10
Ragnarök

»Wo geht's lang?«, fragte Siggi, an Gunhild gewandt.

»Diesen Gang dort«, antwortete sie und zeigte auf einen offensichtlich nach unten weisenden Stollen und nicht auf jenen, der bergauf verlief und sie scheinbar ihrer Welt näher brachte.

»Aber der führt nicht nach oben«, wandte Siggi ein.

»Ich vertraue der Göttin«, sagte Gunhild einfach und trat auf den Gang zu, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen.

»Und ich«, meinte Hagen, und den Glanz in seinen Augen hatte Siggi schon bei den Lios-alfar gesehen, »vertraue Gunhild.« Ohne ein weiteres Wort folgte er ihr.

»Na, wenn dem so ist«, meinte Siggi und ging den beiden nach. Seine Hand hielt er fest um den Hammer geschlossen. Wer wusste, was sie noch erwartete; denn Freya hatte gesagt, sie würde nicht alle Schrecken von ihnen fern halten können.

Gunhild lenkte ihre Schritte sicher durch das Labyrinth der Gänge. Das Licht, das die Anderswelt erhellte, schien nicht mehr so intensiv zu sein; es schwand langsam dahin.

Der Zauber verging ...

Und wenn es zuerst auch außer dem fahler werdenden Schein kein weiteres Zeichen für den Untergang der Anderswelt gab, so hörten sie auf dem Gang bald wieder die Echos des letzten Kampfes der Alben gegeneinander. Weder die Lios-alfar noch die Schwarzalben würden siegen. Dieser Kampf hatte keine Gewinner. Ihre Heimat würde vergehen, verlöschen und nur noch in der Erinnerung der drei Menschenkinder bestehen bleiben.

Mit ihnen würde die Anderswelt endgültig vergehen, aber Siggi dachte daran, sollte er einst Kinder haben, würde er ihnen von seinen Erlebnissen hier erzählen, würde ihnen vom heldenhaften Opfers Laurions berichten, vom Hass der Völker und vom sinnlosen Töten, aber auch von der Schönheit der Höhlen und von vielem mehr, das er gesehen und erlebt hatte. Die Geschichten dieser Nacht würden ausreichen für viele Erzählungen. Und er wusste, ohne zu fragen, dass Gunhild und Hagen ähnlich darüber dachten. Jeder von ihnen würde einen Teil der Anderswelt retten und vor dem Untergang bewahren. Und ihm war, als hörte noch einmal die Stimme des Donnerers, dessen Hammer er trug, die »Ich danke dir, Siegfried« grollte.

Sie folgten den von Gunhild ausgewählten Wegen, und Hagen schien mit seinem Vertrauen recht zu behalten, denn nach einem kurzen Abstieg ging es beständig bergauf.

Zu dem schwindenden Licht gesellte sich nun immer häufiger ein rötlicher Feuerschein, der die Schächte und Kamine hinaufdrang. Irgendwo in er Tiefe musste eine gewaltige Feuersbrunst toben, die langsam heraufstieg.

Und da waren die Schreie.

Gespenstische Echos hallten durch das Höhlensystem. Die Melodie der letzten Schlacht war disharmonisch, und mit der Zeit glaubte Hagen, dass Loki auch in diesem Punkt gelogen hatte. Deutlich konnte er die Kampfesrufe von den Todesschreien unterscheiden, und die Zahl der Letzteren überwog. Das Klagen und Schreien der Sterbenden übertönte die Rufe nach Kampf, Blut und Tod. Längst musste sich die Schlacht zu einem Gemetzel gewandelt haben. Selbst wenn die Krieger beider Seiten hätten aufhören wollen, es wäre ihnen nicht gelungen. Der Geist des Weltuntergangs, der rote Wind Ragnaröks, trieb sie unerbittlich in den Kampf.

Die Kinder erfüllte tiefe Trauer ob dieser schaurigen Sinfonie des Endes einer ganzen Welt, die unter ihren Augen zu Grunde ging. Sie durften sich nicht in den Kampf verwickeln lassen; denn ohne den Schutz der Götter würden sie gegen die Krieger beider Seiten keine Chance mehr haben.

Doch die Götter waren tot, und ihre Welt lag im Sterben.

Wie schön hätte es in den Höhlen sein können, wenn statt Hass Verständnis und der Geist der Versöhnung regiert hätten! Laurion und Mîm hätten noch leben können; so hatten sie sich mit ihren Klingen gegenseitig aufgespießt. Es war der Fluch des Krieges, dass sich aus Hass Zwietracht und aus Zwietracht neuer Hass ergab ...

Die Schreie wurden lauter, waren deutlicher zu verstehen. Offensichtlich näherten sie sich dem Ort, wo nach vielen kleineren Scharmützeln nun die große Endschlacht der Licht- und Dunkelalben ausgetragen wurde - dem Schlachtfeld Ragnaröks, das keine Überlebenden kannte.

»Können wir dem Kampf nicht ausweichen?«, fragte Siggi.

»Ich weiß nicht«, antwortete Gunhild, »ich kenne nur den einen Weg. Und den nicht mal ganz; ich weiß es nur jedes Mal, wenn ich die Richtung ändern muss, aber ...« Hilflos zuckte sie mit den Schultern.

»Wir müssen immer das Beste hoffen«, warf Hagen ein. »Und du hast immer noch den Ring und den Hammer. Das kann unsere Rettung sein.«

Hagen wunderte sich, wie unbeschwert er über den Ring reden konnte, nun da ihn Lokis Geist verlassen hatte. Er verspürte kein Verlangen mehr danach, ja, nicht einmal Bedauern, dass er ihn nicht mehr besaß. Inzwischen hatte Siggi sicherlich das größere Recht darauf. In Muspelheim hatte Siggi ihn, Hagen, damit vor einer großen Dummheit bewahrt.

»Ich wünschte dennoch«, meinte Siggi, »wir könnten der Schlacht aus dem Weg gehen. Ich meine, wenn's sein muss, klar, dann habe ich immer noch den Hammer. Aber der Kampf Laurions hat mir gereicht. Ich möchte nicht noch mehr davon sehen.«

Hagen und Gunhild nickten verständnisvoll.

»Aber wir können uns unsere Pfade nicht aussuchen«, meine das Mädchen. »Die Göttin hat aber versprochen, uns zu helfen.«

Und so setzten sie ihren Weg fort. Die gespenstischen Schreie hallten immer noch durch die Gänge, und man hätte meinen können, mit der Zeit würde man sich daran gewöhnen. Aber die drei gewöhnten sich nicht daran. Jeder Todesschrei trieb ihnen von neuem eine Gänsehaut über den Rücken, und eine Beklemmung beschlich sie, die nicht weichen wollte.

So hatte sich in seiner Fantasie Siggi das Ende eines großen Abenteuers nicht vorgestellt. Am Ende reitet der Held immer lächelnd in den Sonnenuntergang, und es bleibt keine Zeit für Trauer, Schmerz oder Entsetzen. In seiner Fantasie waren am Ende immer alle glücklich, die Bösen besiegt, die Guten wohlauf.

Aber wer waren hier die Guten? Wie hatte Odin noch gesagt, als er sie zu den Lichtalben bringen wollte: Was ist gut, was ist böse? Das sind zwei Seiten einer Münze. Wer kann schon sagen, welche Seite davon die richtige ist. Der Unterschied liegt im Geist des Betrachters.

Alle waren sie im Recht und die anderen im Unrecht. Aber im Tod machte es keinen Unterschied mehr. Er hatte gesehen, wie Laurion sein Schwert in die Körper der Schwarzalben stieß, und sie hatten beim Sterben genauso gelitten wie der junge Lios-alf, der ihnen das Leben gerettet, oder Yngwe, der in Ymirs Unheilsquell den Tod gefunden hatte.

Bald gab es keinen Zweifel mehr. Der Weg, der ihnen die Göttin durch Gunhild wies, führte sie näher an das Schlachtfeld heran, als ihnen lieb war. Die Schreie wurden deutlicher, und einzelne Worte waren zu verstehen, wenn ein Sterbender nach seiner Frau oder Mutter rief oder wenn ein von Geist Ragnaröks erfüllter Krieger einen wilden Schlachtruf im Namen Alberichs, Freyas, Thors oder Odins ausstieß. Manchmal war auch ein wilder Fluch zu hören, der in ihren Ohren gellte.

»Gibt es wirklich keinen anderen Weg?«, ließ Siggi sich vernehmen, und aus den Blicken, die ihn Hagen und Gunhild zuwarfen, konnte er sehen, dass sie ähnlich darüber dachten.

Das Licht schien mit jeden Augenblick mehr zu schwinden, und die Dämmerung nahm zu. Siggi fühlte sich an die Zeit erinnert, als sie von Swart-alfar durch den Wald gehetzt worden waren. Das Licht war das gleiche. Ein Kreis begann sich zu vollenden. Der Ring war nahezu geschlossen, nun mussten sie nur noch entkommen, ansonsten waren sie in diesem Teufelskreis gefangen, und für sie würde es kein Entrinnen mehr geben.

Die Kinder gingen langsamer, ja, sie schlichen fast durch die Gänge, denn sie wollten nicht plötzlich mitten in die Auseinandersetzung hineingeraten. Vorsichtig spähten die drei vor jeder Abzweigung oder an jedem Wegkreuz umher, ob da nicht Krieger waren, die für sie zu einer Bedrohung werden konnten.

»Da ist ...« niemand, wollte Siggi sagen, aber das letzte Wort konnte er nicht mehr aussprechen, denn hinter ihm ertönte ein ersticktes Stöhnen. Siggi warf sich herum, und was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren.

Aus einem Seitengang hinter ihnen waren vier Schwarzalben getreten, an ihrer Spitze Alberich, der König. Hagen lag regungslos am Boden, atmete aber noch, soweit Siggi das beurteilen konnte, und Gunhild hing hilflos im Griff Alberichs, der ihr seinen Dolch an die Kehle drückte.

»Gib mir den Ring und den Speer, Erbe des Drachentöters!«, forderte er. Sein Bart war wirr, seine Mähne zerzaust. Er blutete aus einem Schnitt über der Stirn. Die prächtige schwarze Rüstung war vom Kampf gezeichnet. Die Schwerter der ihn begleitenden Krieger waren schartig, und auch die Swart-alfar selbst zeigten Spuren des sinnlosen Kampfes.

Im ersten Moment wusste Siggi nicht, was er sagen oder tun sollte. Doch ein Blick in die Augen seiner Schwester ließ etwas in ihm ausrasten, und in Siggi erwachte etwas, von dem er nicht gewusst hatte, wie stark es war.

»Hör doch auf, alter Mann!«, sagte er bestimmt. »Ragnarök ist da, und ob du nun Ring und Speer bekommst oder nicht, macht keinen Unterschied mehr. Es ist Schluss! Aus! Ende!«

Zorn malte sich in Alberichs Gesicht ab. Damit hatte er nicht gerechnet. Er presste Gunhild den Dolch an die Kehle.

»Ragnarök!«, höhnte Alberich. »Gib mir den Zauber zurück und die Macht, dann ist der Sieg mein! Und dann«, seine Stimme überschlug sich, »wird es nur noch ein Reich geben, ein Volk und einen Führer!«

»Das kannst du vergessen«, sagte Siggi einfach nur.

»Den Ring!«, forderte der Nibelung und sein Blick wurde hart. »Und wo ist der Speer des Schicksals?«

»Odin hat den Speer«, und vor Siggis Augen stand noch einmal das Bild, als der Ase mit letzter Kraft den schwarzen Schaft umklammerte, »aber er hat ihm nicht geholfen. Und du bist dumm wie ein Stein, wenn du die Zeichen nicht siehst.«

»Wovon redest du?«

»Der Wolf hat ihn verschlungen. Thor fiel der Schlange zum Opfer. Und Loki hat seine Fesseln gesprengt, und jetzt rast das Feuer durch die Gänge. Es ist aus, verdammt noch mal. Kapierst du denn nicht?«

»Nein ...« Alberich erblasste. »Das kann nicht sein ...«

Sein Griff lockerte sich. Die Hand mit dem Dolch senkte sich ein wenig.

Gunhild nutzte diesen Moment der Schwäche. Sie biss Alberich ins Handgelenk. Ein Schmerzensschrei, und Gunhild riss sich aus seiner Umklammerung los und rannte zu Siggi hinüber.

Einer der Krieger um Alberich wollte ihr folgen, aber er hatte Siggi aus den Augen gelassen. Siggi schwang den Hammer mit einer Kraft, die er sich selbst nie zugetraut hätte. Er traf den Swart-alf in den Bauch. Pfeifend entwich dem Krieger die Luft, und er brach zusammen.

Alberich riss seine Axt vom Gürtel. Auch diese zeigte Spuren des Kampfes. Tiefe Scharten kerbten das geschwungene Blatt, an dem halb geronnenes Blut klebte.

»Du bist an allem schuld«, rief er dem bewusstlosen Hagen zu. »Du hast versagt! Stirb!«

Alberich hob seine mächtige Axt und setzte zum tödlichen Schlag an. Er würde Hagens Schädel spalten wie eine überreife Kokosnuss. Siggi würde nicht mehr rechtzeitig dazwischentreten können. Hagen war bewusstlos und konnte sich nicht selbst helfen.

»Mjölnir!«, rief Siggi aus. Der Schrei hallte durch die Gänge. Dann schleuderte er den Hammer, in der verzweifelten Hoffnung, Alberich zumindest ablenken zu können.

Obwohl der Wurf ungezielt war, schoss der Hammer direkt auf die Axt des Königs zu. Alberich wollte sie gerade mit Wucht nach unten führen, da traf der Hammer das Blatt und zerschmetterte es in tausend Stücke, die wie wütende Hornissen durch den Gang sirrten. Nur wie durch ein Wunder wurde niemand verletzt.

Alberich wurde der Stiel aus der Hand geprellt. Bestürzung malte sich auf dem Gesicht des Herrn der Schwarzalben. Er begriff nicht, was vorging.

Der Hammer hatte sich in der Luft gedreht und flog in die immer noch ausgestreckte Hand Siggis zurück.

»Bei den Feuern der Hei!«, entfuhr es Alberich. »Verflucht sollst du sein!«

Er entriss einem seiner Krieger die Klinge, stieß ihn brutal zur Seite und drang auf Siggi ein, der immer noch verdutzt auf den Hammer starrte. Gerade noch rechtzeitig warf der Junge sich zur Seite, um dem Schwerthieb zu entgehen.

Da, wo Siggi eben noch gestanden hatte, schlug das Schwert Funken sprühend auf den nackten Fels. Alberich knurrte wütend. Ein unartikulierter Schrei des Zorns, der wie das Fauchen eines zornigen Bären klang, kam aus seiner Kehle. Wahnsinn griff nach dem König der Swart-alfar.

Siggi rollte sich ab, und kam wieder auf die Füße. Alberich griff an, aber Siggi wich dem Hieb aus, unterlief das Schwert, doch sein Schlag verfehlte den Gegner um Haaresbreite, weil der Albe gedankenschnell zur Seite ausgewichen war.

Die beiden Kämpfer standen sich nun lauernd gegenüber.

Die Krieger der Swart-alfar und Gunhild sahen dem Zweikampf hilflos zu, während Hagen immer noch am Boden lag.

»Komm schon!«, forderte Siggi. »Bringen wir es hinter uns!«

»Ich habe schon ganz andere Gegner als dich niedergerungen, Midgard-Knabe!«, gab Alberich zurück. »Du wirst sterben. Hier und jetzt!«

»Aber ich bin der Erbe Thors«, ließ Siggi den Schwarzalben wissen. »Und du bist ein Idiot.«

Alberich stürzte los. Im selben Augenblick schleuderte Siggi erneut den Hammer, und so lief der Nibelung genau in Siggis Wurf. Der schwere Kopf Mjölnirs traf ihn mitten in die Stirn. Das hässliche Geräusch brechender Knochen war ein Laut, den weder Siggi noch Gunhild so schnell vergessen würde.

Der Kampfruf des Nibelungen erstickte in einem gurgelnden Schrei. Der Hammer kehrte wieder in die Hand Siggis zurück, der sie reflexartig um den Griff schloss und gleich darauf senkte.

Alberich stand wie vom Blitz getroffen. Seine Stirn war eine einzige Wunde. Die schwarzen Augen waren weit aufgerissen, aber begannen sich bereits zu verschleiern. Er wollte etwas sagen, aber außer einem schmerzerfüllten Röcheln brachte er nichts mehr hervor. Die Klinge entfiel seiner kraftlosen Hand, schlug klirrend auf den Fels. Der einstmals mächtige König der Swart-alfar, Herr des Nibelungenschatzes, Schöpfer des Ringes, der das Schicksal von Helden und selbst von Göttern bestimmt hatte, taumelte, stürzte mit dem Gesicht nach vorn zu Boden, und noch bevor sein Körper den Fels berührte, war er tot.

Die drei verbliebenen Schwarzalben starrten Siggi an, als wäre wirklich Thor mit seinem Hammer zwischen sie gefahren. Dann wandten sie sich um und flohen.

Siggi hatte Besseres zu tun, als ihnen nachzulaufen. Er beugte sich zu stattdessen zu Hagen hinab, der gerade stöhnend zu sich kam. Auch Gunhild kam heran und stützte den gefallenen Freund.

Einige Augenblicke brauchte Hagen noch, dann klärte sich sein verschwommener Blick, und er kam wieder zu Bewusstsein.

»What... happened?«, kam es schwer über seine Lippen; in der Verwirrung sprach er wieder Englisch. »Ich habe plötzlich einen Schlag in den Nacken bekommen«, fuhr er auf Deutsch fort, »und von da an weiß ich gar nichts mehr.«

Gunhild warf einen Blick auf Hagens Kopf, aber außer einer ansehnlichen Beule hatte ihr Freund anscheinend keine Verletzungen davongetragen.

Siggi erzählte Hagen in knappen Worten, was geschehen war. Nur kurz warf Hagen einen Blick auf die am Boden liegende Leiche Alberichs, den er einmal Vater genannt hatte. Ein Hauch von Trauer streifte Hagen, aber nicht mehr; denn zu der Zeit, wo er Alberich diente, hatte er unter dem Einfluss Lokis gestanden und unter dem seiner eigenen Begierde. Das war jetzt vorbei.

»Lasst uns weitergehen«, meinte Gunhild. »Es wird Zeit.«

»Geht's?«, wandte sich Siggi an Hagen.

»Ja«, war Hagens Antwort. »Es muss.«

Mühsam kam er auf die Beine. Sie machten um den toten König einen Bogen und setzten ihren Weg durch die Gänge fort. Gunhild übernahm wieder die Führung.

Siggi fühlte sich, als ging er durch eine Welt aus Watte. Erst merkte er, dass seine Hände zitterten, und Übelkeit stieg ihn ihm auf. Er hatte getötet, ein Lebewesen einfach umgebracht. Das hatte er nicht gewollt, und selbst die Erkenntnis, dass er in Notwehr gehandelt und Alberich ihm keine Wahl gelassen hatte, war keine Beruhigung für ihn.

»Du kannst nichts dafür«, erreichte ihn Gunhilds Stimme, und er spürte Hagens Hand auf seiner Schulter; denn die beiden sahen Siggi an, wie sehr er unter dem verzögerten Schock litt.

»Ich wollte das nicht...«, sagte er hilflos.

»Du hast mir das Leben gerettet. Ich bin dir unendlich dankbar, dass du ihn getötet hast«, sagte Hagen und sah ihn ernst an. »Ohne dich würde ich jetzt mit gespaltenem Schädel daliegen. Und dich und Gunhild hätte er wahrscheinlich auch umgebracht.«

»Das ist wahr«, stand ihm Gunhild bei.

»Aber ich wollte ihn trotzdem nicht töten«, meinte Siggi. »Ich wollte ihn nur aufhalten.«

»Das wissen wir«, sagte Gunhild, »aber es ist nun mal passiert. Hoffen wir alle, dass wir nicht noch mal in so eine Situation geraten ...«

Schweigend setzten sie ihren Weg fort. Jeder hing seinen Gedanken nach, und so gut es ging, versuchten sie, den Weg zu sichern. Immer wieder hörten sie Schreie und Schlachtlärm, was ihre düstere Stimmung noch verstärkte.

Je näher sie dem Schlachtfeld kamen, umso deutlicher wurden die Spuren von Tod und Zerstörung. Zerbrochene Waffen, Tote, Blutspuren waren ihre Wegbegleiter. Keiner von ihnen wollte sehen, wie es erst auf dem Schlachtfeld aussah.

Es tut mir Leid, aber ich kann euch den Weg über den Kampfplatz nicht ersparen, klang in Gunhild die Stimme der Göttin auf. Aber es ist der einzige Weg, wo ihr nicht irgendwann auf Fallen stoßt.

Gunhild schauderte bei dem Gedanken an den Weg, den sie nur dank Laurions kluger Führung und viel, viel Glück, sowie der Hilfe des armen Yngwe und der anderen Lios-alfar überstanden hatten. Solch eine Hilfe hatten sie nun nicht mehr.

»Wir können nicht anders, wir müssen über das Schlachtfeld«, ließ Gunhild die Jungen wissen. »Die Göttin hat gerade zu mir gesprochen.«

»Shit!«, fluchte Hagen.

Siggi schwieg. »Der Ring«, sagte er schließlich. »Wir müssen versuchen, uns im Schutz des Ringes über den Kampfplatz zu mogeln.«

Hagen und Gunhild nickten. Etwas anderes blieb ihnen nicht übrig. Sie tappten vorsichtig durch die Gänge, in denen zeitweise der gewaltige Kampf der Völker der Anderswelt getobt haben musste. Überall lagen zerhauene Waffen und Schilde, die Toten wurden immer mehr. Von Zeit zu Zeit stöhnten Verwundete.

Es war entsetzlich, und die Kinder versuchten, möglichst nicht hinzusehen, aber manchmal ließ es sich nicht vermeiden.

In einer Ecke fanden sie Widar und Wali, zwei ihrer Begleiter auf dem Weg durch die Verliese der Erde. Sie waren Rücken an Rücken gestorben, hatten sich bis zum Tode gegenseitig Schutz gegeben. Modi und Magni lagen ein Stück weiter. Dem einen war der Kopf durch einen Axthieb beinahe abgetrennt worden. Der andere war noch bis in eine Nische gekrochen und hatte sich dort zum Sterben hingelegt, die Hände vor dem gekrümmten Leib verkrampft.

Gunhild würgte, und auch Siggi konnte es gerade noch verhindern, sich zu übergeben. Blut lag in der Luft und machte das Atmen beinahe schwerer als die Hitze Muspelheims. Es stank höllisch; der Geruch von Tod und Vernichtung war fast mehr, als die Kinder ertragen konnten, aber sie hatten viel erlebt, und Freya schien ihnen eine Hilfe zu sein. Über einen Teil ihres Bewusstsein senkte sich ein Schleier, der die schlimmsten Einzelheiten vor ihrem Auge verbarg. Aber was übrig blieb, war schlimm genug.

Mehr kann ich nicht für euch tun, der Zauber schwindet dahin, vernahm Gunhild wieder die Stimme Freyas.

Dann standen sie an einem der Tore zu dem gigantischen Kampfplatz. Siggi erkannte den Ort wieder. Es war - wie hatte Laurion ihn noch genannt - Alberichs Dom, wo Siggi auf der Flucht vor den Schwarzalben entdeckt hatte, dass ihn der Ring unsichtbar zu machen vermochte.

Ein Blick auf das Schlachtfeld ließ sie erschauern. Längst hatten die Heere ihre Reihen und Aufstellungen aufgegeben. Es tobte nur noch der Kampf Mann gegen Mann.

Überall im Dom lagen Tote und Todgeweihte. Diesen Kampf würde keiner überstehen.

»Also gut. Wir müssen da durch. Dann kommt«, sagte Siggi, »Fasst mich an der Schulter, und lasst auf keinen Fall los.«

Als er die Hände der beiden auf den Schultern spürte, griff er in den Lederbeutel und zog den Ring hervor. Noch einmal betrachtete er kurz den schmucklosen Goldreif und streifte ihn über. Dann ging er los.

Siggi bemühte sich, den Leibern der Toten auszuweichen, aber es gab so viele davon, viel zu viele. Sie hatten etwa hundert Meter in Luftlinie zurückzulegen, aber in Wahrheit war es eine größere Strecke; denn durch die Toten gingen sie im Zickzack. Ihre Aufmerksamkeit galt jedoch mehr den Lebenden, die wie besessen aufeinander eindrangen. Sie waren voll und ganz vom Geiste Ragnaröks erfüllt. Und selbst wenn es ihnen nicht bewusst war, dass die Stunde des Weltuntergangs gekommen war, so machte das keinen Unterschied. Sie stürmten aufeinander ein, als gäbe es für sie kein Morgen mehr.

Siggi mühte sich redlich, den ihm von Gunhild gewiesenen Ausgang zu erreichen, aber ihr Vorankommen war so unendlich langsam.

Kurz blieben sie stehen, weil Siggi sich erst wieder einen Weg suchen musste, als unter ihnen der Fels zitterte. Die Kinder erstarrten. Würde der Dom jetzt einbrechen, würde alles hier zusammenstürzen.

Von überall her drang ein Grollen durch die Gänge, das den Boden erbeben ließ. Heiße Luft strömte in den Dom hinein.

»Was ist das?«, fragte Hagen.

Doch er erhielt keine Antwort. Es ging alles viel zu schnell.

Plötzlich leuchtete flackernder Feuerschein aus den Gängen. Die Kämpfer erstarrten in ihren Bewegungen. Die Augen aller, ob Licht- oder Schwarzalben, richteten sich auf die Gänge. Ein Fauchen kam von überallher zugleich und steigerte sich in Sekundenschnelle ins Unerträgliche. Dann schossen von allen Seiten Feuerlanzen aus den Gängen hervor, die sich im Dom zu einer meterhohen riesigen Wand vereinigten.

Mache von den Alben machten noch den Versuch zu fliehen, andere blieben einfach erstarrt stehen, wo sie waren. Es machte keinen Unterschied mehr.

Sie alle, Freund wie Feind, wurden von der Feuerwalze überrollt, die nun auch auf die Kinder zuraste.

Unfähig, auch nur einen Finger zu krümmen, standen Siggi, Gunhild und Hagen da und erwarteten das Ende.

Immer näher rollte die alles verschlingende Lohe. Die Schreckensschreie der Lios- und der Swart-alfar gingen in dem Brodeln und Fauchen des Feuers unter.

Ragnaröks letztes Kapitel brach an, und Siggi dachte immer nur daran, dass sie zu langsam gewesen waren. Nun würden sie nie wieder die Sonne sehen.

Dann wurde die Hitze unerträglich, und die Flammenwand war nur noch wenige Meter von ihnen entfernt.

Alle drei schlossen in Erwartung des sicheren Todes die Augen ...

... und öffneten sie wieder. Der Feuersturm war über sie hinweggerast, ohne ihnen etwas anzuhaben.

Erleichtertes Lachen löste sich aus den Kehlen der Kinder, die ihr Glück nicht fassen konnten. Sie lagen sich in den Armen, lachten und weinten gleichzeitig Tränen der Freude. Die Feuer Muspelheims waren wieder in die Gänge davongezogen.

Siggi sah sich um. Der Dom war von Toten befreit, das Feuer hatte die Alben ebenso aufgelöst wie Laurion, Mîm und die anderen Krieger der Schwarzalben, die sie in Muspelheims Glut beigesetzt hatten. Nur die überall verstreuten Waffen erinnerten noch an das tödliche Ringen, das hier noch vor Augenblicken getobt hatte. Sie waren geschwärzt und wie von Rost zerfressen, als hätten sie hier schon seit Jahrhunderten gelegen.

»Weiter«, ließ Hagen sich vernehmen. »Ich will hier raus.«

Sie trafen keine Lebewesen mehr in den Gängen, und nach dem Lärm der Schlacht wirkte die absolute Stille, die sie nun umgab, fast genauso erschreckend. Außer ihnen machte keiner irgendwelche Geräusche. Es gab niemanden mehr, der einen Laut verursachen könnte.

Sowohl Siggi, Hagen als auch Gunhild standen so unter dem Eindruck des Geschehens, dass kein Gespräch aufkommen wollte, mit dem sie die Stille hätten brechen können. Außerdem war auch keinem von ihnen nach Reden zumute, denn es erschien als Frevel, diese Ruhe durch laute Worte zu stören.

Immer näher kamen sie dem Ausgang; manche der Abzweigungen kamen Siggi bekannt vor, denn unter der Führung Odins hatten sie die Stellen bereits gesehen. Siggi hatte sie sich deshalb gemerkt, weil der Graue hier und da gezögert hatte, was ihm verdächtig erschienen war. Wie lange das her war! Was war seitdem nicht alles geschehen!

Dann durchlief es ihn heiß und kalt. Wie viel Zeit war wirklich verstrichen? Er schaute auf die Uhr. Sie zeigte immer noch die Zeit vom Abend zuvor an, als sie stehen geblieben war. Aber der Sekundenzeiger bewegte sich wieder.

Der Morgen war nahe; er spürte es, und auch seinen Gefährten schien die Dringlichkeit bewusst zu sein. Unwillkürlich hatten sie ihre Schritte beschleunigt. Waren sie zuvor gegangen, jetzt liefen sie, rannten.

Gunhild wusste genau, welchen der Wege sie zu gehen hatte. Im Gegensatz zu Odin zögerte sie an keiner Wegkreuzung oder Abzweigung. Die Göttin Freya, die mit allem in der Anderswelt vergangen war, hatte ihnen diesen letzten unschätzbaren Dienst erwiesen. Ohne ihre Hilfe wären die Kinder nie so weit gekommen.

Schließlich erreichten sie die Kammer, in der Odin sie erwartet hatte. Fast glaubte Siggi, noch einmal das spöttisch lächelnde Gesicht des Grauen zu sehen, das eine Auge fest auf sie gerichtet. Hier hatten sie die Höhlen der Anderswelt betreten. Hier würden sie das Schattenreich wieder verlassen, aber sie würden nie mehr ganz dieselben sein.

Gunhild, die an der Spitze lief, hielt so plötzlich an, dass die anderen fast auf sie aufgelaufen wären.

»What -?«, keuchte Hagen, und: »Was ist los?«, fragte Siggi.

»Seht doch!«

Zwischen ihnen und dem Ausgang hockten drei Gestalten. Sie waren in lange, dunkle Gewänder gekleidet, mit einer Art Schleier oder Kopftuch über den Häuptern, sodass man ihre Gesichter nicht erkennen konnte. Doch sie bewegten sich mit der Bedächtigkeit uralter Frauen.

Die eine hielt einen Stab in der Hand, der mit einer Art Wollknäuel umwickelt war. Die zweite spulte daraus eine Schnur hervor, die im ungewissen Licht silbrig glänzte; es lag etwas Hypnotisches in diesem Glanz, und es schien nicht nur ein einziger Faden zu sein, sondern ein ganzer verwirrend geflochtener Strang. Die dritte nahm den Faden, und immer nachdem sie eine Elle abgemessen hatte, schnitt sie ihn ab und ließ die Stücke zu Boden flattern.

Die erste der drei sang mit dünner Stimme:

»Ich seh' aufsteigen / zum andern Male

Land aus Tiefen, / im Tau ergrünend;

Fälle schäumen, / es schwebt der Aar,

der auf dem Felsen / nach Fischen weidet.«

»Das müssen die Nornen sein«, sagte Siggi, »die am Fuß des Weltenbaums das Schicksal der Götter und Menschen gesponnen haben. Jetzt sind sie hier.«

Sang die zweite:

»Auf dem Idafelde / die Asen sich finden

Und reden dort / vom riesigen Wurm,

gedenken da / der großen Dinge

und alter Runen / im neuen Rate.«

»Sie singen von einem neuen Anfang und einer neuen Erde, wo die Arsengötter herrschen werden«, flüsterte Gunhild.

Und die dritte sang:

»Unbesät werden / Äcker tragen;

Böses wird besser: / Baldur kehrt heim;

Thor und Loki / leben mit Odin

In der Walgötter Halle - wisst ihr noch mehr?«

Der Faden, endlos gesponnen, zuckte im Zwielicht.

»Wie kommen wir da vorbei?«, fragten Siggi und Gunhild gleichzeitig.

»Kommt«, sagte Hagen und fasste sie beide an der Hand. »Das ist nur Lüge und Illusion. Glaubt mir, davon versteh' ich was.«

Festen Schrittes ging er auf die drei Spinnerinnen zu, Siggi und Gunhild mit sich ziehend. Und als sie die Stelle erreicht hatten, verzerrte sich das Bild wie der Spiegel einer Wasserfläche, wenn ein Wind darüberweht, und war verschwunden.

»Es riecht nach Wald«, sagte Gunhild.

Sie traten aus der Kammer hinaus und standen in der tunnelartigen Röhre, durch die sie hergekommen, und kaum hatten sie die Kammer verlassen, roch Siggi auch schon die würzige Waldluft.

Alle drei standen nebeneinander und atmeten tief ein und aus. Sie hatten es geschafft. Midgard - die Erde - hatte sie wieder.

Siggi wandte sich kurz um. Wo sie vor Augenblicken noch durchgeschlüpft waren, befand sich nur noch der massive graue Fels. Da war keine Pforte mehr, die in die Anderswelt führte. Das Tor war ein für alle Male verschlossen.

»Seht«, sagte Siggi und deutete auf den Fels, und alle drei sahen die glatte Wand grauen Gesteins, hinter dem die Anderswelt begann.

Sie gingen ins Freie. Frische, kühle vom Gewitter des gestrigen Abends gereinigte Luft empfing sie. Vor ihnen der Wald und am Himmel die Ahnung, dass hinter den Bäumen die Sonne gerade über dem Horizont erschienen war. Die Vögel zwitscherten ihr Morgenlied, und selten hatte Siggi dies so genossen wie in diesem Augenblick. Er glaubte, den Gesang der gefiederten Freunde hundert Jahre nicht mehr gehört zu haben.

»Wir sollten uns beeilen«, sagte Gunhild. »Die suchen bestimmt schon nach uns.«

»Das gibt Ärger«, meinte Hagen düster.

»Nicht solange Mjölnir mit mir ist«, sagte Siggi großspurig, aber als sein Griff zum Gürtel ging, war da kein Hammer mehr. Eisiger Schrecken durchfuhr ihn.

»Was ist?«, fragte Hagen. »Wo ist dein Hammer?«

Siggi sah an sich herunter. Statt des Hammers hing eine Kette aus seinem Gürtel heraus. Der Junge zog daran, und ein bronzenes Amulett kam zum Vorschein, in der Form eines Hammers, nicht größer als seine Handfläche.

Gunhild griff sich an den Hals, aber auch Brisingamen hatte sich verwandelt. An einer silbernen Kette um ihren Hals hing ein einzelner, klarer Bergkristall, in dem das Licht sich brach und der wie eine Träne geformt war.

»Eine Träne für die Anderswelt«, sagte sie.

»Es scheint, manches erscheint in dieser Welt anders«, meinte Hagen. »Ist euch schon aufgefallen, dass wir unsere wunderschönen Kostüme irgendwo verloren haben?« Sie trugen wieder ihre alte Kleidung, mit der sie in die Anderswelt eingetreten waren; weder von Siggis und Gunhilds Rüstung, noch von Hagens schwarzer Albengewandung war etwas zu sehen.

»Gott sei Dank«, sagte Siggi. »Das wäre auch etwas schwierig zu erklären gewesen.«

Hagen überlegte nur einen Moment.

»Ich bin ein Fantasy-Rollenspieler und habe dieses Outfit mitgebracht, um euch in die Kunst des Live-Rollenspiels einzuweihen. Unsere Sachen hat die Jugendgang geklaut, die unsere Räder demoliert hat ... Na, wäre doch 'ne Erklärung gewesen.«

»Gute Geschichte«, sagte Siggi und grinste unverschämt.

»Ist ja auch von mir«, grinste Hagen. »Na ja, Hauptsache wir haben überhaupt was anzuziehen.«

Er warf einen schrägen Blick zu Gunhild, aber sie tat ihm nicht den Gefallen zu erröten. Sie war noch immer in die Betrachtung ihres Kristalls versunken. Auch Siggi hängte sich das Amulett um den Hals.

Hagen stellte zu seiner eigenen Überraschung fest, dass er gar nicht neidisch war, dass die beiden ein so schönes Andenken von ihrem Abenteuer mitbekommen hatten. Auch er hatte etwas davongetragen - manche Erinnerungen, die er lieber vergessen hätte, aber auch neue Freunde und eine neue Freiheit.

»Kommt, nun müssen wir aber gehen«, unterbrach Gunhild das Schweigen, das zwischen ihnen eingetreten war.

Sie gingen in den Wald hinein, ohne genau zu wissen, wo sie waren, aber irgendwann würden sie auf einen Wegweiser treffen und dann zum Waldgasthof gelangen.

Sie hatten sich gerade ein paar hundert Meter in den Wald hineinbewegt, da hörten sie Hundegebell und Rufen. Aus einiger Entfernung näherte sich mit knatternden Rotoren ein Hubschrauber.

»Was ist da los?«, wollte Hagen wissen.

»Ich glaube, die Eltern haben die Polizei eingeschaltet«, sagte Gunhild.

»Um Gottes willen! Was sagen wir ihnen denn?«, entfuhr es Siggi.

»Die Wahrheit«, meinte Gunhild, »können wir ihnen nicht sagen.«

»Wir haben uns in den Wald geflüchtet, weil eine Bande unsere Fahrräder zerschlagen hat und uns verprügeln wollte«, schlug Hagen vor. »Dann haben wir uns in einer Höhle versteckt und haben uns erst bei Tageslicht aus unserem Versteck getraut. Und das nicht mal so ganz gelogen ...«

»Klingt einleuchtend«, meinte Gunhild.

»Aber dann bleiben wir auch dabei!«, schärfte Siggi ihnen noch ein.

Das Hundegebell kam immer näher und auch der Hubschrauber schien sich ihre Richtung zu bewegen. Aufgeregtes Rufen war zu hören.

»Wir gehen ihnen entgegen«, beschloss Siggi. »Das macht sich gut. Schließlich sucht man uns, und wir sind nicht auf der Flucht.«

»Nicht mehr«, sagte Hagen und dachte an den gestrigen Abend, als die Schwarzalben sie durch den Wald gehetzt hatten.

»Ja, nicht mehr«, bestätigte Gunhild.

Gemeinsam machten sich die drei auf den Weg. Jeder von ihnen bemerkte langsam die Anstrengungen der letzten Stunden, und jetzt, da die Spannung von ihnen abfiel, kam die Müdigkeit. Sie schleppten sich mehr durch den Wald, als sie gingen. Die Augen fielen ihnen zu.

»Da! Da sind sie!«, rief eine Stimme. Und aufgeregte Bereitschaftspolizisten und Hundeführer kam herbeigelaufen. Die Kinder erschraken fürchterlich, denn so schnell hatten sie nicht mit den Suchern gerechnet.

Die nächsten Minuten wurden hektisch. Die Kinder wurden gefragt, wo sie gewesen waren, was mit ihren Fahrrädern passiert sei, die Polizisten machten einen besorgten Eindruck. Sie erfuhren, dass die Eltern am frühen Abend auf eigene Faust auf die Suche gegangen waren und die zerstörten Räder gefunden hatten. Dann hatten sie die Polizei angerufen. Diese hatte dann eine Suchaktion gestartet, konnte sie aber die ganze Nacht nicht finden. Dafür hatten an verschiedenen Stellen des Waldes die Hunde auf anderen Spuren Tobsuchtsanfälle bekommen, und die Tiere waren kaum zu beruhigen gewesen. Die Polizei vermutete dahinter eine Chemikalie.

Siggi stellte erfreut fest, dass sie sich mit ihrer Geschichte nicht widersprachen, als sie gefragt wurden. Sie verstanden sich blind.

Als sie eine halbe Stunde später in einem Polizeiwagen saßen, stieß Siggi Hagen in die Seite und beugte sich zu ihm hinüber.

»Das macht eine wahre Freundschaft aus: gemeinsame Erlebnisse und Geheimnisse«, sagte er leise zu Hagen und Gunhild.

Die drei Kinder lachten laut auf.

Draußen vor dem Auto stand der Einsatzleiter mit dem Funktelefon in der Hand. »Ja, wir haben sie gefunden«, sagte er. »Es geht ihnen gut, sie lachen schon wieder ...«

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