Zwei Wochen später ...
Die Drachenfels lag bereit. Das Fahrgastschiff sollte Hagen auf dem Rhein nach Köln bringen, bevor er vom Flughafen Köln/Bonn mit der British Airways nach Heathrow fliegen würde. Diese Rheinfahrt hatte Siggis und Gunhilds Eltern für ihren Gast organisiert, als kleine Entschädigung für den Schrecken, den er davongetragen hatte, und damit er von Deutschland ein schönes Bild mit nach Hause nähme.
Die Mutter der beiden war gleich in Odenhausen geblieben, nachdem sie Hagen mit mehr Proviant und guten Ratschlägen versorgt hatte, als er im Leben brauchen würde. Ihr Vater hatte sich mit Handschlag verabschiedet und sich noch einmal für den Überfall der Jugendgang entschuldigt, für den er sich, wie er sagte, irgendwie mit verantwortlich fühle.
»Ich lass euch dann allein und gehe noch einen Kaffee trinken«, hatte er dann gesagt und war in Richtung des Ausflugslokal verschwunden, dessen Kaffeeterrasse einen wunderschönen Blick auf den Rhein erlaubt.
»Er geht jetzt in den ›Nibelungenbrunnen‹ «, schmunzelte Siggi, der offen auf der Brust das bronzene Mjölnir-Amulett trug.
»O nein, nicht noch einer!«, entfuhr es Hagen, der theatralisch die Hände nach oben warf. »Wie viele habt ihr denn noch davon?«
»Es gibt noch ein paar Dutzend Brunnen und diverse Ausflugslokale, die so heißen«, sagte Gunhild. »Genug, um bis zur Rente jedes Jahr zur Sommersonnenwende einen neuen zu finden, um den wir tanzen können.«
»Nein, nicht noch mal«, meinte Hagen. »In den nächsten Sommerferien besucht ihr mich. Da werden wir bei meiner Tante Meg in Irland sein. Da gibt es keine Nibelungen.«
»Das wär toll!«, seufzte Siggi. »Aber ob unsere Eltern ...?«
»Das kriegen wir schon hin«, meinte Gunhild und grinste: »Wir kommen!«
»That's great!«, jubelte Hagen. »Ich schreibe euch.«
»Ja, unbedingt«, meinte Siggi. »Wir dir auch.«
Sie gingen die Treppe zum Anleger hinunter. Hagen schleppte seinen alten abgewetzten, seit diversen Generation in Familienbesitz befindlichen Koffer, über den er sich selbst lustig gemacht hatte, als Siggi und Gunhild ihn beim Packen geholfen haben. Typisch Engländer, hatte er gesagt und dabei gegrinst.
Zwei schöne Wochen voller Ausflüge, Spaß, Faulenzen, Schwimmen und Spielen lagen hinter ihnen. Nur in den Wald hatten sie nicht mehr gedurft, weil die ›Bande‹, die ihre Fahrräder demoliert hatte, noch nicht geschnappt worden war. Die Polizei vermutete, dass sie aus Frankfurt oder einer anderen Großstadt gekommen waren, aber die Ermittlungen waren bislang alle im Sande verlaufen.
Die drei wussten warum ...
Der Rhein floss träge der Nordsee entgegen. Das Wasser stand tief, aber noch war auch für die großen Schiffe keine Gefahr, dass die Schifffahrt wegen Niedrigwasser eingestellt werden musste.
»Aus der Nähe ist der Fluss überhaupt nicht romantisch«, meinte Gunhild. »Als wir ihn aus der Ferne vom Felsen aus sahen, war er viel schöner, aber von hier aus betrachtet, ist das Wasser einfach nur schmutzig.«
»Aus der Ferne betrachtet ist vieles schöner«, meinte Hagen, »aber damit müssen wir leben. Und für Romantik kann ich auch sorgen.«
Gunhild schenkte ihm ihr schönstes Lächeln. Siggi war aufgefallen, dass sie sich seit ihrer Rückkehr von ihrem gemeinsamen Abenteuer nicht mehr nur mit Jeans und T-Shirt kleidete, sondern viel mehr auf ihr Äußeres achtete. Zur Feier des Tages hatte sie sogar Make-up aufgelegt. Ihr Kristall-Anhänger an seiner goldenen Kette funkelte wie ein Juwel auf ihrer dunklen Bluse.
Die drei Freunde gingen die Treppe zum Anleger hinunter und scherzten, alberten herum und genossen die letzten gemeinsamen Minuten.
Viele Passagiere drängten sich um den Landungssteg, und es bildete sich eine Schlange, was Hagen noch einen kleinen Aufschub gab. Die drei standen am Rand des Anlegers und blickten in das schmutzigbraune Wasser des Rheins, der vorbeifloss.
Für einen kurzen Moment schwiegen sie, und hingen ihren Erinnerungen nach. Und die Gesichter waren für Augenblicke sehr ernst, denn bei allem Spaß und aller Fröhlichkeit, hatte keiner von ihnen vergessen, dass sie einen Weltuntergang, viel Leid, Elend und Tod erlebt hatten. Das war nicht so einfach zu vergessen, und sie würden lange brauchen, bis sie alles begriffen hatten, was in der Anderswelt geschehen war.
»Dann«, brach Hagen das Schweigen, »ist es wohl so weit. Es heißt Abschied nehmen. Goodbye.«
Siggi und Gunhild nickten.
Hagen reichte Siggi die Hand, die beiden Jungen sahen sich fest in die Augen. Dann umarmte Gunhild Hagen, und als sie sich voneinander lösten, hauchte das Mädchen einen flüchtigen Kuss auf Hagens Wange.
Hagen wollte sich schon umwenden, als ihn Gunhild noch einmal zurückwinkte.
»Hagen«, begann sie, »wir haben uns was überlegt...«
»... es ist eigentlich nicht richtig«, nahm Siggi den Satz seiner Schwester auf, »dass wir beide ein Andenken an unser Abenteuer haben, aber du nicht. Wir werden immer das Amulett und den Bergkristall haben, um zu wissen, dass es kein Traum war.«
»Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich immer daran erinnern will. Es ist schmerzlich«, sagte Hagen. »Mîm starb, und ich habe keine so glückliche Rolle gespielt.«
In seinem Gesicht waren sein Unbehagen nur allzu deutlich zu erkennen. Zwar hatte er die Lehre, die er daraus gezogen hatte, angenommen, aber die Ereignisse selbst, die hätte er am liebsten vergessen.
»Niemand kann aus seiner Haut«, sagte Gunhild, »und wir müssen damit leben, ob wir wollen oder nicht. Wichtig ist nur, dass wir uns selber treu bleiben. Darin liegt die wahre Größe, ob man nun Mensch, Albe oder Gott, Engländer oder Deutscher ist.«
Siggi griff in seine Tasche, und kramte darin herum.
»Jedenfalls«, sagte er, »dachten wir, wollen wir dir das geben.« Auf seinem Handteller lag schwer und golden der Ring.
Hagen starrte zuerst Siggi, dann Gunhild an. Es war ihm anzusehen, dass er nicht wusste, was er sagen sollte.
Siggi gab ihm den Ring in die Hand, und Hagen ließ den schweren, aber einfachen Ring auf der Handfläche liegen, und betrachtete ihn nachdenklich.
»Also«, meinte Hagen, »wenn das Hagen, mein Namensvetter, gewusst hätte, dass die Geschichte so endet ...« Für einen Moment schien es als suchte Hagen nach Worten. »Ich kann nicht mehr sagen als Danke. Aber ich weiß schon, was ich damit tun werde.«
Alle drei sahen auf seine Hand, und der Ring des Nibelungen blitzte in der Nachmittagssonne.
»Und das ist nun das Ding, dem wir alles zu verdanken haben. Dabei sieht er doch eigentlich eher harmlos aus«, sagte Siggi.
»Aber ein paarmal war er auch ganz nützlich«, schmunzelte Gunhild. »Doch jetzt«, fügte sie hinzu, »ist der Zauber vorbei.«
Einen Augenblick sah es so aus, als wollte Hagen sich den Ring über den Finger streifen. Dann schloss er die Faust und steckte ihn in die Hosentasche. Stumm umarmte er noch einmal jedes der Geschwister, wandte sich um und ging zum Schiff hinauf.
Siggi und Gunhild schauten ihm nach. Der Steward der Drachenfels nahm ihm das Ticket ab, und Hagen begab sich an Bord. Dann trat er an die Heckreling, von wo aus er seinen beiden Freunden noch mal zuwinkte.
Das Nebelhorn der Drachenfels kündete mit lauten Hupen, dass das Schiff ablegen würde. Die Gangway wurde an Land gezogen, und langsam löste sich das Schiff von der Anlegestelle und trieb stromabwärts davon. Siggi und Gunhild winkten Hagen nach, der immer noch an der Reling stand.
Dann hatte das Schiff das Fahrwasser erreicht und nahm Fahrt auf. Gerade als Siggi und Gunhild sich umwenden wollten, um ihren Vater suchen zu gehen, konnten sie erkennen, wie etwas hell im Sonnenlicht aufblinkte, wo Hagen stand, und ins Wasser des Flusses fiel.