wie erstarrt. Die ganze Haltung ihres Anführers sagte ihm, dass er Gefahr witterte, ohne zu wissen, was da auf sie zukam.

Auch Yngwe hatte den Kopf gehoben. Seine Augen waren so weit aufgerissen, dass man das Weiße darin erkennen konnte.

»Was ist?«, fragte Gunhild.

»Nein«, keuchte der junge Lichtalbe. »Das kann nicht... Spürt ihr es denn nicht?«

Die Lios-alfar schienen völlig verwirrt zu sein, etwas, was weder Siggi noch Gunhild erwartet hätten; denn bisher hatten sich ihre Führer immer als allen Gefahren gewachsen erwiesen.

Aber die Kinder kam nicht dazu, sich allzu viele Gedanken zu machen. Der Fels bebte, als würde sich irgendetwas Gewaltiges unter ihnen und neben ihnen regen. Und das Beben der mächtigen Felsformationen verstärkte sich, als würde ein gewaltiger Drache sich rühren und die Steine zum Wanken bringen, die Erde in ihren Grundfesten erschüttern.

»Was ist das?«, stieß Siggi hervor.

»Es ist ... der Stein war nur der Auslöser ...«, keuchte Laurion fassungslos. Aller Mut schien aus seinem Gesicht gewichen zu sein.

»Wofür?« Gunhild riss sich zusammen, obwohl ihr anzusehen war, das auch nach ihr die kalten Finger der Angst griffen.

»Eine Macht, der selbst wir nicht gewachsen sind«, sagte Yngwe.

»Wir sind verloren.« Laurions Stimme war seltsam tonlos.

Der Boden rumorte immer stärker; fast sah es so aus, als stürze das ganze Höhlensystem in sich zusammen.

Siggis Rechte berührte Laurion. Seine Hand umfasste den Arm des Lios-alf.

»Laurion!« Siggis Stimme war voller Angst. »Was ist das?«

Der Lichtalbe schien aus einem Traum zu erwachen. Es wirkte, als habe ihn Siggis Berührung geweckt.

»Ymirs Unheilsquell. Der Blasenbrodler wird er genannt, Drudgelmir. Viele von uns glaubten, er sei nur eine Legende aus dem Anbeginn der Zeit, aber fühlt doch, die Elemente regen sich, erwachen und werden uns verschlingen.«

Siggi hielt nach wie vor den Arm Laurions umklammert. Und mit jeder Sekunde schien in dem Krieger der Lios-alfar wieder das Kämpferherz zu erwachen. Sein Blick klärte sich; die Resignation wich aus seinen Zügen.

»Kommt, vielleicht haben wir noch eine Chance«, sagte Yngwe. »Es ist unsere letzte Hoffnung.«

Siggi atmete auf. Die Lios-alfar hatten sich noch nicht aufgegeben. Der Kampf würde aufs Neue beginnen, und durch das Beispiel ihrer Begleiter schöpften auch Gunhild und er wieder neue Kraft.

Laurion übernahm wieder die Führung. Die Brauen in voller Konzentration zusammengezogen, versuchte er, so schnell er es vermochte, sie von hier wegzubringen. Der schwankende Boden machte es schwerer, die Fallen zu erkennen, aber Laurion gab sein Bestes. Der Gang führte schnurgerade von der Kreuzung weg, wo sie dem Stein entkommen waren - nur, wie es schien, um einer noch größeren Gefahr in die Arme zu laufen.

Siggi wagte sich gar nicht vorzustellen, was Ymirs Unheilsquell ihnen bringen würde. Er hatte nicht gewagt zu fragen, was ›Schlimmeres‹ bedeutete, als Laurion von den Fallen erzählte. Bald würden sie nun erfahren, was schlimmer war als vergiftete Speerspitzen, Felsnadeln oder riesige Steinkugeln.

Hinter ihnen grummelte es bedrohlich, und dann explodierte es. Eine plötzliche Druckwelle riss sie von den Füßen. Direkt hinter ihnen an der Weggabelung zersprang der Fels wie Glas.

Als sie sich aufrappelten, sah Siggi das Unfassbare, und er erstarrte. Wie gebannt blickte er zurück zu der Stelle, wo der Fels geborsten war.

Aus der Felswand quoll etwas, das Siggi zunächst für etwas Lebendiges hielt, wie eine riesige Amöbe, einen sich windenden Einzeller von der Größe eines Dinosauriers.

Es war schwarz, Feuerlanzen schossen daraus hervor, ätzender, schwarzer Qualm war die Folge.

»Die Elemente ...«, entfuhr es Laurion. »Feuer, Wasser, Luft und Erde.«

Jetzt erkannte Siggi, was es war. Es war so widersinnig, dass er sich weigerte zu glauben, was er mit eigenen Augen sah. In Drudgelmir vereinigten sich die vier Elemente: Erde mit Wasser gemischt, ergab diese schwarze Masse, aber dieser Schlamm brannte, stieß Feuerlanzen und Rauch hervor.

Ihr Gang führte leicht bergauf, aber das schien das Monster überhaupt nicht zu beeindrucken. Es kroch durch die Bresche, bis es den Gang völlig ausfüllte, und kam langsam und unaufhaltsam wie eine Lawine auf sie zu.

Yngwe riss Siggi und Gunhild aus ihrer Erstarrung. »Nur weg hier!« Der Schrecken in seiner Stimme war kaum zu überhören.

»Kommt!«, rief Laurion.

Sie rannten los.

Konnten sie es schaffen, dieser Lawine zu entkommen? War das überhaupt möglich? Siggi glaubte nicht daran, aber etwas hielt ihn auf den Beinen. Der Hammer und der Ring, das waren die Quellen seiner Kraft, die ihn weiter vorwärts trieben, Laurion dicht auf den Fersen.

War der Krach des Felsens schon nervenzerfetzend gewesen, war das, was aus Drudgelmir hervorkam, noch eine Steigerung. Schmatzendes Saugen war der Grundton, die Flammenzungen klangen wie das Zischen einer Schlange, und alles zusammen bildete den Satz einer Sinfonie des Todes.

Dann erreichte sie der Gestank. Es war eine Mischung aus allem, was schrecklich roch und Übelkeit erregte. Verwesung, Fäulnis, Tod; all das vereinte sich in Drudgelmir und seinen Ausdünstungen. Es war, als wehe ihnen der Pesthauch von Ymirs verwesendem Leib direkt ins Gesicht. Es war der Odem des Verderbens.

Sie folgten dem Gang, der immer noch anstieg, aber das Monster, das den Gang hinter ihnen ausfüllte, ließ sich dadurch nicht aufhalten. Es folgte ihnen, wie ein Jäger, der seine Beute in die Enge treibt.

Den Tod, der ihnen die Felsen oder eine Falltür gebracht hätte, war kurz und wohl eher schmerzlos, aber welche Schrecken mochte sie erwarten, wenn sie von diesem Wesen aus brodelnden Schlamm und dieser Lawine von Felsen, Flammen und Gasen aufgesogen und verschlungen wurden?

Das Nächste, was sie erreichte, war der schwarze Qualm, der sie zum Husten reizte, in die Augen drang. Tränen quollen als Antwort hervor. Auch auf der Zunge machte sich ein widerlicher Geschmack breit, der einen zum Würgen brachte.

Sie kamen nur noch langsam voran. Zugleich rutschte Ymirs Todesquell näher und näher. Der Krach nahm infernalische Ausmaße an. Der zähe Qualm hüllte sie ein wie ein schwarzes Leichentuch.

Laurion gelang es irgendwie, sie halb blind durch den Gang zu führen, ohne dabei in eine Falle zu tappen. Aber wie lange konnte das noch gut gehen? Und war es nicht vielleicht besser, sich von einer Felsnadel schnell töten zu lassen, als in dem namenlosen, schmatzenden, fauchenden und ihnen unerbittlichen folgenden Schrecken zu versinken?

Niemals!, rief es in Siggi. Noch bin ich am Leben.

Sie waren nicht so weit gekommen, um hier und jetzt aufzugeben und sich in ihr Schicksal zu fügen. Also blieben sie auf den Füßen, husteten, schnauften, wischten sich die Tränen aus den Augen, und Laurions anscheinend unfehlbarer Instinkt führte sie um jedweden todbringenden Fallstrick, den die Swart-alfar in den Gängen versteckt haben mochten.

Und immer weiter ging die Hatz. Keiner von ihnen warf mehr einen Blick zurück, um zu sehen, wie nahe ihnen ihr Jäger schon gekommen war. Manchmal glaubte Siggi, die hervorzuckenden Flammenzungen mussten sie bald treffen, aber noch war es nicht so weit, und so quälten sie sich weiter vorwärts. Siggis Kehle brannte, der schwarze Qualm folterte seine Lungen. Immer öfter musste er husten, feurige Kreise wirbelten vor seinen Augen. Er konnte seine Gefährten kaum mehr erkennen, doch er lief weiter.

Gunhild war wie betäubt von den Dämpfen, die allgegenwärtig zu sein schienen. Sie taumelte, doch eine starke Hand riss sie wieder hoch.

»Weiter!«, keuchte Yngwe. Die anderen beiden waren schon ein Stück voraus. Und die brodelnde Masse ihres Verfolgers schob sich unerbittlich näher.

Dann konnte Gunhild durch Tränenschleier und Qualm erkennen, dass der Gang zu Ende war. Laurion und Siggi waren in einer Art Grotte angekommen, und der junge Lios-alf versuchte verzweifelt zu erkennen, wohin er sich wenden sollte. Hinter ihnen klang, gefährlich nah, das drohende Schmatzen auf. Drudgelmir würde sie unweigerlich einholen.

Gunhild taumelte in die Grotte. Für einen Augenblick wurde die Luft besser, und gierig sog sie die von den Dämpfen freie Luft ein, als der Qualm nach oben gesogen wurde.

Doch in der Grotte gab es keinen Ausgang. Sie saßen in der Falle.

»Hierher!«, rief eine Stimme, die Gunhild bekannt vorkam. Sie wischte sich die Tränen ab - und glaubte zu träumen. Von der Decke hingen vier Seile herab, und Widar winkte ihnen durch ein natürliches Loch in der Decke zu.

Siggi und Laurion rannten sofort los, ohne Rücksicht auf mögliche Gefahren, einfach auf ihr Glück vertrauend.

Gunhild wollte ihnen folgen, aber ihr versagten die Kräfte. Sie stolperte und fiel.

»Steh auf! Weiter!« Das war Yngwes Stimme. Die anderen hatten gar nichts von ihrem Sturz bemerkt.

Gunhild versuchte, sich zu erheben, doch die Beine knickten ihr ein. Die brodelnde Substanz schwappte heran. Feuerlanzen stachen nach ihren Füßen. Sie wollte aufschreien, doch sie brachte nur ein Krächzen hervor.

Dann packten sie zwei starke Arme und hoben sie auf.

»Wir schaffen es, Herrin!«, keuchte Yngwe, selbst am Ende seiner Kräfte.

Einen flüchtigen Augenblick fragte sich Gunhild, wen er in ihr sah: das Menschenkind oder Freya, die Göttin. Dann drückte ihr jemand ein Seil in die Hand.

»Festhalten!« Sie griff danach, aber es entglitt ihren Fingern.

Dann war die schwarze, schwappende Masse heran.

Yngwe schrie. Feuer griff nach seinen Beinen, setzte seine Kleider in Brand. Säure fraß sich in sein Fleisch, löste es auf. Brodelnder Schlamm ließ ihn schwanken. Mit einem letzten, verzweifelten Kraftakt stemmte er seine Last in die Höhe.

»Gunniiii«, kam Siggis Schrei von oben.

Krampfhaft griff sie zu, bekam das Seil zu packen und klammerte sich daran, ohne überhaupt etwas zu denken, nur vom reinen Überlebensinstinkt getrieben. Dann wurde sie in die Höhe gezogen, während unter ihr Drudgelmir heranschwappte und die ganze Grotte mit seiner brodelnden, stinkenden feurigen Flut erfüllte.

Keuchend lag sie auf dem kalten Felsboden. Ihre Lunge brannte wie Feuer, und sie glaubte, sich übergeben zu müssen, doch würgte sie nur gelben Schleim hervor.

»Hier, trink!«, sagte eine Stimme. Jemand setzte eine Feldflasche an ihre Lippen. Sie trank das klare Wasser, musste wieder husten, trank noch einmal.

Ihre Finger krampften sich noch immer um das Seil, und sie konnte sie nicht davon lösen.

Sie blickte in die Runde. Sie sah Wali, der ihr zu trinken gegeben hatte, und auch die anderen Späher, Widar, Modi und Magni, waren anwesend. Siggi lag noch auf dem Boden; seine Brust hob und senkte sich in keuchende Atemzügen. Laurion saß nehmen ihm und hatte das Gesicht abgewandt. Und Yngwe ...

»Wo ist Yngwe?«

Der Blasenbrodler stieß eine letzte Feuerlanze aus der Tiefe hervor.

Da kam ihr zu Bewusstsein, was geschehen war, und sie weinte, weinte bittere Tränen, die nicht aus Rauch und Feuer geboren waren, sondern aus Kummer um einen Freund, der so voller Hass gewesen war und so voller Heldenmut.

»Er hat mit seinem letzten Blick das Halsband der Göttin gesehen«, sagte Laurion mit einer Stimme rau wie Asche. »Und er hat dich gerettet. Er war sich dessen bewusst, dass dies ein gefährliches Spiel ist, aber als Krieger ist er das Risiko eingegangen. Ehre sein Andenken, aber lass dich nicht vom Kummer überwältigen.«

Der Lios-alf hatte den Arm um sie gelegt. Sie vergrub ihr Gesicht an seiner Schulter.

Die Lios-alfar sahen die Kinder an. Siggi, der sich ebenfalls wieder aufgerafft hatte, konnte keinen Vorwurf in den Augen der Lichtalben finden, nur Trauer um den Kameraden und Sorge um ihre Gäste.

»Wir müssen nun weiter«, erklärte Laurion schließlich. »Es liegt noch ein gutes Stück Weg vor uns, der gegangen sein will.«

»Ich kann nicht«, schluchzte Gunhild.

»Du musst«, entgegnete Laurion. »Damit sein Opfer nicht vergebens war.«

»Von hier aus führt nur noch ein Weg«, sagte Magni. »Wir haben die anderen Tunnel erkundet, aber sie sind hier alle durch Geröll oder Felsblöcke versperrt. Es scheint, dass die dunkle Brut doch noch ganze Arbeit geleistet hat, bevor sie sich zur Heerschau sammelte. Es muss einen genauen Plan gegeben haben, was jeder in diesem Fall zu tun hatte; anders ist das nicht zu erklären.«

»Und welcher Weg ist das?«, fragte Laurion.

»Der Weg durch den lichtlosen Tunnel«, antwortete Magni.

Trotz der herrschenden Düsternis konnte Siggi sehen, wie Laurion erblasste.

»Ich hatte gehofft, diesen Weg vermeiden zu können«, sagte der Lios-alf langsam. »Aber wenn das Schicksal es nicht anders gewollt hat, werden wir ihn gehen - oder besser kriechen. Zumindest dürften wir dann aus einer Richtung in das Schwarzalbenheim eindringen, die keiner von ihnen vermutet.«

Sie standen auf, und Magni übernahm die Führung. Laurion wollte Gunhilds Hand nehmen, aber sie schüttelte ihn ab; sie wollte lieber allein sein, allein mit ihren Gedanken. Siggi konnte sich ungefähr denken, was in ihr vorging. Jemand hatte sich für sie aufgeopfert, hatte sein Leben für sie gegeben. Wenn das alles bislang wie ein Spiel erschienen war, jetzt war es blutiger Ernst.

Er warf einen Blick auf Magni, Widar und die anderen, die ihnen folgten. Sie nahmen ein ähnliches Risiko auf sich wie Yngwe, und alles nur, um ihnen zu helfen, Hagen aus der Hand der Schwarzalben zu befreien. Obwohl die Lios-alfar zur gleichen Zeit zu einem Krieg gegen die Swart-alfar rüsteten, standen sie ihnen bei. Er konnte ihnen und ihrer Königin gar nicht dankbar genug sein.

Nach einem Marsch von ungefähr fünf Minuten, bei dem es über eine geneigte Felsfläche ging, in einer Höhle, deren Größe nicht abzuschätzen war, bis auf die Decke, die man fast mit ausgestrecktem Arm berühren konnte, kamen sie an eine Felswand. Dieser folgten sie ein kurzes Stück, bis sich darin eine weitere Öffnung auftat, gesäumt von spitzen Felszacken.

»Wir haben die Falle hier bereits ausgelöst«, sagte Magni, ohne genau zu erklären, wie das geschehen war, »und das Geröll beiseite geräumt. Soweit wir erkennen konnten, ist der Weg hier frei.«

»Es hat keinen Sinn«, ließ sich Laurion vernehmen, »wenn ihr vier uns dabei begleitet. Je weniger diesen Weg beschreiten, umso geringer ist die Gefahr. Ich muss gehen, um die Menschenkinder zu führen, und sie müssen ans Ziel gelangen; denn ich denke, dass sie beide noch eine Rolle zu spielen haben - sonst wären sie nicht hier, und sonst wären wir nicht so weit gekommen. Darum lebt wohl, und mögen die Nornen euch hold sein!«

Magni nickte nur, und die anderen hoben grüßend die Hand, dann verschwanden sie so lautlos, wie es nur die Lios-alfar vermochten. Und Siggi nahm zum ersten Mal bewusst wahr, wie gut das Silbergrau ihrer Kleidung als Tarnung vor dem grauen Fels wirkte. Im fahlen Licht musste man schon genau hinsehen und dazu wissen, wo jemand war, um ihn erkennen zu können.

»Auf geht's«, sagte Laurion und übernahm wieder die Führung. Siggi und Gunhild folgten ihm im Gänsemarsch.

Siggis Nerven waren zum Zerreißen gespannt. Er ertappte sich mehrfach dabei, wie seine Rechte nach dem Hammer oder dem Ring tastete, um wieder das Gefühl der Sicherheit zu bekommen. Gunhild blieb immer noch stumm.

Schritt für Schritt drangen sie tiefer in den Gang ein. Trotz der Aussage des Spähers, dass keine Fallen mehr drohten, hüteten sich alle, die Wände des immer enger werdenden Ganges auch nur zu berühren.

Siggi stellte fest, dass es wieder ein Stück bergauf ging. Die Steigung war sanft und strengte kaum an. Seine innere Anspannung löste sich ein wenig, und er begann, sich sicherer zu fühlen.

»Kein Grund, sorglos zu werden«, sagte Laurion, als spürte er, was in Siggi vorging, obwohl der junge Lichtalbe seinen Blick weiterhin nach vorn gerichtet hielt.

»Ja, Laurion«, stimmte Siggi ihm völlig überrascht zu.

Siggi fragte sich, woher ihr Führer gewusst hatte, dass er unaufmerksam zu werden drohte. Es musste der Instinkt sein, der sich bei Laurion entwickelt hatte. Fast sein ganzes Leben hatte er im Krieg gegen die Schwarzalben verbracht. Er hatte nie die Sicherheit des Friedens kennen gelernt. Er schien zu spüren, wenn seine Leute unachtsam wurden.

Weiter ging es, und Siggi dachte darüber nach, was passieren würde, wenn ihrem Führer etwas zustieße, sodass seine Schwester und er auf sich allein gestellt wären. Allein der Gedanke ließ ihn schaudern. Sie würden keine Chance haben; entweder würden sie in die Hände der Swart-alfar fallen, sich verirren - denn er hatte keine Ahnung, wo sie waren - oder in einer der zahllosen Fallen verenden.

Siggi tastete fast automatisch nach dem Kriegshammer an seiner Seite, der ihm immer wieder Sicherheit gab. Auch jetzt durchströmte ihn gleich darauf eine wilde Entschlossenheit und Zuversicht. Es machte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen, was sein könnte. Er musste sich auf den Augenblick konzentrieren. Das Hier und Jetzt zählte; nicht irgendwelche Möglichkeiten, die sich vielleicht ergeben würden.

Sie erreichten eine Halle von wohl zwanzig mal zwanzig Metern. Die Decke der Halle war im fahlen Licht kaum auszumachen, sie mochte acht oder zehn Meter hoch sein. Abrupt blieb Laurion stehen, und der Lichtalbe richtete seinen Blick nach oben, als suche er etwas ganz Bestimmtes.

»Hier«, stellte er schließlich fest, nachdem er die Felswand eingehend untersucht hatte, »müssen wir nach oben klettern. Achtet darauf, was ich mache. Dort«, sagte er und deutete auf Vertiefungen und Vorsprünge im Fels, »müsst ihr entlang. Da ist eine künstlich angelegte Leiter, die uns dort hinauf führt.«

Siggi und Gunhild nickten. Unter der Höhlendecke konnten sie schwach ein schwarzes Loch entdecken, das wie das Maul eines riesigen Ungeheuers wirkte. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch eine Reihe von Felsnadeln, die wie riesige, verfaulte Zähne aussahen.

Laurion kletterte schnell und sicher. Siggi folgte ihm, und er wunderte sich, dass diese Vertiefungen künstlich sein sollten; denn sie wirkten, als wären es völlig natürliche Felsformationen. Es war einfacher als erwartet, den Weg nach oben zu finden. Die ›Leiter‹ beschrieb einen kleinen Bogen im Fels, aber sie waren recht schnell oben. Der Eingang in den Stollen war nur etwa einen Meter hoch, und Laurion zog die Geschwister über die Kante hinweg in den Gang hinein, der glücklicherweise recht breit war.

Im Eingang verweilten sie kurz. Laurion sah sie ernst an, dann sah er zur Decke des Ganges hinauf. Im unsteten Licht dieses Ganges konnte Siggi erkennen, dass sich der Gang rasch verjüngte und immer schmaler und niedriger wurde.

»Als ich sagte«, erklärte Laurion flüsternd, »dieser Weg sei weniger gefährlich, je weniger ihm folgen, so war das ernst gemeint« - Siggi und Gunhild war klar, das nun ein Aber kommen musste, weil es an dieser Stelle immer eine Einschränkung gab -, »aber er ist gefährlich. Vorsicht: die Höhlendecke ist nicht stabil. Bitte macht keine lauten Geräusche, fasst keine scheinbar einzelnen Steine an Wänden und Decke an. Es könnte das Letzte sein, was ihr berührt. Folgt mir einfach nur.«

Siggi schluckte, gab aber keinen Kommentar.

»Das hättest du uns vorher sagen können«, ließ sich Gunhild vernehmen.

»Ja«, meinte Laurion nur. Der junge Lios-alf schien nicht im Mindesten beleidigt zu sein. »Hier gibt es so etwas wie wirkliche Sicherheit nicht. Es gibt nur unterschiedliche Wahrscheinlichkeiten, zu Tode zu kommen. Oder zu überleben.«

Gunhild sah Laurion fest an. Es war ihr anzusehen, dass sie nachdachte. Siggi kam mehr und mehr zu der Überzeugung, dass mit seiner Schwester irgendetwas vorgehen müsse. Eigentlich müssten jetzt nämlich, ohne dass sie lang überlegte, die Einwände nur so aus ihr heraussprudeln; denn Gunhild war diejenige, die immer unaufgefordert ihre Meinung sagte, so wie sie sich spontan in jedes Abenteuer stürzte. Sie schien ihre Unbekümmertheit im Umgang mit anderen und der Gefahr zu verlieren. Aber was gewann sie?

Siggi beschloss, dass auch diese Frage nicht zu beantworten war, wie so viele Fragen, die sich ihm gestellt hatten, seit sie um den Brunnen getanzt waren. Aber er war sich sicher, die Antwort auf seine Fragen würde allein die Zeit geben.

»Also weiter«, unterbrach Laurion Siggis Gedanken. »Und vergesst nicht, was ich euch gesagt habe. Vergesst es keinen Augenblick lang.«

Schon nach wenigen Metern gingen sie gebückt, und nur ein zwei Schritte später krochen sie auf den Knien vorwärts. Siggi befürchtete, der Gang könnte noch niedriger werden und sie müssten auf dem Bauch rutschen wie Seehunde.

Seine schlimmsten Befürchtung wurden nur wenige Meter später zur Gewissheit. Der Stollen verengte sich so weit, dass der Lios-alf und die beiden Kinder auf den Bauch voranrobbten.

Siggi warf einen Blick an die Decke. Über ihm waren Millionen Tonnen Fels, und was war, wenn er mit den Schulter eine mürbe Stelle streifte? Er hatte keine Chance zu fliehen. Er konnte nie und nimmer schnell genug sein, um den herabstürzenden Felsmassen zu entkommen.

Siggi erkannte, dass der Tunnel, durch den sie krochen, immer enger wurde und der schlanke Laurion vor ihm den Gang fast völlig ausfüllte. Der Junge spürte die kalten Wände an seinen Ellenbogen. Er wagte kaum zu atmen, und als er versuchte hochzusehen, streifte sein Blondschopf die Decke. Sofort senkte er den Kopf.

Ein kalter Hauch schien das Blut in seinen Adern gefrieren zu lassen; seine Muskeln zitterten, versagten ihm den Dienst. Ein Kloß bildete sich in seinem Hals und ließ sich nicht herunterschlucken. Der kalte Schweiß brach ihm aus.

Er versuchte an den Hammer und den Ring zu kommen, aber die Stelle war zu eng, und weder das eine noch das andere konnte er berühren, um die benötigte Sicherheit zu erlangen.

»He, Siggi, was ist?«, fragte Gunhild leise aber bestimmt hinter ihm. Sie folgte ihm dichtauf.

»Nichts«, gab er zurück, aber selbst ihm schien seine Stimme krächzend zu klingen. »Gar nichts.«

»Bleib ruhig«, kam die beruhigende Stimme Laurion von vorn. »Es ist nicht mehr weit.«

»Ich ... kann nicht...«, kam es stockend über Siggis Lippen, »mehr weiter.«

»Du kannst!«, munterte ihn Gunhild auf.

»Komm, Siggi«, sagte Laurion. »Du bist Drudgelmir entkommen. Erinnere dich! Jetzt wird dich doch das hier nicht aufhalten können!«

Vor Siggis innerem Augen entstand das Bild dieser Lawine aus flammenden, rauchenden Schlamm, er vermeinte das schmatzende Saugen, das zischende Fauchen der Flammen zu hören, roch den beißenden Qualm, spürte das faulige Wasser wieder an seinen Füßen, konnte all das wieder fühlen.

Das hatte er überlebt, hatte dieses Monster überlebt, das wie ein riesiger, geistloser Organismus hinter ihnen her gekrochen war, überstanden.

Nun durfte er hier nicht versagen!

Siggi versuchte, wieder Herr über seinen vor Furcht erstarrten Körper zu werden, wollte weiter, aber seine Arme und Beine waren wie Watte.

Hagen!

Das Gesicht des Freundes erschien, und er schien Qualen zu leiden. Auf seinem Antlitz schien sich die Glut des Höllenfeuers zu spiegeln!

Er musste weiter, musste ihm helfen, durfte Hagen nicht im Stich lassen, musste ihn aus den Krallen der finsteren, gesichtslosen Jäger befreien!

Ein Muskel zuckte. Steine bewegten sich.

Unendlich langsam zog Siggi sein Bein an und stieß sich ab. Ihm schien es, als wäre Minuten, gar Stunden der Erstarrung vergangen.

»Gut, Siggi«, kam Gunhilds Stimme ganz leise von hinten.

»Weiter«, murmelte Siggi selbst. Ihm steckte immer noch ein Kloß tief im Hals.

Laurion bewegte sich weiter; und Siggi bemühte sich, nur auf die Füße des Lios-alf zu sehen, der sie durch diese Röhre führte, durch die ein Erwachsener kaum gepasst hätte.

Weiter, nur weiter, hämmerte es in Siggi. Er versuchte nicht mehr an die tausend oder mehr Meter Fels über ihm zu denken, die nur darauf warteten, über ihm zusammenzubrechen, ihn zu begraben, zu zerquetschen ...

Siggi fand ein Mittel gegen den Fels, gegen die Enge. Das Bild des Rheins stieg vor ihm auf, der wie ein Schwert die Landschaft geteilt hatte, und über sich hatte er den weiten Himmel, die Wolken und die Sonne gehabt. Krampfhaft versuchte er, diese Vision zu behalten; sie beruhigte. Sein Körper, so schien es ihm, schob sich mechanisch wie eine Marionette vorwärts, während der Rhein seinen Geist erfüllte, jener Strom, den Gunhild für ein silbernes Band und Hagen für eine graue Schlange gehalten hatte.

»Komm hoch!« Laurion Stimme riss Siggi aus dem Dämmerzustand.

Ich hab's geschafft!, jubelte Siggi innerlich. Er konnte es kaum fassen, dass die Enge verschwunden war, und er sich wieder aufrichten konnte. Siggi weigerte sich, auch nur einen Blick zurückzuwerfen; stattdessen sah er Laurion an, wartete auf den Spott, den der Lios-alf über ihm ausschütten würde. Aber nichts dergleichen geschah.

»Wage es nicht!«, sagte Gunhild, und nicht nur die Stimme des jungen Mädchens, auch ihre Haltung war eine Warnung an den Lios-alf. Das Mädchen wusste genau, welche Ängste Siggi ausgestanden hatte. Auch ihr hatte es in der Enge den Atem geraubt, und vor ihrem geistigen Auge war das Gefühl entstanden, in einem Sarg zu liegen. Allein der Gedanke an Yngwe und das Opfer, das er für sie gebracht hatte, hatte verhindert, dass die Angst sie in den Griff bekam.

»Ich hatte nicht die Absicht, mich über Siggi lustig zu machen«, verteidigte sich Laurion. »Allein die Tatsache, dass man in den Höhlen lebt, bedeutet nicht, die Furcht nicht zu kennen, wenn man sich durch Röhren oder schmale Durchlässe zwängen muss.«

Siggi sah dem Lios-alf in die Augen, und er konnte kein falsches Mitleid darin erblicken.

Damit war das Thema beendet. Laurion griff abermals nach seiner Feldflasche und reichte sie herum.

»Die ist ja wieder voll!«, entfuhr es Gunhild. »Wo hast du die denn nachgefüllt?«

»Die Königin hat die Flasche geweiht«, entgegnete Laurion zum zweiten Mal.

»Kann sie so was?«, fragte Gunhild.

»Sie kann noch viel mehr«, entgegnete Laurion. »Sie ist noch eines der wirklich zaubermächtigen Wesen der Anderswelt.«

»Warum zaubert sie da die Swart-alfar nicht einfach weg?«, fragte Siggi.

»Weil das nicht die Natur ihres Zaubers ist. Ihre Magie vernichtet nicht; sie erschafft oder hilft. Und außerdem haben auch die Swart-alfar ihren König, und auch er ist in gewisser Hinsicht eines Zaubers mächtig, einer Macht, die uns fremd ist«, erklärte Laurion.

Siggi und Gunhild begriffen kaum etwas von dem; denn ihnen war jegliche Zaubermacht bis vor kurzem überhaupt fremd gewesen. Ihr Vater hatte ihnen einige Zauberkunststücke erklärt und hatte gesagt, alles was mit Zauberei zusammenhänge, sei Illusion und Fingerfertigkeit. Doch die letzten Stunden hatte ihnen bewiesen, das es Dinge gab, die weit über das hinausreichten, was mit bloßen Tricks zu erklären war. Warum also sollte es nicht möglich sein, dass eine Wasserflasche durch Zauber wieder gefüllt wurde?

»Kommt jetzt, wir müssen weiter«, sagte Laurion, nachdem sie alle getrunken hatten.

Der Trank hatte die Furcht vertrieben. Sie waren erfrischt, und auch Siggi fühlte sich wieder kräftig genug, den Weg fortzusetzen.

Der Gang vor ihnen war wieder so, dass sie aufrecht gehen konnten, und so breit, dass man selbst mit ausgestreckten Armen die Seitenwände nicht berührte.

»Ist es noch weit?«, fragte Siggi wieder.

»Wir kommen immer näher«, entgegnete Laurion mit gedämpfter Stimme, »und von nun an sollten wir schweigen.«

»Eine Frage noch«, flüsterte Gunhild, und sie Wartete damit, bis Laurion sie auffordernd ansah. »Gibt es hier noch irgendwelche Fallen?«

»Eigentlich nicht mehr«, antworte Laurion, »aber man kann nie wissen, was die Swart-alfar so ausbrüten. Ihr habt gesehen, ihre Werkzeuge haben überall die Höhlen verschandelt. Aber wir werden vorsichtig sein und das Beste hoffen.«

Sie setzten ihren Weg fort. Siggi bemerkte, dass das Licht an Intensität gewann, heller wurde. Der Fels war einfacher auszumachen. Laurion schien seine Augen überall zu haben, aber er wich nicht mehr vom geraden Weg in diesem Gang ab, als gäbe es hier keine Fallen.

Trotzdem blieben die Kinder hinter ihm und wichen nicht aus seiner Spur; denn es mochte immerhin sein, dass auch Laurion etwas übersah, oder die Fallen waren auf diesem Weg an den Seiten. Fragen wollten sie ihn nicht. Außerdem war Schweigen geboten.

Einen Moment schien der Lichtalbe plötzlich zu zögern, dann folgte er weiter den geraden Weg in der Mitte des Ganges. Seine Augen richteten sich zur Decke, als suche er etwas. Sein Schritt schien Siggi ein wenig unsicher zu sein, als habe Laurion das Gefühl, etwas übersehen zu haben, aber er wusste wohl nicht, was es sein könnte.

Ohne Vorwarnung brach unter ihnen der Boden weg.

Siggi und Gunhild schrien entsetzt auf, und der Schrei wurde tausendfach als Echo aus der unergründlichen Tiefe zurückgeworfen.

»Bei den Schlangen der Hei!«, stieß Laurion aus, und das war das Letzte, was Siggi von ihm hörte.

Siggi schrie, als sie in die bodenlose Finsternis stürzten. Kein Licht gab den Blick auf spitze Felsnadeln oder gifttriefende Speere frei. Nur Finsternis, und das erschreckte ihn nur umso mehr.

Er wusste nicht, was ihn am Ende des Sturzes erwartete, aber bevor sich die Bilder seiner Fantasie verselbstständigen konnten - er mochte wohl zwei oder drei Meter gefallen sein -, schlug er hart auf. Die Luft wurde ihm aus dem Brustkorb gepresst, und so verstummte sein Schrei. Benommen durch den Aufprall, merkte er gar nicht recht, was mit ihm geschah.

Siggi spürte einen Luftzug im Gesicht, aber es dauerte noch zwei, drei Sekunden, bis er begriff, dass nicht die Luft sich bewegte, sondern er selbst. Er rutschte auf glatten Fels in die Tiefe. Die Schräge war unglaublich, und die Geschwindigkeit, die Siggi erreicht hatte, musste gewaltig sein. Der Fels war so glatt, als wäre er tausend Jahre lang poliert worden. Der lederartige Stoff aus der Kleiderkammer der Lichtalben glitt reibungslos über den nackten Stein.

Die Überraschung war so groß, dass Siggi völlig vergaß zu schreien, und so rauschte er in die Tiefe.

Der Ring!, schoss es ihm durch den Kopf, und Siggi wusste selbst nicht warum. Als er den goldenen Reif ertastet hatte, fühlte er sich gleich viel ruhiger. Den Hammer steckte ebenfalls noch in seinem Gürtel, was ihn zusätzlich beruhigte. Und sein nächster Gedanke überraschte ihn, der immer eher ans Weglaufen gedacht hatte; denn er galt dem Kampf, den er den Schwarzalben am anderen Ende der Rutsche liefern würde ...

Gunhild! Laurion! Als er an die Schwester und den Gefährten dachte, kehrte die Sorge in sein Herz zurück. Angestrengt lauschte er in die Dunkelheit.

»Haaaallo!«

Das Echo seines Rufes zerschliff an den glatten Wänden. Keine Antwort. Das einzige Geräusch, das der Junge hörte, war der Fahrtwind, der in seinen Ohren pfiff.

Einsam, von völliger Finsternis umgeben, ohne Möglichkeit, auf dem glatten Felsen seine Fahrt zu verlangsamen oder gar anzuhalten, rutschte Siggi in die Tiefe. Nichts und niemand konnte ihn bremsen. Doch der Ring und der Hammer schienen ihm Kraft zu geben, und so genoss er fast die Abfahrt. Er hoffte, Gunhild und Laurion würde es ähnlich ergehen und sie würden sich am Ende der Bahn wiedertreffen ... und dann würden sie es den Swart-alfar zeigen!

In den Kurven wurde Siggi fast wie ein Ball hin und her geworfen, und er legte sich, wie er es bei den Rennrodlern im Fernsehen gesehen hatte, flach auf den Rücken.

Zuerst hielt er es für Einbildung, dann wurde es nach und nach zur Gewissheit: Die Luft, die ihm entgegenschlug, wurde immer wärmer, fast schon heiß. Schon bald waren sein Lippen und sein Mund trocken.

Auf was raste er da zu? Visionen vom Höllenfeuer flackerten vor seinen Augen. Waren die Swart-alfar nicht wie Dämonen erschienen? Konnte es sein, dass sie Kreaturen des Teufels waren? Vielleicht war der König der Schwarzalben ja niemand anderes als Satan, Luzifer oder wie er genannt wurde!

Nur der Hammer und seine Geheimwaffe, der Ring, machten die Gedanken an das Ende seiner rasenden Fahrt in die finsteren Tiefen wieder erträglich. Ihm war, als spräche eine Stimme zu ihm:

Denke an den Augenblick und nicht zu viel an die Zukunft. Es kommt, wie es kommen muss.

Siggi versuchte, etwas von seiner Umgebung zu erkennen, aber das Unterfangen war sinnlos. Zu schnell glitschte er über den Fels, zu total war die Finsternis, die ihn umgab. Doch während der wahnwitzigen Rutschpartie hatte er ein Gefühl für sein Tempo entwickelt, und so bemerkte er recht bald, dass die Bahn längst nicht mehr so steil war, sondern der Winkel abflachte, und er so langsam, aber sicher abgebremst wurde.

Einer Eingebung folgend löste Siggi den Hammer vom Gurt und nahm ihn fest in die Rechte. Den Ring wollte er noch nicht überstreifen; den würde er erst dann einsetzen, wenn es sich nicht mehr umgehen ließ.

Wilde Entschlossenheit erfüllte ihn. Wer wusste schon, wie Gunhild und Laurion da unten ankommen würden. Vielleicht war er der Einzige von ihnen, der kampfbereit war ...

So hatte er sich noch nie gefühlt. Ihm war, als würde der Hammer in seiner Hand ein Eigenleben führen. Und dann war da noch etwas: Siggi glaubte zu fühlen, dass es an der Stelle, wo der Beutel mit dem Ring seinen Körper berührte, kribbelte. Es war kein unangenehmes Kribbeln. Es war, als fließe Kraft auf ihn über, und sie schien den Weg zu seinem Herzen und zu seinem rechten Arm zu gehen.

Sei bereit...

Seine Fahrt war jetzt deutlich langsamer geworden, und war da nicht ein schwacher Lichtschein, der weit vor ihm zu sehen war? Flackernd, warm leuchtend, wie der Widerschein von Feuer.

Siggi fühlte den heißen Luftstrom, der jetzt mehr war als nur Fahrtwind. Es war, als würde heiße Luft in einen Schornstein gestoßen. Ein widerlicher Geruch stieg ihm in die Nase, wie nach faulen Eiern.

Schwefel!

Manchmal war es doch nicht so übel, am Chemieunterricht teilzunehmen und nicht zu schwänzen. Ja, es roch eindeutig nach Schwefel.

Was erwartete ihn da unten?

Statt eine Antwort zu suchen und sich durch stetiges Grübeln selbst zu verunsichern, packte Siggi den Hammer fester, und harrte der Dinge, die da kamen.

Er war mittlerweile so langsam geworden, und der flackernde Widerschein von unten war hell genug, dass er sich seine Umgebung ansehen konnte. Der Fels war glänzend schwarz und wirkte wie poliert. Das Licht spiegelte sich auf dem Stein mit dem gleichen Effekt wie bei dem Panzer einer großen Fliege: Mal schimmerte es blau, dann wieder metallisch grün.

Der Feuerschein wurde immer deutlicher, und Siggi konnte erkennen, dass dort eine lange Rechtskurve den Endpunkt seiner Reise vor seinen Blicken verbarg.

Inzwischen war Siggi kaum schneller als auf einer Spielplatzrutsche, und er saß wieder aufrecht, konnte es kaum noch abwarten, zu sehen, wer dort unten auf ihn lauerte. Er reckte sich, um etwas zu erkennen, aber noch hatte er den Scheitelpunkt der Kurve nicht erreicht, und so glitt er die letzten Meter ungeduldig dahin, bereit, sich in dem Kampf zu stürzen.

Es kam völlig anders, als er sich ausgemalt hatte.

Vor ihm öffnete sich ein riesiger Dom, ein gewaltiger Raum, dessen Decke sich in rot erfüllter Düsternis verlor. Dunstwolken trieben hindurch, erleuchtet von einem steten Flackern und Glosen, das von unten kam. Hitze strahlte von dort empor. Die Höhle musste sich tief auf den Grund der Anderswelt befinden, weit tiefer als alle Kammern und Räume, in die sich je ein Mensch vorgewagt hatte. Denn bis auf wenige Meter am Rand wurde sie durch einen gewaltigen Lavasee beherrscht, welcher den Feuerschein erzeugte.

Um ein Haar hätte Siggi es verpasst, rechtzeitig abzubremsen, sodass er fast über den rauen Fels gerutscht wäre. Es gelang ihm gerade noch, zum Stillstand zu kommen, ehe der Lavasee begann.

Dann stand er unter der gewaltigen Kuppel an den Ufern eines glühenden Meeres.

»Siggi«, klang eine erleichterte Stimme an sein Ohr.

Siggi fuhr der Schreck in die Knochen, aber er lief nicht weg, wie er noch vor wenigen Stunden getan hätte, sondern warf sich herum, den Hammer zum Schlag erhoben. Was er zu sehen bekam, ließ ihm den Atem stocken.

Es war nicht Gunhild, auch nicht Laurion.

Es war Hagen.

Er war mit schweren, mattschwarzen Ketten an einen Felsen gekettet. Über ihm trat Lava aus einem Loch im Fels. Normalerweise würde die Lava in den See tropfen, aber die Swart-alfar hatten den aus der Wand tretenden Lavastrom umgeleitet.

Auf einer Rinne aus schwarzem Metall, welches genauso aussah wie das Eisen, aus dem Hagens Ketten gefertigt waren, lief der Strom der Lava träge, aber zielsicher auf Hagen zu.

Die Rinne wurde in einer gewaltigen Spirale nach unten geführt. Weiter oben glühte das Metall bereits weiß und rot, unten war es noch kühl und schwarz. Das kochende Gestein würde Hagen genau auf die Brust laufen und ihn auf qualvolle Weise töten ...

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