In der Stille der Nacht C. J. Cherryh

Haught öffnete das versiegelte Fenster unendlich vorsichtig, und erst da wurden aus den blassen Geistern Stühle und ein Tisch. Er gab keinen Laut von sich, versuchte nicht, die Bannzauber zu erforschen, die das ganze Haus versiegelten, ja berührte nicht einmal die geschlossenen Fensterläden. Für den Wind waren diese Bannzauber jedoch kein Hindernis. Zum erstenmal seit – wie lange? – kam wieder ein Lufthauch von außen in das Herrenhaus, berührte kaum merklich die Vorhänge und brachte schwüle Wärme in die abgeschlossene muffige Dumpfheit, in der er gehaust hatte.

Dieser Lufthauch stöberte die paar Staubkörnchen auf, die sich gesammelt hatten. (Es war ein erstaunlich sauberes Haus, wenn man bedachte, daß die Dienerschaft schon vor Monaten geflohen und es so lange versiegelt gewesen war.) Der Lufthauch streifte durch den Gang und in ein anderes Gemach, wo er über das Gesicht eines Mannes strich, der schlief – ebenfalls schon sehr lange. In dieser Dunkelheit, in dieser Stille, in der allein schon ein Lufthauch erstaunlich war, verlor dieses kalte, schöne Gesicht seine leichengleiche Starre. Die Nasenflügel blähten sich, die Augen öffneten sich unter langen Wimpern zum Schlitz, die Brust hob sich unter einem tiefen Atem.

Doch davon wußte Haught nichts. Er spürte Magie wie ein Zittern in den Grundmauern und ein Beben in sich selbst. Er spürte die Macht, die von den Trümmern auf der anderen Straßenseite kam, wo der größte Teil eines Blocks von Freistatts vornehmsten Häusern zu einer langgestreckten rußigen Ruine aus zusammengestürzten Ziegeln, Steinen und verkohlten Balken geworden war. Und er spürte sie auch anderswo dahinbrausen, lockend und erschreckend und seelenbedrohend. Er beugte sich, um durch die Schlitze des Fensterladens sehen zu können, hüllte sich jedoch in seine Tarnung, seine wirkungsvollste Gabe – sich vor anderen Zauberern und Kräften unbemerkbar zu machen. Dazu war seine Magie abgesunken. Er erforschte die Magie, die er gegenwärtig nicht zu beherrschen imstande war. Er verzehrte sich nach Macht und seiner Freiheit, wagte jedoch weder das eine noch das andere zu ergreifen.

Er sah, wie seine Feinde sich da draußen im Dunkeln sammelten, sah die aufs Haus gerichteten Blicke und spürte den Zug des Bannzaubers, den die Hexe Ischade um sein Gefängnis gewoben hatte. Er fröstelte und atmete die Luft ein, die der Wind herbeitrug. Sie war schwer von altem Brand und von gegenwärtigem Zauber und Exorzismus und von Rache. Plötzlich wußte er, daß dieses Haus das Ziel dieser Vorbereitungen war. Ungeheure Angst griff nach ihm, und er zitterte vor Haß. Er spürte, wie die Macht anschwoll und die Bannzauber in einem Augenblick der Auflösung aufflammten…

Er war gelähmt, erstarrt von Selbstzweifel, während diese furchtbare Kraft das Haus einhüllte und die Bannzauber zu einer ungeheuren Fackel auflodern ließ.

Er schrie.

In dem anderen Gemach fuhr der Schläfer auf und wand sich. Er begann von Kopf bis Fuß zu rauchen – und dieser Rauch quoll durch den Gang zum Schornstein und ins Freie. Einen Augenblick später schlugen Licht und Lärm und Schmerz auf alles Lebende im Haus ein.

Der Schläfer fiel schlaff in die Kissen zurück; Haught sackte vor dem Fenster im vorderen Gemach zusammen. Als er wieder soweit bei Bewußtsein war, daß er sich auf die Arme stützen und den Schaden abschätzen konnte, war die Luft still und er selbst taub durch einen Ton, der vielleicht gar keiner gewesen war.

Er stemmte sich hoch, bis er sich am Fensterbrett festhalten konnte, dann richtete er sich immer noch zitternd ganz auf. Reglos blieb er am Fenster stehen, bis alles still war, bis die schattenhaften Gestalten sich aus den Trümmern auf der anderen Straßenseite zurückzogen und er es endlich wagte, das Fenster wieder zu schließen.

Eine Hand fiel auf seine Schulter. Er wirbelte herum und stieß einen Schrei aus. Nur gut, daß die Meute auf der anderen Straßenseite inzwischen verschwunden war.

Das ruhige schöne Gesicht, das ihn aus solcher Nähe anblickte – lächelte. Es war nicht das Lächeln des Mannes, dem dieser Körper gehört hatte. Es war nicht das der Hexe, die davon Besitz ergriffen hatte. Haught war immer noch ein Magier. Gegen eine andere Bedrohung könnte er seine Kräfte einsetzen; trotz der Schwächung aller Magie in der Stadt, war er noch erstaunlich mächtig.

Doch was hinter diesen Augen schlummerte, was dort wanderte – war der Tod. Der Gründe hatte, falls er sich daran erinnerte, langsame Rache zu nehmen und Magie gegen die Bannzauber zu schleudern (Haught spürte, daß sie erneuert waren), die diese Seele festhielten in…

Haught betete zu den fernen Göttern und drückte sich gegen den Laden, der ratterte, woraufhin er wieder zusammenzuckte. Ischade war da gewesen. Ischade war lange genug nahe genug gewesen, daß dieses – Ding, das wie Tasfalen aussah, es vielleicht wahrnehmen konnte und sich erinnerte und in einem Wutanfall Bannzauber und Seelen gleichzeitig zerschmetterte.

Aber der zurückgekehrte Geist hob lediglich die Hand und strich zärtlich über Haughts Wange. »Staub«, sagte er, das war sein einziges Wort. Täglich sammelte Haught den Staub, dem es gelang, ins Haus zu dringen, und siebte ihn nach dem magischen Staub durch, der möglicherweise dazwischen sein mochte – den Überresten der Machtkugel. Diesen Staub mischte er in einen Trank, den er dieser Kreatur gehorsam einflößte und von dem er nur ein bißchen für sich stahl. Er war sehr gewissenhaft in diesen Dingen. Er hatte Angst, es nicht zu sein. Haught hatte überhaupt viel Angst in diesen langen Monaten; er, der einmal ein paar unvergeßliche Augenblicke lang der größte Magier von Freistatt gewesen war, befürchtete Folgen, und die Ungewißheit lähmte ihn. Weil er die Wahl zwischen mehreren Möglichkeiten hatte, wagte er sich an keine, so groß war seine Angst. Das war seine Art von Hölle. »Alles in Ordnung«, sagte er jetzt. »Geh wieder ins Bett. Schlaf wieder.« Als spreche er zu einem Kind.

»Hübsch«, sagte der Geist. Aber es war weder die Stimme noch die Berührung eines Kindes. Er hatte ein neues Wort gefunden. Haught schauderte und überlegte, wie er sich unauffällig zurückziehen könne, bis dieses Wesen wieder schlief. Aber es hatte ihn in die Enge getrieben. »Hübsch.« Die Stimme war nun klar, als wäre eine bisher vorhandene tiefere Klangfarbe verlorengegangen. Als wäre ein Teil des Wahnsinns weg. Aber nicht aller.

Haught wagte nicht, irgend etwas zu tun. Weder zu schreien noch davonzulaufen, vor allem nichts, was diesem Wesen das Gedächtnis zurückzubringen vermöchte. Er konnte Gedanken lesen, und er schützte sich vor diesem Geist mit allen Barrieren, die er nur zu errichten imstande war. Er wollte nicht wissen, was hinter diesen Augen vorging.

»Komm«, sagte er und versuchte den Arm des Wesens herunterzuziehen und es ins Bett zurückzuführen. Aber genausogut hätte es aus Stein sein können; und die ganze Hölle steckte in diesem tiefen Männerlachen.


Die langsamen Hufschläge hallten von den Wänden der engen Gasse wider. Eine andere Frau, die hier in diesem schwarzen Schlund von Freistatts dunklen Straßen überholt würde, hätte vielleicht daran gedacht, rasch irgendwo Zuflucht zu finden. Ischade drehte sich lediglich um und sah, daß ein Reiter in die Gasse eingebogen war und langsam näher kam.

Tatsächlich wußte sie jedoch, wer auf dem Pferd saß, noch ehe sie sich ihm überhaupt zugewandt hatte; und während eine andere Frau, die ihn erkannt hätte, sich nun erst recht versteckt hätte, schlang Ischade nur den schwarzen Umhang und die Arme um sich und blickte ihm mit müßiger Neugier entgegen.

»Folgt Ihr mir?« fragte sie Tempus.

Der Hufschlag des Trospferds auf den Kopfsteinen endete und hallte von den Ziegelwänden nach. Eine Ratte huschte über einen mondhellen Flecken und verschwand durch einen Spalt in der Tür eines alten Lagerhauses. »Keine vertrauenerweckende Gegend für einen Spaziergang«, sagte der Reiter.

Sie lächelte: wild und finster. Dann lachte sie, und auch das Lachen war finster, aber es schwang eine Spur Bedauern mit. »Ritterlich?«

»Vernunft. Ein Pfeil…«

»Ihr habt mich nicht überrascht.« So viel sagte sie selten. Sie war es nicht gewöhnt, sich zu rechtfertigen oder sich überhaupt anderen mitzuteilen. Daß sie es bei diesem Mann tat, erstaunte sie selbst unbewußt. Sie verspürte so wenig direkt. Nur ihre Bewußtheit war allgegenwärtig wie ein ständig schwach zitterndes Netz. Aber möglicherweise wußte er das oder ahnte es. Vielleicht hatte sie ihm deshalb geantwortet, weil sie in dieser Bemerkung eine tiefere Frage vermutete, als die meisten hätten stellen können. Er war Schatten für sie. Sie war Schatten für ihn. Sie hatten keine und jede Identität in Freistatt, der Stadt mitternächtlicher Begegnungen, ständigen Kämpfens, unentwegter Ränke.

»Ich heile«, sagte er leise in einem Ton, der bis zu den Knochen drang. »Das ist mein Fluch.«

»Ich brauche es nicht«, entgegnete sie ebenso leise. »Das ist meiner.«

Er schwieg einen Augenblick. Vielleicht dachte er darüber nach. Dann: »Ich sagte, daß wir sie ausprobieren werden – deinen und meinen Fluch.«

Sie schauderte. Er war ein Mann, der durch Schlachtfelder und Blut stapfte, der Sturm und Grau war gegenüber ihrer Stille und tiefen Schwärze; ein Mann, der fast immer von Männern umgeben war, der verflucht war mit zu viel Liebe und zu vielen Wunden. Er war der personifizierte Gegensatz: das Licht und die Finsternis. Und sie kehrte so schnell zu Stillstand und Kälte zurück, allein.

»Ihr habt die Verabredung versäumt«, sagte sie. »Und ich warte nie. Ihr braucht Euch an die Abmachung nicht gebunden fühlen. Das hätte ich Euch gleich da gesagt. Was ich tat, tat ich. Aus meinen Gründen. Am klügsten wäre es, wenn wir einander fernbleiben.«

Sie drehte sich um und ging weiter. Doch der Tros sprang vorwärts wie von einer Hornisse gestochen, und Tempus machte schattengleich einen Bogen, um sich ihr in den Weg zu stellen.

Eine andere Frau wäre vielleicht zurückgewichen. Sie aber stand ganz still. Vielleicht dachte er, sie ließe sich bluffen, vielleicht war es Teil eines finsteren Spiels; aber in seinem Schweigen las sie eine andere Wahrheit.

Es war die Herausforderung. Es war die nicht zu befriedigende Frau. Der Mann, der (wie viel zu viele andere) zu einem Teil sie fürchtete, zu einem anderen abgewiesen zu werden und dessen Gottum bereits durch ihre Existenz in Frage gestellt wurde.

»Ich verstehe«, sagte sie schließlich. »Es geht nicht um Eure Männer, die Ihr mir damit abkaufen wollt.«

Danach herrschte drohendes Schweigen. Das Pferd schnaubte heftig und bäumte sich leicht auf. Aber er verlor weder seine Fassung noch die Kontrolle über das Tier.

Gekränkt war er weniger Sturm denn Mann, ein anständiger Mann, dessen Selbstachtung auf dem Spiel stand, der nun tatsächlich an die Leben und Seelen dachte, die er sich entschlossen hatte zu kaufen. Er war zwei Männer; oder ein Mann und ein viel unvernünftigeres Wesen.

»Ich begleite Euch nach Hause«, sagte er wie der abgewiesene Freier einer Müllerstochter. Und in diesem Augenblick mit der gleichen Endgültigkeit und im gleichen entsagungsvollen Tonfall. Doch es würde nicht bei der Gartentür bleiben. Sie konnte zwar nicht in die Zukunft sehen, aber sie kannte Männer, und sie wußte, daß er das um seines Selbst willen gesagt und angeboten hatte, in seinem ewigen Privatkrieg – mit dem Sturm. Mann der Grau- und Halbtöne. Er quälte sich selbst, weil er nur so gewinnen konnte.

Einen solchen Kampf verstand sie. Sie führte ihn selbst in ihrer eigenen kalten Finsternis. Sie verschob Dinge nur von einem Tag auf den anderen, weil sie wußte, daß sie am nächsten ihrem Appetit nicht Herr werden konnte; aber am dritten würde sie die Dinge wieder im Griff haben. So lebte sie nach den Gezeiten und Rhythmen des Mondes, und weil sie das wußte, hielt es sie von zerstörerischen Verlockungen ab.

»Nein«, entgegnete sie. »Ich finde allein nach Haus. Morgen nacht. Kommt morgen.«

Sie wartete. In seinem prekären Gleichgewicht, in seinem Kampf, wies sie ihn auf eine Erprobung dieses Gleichgewichts hin, und sie wußte sogar, in welche Richtung seine Seele glitt.

Er kämpfte dagegen an. Sie hatte nicht gewußt, ob er es könnte, aber sie war sicher gewesen, daß er es versuchen würde. Sie kannte den stummen Grimm in ihm, eine Hälfte gegen die andere, und beide befürchteten Schmach. Aber da war das, was er ihr schuldete. Er ließ den Tros rückwärts aus der Gasse gehen, während sie allein weiterschritt.

Bei einer anderen Frau wäre vielleicht der Pulsschlag gerast, und sie hätte Schwäche in den Knien verspürt, wenn sie wußte, wer und welche Augen zornig auf ihren Rücken starrten. Aber sie wußte genau, was er tun würde, nämlich ganz still auf dem Trospferd sitzen bleiben, bis sie außer Sicht war. Und daß er warten würde, nur um zu beweisen, daß er warten konnte, wenn seine Integrität bezweifelt wurde. Und im Gegensatz zu ihr kannte er keine Gezeiten.

Er rührte sie, auf vage und theoretische Weise. Sie empfand Achtung für ihn. Sie ging ein ungeheures Risiko ein, indem sie sein Angebot der Bezahlung annahm, denn sie wußte wirklich nicht, ob sie beide oder auch nur einer von ihnen überleben würden. Vielleicht kannte er die Gefahr, vielleicht auch nicht. Um sich selbst empfand sie vage Angst. Es war wieder diese schreckliche Langeweile, diese Fessel der Gezeiten.

Roxane fehlte ihr auf sonderbare Art. Sie vermißte ihre Dienstboten, die sie betrogen hatten. Sie vermißte sie mit dem Gefühl, das ihrem entkräfteten Körper entsprang, der uralten Langeweile, die nun um so schwerer zu ertragen war, da sie eine kurze Zeitlang – solange sie eine Feindin und eine Herausforderung gehabt – wirklich gelebt hatte.

Nur ihre Liebhaber konnten sie berühren, wenn die Langeweile am schwersten war. Es war nicht der Sex, wofür sie tötete. Es war der Augenblick der Seelenqual, des Schreckens, der Macht oder der Furcht oder des Kummers – es war nicht wichtig, was. Es hielt nie auch nur lange genug an, es zu erkennen. Da war lediglich der Augenblick, der immer wieder versucht werden mußte, um zu erkennen, was es war.

Vielleicht war das der einzige Augenblick, in dem sie lebte.


Das Trospferd donnerte fort von der Gasse, sein Reiter warf nicht einen Blick zurück; und der Stiefsohn Straton drückte sich an die Mauer und blickte Tempus nach, bis Pferd und Reiter mit der Nacht verschmolzen.

Dann drehte er sich abrupt um und spähte durch die dunkle, leere Gasse, obwohl er wußte, daß Ischade sie bereits wieder verlassen hatte.

Daß sie ihn in die Hölle schicken würde, weil er ihr nachspionierte.

Er hörte Gerüchte über sie, hatte unzählige Gerüchte gehört, ohne sie wirklich zu hören. Es hatte ihn entsetzlich mitgenommen, und er war lange genug durch die Hölle gegangen, daß es das Vertrauen in ihm selbst erschütterte, in seine Entscheidungen, in den törichten Einfall, der ihn in blindem Ärger, ohne seine übliche Vorsicht, ohne seinen Verstand zu benutzen, auf die Straße getrieben hatte. Jetzt würde er den Rest seines Lebens unter plötzlichen Stichen in der Schulter leiden, wenn er seinen Arm falsch bewegte. Es war ein unvorhersehbarer Schmerz, der ihn wütend machte, wenn er durch ihn schoß und ihn zwang, in einer unnatürlichen Haltung zu verharren, bis er schließlich nachließ. Er kam so plötzlich und war so unbestimmbar, daß er nicht spüren konnte, ob es von den vernarbten Sehnen und dem Gelenk kam, die in einer bestimmten Bewegung plötzlich erstarrten, oder ob es lediglich der Schmerz war, der den Arm im Augenblick des Zusammenzuckens lähmte. Er versuchte es mit Übungen und entschlossenem Widerstand, wenn der Arm zu erstarren drohte; aber in üblen Augenblicken verriet er ihn doch.

Sein Selbstvertrauen war bereits auf der Straße gestorben, noch ehe Haught ihn in die Finger bekam. Es war die Beschädigung eines Körpers, für den er immer geschäftsmäßig gesorgt und den er gut behandelt und heil und gesund gehalten hatte, bis zu diesem Ende seines Lebens, da er begann, voll Neid auf Krämer und Kaufleute und ihre Gattinnen und Bälger zu blicken. Söldnerdienst war für junge Männer, er hatte bereits ein anderes Leben in Betracht gezogen, solange sein Körper und sein Verstand noch heil waren. Bei seinem Einfallsreichtum, seiner Erfahrung und seinen Beziehungen…

Bis ein einziger Moment der Unüberlegtheit ihn verkrüppelt und ihn vor den Augen ganz Freistatts auf das Pflaster geschleudert hatte. Nicht die Alpträume, aus denen er schweißgebadet erwachte, waren so schlimm; nicht die Angst; sondern die Befürchtung, daß er es verdient und daß Crit recht hatte: Seine ganze Welt war ein Gespinst aus Spinnweben und Mondschein.

Die Frau, deren Gesicht er im Liebesakt sah, das bezaubernde dunkle Gesicht, das schwarze Haar, das wie feinste Seide auf dem Kissen ausfächerte – das Gesicht, das im sanften Schein von Feuer und Kerzen nachdenklich über ihm lächelte…

… er vermochte es nicht an der zu sehen, die durch die Straßen wanderte; die wahllos einen Liebhaber nach dem anderen in den verkommensten Gassen Freistatts nahm – der Mörderin.

Er folgte ihr. Er hatte Dinge gesehen, die er nicht vergessen konnte. Er hatte sich für die Vernunft entschieden, für Crit, dafür, sie zu verlassen, wenn die Stiefsöhne aus der Stadt abzogen. Er würde nicht zurückblicken und allmählich diese Träume verlieren. Der Arm würde heilen, und er würde wieder zu sich finden, irgendwo, irgendwann.

Aber an diesen Betrug hätte er nie gedacht, diesen doppelten Betrug – sie mit seinem Befehlshaber.

Er wünschte die Verdammnis auf sie beide herab. Er hatte sich eingebildet, er hätte alle Gefühle gekostet, die es nur gab. Er hatte bisher nicht daran gedacht, daß er eine wirkliche Macht in Freistatt gewesen war, noch ehe sie ihn in ihr Bett mitgenommen hatte. Daß sie ihn fast zu einem wirklich Mächtigen gemacht hatte. Aber das hatte sich geändert. Er war nutzlos für sie. Also warf sie ihre Netze aus und fing sich einen, der geeigneter für ihre Zwecke war.

Er stürmte um die Ecke, den Bürgersteig entlang, und zuckte zusammen. Es war dieselbe Straße. Es war die gleiche blinde Wut. Wiederholung, ein neues Mal. Der Braune wartete auf ihn: er wartete immer, eine Farce der Treue, ihr Geschenk, das ihn nie verlassen würde. Er brachte ihn in die Stallung, und dann hörte er mitten in der Nacht seinen Hufschlag auf den Kopfsteinen unter seinem Fenster. Im Traum hörte er ihn trotten, hörte seinen Atem, hörte, wie er von einem Huf auf den anderen trat. Und da war diese kleine Stelle auf seiner Hinterbacke, die – nicht da war. Sie hatte keine Farbe, war nur ein Schönheitsfehler, und wenn man auf diesen münzengroßen Fleck starrte, bildete man sich ein, daß gar kein Pferd da war, nur das Kopfsteinpflaster oder die Mauer dahinter, oder ein Schimmer, hinter dem vielleicht die Wahrheit sichtbar wurde. Im Licht seines verlorenen Selbstvertrauens waren diese Treue und Beharrlichkeit beängstigend.

Er ging zu ihm, griff nach den herunterhängenden Zügeln und legte den linken Arm um seinen Hals, den linken wieder, um festzustellen, ob er weh tun würde; er drückte den warmen Pferdehals fest an sich, tätschelte ihn, um festzustellen, ob der Braune nach ihm schnappen und sich als eine Kreatur der Hölle erweisen würde. Ja, nun quälte ihn Schmerz, aber mit Ärger vermischt; und er war wieder ein verdammter Narr, auf derselben Straße, wo ihn schon einmal ein Heckenschütze erwischt hatte.

»Strat!«

Er wirbelte herum, von eisiger Furcht getrieben, die sich in Zorn verwandelte. »Verdammt! Was machst du hier?«

Sein Partner Crit stand einen Augenblick lang nur stumm da und fixierte ihn. Er hatte Crit am Ende des Blocks, bei den niedergebrannten Häusern zurückgelassen.

»Wie bin ich unbemerkt so nahe herangekommen?« fragte Crit scharf. »Du weißt es nicht. Das mache ich hier!«

»Ich will den Hundesohn finden, der auf mich geschossen hat«, brummte Strat. »Ich muß Genaueres wissen!« Es gab da eine Verbindung! Crit konnte fast alle Stücke richtig aneinanderlegen. Das war es, was Crit auf der Welt tat, kleine Stücke zu einem großen Bild zusammenfügen. Crit hatte so ein Bild gemacht, das zeigte, was Strat doch für ein Narr war. Und diesen Mann sah Crit jetzt in ihm. Er aber wollte ihm den alten Straton wieder zeigen, die Sache bereinigen, den Schmerz bewältigen und nicht zulassen, daß die Schmerzen ihn noch länger bei der Arbeit behinderten.

Ja, die Sache abschließen, damit er, wenn die Stiefsöhne abzogen, diese mörderische Stadt verlassen konnte, ohne das Gefühl, daß er getrieben wurde.

Raus aus dieser Stadt, unter Tempus’ Kommando, ohne ein weiteres Wort und ohne daß etwas unerledigt blieb. Mehr wollte er nicht.

Der Braune stupste ihn sanft in die Rippen, streifte mit samtigen Lippen über seine Hand, zeigte ihm beharrlich seine Zuneigung.

Nichts milderte die dumpfe Schwüle, kein Windhauch strich durch das schmale Fenster, durch das nichts weiter als ein Luftschacht zu dem kahlen Hof zu sehen war. Irgendwo schrie ein Baby, und eine Ratte stieß ihren Todesschrei in den Fängen eines nächtlichen Jägers aus. Auf dem Dachboden unmittelbar darüber raschelten Flügel. Irgend etwas hatte wohl die Vögel geweckt, die nun ihrem Unmut Luft machten, da sie ja ein Recht auf ihren Schlaf hatten. Und plötzlich flatterten alle panisch auf. Stilcho, der im Dunkeln nackt vor diesem Fensterschlitz stand, zuckte zusammen. Die Vögel drängten sich flügelschlagend durch die schmale Öffnung hinaus in die Dunkelheit. Etwas hatte die Vögel, die sonst nur tagsüber den Dachboden verließen, in Panik versetzt.

Er schauderte, verkrampfte die Hände um das Fensterbrett und blickte auf die Frau, die ohne Decke auf dem verschwitzten Bettuch lag. In diesem Loch im zweiten Stock war man eher bewußtlos, als daß man schlief. Die abgestandene Luft stank nach menschlichen Ausscheidungen und Generationen von ungewaschenen Bewohnern. Aber eine andere Unterkunft hatten sie nicht, Moria und er. Er war noch am Leben. Moria hatte alles verkauft, was sie hatte, und ging ihrem alten Handwerk nach, was ihm furchtbare Angst machte, denn auch in Freistatt hängte man Diebe, wenn man sie erwischte, und Moria war aus der Übung. Sie rührte sich. »Stilcho«, murmelte sie. »Stilcho.«

»Schlaf weiter.« Wenn er jetzt zu ihr ging, würde sie seine Verkrampfung spüren und wissen, daß ihn grauenvolle Angst quälte. Aber sie stand auf. Die Holzstützen, um die sie einem Netz gleich Seile gespannt hatten, knarrten. Sie kam zu ihm, schmiegte den schweißgebadeten, müden Körper an seinen und schlang die Arme um ihn. Trotzdem hörte sein Zittern nicht auf, und sie spürte es.

»Stilcho!« Nun schwang Angst aus ihrer Stimme. »Stilcho, was ist los?«

»Ein Alptraum«, antwortete er. »Nur ein Traum, nichts weiter.« Er hielt sie fest, war dankbar für ihre feuchte Wärme an seiner Haut. Wärme des Lebens. Glut der Leidenschaft. Er war Ischade entflohen, Magiern entflohen und jenen Kräften, die ihn als ihren Boten zur Hölle benutzt hatten. Er lebte wieder, aber ein Auge war tot; eines sah die Lebenden, doch das andere…

Wieder erschauderte er. Er hatte heute nacht in die Hölle geblickt.

»Stilcho.«

Er drehte sich mit dem Rücken zum Fenster. Es fiel ihm schwer, seine nackten Schultern waren der Nachtluft ausgesetzt, aber schlimmer noch, sein Gesicht war der tieferen Dunkelheit im Raum zugewandt, in der sein lebendes Auge blind war. Dann sah sein anderes um so deutlicher – und was sich dort bewegte, nahm plötzlich klarere Form an.

»O Götter! Sie haben etwas auf die Stadt losgelassen! Moria, etwas bewegt sich durch die Stadt…«

»Was? Was denn?« Moria, die Diebin, faßte seine Arme mit plötzlich harten Händen und schüttelte ihn, soweit sie ihn überhaupt zu bewegen vermochte. »Stilcho, hör auf, hör auf, hör auf!«

Das Baby brüllte jetzt aus dem Fensterschlitz weiter unten im Luftschacht. Die Armen teilten notgedrungen ihren Krach, ihre Auseinandersetzungen mit den Nachbarn, die wie sie in Elendsquartieren hausten, wo selbst leise Stimmen durch die dünnen Wände zu hören waren.

»Pst«, sagte er. »Es ist schon gut.« Doch das war eine Lüge.

»Wir sollten zu IHR zurückkehren. Wir sollten…«

»Nein!« In diesem Punkt war er eisern. Und wenn sie beide verhungerten.

Doch manchmal, in Nicht-ganz-Träumen, spürte er Ischades Berührung so fest, wie er sie immer gespürt hatte, und vermutete voll Unbehagen, daß sie genau wußte, wo ihre entflohenen Dienstboten sich aufhielten.

»Wir hätten ein Haus«, gab Moria zu bedenken und brach in Tränen aus. »Wir wären sicher vor dem Gesetz.« Sie grub ihr Gesicht in seine Brust und drückte ihn ganz fest an sich. »Ich komme von hier! Ich kann nicht mehr so leben, es stinkt, Stilcho, es stinkt, und ich stinke, und ich bin müde und kann nicht schlafen…«

»Nein!« Da war wieder seine Vision. Rote Augen stierten ihn aus der Schwärze an. Er versuchte, den Blick davon abzuwenden, aber es wurde immer wirklicher. Er wollte es verdrängen; er drehte sich zu dem Rest Sternenlicht um und krallte die Finger ins Fensterbrett, bis sie schmerzten. »Zünd die Lampe an.«

»Wir haben kein…«

»Zünd die Lampe an!«

Sie ging, und er hörte sie mit der Zunderschachtel und dem Docht hantieren, und er versuchte an Licht zu denken, an irgendein reines, gelbgoldweißes Licht: das der Sonne am Morgen, das der brennenden Sommersonne, irgendwas, das die Kraft hatte, die Dunkelheit zu vertreiben.

Doch die Sonne, die er sich dort in der Dunkelheit mit seinem lebenden Auge ausmalte, rötete, spaltete sich, dehnte sich aus und erlosch in tiefster Finsternis, kehrte jedoch in vertrautem Schein zurück.

Es dauerte eine Zeitlang, bis die Lampe allmählich kräftig, verschwenderisch brannte. Er drehte sich um und sah Morias Gesicht, hager, schweißnaß und furchtgequält. Einen Moment lang war sie eine Fremde, eine Erscheinung, deren Anwesenheit er sich genausowenig erklären konnte wie die Vision, die ihn geweckt hatte: die von etwas, das in den Himmel über Freistatt geschleudert worden war und nun frei dahinschoß. Doch dann stellte Moria die Lampe auf das kleine Nischenbrett, und nun verwandelte ihr Schein ihren Körper ganz in Schatten und rosige Farbtöne, ihr Haar zu feinem Goldgespinst. Haughts Magie war gründlich. Sie sah immer noch wie eine rankanische Dame aus, wenngleich eine gefallene.

Sie brauchte ihn, hier an diesem Ort, das glaubte er jedenfalls. Er brauchte sie unbedingt. Manchmal befürchtete er, wahnsinnig zu werden, manchmal glaubte er, daß er es bereits war.

Das Schlimmste war, wenn er träumte, sie würde aufwachen und eine Leiche an ihrer Seite finden, die sterblichen Überreste einer in die Hölle gezerrten Seele; und die Leiche war, wie sie nach zwei Jahren im Grab aussehen mußte.

Am Tag lastete die brütende Hitze in der seit den Regengüssen unbewegten Luft über Freistatt. Die wenigen Kunden auf dem Markt tätigten lustlos ihre Einkäufe. Die Händler fächelten sich Kühlung zu und hielten sich im Schatten, während ihr Gemüse welk wurde und der Fisch noch mehr stank. Es gab schlimme Probleme in der arg mitgenommenen Stadt. Gerüchte breiteten sich durch alle Straßen und Gassen aus, und überall raunte man dieselben Namen.

Oben auf dem Hügel erhielt ein Offizier der Garnison von höherer Instanz einen Befehl, den er weiterleiten sollte.

In der Rattenfalle rührte sich etwas, und gewisse Kaufleute erhielten Warnungen.

Und eine Frau schlich durch die Straßen, um wieder zu stehlen, doch voll entsetzlicher Angst, weil sie wußte, daß sie nicht mehr so geschickt war wie früher, aber auch, weil der Mann, mit dem sie zusammenlebte, einer Krise entgegensah, die sie nicht verstand. Diese Frau mußte immer einen Mann haben, ohne einen fühlte sie sich verloren. Sie brauchte Liebe, diese Frau, und fand stets Männer, die sie brauchten – oder die überhaupt etwas brauchten – und mit denen irgend etwas war, wie es nicht sein sollte. Moria verstand nie, weshalb es jedesmal dazu kam, daß sie alles, was sie hatte, Männern gab, die nichts zurückgaben.

Stilcho war bisher der Beste, dieser tote Mann, der ihr mehr Zärtlichkeit schenkte als je ein anderer außer ein ungewöhnlicher, nun toter Edelmann, der auch jetzt noch ihre Träume füllte. Stilcho hielt sie sanft in den Armen. Stilcho forderte nie, schlug sie nie. Stilcho gab auch, aber er nahm – Shipri und Shalpa, er nahm! Er brachte sie an den Rand ihrer Geduld und Kraft, weckte sie des Nachts mit seinen Alpträumen, erschreckte sie mit seiner wilden Phantasie und seinem Gerede von der Hölle. Sie konnte nicht genug verdienen, sie aus diesem Elend herauszuholen, aber die geringste Erwähnung, Hilfe von Ischade zu erbitten, löste einen Wutanfall bei ihm aus, daß er sie anschrie. Ihre früheren Männer hatten sie in einem solchen Fall immer verprügelt. Deshalb verhielt sie sich ganz still und ging wieder hinaus, um zu stehlen. Ihr helles rankanisches Haar unter einem braunen Tuch verborgen, ihr Gesicht ungewaschen und ihre Figur unkenntlich in unförmiger Lumpenkleidung.

Doch jetzt trieb Verzweiflung sie. Sie dachte ständig an die herrlichen Dinge und den Luxus, die sie in dem schönen Haus gehabt hatte, und an das Gold und Silber, das zweifellos in dem Feuer geschmolzen war, in dem es niederbrannte. Selbst Freistatts berüchtigtste Diebe und Einbrecher wagten sich nur mit Zaudern in die rußige Ruine. Sie durchsuchten sie natürlich; aber für sie war eine Ruine wie die andere, keiner wußte, wo sich die Innenwände befunden oder wo bestimmte Tische gestanden hatten.

Als es dunkel wurde, kehrte sie wieder dorthin zurück und begann aufs neue ihre Suche, verstohlen wie die Ratten, die sich in dieser vom Feuer heimgesuchten Gegend eingefunden hatten, und versteckte sich vor anderen Suchern. Sie hatte bisher nie etwas gefunden, weder das Silber noch das Gold, das doch irgendwo als flaches Stück kalten Metalls unter den Trümmern liegen mußte. Seit Wochen schon buddelte sie in der Ruine, dort wo die Eingangshalle gewesen war.

Deshalb kam sie immer so spät nach Hause. Und diesmal – ihr Götter, sie zitterte so sehr aus Angst vor all den Schrecken auf der Straße, daß ihr kaum noch genug Kraft für die Treppe blieb –, ja, diesmal brachte sie einen Klumpen Metall von der Größe ihrer Faust mit. Stilcho empfing sie besorgt, fragte heftig, wo sie so lange gewesen und warum sie so schmutzig war und wieso sie so achtlos war, daß ein paar blonde Strähnen unter dem Tuch hervorlugten…

»Stilcho«, sagte sie und streckte ihm den Klumpen entgegen. Tränen rannen über ihre Wangen. Nach den Begriffen der einfachen Leuten von Freistatt war das ein Vermögen. Wo sie den Klumpen gerieben hatte, glänzte er golden im Schein der Lampe, die er während des langen Wartens auf sie angezündet hatte.

Endlich konnte sie einem ihrer verzweifelten Männer etwas wirklich Wertvolles geben, das ihr die ersehnte Zärtlichkeit sichern würde. »O Moria«, sagte er und verdarb ihr die Freude daran. »Ihr Götter! Von dort! Verdammt, Moria! Närrin!« Aber er umarmte sie und drückte sie an sich, bis es weh tat.


Das Haus am Fluß wartete. Durch das eine Fenster, dessen Laden nicht geschlossen war, warf es Licht über den Wildkräutergarten, die Bäume und Sträucher und auf die Rosenbüsche am eisernen Zaun und der Gartentür.

Im Innern, im Licht der Kerzen, die nie niederbrannten, in einem wirren Durcheinander kostbarer Seiden und prächtiger Gewänder, die, sobald erstanden, vergessen herumlagen, saß Ischade völlig in Schwarz, schwarzes Haar, schwarze Augen, schwarze Kleidung, doch in ihren Händen war Farbe: ein blauer Stein, der aus dem Feuer kam. Sie hatte ihn abwesend aus der Asche gehoben – sie war auch eine Diebin, das war ihr eigentliches Handwerk; und wenn ihre Finger durch die heiße Asche Brandwunden davongetragen hatten, so hatte der Stein rasch alle Hitze in sich gesogen und ruhte kühl in unversehrten, dunklen Fingern.

Es war das größte Stück der ehemaligen Kugel. Es war Macht. Es war von Feuer geformt, und Flamme war das Element ihrer eigenen Magie, Feuer und Geist. Es war gut, daß es sich hier befand, und es war angebracht, daß niemand in Freistatt davon erfuhr.

Hufschlag hallte dröhnend von den Wänden der Lagerhäuser gegenüber ihrem Häuschen wider, an dessen Hinterseite der Schimmelfohlenfluß vom Regen angeschwollen vorbeirauschte. Sie schloß die Hand, bis Fleisch auf Fleisch traf; und der blaue Stein war verschwunden, ein Magiertrick.

Sie öffnete die Gartentür für ihren Besucher und die Haustür, als sie seine Schritte auf den Stufen davor hörte.

»Guten Abend«, sagte sie. Er achtete nicht auf ihre Geste, Platz zu nehmen, und blieb stehen. Ganz offensichtlich wollte er die Bedingungen der Abmachung rasch erfüllen. »Setzt Euch doch«, sagte sie da. »Ihr seid mein Gast.«

»Magie!« sagte er im tiefsten Brustton. »Ich warne Euch, Weib…«

»Ich dachte…« Sie machte ihre Stimme zu einem höheren Echo der seinen und gab ihr einen Hauch Spott: »Ich dachte wahrhaftig, daß Ihr Euch besser beherrschen könnt.«

Er stand da inmitten ihrer verstreuten Seiden, den Teppichen und den Sesseln, über die wirr Kopf- und Halstücher geworfen waren. Sie schloß die Tür hinter ihm, ohne sich von ihrem Platz zu bewegen. Er starrte sie an, und ein Funke des Aufbegehrens blitzte in seinen Augen. Vielleicht war es aber auch nur das Flackern der Kerzen gewesen. »Ich hatte mehr von Eurer Gastlichkeit erwartet.«

Das Feuer war in ihr, war es immer; und es rührte sich, wuchs auf die Weise, die sie vergangene Nacht auf die Jagd geschickt hätte. »Ich habe auf Euch gewartet«, sagte sie. »Es könnte nicht schlimmer sein.«

»Keine verdammten Tricks!«

»Erfüllt Ihr so Eure Verpflichtungen? Ich kann warten, wißt Ihr. Und Ihr auch, denn wenn nicht, wärt Ihr leichte Beute für Eure Feinde. Und Ihr seid so eitel.« Sie deutete auf den Wein auf dem Tisch. »Ich auch. Möchtet Ihr? Oder wollen wir beide Tiere sein?«

Er hätte versuchen können, sie zu vergewaltigen und dann zu töten. Überraschend lächelte er.

Er kam, setzte sich ihr gegenüber und trank ihren Wein in bedächtigem Schweigen. »Wir werden abziehen«, sagte er nach einer Weile, während sie tranken und plauderten. »Wir werden die Stadt – hiesigen Schutztruppen überlassen. Meine Leute nehme ich alle mit.«

Das war eine Herausforderung. Er meinte Strat. Sie blickte ihn an und spannte die Mundwinkel kaum merklich. Ihre Hand kam um den Fuß des Weinglases zu ruhen. Seine Hand legte sich auf sie, und es war wie die Berührung von Feuer. Er saß da und ließ das Feuer wachsen. Warten, demnach. Das Warten genießen. Bis es schwerfiel, gleichmäßig zu atmen, und das Gemach vor den sich weitenden Augen verschwamm.

»Wir können die ganze Nacht warten«, sagte er, während der Puls in ihren Schläfen hämmerte und viel zu wenig Luft im Gemach zu sein schien. Sie lächelte ihn an, ein langsames Entblößen der Zähne.

»Andererseits«, sagte sie und streifte sein Bein mit ihrem unter dem Tisch, »könnten wir es am Morgen bedauern.«

Er stand auf und riß sie an sich. Es war keine Zeit zum Ausziehen, keine, an etwas anderes zu denken. Er führte sie mit groben, fiebrig heißen Händen zur nahen Couch. Er schlüpfte nicht einmal aus seinem Kettenhemd. Es widerstand ihren Fingern, als sich ihre Hände in die Kleidung darüber krallten. »Vorsichtig!« mahnte sie, »langsam, ganz langsam…« als er sich auf sie warf. Mit dem letzten bißchen klaren Verstand mahnte sie ihn.

Das Gemach wurde weiß und blau und grün, Donner krachte, wirbelte sie durch die Dunkelheit, durch die linde Sommerluft, durch…

… nirgendwo, bis sie wieder zu sich kam und benommen unter dem Sternenhimmel lag, mit den windschiefen Häusern Freistatts ringsum. Eine Zeitlang spürte sie nichts, überhaupt nichts. Sie schloß die Augen, dann blinzelte sie wieder zu den Sternen hoch, während ihre Finger nach etwas tasteten, das Seide sein müßte, aber staubiges Kopfsteinpflaster war. Ihr Hinterkopf, auf den sie gefallen war, schmerzte, sie spürte, daß ihr Rücken ein einziger Bluterguß war, und wo er sie berührt hatte, spürte sie ein Brennen wie von Säure.

Er verlor das Bewußtsein nicht. Einen Augenblick lang war er anderswo, dann lag er halb betäubt auf Pflaster, und ein Randstein drückte gegen seine Rippen. Er war hart aufgeschlagen und er hatte Schmerzen. Auch er brannte, nicht zuletzt, als ihm allmählich bewußt wurde, daß er sich nicht in dem Haus am Fluß befand, sondern auf einer mitternächtlichen Straße irgendwo in der Oberstadt lag, und daß ihm alles verdammt weh tat. Er fluchte nicht. Er hatte Geduld gegenüber Göttern und Magiern gelernt. Er dachte nur daran zu töten, sie, irgend etwas in Reichweite und vor allem jeden Narren, den seine Lage belustigte.

Als er das Gesicht vom Pflaster gehoben, sich aufgeplagt und sein Gleichgewicht wiedergewonnen hatte, brauchte er keinen Augenblick lang zu überlegen, wohin er nun gehen würde.


Es war ein endloses Gewirr von Straßen, ein langer, hinkender Weg nach Hause, bei dem sie reichlich Zeit hatte, ihre Fassung wiederzugewinnen. Ihr Kopf schmerzte. Ihre Wirbelsäule war pure Pein. Und für ihr ärgstes Unbehagen fand sie keine Linderung, bis sie um eine Ecke bog und sich unmittelbar einem von Freistatts ungewaschenen Rüpeln gegenübersah.

Der messerschwingende Spitzbube ließ ihr keine Wahl, und das befriedigte sie über alle Maßen. Sie ließ ihn in der Gasse zurück, wo er ihr hatte Gewalt antun wollen und wo man ihn wahrscheinlich für einen der armen Teufel hielt, der den viel zu vielen Drogen Freistatts allzusehr zusprach. Seine Augen hatten diese Art von Leere. Nach einer Weile, wenn seine Widerstandskraft nachließ, würde er ganz einfach zu leben aufhören. Die Armen und Obdachlosen starben am schnellsten: ihre Gesundheit war von vornherein angegriffen, und seine war schon schlecht gewesen, ehe sie ihn dort liegenließ, ohne daß er sich erinnern konnte, daß er etwas mit einer Frau gehabt hatte.

Sie konnte deshalb wieder vernünftiger denken, als sie auf der Straße an der Brücke ankam und den Weg hinaufschritt, den die meisten mieden, zu ihrer Hecke und ihrem Zaun. Aber sie war nicht die erste.

Tempus war bereits da. Mit dem Schwert in der Hand ging er am Zaun entlang. Mitten im Schritt hielt er an, als sie hinter den Bäumen hervor in das schwache Sternenlicht trat und in den Schein, der durch ihren Fensterladen herausfiel. Alles an ihm drückte Wut aus. Aber sie ging ruhig weiter, humpelte ein wenig, bis sie einander dicht gegenüberstanden. Er musterte sie von Kopf bis Fuß. Die Schwertspitze neigte sich allmählich dem Boden zu.

»Wo seid Ihr gewesen?« fragte er. »Und wo zur Hölle ist mein Pferd?«

»Pferd?«

»Mein Pferd!« Er deutete mit dem Schwert zum Zaun und der Hecke. Da war kein Pferd, aber er war hierhergeritten, das hatte sie gehört. Sie sammelte ihre Kräfte und hinkte zur Vorderseite ihres Heckenzauns, wo der Boden, noch weich vom Regen, von großen Hufen aufgewühlt und zertrampelt war.

Und wo einer ihrer Rosenbüsche völlig zertreten war.

Sie stand da und starrte auf die Verwüstung, und das Licht in ihrem Haus, hinter den Fensterläden, loderte auf, brannte blendend weiß. Es erlosch langsam, während sie sich umdrehte. »Ein Mädchen«, sagte sie. »Ein Mädchen hat es gestohlen. An meinem Zaun! Von meinem Gast!«

»Ihr steckt nicht dahinter?«

Seine Stimme war ruhiger, beherrscht.

»Nein«, sagte sie leise und gemessen. »Das versichere ich Euch.« Sie richtete sich zu voller Größe auf, als er nach ihr langte. »Nein danke, mir reicht es.«

»Es hat Euch ebenfalls hinfortgeschleudert.«

»Bis hinter die Magiergilde.« Mit geblähten Nasenflügeln holte sie zischend Luft, die nach Pferd und Schlamm, zertrampelten Rosen und einem Weibsbild roch. Und in diesem hünenhaften Mann waren gleichermaßen Zorn und Verdruß. Der Zorn wurde zur Verlegenheit. »Unsere Flüche sind offenbar nicht miteinander vereinbar«, sagte sie. »Sturm und Feuer. Und es hatte so gut begonnen.«

Er schwieg und atmete schwer. Dann pfiff er durchdringend schrill. Sie fing den Pfiff für ihn, holte tief in ihr aus und warf ihn zu den Winden. Er zuckte zusammen und blickte sie verwundert an.

»Wenn der Pfiff Euer Pferd ruft, wird es ihn nun hören, wo immer es ist.«

»Er wird es zurückbringen«, sagte Tempus. »Falls es noch lebt.«

»Eine junge Frau hat es gestohlen. Ihr Geruch ist überall. Und der von Krrf. Riecht Ihr es nicht?«

Er holte tief Luft. »Eine junge Frau.«

»Keine, die ich kenne. Aber sie wird mich kennenlernen! Meine Rosen werden sie teuer zu stehen kommen!«

»Ein verdammtes kleines Miststück!« Das hörte sich an, als kenne er sie. Er kniff die Augen zusammen.

»Chenaya«, sagte er.

»Chenaya.« Sie wiederholte den Namen und prägte ihn sich gut ein. Sie öffnete die Gartentür. »Ein Glas Wein, Tempus Thaies?«

Er steckte das Schwert in die Scheide zurück und ging mit ihr, bot ihr den Arm und stützte sie, als sie flüchtig schwankend die Stufen hinaufstieg. Sie wünschte die Tür auf und ein helles Licht in das dunkle Dickicht des Gartens.

»Setzt Euch«, sagte er im Gemach. Seine Stimme war ein Wunder an selbstbeherrschter Sanftheit. Er schenkte Wein für sie ein, dann für sich. »Ich muß mich bei Euch entschuldigen«, sagte er, als koste ihn jedes einzelne Wort etwas. Abrupt bemerkte er: »Ihr habt Schlamm im Haar.«

Sie brach in Lachen aus, atmete tiefer und wurde hellwach. Es war kein freundliches Lachen, genausowenig wie Tempus’ Miene freundlich war. »Ihr habt Schlamm am Kinn«, stellte sie fest. Er wischte ihn mit einer Hand ab, die ebenso schmutzig war. Beide stanken nach der Straße. Plötzlich grinste er wölfisch. »Ich würde sagen, daß wir Glück gehabt haben«, meinte sie.

Er leerte sein Glas. Sie schenkte ihnen beide nach.

»Werdet Ihr betrunken?« fragte er ohne Umschweife.

»Nicht leicht. Ihr?«

»Nein.« Sein Ton hatte sich geändert. Keine Arroganz. Oder Stolz. Er blickte ihr gerade in die Augen, und es war klar, daß es heute nacht nichts mit einem Verhältnis zwischen Mann und Frau zu tun hatte. Ihre Anschauung war gleich. Es war ein seltener Augenblick, das spürte sie, daß jemand Tempus Thaies so nahe kam. Und eine Frau – vielleicht zum ersten Mal.

Sie erinnerte sich an seine Haltung in der Gasse, seine Einstellung, etwas zu beweisen.

Doch geschlagen, bestohlen und beleidigt, war er erstaunlich vernünftig. Und er hatte vor, es zu bleiben; und wieder spürte sie die überlagernde Gemütsruhe, das genaue Gegenteil der tobenden Wut, die darunter nach den Zügeln greifen wollte. Er lächelte sie an und trank ihren Wein. Was zwischen ihnen war, würde ungeklärt bleiben.

Von einem Mann mit solcher Lebensspanne erwartete man, daß er rätselhaft war. Oder wahnsinnig, zumindest in den Augen jener, denen es an Einblick mangelte. Sein Fluch war Vitalität aller Art: Selbstheilung, Sex, Unsterblichkeit.

Vernichtung war ihrer. Und die Anpassung ihrer beider Flüche war unmöglich.

Sie lachte, stützte den Ellbogen auf den Tisch und wischte sich den Mund mit schmutziger Hand ab.

»Was belustigt Euch?« Das Mißtrauen flammte rasch auf.

»Wenig. Euer Pferd und meine Rosen. Wir.« Und als ferner Hufschlag auf den Straßen erklang und in ihrem Bewußtsein widerhallte: »Wollen wir um das Weibsstück würfeln?«

Auch er hörte das Pferd. Er hatte sich wieder gefangen und ging zu ihrer Tür.

Das war ihr auch recht.

Sie trat einen Augenblick später hinaus, als das Pferd herbeigedonnert war, und brachte einen Umhang mit, der monatelang am Boden herumgelegen hatte. Er war aus Samt, nicht ganz sauber, aber richtig für ein Pferd, das schweißig sein mußte, nachdem es durch ganz Freistatt galoppiert war. »Da«, sagte sie, als sie sich an der offenen Gartentür zu ihm gesellte. »Für das Pferd.« Das die Augen rollte, die Zunge heraushängen ließ und nach Krrf roch. Tempus löste den Gurt, nahm ihm den Sattel ab, riß ihr den Umhang aus der Hand und rieb den Tros ab.

»Verdammt, verdammt, verdammt«, fluchte Tempus immer wieder.

»Gestattet«, sagte sie und trat heran, trotz der Unberechenbarkeit der beiden. Sie streckte die Hand aus und legte sie auf die gesenkte Stirn des Trospferds; es war anstrengend. Ihr Kopf pochte, und es forderte mehr von ihr, als sie angenommen hatte. Aber der Tros beruhigte sich und atmete regelmäßiger. »Na also.«

Tempus wischte und rieb und führte das Pferd im Kreis auf dem ebenen Boden, ohne ein einziges Wort zu sagen.

»Er ist völlig in Ordnung«, versicherte sie ihm. Er kannte ihre Magie, wußte, daß sie zu heilen vermochte – andere mit viel Geschick; sich selbst nicht so gut. Er hatte ihr schon einmal beim Heilen zugesehen.

Er blickte sie an. Sie verlangte keine Dankbarkeit, erwartete auch keine. Dieser Mißbrauch des Tieres verursachte einen bitteren Geschmack in ihrem Mund. Über ihren und Tempus’ Fehlschlag konnte sie ironisch lachen. Nicht über das!

Sie stand mit verschränkten Armen, während Tempus dem Tros behutsam die verschwitzte Decke und den Sattel auflegte. Das Tier senkte den Kopf und rieb mit dem Vorderbein die Wange, als ob es sich schämte.

Er schnallte den Gurt fest, griff nach den Zügeln, blickte einmal in ihre Richtung und saß auf.

Wortlos ritt er davon.

Sie seufzte und hüllte sich trotz der Schwüle der Nacht noch fester in ihren Umhang. Das Hufklappern auf dem Kopfsteinpflaster wurde leiser.

Der Weitblick war verschwunden, zusammen mit der Langeweile. Im Osten dämmerte es bereits. Sie schloß die Gartentür hinter sich und kehrte mit gesenktem Kopf und verschränkten Armen ins Haus zurück.

Ihr klarer Blick und ihre Langeweile waren seit dem Augenblick verschwunden, da sie sich in der Gasse getroffen hatten. Und seit dieser Zusammenkunft in den Ruinen nagte etwas an ihr, das auf Gefahr hinwies, eine, die nichts mit menschlicher Bosheit zu tun hatte, wohl aber etwas mit ihren Aktivitäten in der Oberstadt; irgendein Mißgeschick, das sie und vielleicht Tempus betraf.

Seit die nisibisischen Machtkugeln ihren Einfluß über die Stadt verstreut hatten, tat sich allerlei Überraschendes. Zauberer versagten manchmal, Magie wurde viel mehr vom Zufall beherrscht als früher, und die normalen Sterblichen hatten viel mehr Glück in ihrem Leben, als sie gewohnt waren, erstaunlich für Freistatt; aber bestürzend für die Stadt stellten Magier fest, daß ihre Kräfte beschnitten waren und die Ergebnisse ihres Wirkens oft ganz anders als geplant ausfielen.

Deshalb hatte sie Abstand von bedeutenderem Zauber genommen, bis sie sich zu dieser Austreibung hatte überreden lassen, hauptsächlich durch den Hasard Randal, dessen berufliche und persönliche Redlichkeit sie ohne jeden Tadel fand – ein Magier mit so wenig Eigennutz war selten.

Und nun quälte sie eine unaufhörliche Unruhe, die vermutlich durch den Umstand noch erhöht wurde, daß sie von einem Ende Freistatts zum anderen geschleudert worden war. Närrin! Daß sie sich auf so etwas eingelassen und blind diesen Fluch herausgefordert hatte, den sie lange Zeit, während der Blüte von Freistatts Zauberkräften, durchaus im Griff gehabt hatte.

Die Kopfschmerzen waren eine gerechte Strafe. Es hätte viel schlimmer kommen können.

Beispielsweise wäre es viel schlimmer gewesen, hätte sie Straton behalten, hätte ihn ihre Blindheit und unverzeihliche Fehleinschätzung in ihr Bett zurückgebracht und diese alte Wunde geöffnet.

Dann wäre er am Morgen so tot gewesen wie dieser besoffene Rüpel in einer Freistätter Gasse.


»Wir können nicht beide weg«, schloß Stilcho. Sie konnten keinen Schlaf finden. Heiser und erschöpft, mit trüben Augen saßen sie sich an dem wackligen Tischchen gegenüber. »Ich kann dich hier nicht alleinlassen mit diesem Ding.«

»Ich habe es gefunden, verdammt!« Moria wischte sich eine feuchte Strähne aus dem Gesicht und schlug auf den Tisch. »Behandle mich nicht wie eine verfluchte Närrin, Stilcho! Sag mir nicht, wie ich es machen muß! Ich habe es durch die ganze Stadt getragen! Wir schmelzen es…«

»Womit, im Namen der Götter? Etwa auf dem kleinen Feuertopf, den wir als Herd benutzen? Wir würden bloß einen verdammt heißen Klumpen…«

»Psssst!« Sie drückte hastig die Hand auf seinen Mund und verzog wütend das Gesicht. »Diese Wände, verdammt! Wie oft muß ich dir noch sagen, daß du ganz leise reden sollst? Ich stehle für uns! Wie glaubst du, daß wir sonst zu irgendwas kämen? Ich stehle es, und du lebst davon. Sag du mir nicht, was ich tun muß! Mein ganzes Leben lang hat man mich herumkommandiert! Ich lass’ es mir nicht mehr gefallen, weder von dir noch sonst jemand!«

»Sei nicht so verdammt eigensinnig! Wenn du in dieser Stadt Goldstückchen sehen läßt, kriegst du die Gurgel durchgeschnitten! Das ist kein Silber, verdammt, hör zu. Hör zu! Du…« Plötzlich schoben sich Bilder seines verlorenen Auges vor die des lebenden. Er hielt abrupt inne, und sein Herz hämmerte vor Angst.

»Stilcho?« Morias Stimme klang erschrocken. »Stilcho?«

»Etwas geht vor«, murmelte er. Vor seinem inneren Auge strömten durchscheinende Gestalten wie Rauch durch das Tor – die Feuer, die verlorenen Regionen… »Eine Menge Leute sind soeben gestorben.« Er schluckte schwer, kämpfte gegen sein Zittern an, versuchte Moria zu sehen, nicht diese entsetzliche Vision, in der Etwas lauerte, in der am Fluß – im Dickicht…

»Stilcho!« Ihre Nägel krallten sich in seine Hand. Er blinzelte, versuchte sich erneut auf sie zu konzentrieren, schließlich gelang es ihm, sie wie durch einen schwarzen Schleier zu sehen.

»Hilf mir. Moria…«

Sie sprang auf, daß der Stuhl umkippte und krachend auf dem Boden aufschlug, während sie ihn packte und mit aller Kraft an sich drückte. »Nein, nein, nein, verdammt, komm zurück!«

»Ich will nicht da hinunter! Ich will nicht wieder sterben – ihr Götter, Moria!« Seine Zähne wollten nicht zu klappern aufhören. Er konnte sein lebendes Auge schließen. Über sein totes hatte er keine Macht. »Es ist in der Hölle, Moria! Ein Stück von mir ist in der Hölle, und ich kann nicht blinzeln, ich kann es nicht zumachen, ich werd’ es nicht los…«

»Sieh mich an!« Sie riß seinen Kopf am Haar heran und blickte ihm ins Gesicht. Noch einmal zog sie heftig an seinem Haar. »Sieh mich an!«

Sein Blick klärte sich. Er faßte sie um die Taille, drückte sie fest an sich, preßte seinen Kopf an ihre Brust, in der ihr Herz wie das eines gefangenen Vogels klopfte. Ihre Hand strich zärtlich über seinen Kopf, und sie wisperte beruhigende Worte; aber er spürte ihr Herz so stark hämmern, daß es ihren ganzen zierlichen Körper schütteln könnte. Solange sie bei ihm war, gab es keine Sicherheit für sie, und er war nirgendwo sicher.

»Geh fort«, sagte er oft zu ihr. Aber er fürchtete den Tag, da er davongleiten und Moria nicht da sein würde, ihn festzuhalten; er fürchtete die Einsamkeit, in der er vielleicht den Verstand verlor. Wenn er tapfer wäre, ließe er sie gehen. Aber nicht heute. Sie würden gemeinsam aus diesem Loch klettern; soweit brauchten sie einander – er ihre Fähigkeiten und sie seine Vorsicht und seinen Schutz, damit sie das Gold ausgeben konnten; aber danach würde er eine Möglichkeit finden, sie gehen zu lassen.


»Verdammt!« zischte Crit. Die Neuigkeit war in Windeseile vom Hügel heruntergekommen, wie es anscheinend nur bei schlechten Botschaften möglich war; aber Straton sagte überhaupt nichts. Er ging durch die Tür auf den Kasernenhof hinaus und pfiff seinem Braunen, der gleich kam; natürlich kam er. Er machte Krach in der Stallung, dann sprang er über den Stallungszaun wie eine davonfliegende Möwe. Er kam zu ihm in diesem Morgengrauen, und Straton ging in die Sattelkammer, um seine Sachen zu holen.

»Wohin willst du?« fragte ihn Crit, als Strat auf den staubigen Hof herauskam, den Sattel in der Rechten, während die unberechenbare Linke nur Zaumzeug und Decke trug. Crit war zur Zeit ungewöhnlich geduldig und behutsam mit ihm, als ginge er auf Eierschalen.

»In die Stadt.« Auch Strat bemühte sich um Geduld. Er bemerkte Crits forschenden Blick, wußte, daß er an das kleine Haus auf dem Weg dachte. Ihm selbst war es zuvor gar nicht in den Sinn gekommen, doch jetzt ließ ihn der Gedanke nicht mehr los, daß Mächte in Freistatt, die gewarnt werden sollten, vielleicht einen beruhigenden Einfluß auf die Stadt ausüben könnten…

… verdammt, sie hatte Beziehungen zu allen wichtigen Stellen: zu Moruth, dem Bettlerkönig; zu den Ratten, den Rebellen, die das Gemetzel in der Oberstadt am schwersten nehmen würden. Zip verhaftet! Das würde nicht lange so bleiben. Am günstigsten wäre, wenn er verhaftet blieb, bis jemand eine Chance hatte, vernünftig mit ihm zu reden. Walegrin am besten.

»Halt dich fern vom Ufer«, sagte Crit. Er legte eine Hand auf seinen Arm und hielt ihn kurz zurück. In früheren Monaten hätte Strat sie abgeschüttelt oder ihm brüsk geantwortet. Aber Crit kämpfte um Strats Seele, und Strat wußte es und empfand Dankbarkeit gegenüber dem Freund, der sich für eine hoffnungslose Sache einsetzte oder zumindest eine, welche die Mühe nicht wert war, die Crit sich machte. Ich bin ein Krüppel, verdammt! Du hast mich zurückgeholt, hast deinen verdammten Hals riskiert, mich herauszuholen, aber du mußt dir einen anderen Partner suchen, Crit, einen, auf den du dich im Ernstfall verlassen kannst. Du weißt es, und ich weiß es. Das Feuer brennt nieder, und ich werde nie wieder sein, was ich war, das ist mir klar, wenn ich diese Schmerzanfälle habe. Morgen werde ich es dir sagen. Wenn wir raus sind aus dieser verdammten Stadt, werde ich es dir sagen. Und du wirst antworten, daß ich ein verdammter Narr bin, aber das bin ich genausowenig, wie du einer bist. Wird Zeit, daß wir uns trennen. Daß ich mich allein durchs Leben schlage. Du brauchst mich nicht mehr verhätscheln, Crit.

Crit ließ die Hand fallen. Er machte eine besorgte Miene. Das verursachten Strats Blicke in letzter Zeit häufig. Und gewöhnlich machte das Crit wütend, während andere Provokationen nichts nutzten. Diesmal stand er nur da.

»Du kannst dich darauf verlassen«, sagte Strat, »daß ich mir auf dem Rückweg ein paar Stunden Zeit nehmen werde. Ich muß ein paar Beziehungen spielen lassen.« Er hängte sich das Zaumzeug über die Schulter und warf die Decke über den Rücken des Braunen, ohne länger als unbedingt nötig auf den münzgroßen Fleck an der Hüfte des Pferdes zu blicken. »Vielleicht rede ich mit ihr. Ich nehme an, daß ich auch wieder herauskomme. Es ist abgekühlt. Sie hat ihre Wahl getroffen, ich habe meine getroffen.« Er legte den Sattel auf, ohne daß der Braune sich rührte. Er hätte eine Statue sein können, die wie ein Pferd atmete und roch. »Sie schläft sich durch. Wir haben Leichen, die es beweisen.«

»Sei kein verdammter Narr!«

»He!« Er drehte den Kopf und blickte Crit an. »Überlass’ mir, was ich tue. In Ordnung? Du bist nicht meine Mutter.«

Crit schwieg.

Verdammter Fehler, Crit. Sag’s doch. Mein Verstand ist wie die verdammte Schulter, unberechenbar. Ich kann nicht denken, weiß nicht, wann ich zuschlagen und wann ich ausweichen soll.

Sie hat sich einen anderen Liebhaber angelacht. Einen, gegen den ich nicht ankomme, oder?

Ich kann zu ihr gehen und wieder wegreiten. Du weißt nicht, wie leicht das ist. Ich habe sie auf der Straße gesehen, Crit. Wie die anderen Huren. Mit einem Fluch, der tötet.

Er legte dem Braunen das Zaumzeug an, schnallte den Sattelgurt fest und schwang sich auf den Braunen, ohne daß seine Schulter sich auflehnte. »Bis später«, sagte er und ritt zum Tor.

»Wo?« fragte Tempus heftig. Er war eben erst auf dem Hügel, eben erst in Molins Studiergemach angekommen. Es war auch für Molin kein guter Tag, aber für Tempus versprach es ein noch schlimmerer zu werden. »Wann und wer?«

»Ungefähr sechs von den Vobfs. Zip hat überlebt. Er ist zu seiner eigenen Sicherheit eingesperrt. Walegrin wird mit ihm reden müssen.«

»Wer hat es getan?«

Molin holte Atem und sagte es ihm.


Die Kopfschmerzen hatten nachgelassen. Das Unbehagen hielt an und raubte ihr die Lust an tiefsinnigen Betrachtungen. Ischade blieb zu Hause. Ihr Haar war makellos, der Schmutz von ihrer Haut gewaschen, die Rosen des zertrampelten Busches, die noch zu retten gewesen waren, standen in einer Vase auf dem Tischchen, nicht ihrer Schönheit wegen (sie waren schwarz und die Wassertropfen auf ihren Blütenblättern leuchteten blutrot in einem bestimmten Licht), sondern zur Erinnerung an eine Aufgabe, die sie in ihrer gegenwärtigen Stimmung und mit ihrem Kopfweh nicht ausführen wollte.

Sie hatte, was sie selten tat, eine Bestandsaufnahme ihrer Sachen gemacht und ein wenig aufgeräumt. Haught hatte immer alles in Ordnung gehalten. Stilcho hatte es versucht. Sie vermißte sie mit einer rührseliger Schwermut, die beide sehr überrascht hätte.

Stilcho war geflohen, verschwunden. Sie dachte, daß sie ihn finden könnte.

Der Gedanke, während sie mit dem Besen in der Hand innehielt, wurde verlockend. Stilcho hatte das Bett mit ihr geteilt – in vielen Nächten.

Und war gestorben und wiederauferstanden. Doch das war, als ihre Magie unnatürlich mächtig gewesen war. Es jetzt zu tun könnte sein Ende sein. Und er war loyal gewesen, er hatte Strat das Leben gerettet. Er hatte es sich verdient, sein Schicksal selbst zu entscheiden. Offenbar hatte er beschlossen, nicht zu ihr zurückzukommen.

Eine Wesenheit näherte sich ihrer Gartentür. Freudige Erregung durchfuhr sie. Sie kannte sie aus dem ganzen Mittagsverkehr auf der Straße heraus.

Sie wußte urplötzlich, wer es war, noch ehe sie das Pferd deutlich hörte, oder spürte, wie jemand das Schmiedeeisen berührte. Sie stellte den Besen zur Seite, riß die Tür auf und trat entgegen ihrer Gewohnheit im vollen Sommertageslicht hinaus auf die Stufen.

»Geh weg«, sagte sie zu Strat und hielt den Schutzzauber gegen ihn aufrecht.

»Ich muß mit dir reden. Geschäftlich.«

»Ich habe keine Geschäfte mit dir.«

Er hob beide Hände, daß sie sie sehen mußte. »Keine Waffen!«

»Führ mich nicht in Versuchung. Ich habe dich gewarnt. Ich habe dir gesagt, daß du nicht anders sein würdest als die anderen.«

»Gut. Öffne jetzt die Gartentür. Ich möchte nicht von der Straße aus brüllen müssen. Es geht um Unannehmlichkeiten. Hörst du?«

Sie schwankte. Die Tür gab unter seinem Druck nach und öffnete sich knarrend. Er kam bis zu den Eingangsstufen, mit mürrischem Gesicht und schmalen Lippen.

»Nun?« fragte sie.

»Es hat ein Gemetzel gegeben, in der Oberstadt.«

»Ich habe mich heute noch nicht umgehört.«

»Sechs Vobfs. Du verstehst.«

Sie verstand. Der Faktionskrieg war wieder ausgebrochen. Und das, obwohl die Hand des Reichs bereits schwer auf der Stadt lastete.

»Darf ich reinkommen?«

Es war nicht ratsam. Aber es war auch nicht ratsam, die Neuigkeit zu mißachten. Sie drehte sich um und ging ins Haus. Die Tür ließ sie offen, und er folgte ihr.


Es war wieder Nacht. Eine Gestalt stolperte durch das Gestrüpp und Röhricht am Ufer. Sie schniefte manchmal und schlug nach den Mücken und anderen Insekten, die hier in riesigen Schwärmen schwirrten. Jemand, der Zip kannte, hätte ihn vermutlich nicht wiedererkannt: Ein Auge war so stark geschwollen, daß er es nicht öffnen konnte, und das andere tränte; seine Nase war geschwollen und lief. Vielleicht weinte er aber auch. Er selbst wußte es nicht. Er schniefte und wischte sich die Nase an einem schlammigen Ärmel – er war ausgerutscht und hatte sich im Morast hochgestemmt –, der Schlamm an der Hand dieses Arms verkrustete bereits.

»Lauf!« hatte seine Stiefsohneskorte ihm geraten, als sie sich in der Dämmerung der Brücke genähert hatten. Er erwartete einen Pfeil im Rücken, aber er hatte keine Wahl: Walegrin hatte gesagt, daß sie ihn laufenlassen würden. Also rannte er um sein Leben, als sie ihm die Chance gaben, stürmte durch Dickicht und zerkratzte sich sein Gesicht an Dornengestrüpp und Zweigen. Er war gelaufen, bis er ausrutschte und auf dem schlammigen Ufer lag, dann war er wieder gerannt, bis seine Seite so stark stach, daß er langsam durch die Dunkelheit kriechen mußte.

Mann, sagte etwas zu ihm, nur dieses Wort, immer und immer wieder, und die Richtung, die er nahm, so daß er das gute Auge kaum offenzuhalten brauchte und nur die Zweige mit den Händen abwehren und auf die Stimme zugehen mußte, die ihn leitete. Rache, sagte sie da.

Er wußte nicht, wo er war, bis er über die herumliegenden Steine eines uralten Altars stolperte. Er erkannte ihn nicht gleich, sondern stand schniefend da und schluckte das unaufhörliche dünne Rinnsal seines eigenen Blutes im Mund, blinzelte in den Dunst und versuchte, sich zu konzentrieren. Es war der Altar, zu dem er seine Opfergaben gebracht und um Erfüllung seiner Rache gebetet hatte, weil er ein Ilsiger war und weil die alten Götter, die die Rankaner in ihren Tempeln duldeten, allesamt Kollaborateure waren. Ilsig hatte einst einen Kriegsgott gehabt. Einen Rachegott. Und wenn sie alle tot und ihre Statuen nur noch Statuen waren, hatte er doch ein ganz besonderes Gefühl gehabt, hier an diesem alten geweihten Ort, den kein Rankaner je berührt hatte, wo keine andere Kraft als ein Erdbeben den Altar zum Einsturz gebracht hatte – und kein Rankaner hatte je den Namen gekannt, daß er ihn hätte beschmutzen können. So hatte er hier den angebetet, dessen Altar es gewesen war, und er hatte ihm Menschenfleisch gebracht, weil das früher so üblich war. Er hatte nie eine Antwort erhalten. Aber in jenen Tagen war er alles für ihn gewesen, bis er zum Führer eines Teils von Freistatt geworden war.

Jetzt töteten Rankaner seine Brüder, andere Rankaner entschuldigten sich und ließen ihn laufen, und er war hier, auf den Knien, hier, wo er angefangen hatte; seine Rippen schmerzten, sein Gesicht war pure Pein, seine Ellbogen hatte er sich wie seine Knie blutig geschlagen, als er bei dem Massaker auf den Boden gestürzt war. Er weinte und schniefte und wischte sich Nase und Augen und versuchte, zu Atem zu kommen.

Rache, wisperte etwas in ihm. Er hob den Kopf und holte rasselnd Luft, als er ein Murmeln und Rumpeln in der Erde hörte. Etwas war in der Dunkelheit hinter dem Altar.

Er blinzelte. Zwei rote Schlitze erschienen in der Dunkelheit, und das gleiche rote Glühen zeichnete den Schnitt eines menschenähnlichen Mundes, als brenne Feuer in einem absolut dunklen Gesicht. Es lächelte ihn an.

Mein Anbeter, sagte es.

Und wisperte andere Dinge, über Macht und daß es in der Hölle gefangen gewesen war, bis es seine Freiheit erlangte. Der Schmerz ließ nach. Nicht aber die Kälte.

»Ich gehe«, sagte Zip zu ihm. »Ich muß zu meinen Leuten. Ich muß ihnen berichten…«

Berichte ihnen, daß sie einen Gott haben. Was würdest du dafür geben, daß Ilsig wieder aufersteht? Du hast Leben bezahlt. Du würdest deines geben. Aber was ich will, ist Anbetung. Ich will nichts von Seelen hören. Ich will einen Tempel. Das ist alles. Was für einen Tempel du auch da drüben an der Allee bauen kannst. Dort können wir anfangen. Klein. Bis wir die Dinge im Griff haben.

Zip wischte sich die Nase. Er sollte davonlaufen, nur hatte er keine Kraft mehr dafür. Nur, daß dieses – Wesen echt war und daß es in einer Welt, in der Magie und Macht herrschten, von Ilsig sprach und von einer Macht jener Art, wie sie Ranke schon zu verdammt lange für sich allein beansprucht hatte.

Ich, dachte er. Ich. Und dieses – Wesen. Er wußte nicht so recht, was es war. Gott war nicht ganz das richtige Wort, aber es hatte ohne Zweifel den Ehrgeiz, einer zu werden.

Einen Tempel könnten die Ilsiger schon bauen. Mit einer anderen Priesterschaft als diesen verdammten Eunuchen und Tempelprostituierten und dem, was die Rankaner als ilsigische Götter bezeichneten. Eine Priesterschaft mit Schwertern. Und mit wirklicher Macht!

Er schniefte und fuhr mit der Zunge über den übel zugerichteten, geschwollenen Mund. »Wenn du ein Gott bist«, sagte er, »dann schick meine Männer zu mir. Wenn du ein Gott bist, weißt du, wer sie sind. Wenn du ein Gott bist, kannst du sie für mich hierherrufen.«

Willst du sie wirklich jetzt schon hier haben? Wir sollten uns erst über Strategie unterhalten, Mann. Wir sollten Pläne ausarbeiten. Du hast einen teuren Fehler begangen. Sammle nicht deine ganzen Kräfte an einem Ort. Arbeite mit diesen Fremden zusammen. Mit allen. Kümmere dich um Information. Verhandle nur mit jenen, die wirklich etwas zu sagen haben, oder benutze Untergebene. Du mußt lernen zu delegieren.

»Beweis mir…«

O ja. Die roten Schlitze kräuselten sich an den Winkeln, als der Mund sich zu einem breiten, breiten Lächeln dehnte. Klar, daß du das verlangen würdest.


Chenaya schrie in der Dunkelheit, in einem plötzlichen Nirgendwo, als wäre die Welt unter ihren Füßen verschwunden. Sie fiel und fiel…

… und schlug schmerzend auf einer Oberfläche auf, die sich öffnete und sich mit ungeheurem Druck über ihr schloß. Wasser stieß ihre Nase hoch, füllte ihren Mund und die Ohren, drohte Augen und Trommelfell einzudrücken. Instinktiv versuchte sie, Arme und Beine zu bewegen und zu schwimmen, aber die Geschwindigkeit war zu groß, und je tiefer sie gerissen wurde, desto stärker wurde der Druck.

Ihr Verstand versuchte ihr zu versichern, daß sie schlafend in ihrem Bett lag.

Aber Kälte und Druck nahmen zu, als sie nach dem Aufschlag tiefer und tiefer glitt, bis der Sturz endlich langsam genug wurde, daß sie mit den Füßen stoßen und durch den natürlichen Auftrieb ihres Körpers wieder nach oben tauchen konnte. Salz brannte in ihren Augen und ihrer Kehle; ihre Lunge verlangte schmerzhaft nach Luft, und ihre Magen versuchte, ihre Luftröhre hochzukriechen, während sie mit letzten Kräften gegen den Druck des Wassers ankämpfte.

… nicht schaffen, nicht schaffen; das Bewußtsein schwand dahin in roten und grauen Explosionen, ihre Lunge brannte, wollte bersten, um sich zu entleeren, und wieder zu füllen mit dem kalten salzigen Tod.

Savankala! wimmerte sie.

Doch nichts beschleunigte ihren Auftrieb. Sie stieß und trat und stieß, und ihre Gedärme verkrampften sich: sie zwang die letzten Blasen aus ihrer Nase, versuchte Zeit zu gewinnen, kämpfte gegen den Instinkt an, der Luft forderte, wo es keine gab. Sie würde das Bewußtsein verlieren, dann würde ihr Körper durch diesen Instinkt einatmen…

Ihre Hand stieß aus dem Wasser. Sie klammerte sich förmlich fest an der Oberfläche und stemmte ihr Gesicht in einer letzten verzweifelten Anstrengung halb aus den Fluten, und Gischt aus Wasser und Luft drang ihr in Nase und Hals. Sie hustete und schlug um sich, versuchte das Wasser auszuspucken und Luft einzuatmen, während ihre Schläfen zu bersten drohten und ihre Gedärme sich in Krämpfen quälten. Stoß um Stoß holte sie ihr Leben zurück, schnappte keuchend nach Luft und übergab sich, schwamm und atmete und würgte in den stürmischen Wellen. Ihr Blick zeigte ihr nur Dunkelheit, abgrundtiefe Dunkelheit.

»Hilfe!« schrie sie heiser. Und schluckte Luft und Wasser, als ein Brecher ihr ins Gesicht schlug und über sie hinwegspülte. Ihre kraftlose Stimme verwehte im Wind und in nächtlicher Finsternis.

Sie fand gerade genug Kraft, sich umzusehen, und blinzelte, als sie beim Umdrehen die Lichter entdeckte: die ferne Linie des Kais, die beysibischen Schiffe, die vor Anker lagen. Sie war nackt, durchgefroren, blau geschlagen und halb ertrunken, und sie hatte nicht die geringste Ahnung, wie in aller Welt sie hierhergekommen war, oder ob Wahnsinn von ihr Besitz ergriffen hatte.

Sie fing zu schwimmen an, erst mit langsamen, schmerzhaften Stößen, bis sie sich erinnerte, daß es in diesen Gewässern Haie gab. Dann tauchte sie so schnell sie konnte durch Freistatts Hafen auf die fernen Lichter zu.


Originaltitel: In the Still of the Night

Copyright: 1986 by C. J. Cherryh


Загрузка...