Die Herrin der Flammen Diana L. Paxson

Ein Pfirsichbaum wuchs in dem Gärtchen, zu dem Lalos Stiege führte. Es war nur ein kleiner Baum, aber Gilla hatte seine Wurzeln mit Stroh bedeckt, um sie vor der Kälte zu schützen, und ihn mit kostbarem Wasser gegossen, wenn die Sonne heiß vom Himmel schien. Sie hatte für ihn gesorgt wie für ihre Kinder, und er hatte Krieg und Zauberwetter überlebt. Doch in dem bitteren Frühling, als der Kaiser nach Freistatt kam, stand er kahl, mit kaum einem Blatt an seinen krummen Zweigen.

Ehe er zum Palast ging, blieb Lalo neben dem Baum stehen und wünschte sich, er könnte ihm Leben einhauchen wie einst dem Werk seiner Hände. Doch seit der Zerstörung der nisibisischen Machtkugeln war offenbar alle Magie so lasch geworden wie Meister Ahdios billiges Bier. Seine eigene Magie wagte Lalo nicht auszuprobieren. Selbst in seiner besten Zeit hatte er lediglich Symbole umgewandelt, nichts Lebendes.

Er wußte nicht, ob er überhaupt noch etwas erschaffen könnte.

Das Haus hinter ihm war so still wie in jenen schrecklichen Tagen, als Gilla bei Roxane gefangen gewesen war. Latilla und Alfi befanden sich bei Vanda im Palast. Wedemir beobachtete neidisch die Stiefsöhne bei ihren Übungen, die sie wieder in Form für den Krieg bringen sollten. Und Gilla sorgte im Aphrodisiahaus dafür, daß Illyra allmählich von der Wunde genas, die ihr bei den Unruhen zugefügt worden war, als ihre kleine Tochter starb.

Wenn nur Illyras Körper der Heilung bedurfte, wäre es nicht so schlimm, dachte Lalo. Ihm schien, daß beide Frauen ihr Leid wie ein Kind pflegten. Sein eigener Magen verkrampfte sich bei der Erinnerung – sein mittlerer Sohn, Ganner, war in den gleichen Unruhen, die Illyras Kleinen den Tod gebracht hatten, vor der Goldschmiedewerkstatt, wo er in die Lehre gegangen war, niedergeschlagen worden.

In der Stadt herrschte nun wieder Ruhe, aber es war die Ruhe der Erschöpfung – eher einem Koma gleich denn heilendem Schlaf, und wer konnte schon sagen, ob Freistatt oder irgendwelche seiner Bürger je wieder zum Leben erwachen würden?

Lalo schauderte und blinzelte zum Himmel. Auch wenn es sinnlos war, sollte er zum Palast gehen, noch ehe das Morgenlicht schwand. Als Teil einer Reihe politischer und religiöser Verhandlungen, die Lalo gar nicht zu durchschauen versuchte, hatte Molin Fackelhalter ihm den Auftrag erteilt, ein allegorisches Wandgemälde der Hochzeit des Sturmgotts mit Mutter Bey zu malen. Das Werk war so leblos wie alles, was er in letzter Zeit malte, aber er wurde dafür bezahlt. Außerdem wußte er nicht, was er sonst hätte tun können.


»Sie wäre sehr hübsch geworden…« sagte Illyra in einem eigenartigen Plauderton. »Meine Lillis hatte goldenes Haar wie ihr Vater, erinnerst du dich. Wenn ich es kämmte, fragte ich mich oft, wie etwas so Hübsches aus meinem Schoß hatte kommen können…«

»Ja«, sagte Gilla leise. »Ich weiß.« Sie hatte Illyras Töchterchen nur ein paarmal flüchtig gesehen, doch das war jetzt unwichtig. »Ganner war das hübscheste meiner Kinder…« Ihre Kehle schnürte sich zusammen.

»Wie kannst du es verstehen!« rief die Halbs’danzo plötzlich heftig. »Du hast noch Kinder! Aber meine Tochter ist tot, und meinen kleinen Jungen haben sie mir weggenommen. Mir ist nichts geblieben!«

»Dein Kind war noch klein«, sagte Gilla schwer. »Du weißt nicht, wie sie einmal geworden wäre. Doch all die Arbeit, meinen Jungen zum Manne großzuziehen, ist vergeudet. Ich werde keine Enkelkinder von ihm haben. Ich mußte ein Baby begraben und habe eines noch ungeboren verloren. Der Junge, der nach Ganner kam, starb an Fieber, als er sechs Jahre alt war. Ich mußte sie in den verschiedenen Altern hergeben und kenne den Schmerz, den ich bei jedem einzelnen litt, und ich sage dir, Illyra, in welchem Alter einem sein Kind auch genommen wird, es ist immer das schlimmste. Doch ich werde keine mehr gebären. Du dagegen bist noch jung und kannst andere Kinder bekommen.«

»Wozu?« sagte Illyra rauh. »Damit diese Stadt auch sie umbringen kann?« Sie ließ sich auf das seidene Kissen zurückfallen, mit dem das Aphrodisiahaus sogar Krankenzimmer ausstattete, und schloß die Augen.

Irgendwo im Erdgeschoß erklang wie zum Hohn Musik. Die verblichene Seide der Kissen schimmerte weich in der Nachmittagssonne, aber Gilla erschien sie so farblos wie alles andere seit dem furchtbaren Tag, an dem so viele gestorben waren. Illyra hatte recht – warum dem boshaften Schicksal noch mehr Geiseln geben?

Jemand klopfte zögernd an die Tür. Als weder Gilla noch Illyra Herein riefen, wurde sie sanft geöffnet, und Myrtis trat ein. Sie war ein wenig dünner geworden, aber ihr Make-up war so untadelig wie immer und ihr Schmuck dezent.

»Wie geht es ihr heute?« Sie deutete auf die Halbs’danzo, die die Augen geschlossen hatte.

Gilla stand auf und ging der Älteren entgegen – man nahm zumindest an, daß Myrtis älter war, und heute sah sie wirklich so aus, als ließe auch der Zauber nach, mit dem Lythande ihre sagenhafte Schönheit erhalten hatte. Molin Fackelhalters Gold war Bezahlung für Illyras Pflege hier, doch die berühmte Leiterin des Aphrodisiahauses hatte sich mehr als nur als eine Hauswirtin um sie gekümmert.

»Die Wunde vernarbt, aber Illyra wird immer schwächer«, antwortete Gilla leise. »Ich glaube, sie will nicht mehr leben. Und warum sollte sie auch?« fügte sie bitter hinzu.

Einen Moment lang funkelten Myrtis’ Augen. »Ihr braucht einen Grund? Das Leben is alles, was man hat! Immerhin ist sie durchgekommen, und Ihr ebenfalls! Wollt ihr aufgeben und sie gewinnen lassen?« Ihre Gebärde schloß alle außerhalb des Gemachs ein. Dann zog sie rasch die Hand zurück, als wäre sie von ihrer eigenen Heftigkeit überrascht.

»Wie auch immer, es gibt andere, die sie brauchen«, fuhr sie ruhiger fort. Sie trat zur Seite, und nun sah Gilla eine zweite Gestalt an der Tür. Sie war hochgewachsen, schwarzhaarig, und nicht einmal das prunkvolle Gewand, das sie so ungeschickt trug, als wäre es ungewohnt, konnte ihre Geschmeidigkeit verbergen, auch nicht die Energie, die von ihr ausging, so daß sogar Gilla zur Seite wich, als sie an Myrtis vorbei hereinstürmte.

»Was habt Ihr vor? Es geht ihr nicht gut…« entrüstete sich Gilla, als die große Frau zu Illyras Bett schritt und auf sie hinunterblickte.

»Man sagt, daß die S’danzo keine Götter haben und auch keine Zauberer«, sagte die Frau schroff. »Nun, die Götter, die wir übrigen hatten, reden zur Zeit nicht mit uns, und die Magier vermögen nichts. Ich brauche Auskunft. Meine alten Kameraden sagten, daß Ihr ehrlich seid. Was verlangt Ihr dafür, für mich zu lesen?«

»Nichts.« Illyra richtete sich auf und lehnte sich mit hartem Blick an die Kissen.

»O nein – viele meiner Kameraden gingen früher zu Euch, und so weiß ich, daß Ihr Euch an die herkömmlichen Regeln haltet. Wenn Ihr mein Geld nehmt, seid Ihr verpflichtet, mir zu antworten…« Sie zog eine Goldmünze aus ihrem Beutel und streckte sie aus. Wütend schlug Illyra sie ihr aus der Hand.

»Wißt Ihr, wer ich bin?« fragte die Frau drohend.

»O ja, ich kenne Euch, Lady Kama, und es gibt nichts in Freistatt, was mich dazu bringen könnte, für Euch zu lesen!« Sie schluchzte auf. »Ich könnte es nicht einmal, wenn ich es wollte. Als meine… Während der Unruhen wurden meine Karten vernichtet. Ich bin jetzt so blind wie alle anderen auch!« endete sie bitter.

»Aber ich muß es wissen!« rief Kama heftig. »Ich habe versprochen, Molin Fackelhalter zu heiraten, aber wenn ich ihn nach der Trauung frage, vertröstet er mich mit irgendwelchem theologischen Unsinn. Und die Stiefsöhne nehmen das 3. Kommando auf irgendeinen mysteriösen Feldzug mit – meine ganzen alten Kameraden! Ich könnte mit ihnen gehen – das möchte ich auch gern, aber ich muß wissen, was ich tun soll!«

Illyra zuckte die Schultern. »Tut, was Ihr wollt.«

Wenn man bedachte, daß Molin Fackelhalter Illyra ihr anderes Kind weggenommen hatte, war die Reaktion der S’danzo auf die Bitte dieser Frau noch milde, fand Gilla.

Kama beugte sich plötzlich hinab und packte Illyra an den Schultern. »Was hat das damit zu tun? Ich habe Eide geleistet, und ich bin an sie gebunden, auch wenn die Götter jetzt nicht mehr zuhören. Und ich habe zuviel Blut in dieser Stadt verloren, als einfach davonzumarschieren, ohne zu wissen, weshalb. Glaubt Ihr, ich bin keine Kriegerin mehr, nur weil ich dieses Zeug trage?« Sie zupfte wütend an den tiefen Falten ihres Rockes. »Ich verlange Antworten, Weib, und wenn ich sie Euch herauspressen muß!«

Illyra schüttelte den Kopf. »Könnt Ihr Blut aus einem Stein pressen? Tut mit mir, was Ihr wollt – ich habe keine Antworten mehr.«

»Nun, vielleicht ist in Euren Adern kein Blut mehr«, sagte Kama noch drohender, »aber wie sieht es bei Eurem Mann aus? Ich habe eine Menge in dieser Senkgrube gelernt, die Ihr Euer Zuhause nennt – werdet Ihr das gleiche Lied singen, wenn Ihr seht, daß ich einige dieser neuen Kenntnisse an ihm ausprobiere?«

»Nein…« hauchte Illyra verstört. »Er hat nichts damit zu tun. Ihr dürft ihn nicht meinetwegen leiden lassen…«

»Ihr habt Euch doch nicht etwa dem Eindruck hingegeben, daß das Leben gerecht ist?« Kama richtete sich auf und blickte auf sie hinunter. »Ich werde tun, wozu ich mich gezwungen sehe.«

Gilla blickte von Kama zu Myrtis, die mit einem schwachen Lächeln zuhörte. Hatte die Besitzerin des Aphrodisiahauses Kama veranlaßt, sich so aufzuführen, um Illyra aus ihrer Schwermut zu reißen? Myrtis traute sie es zu, doch es fiel ihr schwer, sich vorzustellen, daß Kama bei irgendwelchen Spielchen anderer mitmachen würde.

»Aber ich kann Euch nicht helfen…« klagte Illyra mitleiderregend. »Ich habe es Euch schon gesagt. Ich habe keine Karten mehr. Und ich kann auch keine ausborgen – jedes Päckchen ist auf die S’danzo abgestimmt, der es gehört. Meine hatte ich von meiner Großmutter, und es gibt keinen S’danzokünstler, der ein neues Päckchen für mich malen könnte.«

Kama starrte sie an. Dann wanderten ihre grauen Augen nachdenklich von der S’danzo zu Gilla und zurück.

»Aber Ihr wißt, wie die Karten aussehen müssen…«

Nun starrte Illyra sie an.

»Und ihr Mann ist ein Maler, der sogar gewisse Kräfte haben soll…« Als Kama fortfuhr, las Gilla in Illyras Gesicht ihre eigene, bestürzende Erkenntnis, daß sie beide noch jemanden hatten, durch den man Druck auf sie ausüben konnte.

»Molin Fackelhalter ist des Malers Gönner. Er wird Lalo zu Euch schicken, und gemeinsam werdet ihr ein neues Päckchen Karten anfertigen. Und dann…« Kama verzog die Lippen zu etwas, das sie für ein süßes Lächeln hielt. »Dann werden wir sehen, ob noch Magie auf dieser Welt übriggeblieben ist.«


Lalo heftete ein weiteres kleines, rechteckiges Blatt steifes Papier auf sein Zeichenbrett. Er spürte die Anspannung im Nacken und in den Schultern, und Illyra war beunruhigend bleich, und Schweiß glänzte auf ihrer Stirn. Die zwei Karten, die sie bereits fertiggestellt hatten, trockneten im Sonnenschein, der durch das Fenster fiel.

»Seid Ihr bereit?« Seine Stimme klang gedämpft durch die Maske, die er jetzt beim Arbeiten immer vor Mund und Nase trug, um zu verhindern, daß sein Atem seinem jeweiligen Werk ungewollt Leben einhauchte. »Wir können für heute aufhören«, schlug er vor. Auch wenn er noch die Kraft zum Weitermachen hatte, bezweifelte er, daß die S’danzo viel länger durchhalten würde.

»Eine noch…« Illyra zuckte leicht zusammen, als sie sich höher auf das Kissen zog. Sie strengte sich viel zu sehr an. Lalo fragte sich, ob sie sich vielleicht ohne ein Päckchen Karten nur als halber Mensch fühlte, so wie es ihm immer ging, wenn er nicht Zeichenstifte und Papier bei sich hatte, oder ob sie es nur nicht erwarten konnte, Kama loszuwerden.

»Die nächste Karte ist die Flammen-Drei«, sagte Illyra. Ihre Stimme veränderte sich, wurde seltsam ausdruckslos, als könnte es sie bereits in die Trance der Seherinnen versetzen, wenn sie sich die Karten nur vorstellte. »Da ist ein unterirdischer Gang, dunkel an einem Ende und hell am anderen. In dem Gang sehe ich drei Gestalten mit brennenden Fackeln. Aber gehen sie auf das Licht oder auf die Finsternis? Ich kann es nicht erkennen…«

Als hätten ihn die Worte der S’danzo in ihren Bann geschlagen, bemerkte Lalo, daß sich seine Hand bereits bewegte, daß der Pinsel in die dunkle Farbe für die Schatten tauchte und in die orangerote für die drei leuchtenden Flammenblüten. Während Illyra von der Bedeutung der Karte sprach, entstanden Form und Farbe auf dem kleinen Blatt Papier vor ihm, als wäre sein Pinsel ein Zauberstab, der sichtbar machte, was schon immer dort verborgen gewesen war.

Die Fackelträger waren Silhouetten, ihre Gesichter nicht zu sehen, aber einer war klein, einer breit, einer drahtig und lebhaft. Konnte die breite Gestalt Molin Fackelhalter sein? Lalo malte die Zahl auf die Karte, und in dem Augenblick zwischen dem letzten Pinselstrich und seiner Rückkehr in normale Bewußtheit, vermeinte er etwas von Gilla in der breiteren Gestalt zu sehen. Vielleicht waren die beiden anderen Illyra und er selbst. Aber bewegten sie sich in die tiefere Dunkelheit oder auf das Licht zu?

Lalo richtete sich auf und blickte Illyra an, die still wie im Schlaf – oder in Trance – auf ihren Kissen lag. Dunkle Flecken hoben sich unter ihren geschlossenen Augen ab, als hätte er sie dort mit farbverschmierten Fingern berührt. Er hatte die Macht gespürt, die während des Malens durch ihn geflossen war, doch diesmal war ihm die Bedeutung seines Werkes verborgen, als er aus seiner eigenen Schöpfungstrance zurückkehrte und die Karten betrachtete.

Die drei fertigen Flammenkarten glühten im Sonnenschein und ihre Farben schienen mit eigener Energie zu vibrieren. Ich sollte dankbar sein, dachte der Künstler. Jetzt weiß ich zumindest, daß noch Macht in meinen Händen ist. Aber er verstand nicht, was er gemalt hatte, und sein Magen verkrampfte sich, als er den Schmerz in Illyras verschlossenem Gesicht erkannte. Behutsam und ganz leise, aus Angst, sie zu wecken, räumte Lalo seine Farben auf.


»Die Karten sind schön«, sagte Gilla. »So viele von Lalos Aufträgen in letzter Zeit waren Wandgemälde. Ich hatte ganz vergessen, wie bezaubernd seine feineren Arbeiten sein können.« Sie legte die Wald-Eins ordentlich auf den Stoß zurück. Die kräftigen Grün- und Brauntöne des Urwalds schienen in ihrem eigenen Licht zu glühen wie Sonnenschein, der schräg durch unzählige Blätter filtert. Molin Fackelhalter hatte darauf bestanden, daß er sich mit dem Hochzeitswandgemälde beeilte, darum hatte es nun Vorrang über Kamas Auftrag, obwohl das Päckchen schon beinahe fertig war. Illyra war auch körperlich fast genesen. Aber sie und Gilla hatten sich daran gewöhnt, einander Gesellschaft zu leisten.

»Ich hasse sie«, murmelte Illyra.

Gilla blickte zum Bett, und eine wütende Verteidigung von Lalos Arbeit bebte auf ihrer Zunge. Die Augen der S’danzo waren geschlossen, aber Tränen quollen zwischen den Lidern hervor. Gilla schluckte ihren Ärger und ging zu ihr. Sie nahm ein feuchtes Tuch, damit tupfte sie ihre Wangen ab.

»Mein Liebes, es ist ja alles gut…« Das war das instinktive Murmeln einer Mutter zu ihrem kranken Kind.

»Es ist nicht gut!« widersprach Illyra hart. »Um zu lesen, muß ich mich dem Großen Muster öffnen, muß eins damit werden und den Teil heraussuchen, der mit der Frage des Kunden zu tun hat. Aber ich glaube nicht mehr an das Große Muster.«

Gilla nickte. Männer, die einander umbrachten, war eines, ob nun in der Schlacht oder in den Gassen von Freistatt; aber wie konnte es einen Zweck in dem sinnlosen Tod eines Kindes geben? Der Gedanke brachte die plötzliche Erinnerung an Ganners achten Geburtstag, zu dem Lalo ihm Tonerde und Modellierwerkzeug geschenkt hatte. Ganner war der einzige unter den Kindern gewesen, der ein wenig von Lalos Begabung geerbt hatte. Doch nun würde er nie mehr Schönheit in die Welt bringen können. Sie schluckte schmerzlich und wandte sich wieder Illyra zu.

»Gut das halbe Päckchen ist bemalt. Kama wird mich zwingen, für sie zu lesen, sobald die übrigen Karten fertig sind, und ich kann es nicht«, sagte Illyra bitter. »Ich werde sie enttäuschen, und dann wird sie dafür Rache an Dubro nehmen. Bei allen nutzlosen Göttern Freistatts, ich hasse sie! Sie und die anderen klingenhungrigen, herumstolzierenden Kampfhähne, die meine Welt vernichtet haben!«

»Willst du selbst ein Schwert in die Hand nehmen und dich mit ihr anlegen?« fragte Gilla, die versuchte, den Haß, der ihr den Magen verkrampfte, in Spott umzuwandeln. »Illyra, sei vernünftig! Versuch, gesund zu werden und sei dankbar, daß das nicht deine Art von Macht ist!«

»Meine Art von Macht…« sagte die S’danzo nachdenklich. »Nein – wenn Menschen meinesgleichen wegen Zauberei auf dem Scheiterhaufen verbrennen, dann gewiß nicht, weil sie die einfache Macht des Stahles fürchten…« Illyra verstummte. Ihr dunkles Haar schwang auf die Brust hinunter, und Gilla konnte ihre Augen nicht sehen. Doch etwas an der Stille der anderen jagte ihr trotz des heißen Tages einen Schauder über den Rücken.

»Es ist verboten…«, sagte die S’danzo leise. »Selbst in der knappen Ausbildung, die sie mir gegönnt haben, wurde darauf hingewiesen. Aber was scheren mich jetzt die Bestimmungen anderer?«

»Illyra, was hast du vor?« fragte Gilla besorgt, als sich die andere stöhnend aus dem Bett stemmte und zu dem Tischchen ging, wo die Karten lagen, die Lalo fertig hatte.

»Alles hat zwei Seiten«, sagte Illyra im Plauderton. »Sieh dir zum Beispiel diese Karte an. Es ist die Flammen-Drei. Wenn sie beim Lesen aufgedeckt wird, kann sie bedeuten, daß sich die Dinge verschlechtern, aber umgekehrt auch, daß sie besser werden; es kommt ganz auf die umliegenden Karten an. Und diese da, die Stahlkarte…« Sie hielt die Erz-Zwei hoch. »In ihrer normalen Lage, wenn die Schwerter auf die Person deuten, für die ich lese, ist es die Todeskarte, andersherum aber bedeutet sie die Vernichtung seines Feindes.«

»Das ist bei einem Schwert selbst auch der Fall«, warf Gilla ein.

Illyra nickte. »Bei Magie ebenfalls. Macht ist Macht. Gut oder Böse liegt nie im Werkzeug selbst, sondern immer in der Absicht und dem Willen dessen, der es benutzt.«

Gilla starrte sie an. »Du kannst die Karten als Waffe benutzen?« Ihr Herz hämmerte, und plötzlich wurde ihr bewußt, wie sehr sie Lalo um die Gabe beneidet hatte, die ihm unbeabsichtigt gegeben worden war und derer er sich nur mit Zittern und Zagen bediente.

Illyra blätterte durch die Karten, die Lalo fertiggestellt hatte. »Vielleicht – wenn die richtigen Karten dabei sind…« Sie nahm eine heraus, noch eine, dann drei weitere. »Wenn ich lese, sind der Kunde und die Karten und ich im Großen Muster verbunden, und die Karten, die aufgedeckt werden, spiegeln seine Verflechtung darin wider. Das Große Muster ist die Ursache, die Karten sind die Wirkung. Mein Lesen ist nur ein Deuten dessen, was bereits da ist.«

Gilla nickte, und die S’danzo fuhr fort: »Aber wenn ich die Karten in einem bestimmten Muster lege und es durch meinen Willen an das Große Muster binde…«

»Kannst du den Vorgang umkehren?« wisperte Gilla. »Die Karten zur Ursache machen?«

»Ich könnte – ich würde – ich werde es!«

Entschlossen griff Illyra nach den Karten und trug sie zu einem Tischchen mit Einlegearbeit in einer Ecke. Sie hielt eine Karte hoch und zeigte sie Gilla. »Hier, diese soll für den Kunden und seine Umgebung stehen…« Sie legte sie auf den Tisch.

Gilla blinzelte. Sie sah nur die Sohne strahlend auf eine gemalte Stadt scheinen. »Was ist das für eine?«

»Wir nennen sie Zenit – die Mittagssonne –, aber dein Mann hat außer der Sonne auch eine Stadt gemalt.« Illyra hielt die Hände darüber, schloß die Augen und runzelte konzentriert die Stirn. »So, wie du Zenit warst, wirst du nun diese Stadt werden!« murmelte sie. Sie tauchte einen Finger in das Malwasser und spritzte einen Tropfen auf die Karte. »Mit Wind und Wasser gebe ich dir nun den Namen Freistatt und mache dich zum Kunden dieser Sitzung.«

Sie sollte das nicht tun! dachte Gilla, die zusah, wie Illyra unter den ausgewählten Karten suchte. Ihre Bewegungen bannten den Blick. Gilla erinnerte sich, wie Roxane den Blick gebannt hatte, und schauderte. Aber sie hatte nie verstanden, was die Beweggründe der Nisibisihexe gewesen waren, der trotz ihres gewaltigen Wissens die Freuden und Leiden gewöhnlicher Frauen fremd blieben. Illyra dagegen konnte sie nur zu gut verstehen. Wir sollten das nicht tun! dachte sie nun.

Gilla spürte, wie der Puls in ihren Schläfen pochte, und spürte die Wut einer Wölfin, deren Welpen getötet wurden. Ihr ganzes Leben lang hatte Angst sie gequält: in Notzeiten, Angst zu verhungern; in Zeiten des Überflusses, Angst, beraubt zu werden. Sie war damit aufgewachsen, stets auf verstohlene Schritte hinter sich zu lauschen, wenn sie aus dem Haus ging, und in Schatten und dunkle Ecken zu spähen, in denen etwas lauern mochte. Dann hatte sie Kinder geboren, und die Angst um sie war um so vieles größer, als die um sich selbst, wie der Schimmelfohlenfluß tiefer und schrecklicher war als die Abwässer von Freistatt. Und nie hatte es irgend etwas gegeben, das sie dagegen hätte tun können! Nie, bis jetzt…

Unheildrohend wie ein Berg, der sich in Bewegung setzt, durchquerte Gilla das Gemach mit Schritten, die den Fußboden erschütterten. Sie ließ sich gegenüber der S’danzo an dem Tischchen nieder.

»Was steht dagegen, Seherin?« fragte sie.

»Das Lanzenschiff«, antwortete Illyra, »der Narwal, der eine gute Karte sein kann, aber immer Veränderung bedeutet. In dieser Stellung bringt sie Unglück.«

»Worauf hoffen wir?« setzte Gilla die Litanei fort.

Illyra hob eine neue Karte ab und legte sie über die beiden ersten. Gilla erkannte sie – es war die Erz-Zwei umgekehrt, mit dem Stahl drohend nach unten gerichtet.

»Und das haben wir bereits«, sagte die S’danzo. »Quecksilber, manche nennen sie auch Shalpas Karte, die Erz-Eins und das Fundament von Freistatt.« Die nächste Karte legte sie unter die beiden ersten.

»Was davor war, ist das Antlitz des Chaos…« Illyra hielt eine Karte hoch mit dem Bild eines Mannes und einer Frau, verdreht und verzerrt wie in einem Fiebertraum. Sie lächelte grimmig und legte die Karte ab.

»Und was wird sein, Seherin – zeig mir, was sein wird!« forderte Gilla.

Sie spürte, wie Kraft von ihr zu der Frau gegenüber strömte, und wußte, daß mehr als nur S’danzogabe in dieses Lesen floß.

Illyra hob eine weitere Karte ab. »Die Zikkurat!« Sie lächelte drohend. »Wir werden den Stolz der Zerstörer in den Schmutz treten!«

Gilla betrachtete das Bild des einstürzenden Stufenturms und dachte an den zusammengeflickten Frieden, der seit Ankunft des Kaisers für Ruhe in der Stadt sorgte. Bestimmt genügte ein Tupfen mit dem Finger, ihn ins Schwanken zu bringen.

»Wie?« flüsterte Gilla nun. »Seherin, zeig mir, wie es sein wird!«

Illyra griff nach den restlichen Karten und fächerte sie in der mageren Hand.

»Zuerst der Lanzenwind…«

Die Karte, die sie auflegte, zeigte Sturm und Orkan. »Sie steht für unsere Entschlossenheit, es durchzuführen. Und diese ist für unsere Furcht…«

Sie legte eine Karte darüber, auf der drei Gestalten in Talaren auf einen Knienden deuteten. »Gerechtigkeit«, flüsterte sie. Gilla benetzte ihre plötzlich trockenen Lippen und verstand auch ohne Erklärung, daß dies die toten Kinder darstellte, die sie rächen wollten.

»Unsere Hoffnung ist auf die Gerechtigkeit gerichtet, deshalb lege ich Freistatts Tribunal hierher…« Illyras Stimme hatte einen rhythmischen Klang und ihre Augen schienen durch die Karte auf eine andere Wirklichkeit zu blicken. Gilla wurde bewußt, daß die S’danzo so wahr sah wie beim Lesen für einen Kunden, und sie fragte sich plötzlich, ob mehr als Zufall Illyra geleitet hatte, diese Karten als erste von Lalo malen zu lassen, und ob es ihr eigener Wille war, der sie nun in dieser Reihenfolge aufdeckte, oder doch das unmerkliche Wirken des Großen Musters, das Illyra verleugnet hatte.

Gilla schauderte, denn die S’danzo war jetzt vollkommen in Trance, und sie spürte eine Schwere in der Luft, als warteten unsichtbare Kräfte um sie herum auf die Enthüllung der letzten Karte. Die Magie der Zauberer war gebrochen, aber unverkennbar schöpften Illyra und sie nun aus tieferen Brunnen.

Ohne auf die Karten zu blicken, die noch in dem Stoß waren, nahm Illyra eine und legte sie über alle anderen. Gilla starrte sie an, geblendet von verwirrenden Mustern in Rot und Gold und der Schönheit eines Frauenantlitzes, das aus den Flammen blickte. Sogar auf dem Kopf stehend versengte dieses Gesicht schier den Blick. Sie zwang sich, ihn abzuwenden und sah das fast entsetzte Staunen in Illyras Augen.

»Was ist sie?« fragte Gilla heiser.

»Die Flammennacht – die Herrin der Flammen, deren Berührung wärmen oder vernichten kann.«

»Was wird sie in Freistatt tun?«

Illyra schüttelte den Kopf. »Ich weiß es nicht. Ich habe sie noch nie zuvor bei einer Sitzung verkehrtherum gezogen. O Gilla…« Das Gesicht der Seherin verzog sich zu einem schrecklichen Lächeln.

»Ich habe diese Karte nicht gewählt!«


In den folgenden Tagen kam die Feuergöttin nach Freistatt; nicht in himmlischen Flammen, wie Gilla und Illyra erwartet hatten, sondern verstohlen, als Flamme, die im Fleisch von Menschen brennt und sie langsam von innen verzehrt.

Seit Wochen war die Luft schwül und still – Seuchenwetter, obwohl das gewöhnlich erst später im Jahr nach Freistatt kam. In einer Stadt, deren Kanalisation besser als Schleichwege für die Menschen geeignet war, denn dazu, die Abwässer weiterzuleiten, waren Epidemien ein ebenso sicheres Zeichen, daß es Sommer war, wie die Insektenschwärme, die vom Sumpf der Nächtlichen Geheimnisse her über den Fluß schwirrten. Doch ein trockenes Frühjahr hatte den Stand des Wassers vorzeitig gesenkt, und nun war nicht genug da, die Kanäle durchzuspülen, so wurde die schmutzige Kanalisation zur Brutstätte der Krankheit, die sich rasch in der Stadt ausbreitete.

Sie begann in den Straßen um das Schlachthaus und fraß sich wie ein langsames Feuer ins Labyrinth und in den Basar, wo ein paar Leichen mehr am Morgen kaum auffielen, bis die Küsse der Dirnen, die ihr Gewerbe in den Sackgassen und in Hauseingängen betrieben, mit mehr als dem Feuer der Leidenschaft brannten und Männer im Wilden Einhorn von den Bänken kippten, ohne daß sie ihr Bier gekostet hatten. Soldaten, die in den Schenken zechten, brachten die Seuche in die Kaserne mit, und Dienstboten, die zur Arbeit in die vornehmen Häusern der Kaufleute gingen, trugen sie in die besseren Stadtviertel. Nur die Beysiber waren offenbar immun gegen sie.

Molin Fackelhalter erkannte die Gefahr, als seine Arbeiter neben seiner halbfertigen Stadtmauer zusammenzusacken begannen. Und als er in den Palast zurückkehrte, fand er den Prinzen in Panik vor, und er sah sich einer Krise größeren Ausmaßes gegenüber. An diesem Morgen hatte man den kopflosen Kadaver eines Hundes in den Ruinen des Dyareelatempels entdeckt, und auf dem Altarstein war mit Blut »Tod den Beysibern« geschmiert.


Lalo drehte sich um, und blaue Farbe spritzte an der Säule vorbei, als der Hohepriester, dicht gefolgt vom Prinzen und der Beysa, durch den Audienzsaal stürmte. »Sie sagen, daß Dyareela Freistatt bestraft, weil wir uns vermählen wollen.« Shupanseas Hand in Kadakithis’ verkrampfte sich. »Sie sagen, daß Eure Dämonengöttin erzürnt ist, weil die Stadt Mutter Bey anerkannt hat!«

»Meine Göttin!« Sowohl Prinz wie Beysa wichen unwillkürlich zurück, als Molin zu ihnen herumwirbelte. Er sah mit dem flatternden Umhang und dem Staub, der aus seinem zerzausten Haar stob, wie der Sturmgott höchstpersönlich aus. Es fiel Lalo schwer, in ihm den geschniegelten Priester zu sehen, der ihm vor so langer Zeit seinen ersten großen Auftrag erteilt hatte. Aber auch er selbst war in den vergangenen Jahren ein anderer geworden. Und Freistatt hatte sich gleichfalls verändert.

»Dyareela ist keine rankanische Gottheit, genausowenig wie eine ilsigische!« Molin zog Lalo unsanft hinter der Säule hervor. »Sagt Ihr es ihnen – Ihr seid ein Winder! Ist Daryeela eine Eurer Göttinnen?«

Lalo starrte ihn an. Er war eher verblüfft, weil der Priester dieses rankanische Schimpfwort benutzt hatte, denn gekränkt. Die achtlose Wortwahl war der beste Beweis, daß auch der Priester verwirrt und verängstigt war.

»Die gute Göttin war schon hier, bevor die Ilsiger kamen.« Er nahm seine Maske ab und fuhr fort: »Sie herrscht über Ödlande und die armen Teufel, die dort hausen. Aber gewöhnlich beten die Menschen nicht zu ihr.«

Kadakithis horchte auf. »Gewöhnlich? Wann beten sie dann zu ihr?«

Lalo hielt den Blick auf die gemusterten Fliesen gesenkt. Seine Haut prickelte, als könnte allein darüber zu reden, bereits das Fieber herbeiführen. »Ich war ein kleiner Junge, als die letzte große Seuche Freistatt heimsuchte«, sagte er leise. »Damals haben wir zu ihr gebetet. Sie bringt das Fieber. Sie ist das Fieber, und sie heilt es…«

»Aberglaube der Winder«, begann der Prinz, doch es klang nicht überzeugt.

Molin Fackelhalter seufzte. »Ich möchte diese einheimischen Kulte nicht gern anerkennen, aber es könnte sich als notwendig erweisen. Ihr entsinnt Euch wohl nicht an Einzelheiten der Zeremonien?« Seine Hand verkrampfte sich fast um Lalos Schulter.

»Fragt die Ilspriester!« Lalo befreite sich mit einem Schulterzucken. »Ich war noch ein Kind, und meine Mutter ließ mich aus Angst vor den vielen Menschen nicht aus dem Haus. Es soll ein großes Opfer gegeben haben. Sie zerrten den Kadaver aus der Stadt, um die Dämonen wegzulocken, und verbrannten die Toten und ihre Habe auf einem gewaltigen Scheiterhaufen. Ich erinnere mich, daß Männer und Frauen engumschlungen auf den Straßen gelegen und daß Blutstropfen von dem Opfer noch frisch auf ihrer Stirn geglänzt haben.«

Kadakithis schauderte, aber Shupansea sagte, sie habe von ähnlichen Gebräuchen in den Dörfern ihres eigenen Reiches gehört.

»Das mag sein«, sagte der Hohepriester abwehrend, »aber die theologischen Auswirkungen sind fatal, vor allem im Moment. Prinz, ich fürchte, daß Eure offizielle Vermählung verschoben werden muß, bis sich die Dinge beruhigt haben.«

»Aber Ihr müßt sofort etwas unternehmen!« rief die Beysa besorgt. »Sonst opfern sie meine Leute statt Hengste oder Stiere!«

Molin Fackelhalters Miene war anzumerken, wie sehr er befürchtete, das von ihm so behutsam errichtete Gebilde gegenseitigen Vertrauens würde einstürzen. Wortlos stapfte er davon. Shupansea und Kadakithis folgten ihm. Lalo starrte ihnen nach.

Schließlich wandte er sich wieder dem Wandgemälde zu, an dem er gearbeitet hatte. Vor dem Hintergrund des blauen Meeres streckte Mutter Bey dem Sturmgott die Hand entgegen. Es war kein Zufall, daß der Gott wie Kadakithis aussah und die Göttin die Haltung und Kleidung Shupanseas hatte. Doch Lalo hatte diesmal nach seiner Vorstellung und aus dem Gedächtnis gearbeitet, er war klug genug, nicht die Seelen dieser beiden Modelle zu malen, daß alle sie sehen könnten.

Von der Ausführung her war das Werk gekonnt, doch die Gestalten wirkten leblos. Einen Augenblick fragte sich Lalo, was ein Hauch seines Atems bewirken würde. Doch da erinnerte er sich an die Kriege zwischen Vashanka und Ils, und er schauderte. Hastig zog er die Maske wieder über Mund und Nase. Das letzte, was Freistatt brauchen konnte, während Dyareela durch die Straßen pirschte, wären zwei neue Gottheiten, die mit allen Vorurteilen und Fehlern der Originale in der Stadt umher wandelten.

Er plagte sich noch mit dem Gemälde, als seine Tochter Vanda angerannt kam und aufgeregt berichtete, daß ihre Schwester Latilla das Fieber bekommen hatte und die Rankaner sie vor Anbruch der Dunkelheit aus dem Palast haben wollten.


Auf den Straßen um das Aphrodisiahaus trieben sich Menschenmengen herum, doch im Innern herrschte kaum Betrieb, denn die Männer befürchteten, die Glut der Liebe könne eine andere Art von Feuer entfachen. Die Stimmen der Angetrunkenen hörten sich wie das Knurren eines großen Raubtiers an. Schlagwörter schrillten in der stillen Luft. »Tod dem Fischvolk! Tod und das Feuer!« Wenigstens sind Lalo und die Kinder im Palast sicher, dachte Gilla. Dubro hatte sich Myrtis’ Wachen unten angeschlossen.

Gilla zog trotz der abendlichen Schwüle den Vorhang vor das Fenster und setzte sich wieder. Illyra lag in ihrem Bett, und bei jedem Hetzruf drückte sie die Decke an die Brust, als wäre ihr kalt, trotz des glitzernden Schweißes auf der Stirn. Gilla blickte auf ihre eigenen gefalteten Hände hinunter, die rot und von Arbeit gezeichnet waren, auf den Ehering, der tief ins Fleisch schnitt, und sagte sich, daß die Seuche jedes Jahr kam. Aber sie wußte, daß sie nicht auf die übliche Weise begonnen hatte. Sie und Illyra hatten sie mit ihrem Zauber über die Stadt gebracht.

Neues Gebrüll unten riß sie aus ihren selbstquälerischen Gedanken. Das Haus erzitterte, als die große Eingangstür zugeschmettert wurde. Dann hörte sie Gemurmel und Schritte auf der Treppe. Sie näherten sich ihrer Tür! Schwerfällig erhob sich Gilla, als die Tür aufschwang. Lalo kam herein mit Latilla auf seinen Armen, dicht gefolgt von Myrtis.

Illyra schrie auf, aber Gilla war bereits losgerannt und legte die Hand auf Latillas glühende Stirn. Da öffnete die Kleine die Augen und versuchte zu lächeln, als sie ihre Mutter sah.

»Mama, du hast mir so gefehlt. Mama, mir ist so heiß, kannst du was machen, daß mir nicht mehr so heiß ist?«

Mit zugeschnürter Kehle nahm Gilla das glühende Kind auf die Arme, dann flüsterte sie beruhigende, sinnlose Worte. Latilla war so leicht, ihr Fleisch schon halb von dem inneren Feuer verzehrt.

»Leg sie aufs Bett«, sagte Illyra mit gepreßter Stimme. »Wir brauchen kaltes Wasser und Tücher.«

»Beides wird gleich gebracht werden«, versicherte ihnen Myrtis ruhig. »Vielleicht hilft auch das ein wenig.« Sie winkte und eines ihrer Mädchen überreichte ihnen zwei der Federfächer, mit denen sie üblicherweise den Schweiß amouröser Anstrengungen von der Haut bedeutenderer Kunden fächerten, dann hastete es aus dem Gemach.

Illyra hatte die Decke bereits glattgestreift. Gilla legte Latilla darauf und griff nach der ersten Kompresse, ohne den Blick von der Kleinen zu nehmen. Aber sie war sich Lalos Nähe bewußt, und sie stärkte sich von seiner Kraft, so wie Illyra es bei ihr getan hatte, als sie den Zauber wirkten. Nach einer Weile schienen die kalten Umschläge und das Fächeln ein wenig zu helfen, denn Latilla schlief ein.

Nachdem die erste Krise überstanden war, ging Lalo zu seinem Arbeitstisch und ordnete seine Farben, als könnte er so auch das Chaos seiner Welt in den Griff kriegen.

»O Gilla«, sagte Illyra mit Tränen in der Stimme, »sie sieht meinem kleinen Mädchen so ähnlich!« Gilla blickte sie an, und die S’danzo errötete heftig. Bei ihren Worten sah Lalo auf. »Wo sind die fertigen Karten?« fragte er. »Es fehlen nur noch ein paar. Wenn das Spiel komplett ist, könnt Ihr vielleicht ein bißchen Hoffnung für uns lesen.«

Illyra starrte ihn an, und ihr Gesicht hob sich plötzlich kreidebleich unter der vollen Pracht ihres schwarzen Haares ab. Dann wanderte ihr Blick widerwillig zu dem Ecktischchen, wo die Karten so lagen, wie sie sie vor einer Woche aufgedeckt hatte. Noch ahnungslos ging Lalo auf sie zu, blieb stehen und blickte auf sie hinab.

Gilla war wie gelähmt. Lalo war zwar keine S’danzo, wohl aber ein Meister der Symbole, und er hatte diese Karten gemalt. Sie versuchte seine Reaktion aus der Haltung seiner Schultern zu lesen. Gewiß mußte er es erkennen!

»Das verstehe ich nicht«, sagte Lalo leise. »Habt Ihr versucht, mit einem unfertigen Päckchen zu lesen? Ist das Eure Lesung für das, was jetzt geschieht?« Plötzlich schoß seine Hand vor und fegte das tödliche Kartenmuster auf den Boden. Er drehte sich um und sah in ihren Gesichtern die Antwort auf eine Frage, die er gar nicht gestellt hätte.

»Ihr habt das getan?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Illyra tonlos. »Wir wollten Rache für unsere Kinder…«

»Gütige Göttin!« hauchte Lalo ungläubig.

»Nein – es gibt keine Götter, nur Macht…« Illyras Lachen klang hysterisch.

»Und du hast es zugelassen – hast ihr geholfen?« Sein entsetzter Blick ruhte nun auf Gilla. »Du hast noch andere Kinder! Hast du denn nicht überlegt…«

»Hast du überlegt, als du dem schwarzen Einhorn Leben gegeben hast?«[1] zischte sie, aber ihre Stimme brach. Sie deutete auf Latilla. »O Lalo – Lalo – hier ist meine Strafe!«

»Nein!« rief er heftig. »Hat es dir nicht genügt, ein Kind zu verlieren? Sie hat sich nicht schuldig gemacht! Warum soll sie für unsere Sünden büßen?«

»Schlag mich!« bat Gilla schluchzend. Vielleicht würde dann dieser schreckliche Schmerz ein wenig nachlasen.

Lalo starrte sie an, und sein Gesicht schien zusammenzufallen. »Weib, wenn ich dich schlagen könnte, hätte ich es vor Jahren getan!« Als Gilla ihr Gesicht in den Händen vergrub, wandte er sich wieder an Illyra.

»Ihr habt das getan – also bringt es wieder in Ordnung! Ich habe die Farben hier und die noch unbemalten Karten. Von uns würde in dieser Nacht ohnehin keiner schlafen. Ihr werdet mir die fehlenden Karten beschreiben, S’danzo, ich werde sie malen, und dann werdet Ihr sie noch einmal lesen!«

Mit kraftloser Hand streifte Illyra das dichte Haar zurück. »Maler, ich weiß, was ich getan habe«, sagte sie dumpf. »Nehmt Eure Farben, und ich beschreibe Euch die Bilder, auch wenn es nicht helfen wird. Ich glaube, ich habe die Gabe, die ich mißbrauchte, verloren.«

Lalo schauderte, aber seine Miene blieb unerbittlich, als er an seinen Arbeitstisch trat und sich daranmachte, die kleinen Farbtiegelchen zu öffnen. Gilla starrte ihn an, denn diese Miene hatte sie an ihrem Mann noch nie gesehen.

»Die Erz-Sieben wird Roter Ton genannt, sie ist die Karte des Töpfers, des Handwerkers«, begann Illyra, als Lalo den Pinsel nahm. Dann fing Latilla zu wimmern an, und Gilla achtete nicht mehr auf die Worte der S’danzo, als sie sich über das Kind beugte, um es zu beruhigen.


In der Nacht begann der Mob, die Toten und ihre Habe auf die Straße zu ziehen, um sie zu verbrennen, doch der Anblick von versengendem Brokat oder schmelzendem Gold war zu viel für so manche der weniger gesetzestreuen Bürger, also legten die entschlosseneren Feuer an die Häuser, ohne gründlich nachzusehen, ob noch jemand in ihnen am Leben war. Sowohl die Stiefsöhne wie das 3. Kommando hatten die Hände voll zu tun, um zu verhindern, daß die Flammen auf das Kaufmannsviertel übergriffen, während Walegrin und die Garnison den Palast vor dem Mob beschützten, der nach dem Tod von Prinz Kadakithis und der beysibischen Hure brüllte. Als die Sonne wie ein rotes Auge am Horizont aufging, war der Himmel von einer Düsternis, die an Zauberwetter erinnerte, aber diesmal kam das Böse ausschließlich von Sterblichen.

Als Lalo schließlich aufwachte, brauchte er ein paar Augenblicke, bis ihm klar wurde, daß sein Kopf nicht von Fieber pochte, sondern weil er zusammengekauert an seinem Arbeitstisch geschlafen hatte, und daß das graue Licht, das durch die Vorhänge filterte nichts mit dem kühlen Morgengrauen zu tun hatte, sondern mit einem schrecklichen Mittag. Ächzend richtete er sich auf, blinzelte und schaute sich um.

Vor ihm auf dem Tisch waren die letzten S’danzokarten. Illyra lag noch in ihrem Sessel. Entsetzt dachte Lalo flüchtig, sie sei tot, da wurde ihm bewußt, daß das Grauen und der Haß, die ihn in der Nacht erfüllt hatten, verschwunden waren und Verzweiflung zurückgelassen hatten. Gilla saß am Bett wie eine Statue, doch als er sich bewegte, öffnete sie die roten, verschwollenen Augen in dem abgehärmten Gesicht.

»Wie…« Das Wort kam als Krächzen heraus. Lalo schluckte und zwang seine Stimme, ihm zu gehorchen.

»Sie lebt«, sagte Gilla, »aber sie glüht noch.« Sie blickte ihn angsterfüllt an.

Lalo plagte sich auf die Füße und ging zu ihr, und er erinnerte sich, wie er sich gefühlt hatte, als das schwarze Einhorn von der Wand gesprungen war. Das Einhorn war das Kind seines Stolzes gewesen und nur eine, wenngleich die schlimmste, seiner Sünden im Lauf der Jahre. Gillas einzige Sünde dagegen war aus ihrer Verzweiflung geboren. Vielleicht machte sie das zu passenden Lebensgefährten, doch das konnte er jetzt kaum zu ihr sagen.

Statt dessen legte er den Arm um ihre breiten Schultern und streichelte sanft ihr Haar. Latilla rührte sich unruhig im Fieberschlaf, dann lag sie wieder still. Ihr Gesichtchen war tief gerötet, und ihm schien, daß ihre Backenknochen sich stärker abzeichneten, so daß er den Schädel unter der Haut sah. Sein Arm verkrampfte sich ruckhaft, und Gilla drückte das Gesicht an seine Brust.

»Du hattest recht wegen des Einhorns«, sagte er leise. »Aber wir konnten es loswerden. Wir werden auch eine Möglichkeit finden, damit fertig zu werden.«

Gilla richtete sich auf und blickte ihn an, ihre Augen glänzten von ungeweinten Tränen. »O du komischer Kerl! Du bringst es fertig, daß ich mich jetzt all der Jahre schäme, in denen ich mir eingebildet hatte, ich sei die einzige, die etwas zu verzeihen hat…« Sie holte tief Atem und stemmte sich auf die Füße.

»Ja, wir werden etwas unternehmen! Aber zuerst wollen wir uns waschen und einen Bissen essen.« Der Boden erzitterte leicht, als sie zur Tür schritt und dem Mädchen rief, das sie bedient hatte.

Nach dem Essen fühlte sich Lalo ein wenig besser. In’ der Ferne vermischte der dröhnende Schlag der Tempeltrommeln sich mit dem bedrohlichen Brüllen des Mobs. Myrtis’ Mädchen erzählten, daß der Hohepriester Ils’ sich einverstanden erklärt hatte, Dyareela bei Sonnenuntergang ein Opfer darzubringen. Man hoffte, daß Stierblut die Göttin und den Mob besänftigen würde. Wenn nicht, könnte es leicht sein, daß nicht einmal die vereinten Kräfte von Stiefsöhnen und 3. Kommando zu verhindern vermochten, daß kaiserliches Blut dort strömte, wo zuvor Stierblut geflossen war; und bei einem solchen Frevel würde der Kaiser kaum bis zum neuen Jahr warten, ehe er ›befriedete‹, was von der Stadt übrig war.

Lalo setzte sich an seinen Arbeitstisch und betrachtete die bunten Bilder der Karten. Bei seinem körperlichen und geistigen Zustand in der vergangenen Nacht war es ein Wunder, daß sie ihm überhaupt gelungen waren. Aber die Vision der Seherin war durch seine Hände geströmt, und er wußte, daß diese Karten ihren früheren künstlerisch weit überlegen waren. Er unterdrückte den Stolz, den dieser Gedanke in ihm aufwallen ließ. Er konnte sich nicht erinnern, sie gemalt zu haben – folglich stand nicht ihm ein Lob zu, sondern der Kraft, die seine Hand geführt hatte. Und Schönheit wäre unbedeutend, wenn sie die Karten nicht benutzen könnten, um den Schaden zu beheben, den sie angerichtet hatten.

»Ich habe sie zu lesen versucht, während ihr beide geschlafen habt«, gestand Illyra, nachdem das Mädchen das Geschirr abgeräumt hatte. »Es ist hoffnungslos, Gilla. Die Karten kehrten immer wieder zu dem Muster zurück, zu dem wir sie legten.«

»Dann müssen wir etwas anderes versuchen.« Gilla nickte entschlossen.

»Legt sie zu einem anderen Muster auf«, riet Lalo. »Diesmal zu einem heilenden.«

»Das habe ich ja«, entgegnete die S’danzo hilflos. »Aber es steckte keine Kraft in ihm. Das konnte ich spüren.«

Sie versuchten es wieder, dann noch einmal, doch Illyra hatte sich leider nicht getäuscht. Die Karten waren nichts weiter als hübsche Bilder, die ein Muster auf der Tischdecke formten. Die bunten Farben leuchteten spöttisch in der grellen Nachmittagssonne.

Illyra tupfte Latillas Gesicht und Brust mit einem nassen Schwamm ab. Lalo seufzte und hob das Päckchen wieder ab. Die oberste Karte war nun das Tor. In den Schlußstein des Torbogens war ein Symbol eingemeißelt, dessen Bedeutung nicht einmal Illyra kannte. Durch das Tor vermochte man üppiges Grün zu sehen, ein Garten vielleicht. Lalo ließ den Blick schweifen, während er verzweifelt überlegte, was er sonst tun könnte. Grün vibrierte vor seinem inneren Auge, und plötzlich wußte er, daß es ihm vertraut war, aber nicht, woher.

Er blinzelte, betrachtete die Karte aufs neue und rieb sich die Augen. Mit normalem Blick vermochte er nichts zu erkennen, aber da war etwas gewesen… Gilla beugte sich vor, um Wasser in sein Glas nachzuschenken, und die Bewegung ihres Arms löste die plötzliche Erinnerung an einen weißen Arm aus, der Caronnewein aus einer Kristallkaraffe in einen goldenen Kelch goß – es war der Arm Eshis im Reich der Götter gewesen.

»Lalo, was hast du?« fragte Gilla.

»Ich bin mir nicht sicher«, sagte er bedächtig. »Aber ich glaube, ich weiß jetzt, wo ich eine Lösung finden könnte.«

»Ihr dürft nicht hinausgehen!« rief Illyra erschrocken. »Hört doch!« Sogar hier in der Straße der Roten Laternen konnte man den Tumult aus der Stadt hören, und Lalo schauderte.

»Ich habe es gar nicht vor«, versicherte er ihr. »Ich gehe nach innen, hier hindurch…« Er deutete auf den Torbogen der Karte. Illyra starrte ihn verwirrt an, aber Gilla verstand, und neue Angst wallte in ihr auf.

»Wenn du dich in Trance begeben willst, gehe ich mit dir und sorge dafür, daß du dich daran erinnerst zurückzukehren!« sagte sie scharf. »Ich habe nicht mehr die Möglichkeit, dich dazu zu zwingen wie damals.«[2]

Lalo hatte keine Ahnung, was sie damit meinte, doch jetzt war keine Zeit, sie danach zu fragen. »Wenn du es kannst, gut. Zweifellos hast du das Recht dazu«, sagte er. »Aber ob überhaupt einer von uns auf diese Weise dorthin gelangen kann?« Er zweifelte plötzlich an seinem Einfall. Trotzdem lehnte er die Karte gegen das Glas, so, daß sie beide sie sehen konnten, und deutete auf den anderen Sessel.

Er knarrte, als Gilla sich in ihm niederließ. Sie faltete die Hände im Schoß, dann blickte sie Illyra an. »Falls es funktioniert, dann sorge bitte dafür, daß uns auf keinen Fall jemand stört. Und im Namen deiner Lillis, kümmere dich um mein Kind!«

Die S’danzo schluckte, dann nickte sie und ihre Finger verkrampften sich um das feuchte Tuch, das sie in der Hand hielt. »Möge eure Göttin euch beschützen«, flüsterte sie und wandte sich rasch wieder Latilla zu.

»Und jetzt?« fragte Gilla ihren Mann. Lalo holte tief Luft.

»Randal hat mich einiges darüber gelehrt«, sagte er bedächtig. »Du mußt gleichmäßig atmen und dich entspannen. Schau auf die Karte, bis du sie dir gut eingeprägt hast. Dann versuche, durch das Tor auf den Ort dahinter zu blicken. Wenn du ihn sehen kannst, dann bewege dein Bewußtsein darauf zu und durch…« Er blickte sie zweifelnd an. Als es ihm der Zauberer so beschrieb, hatte es vernünftig geklungen, doch jetzt befürchtete er, daß er sich zum Narren machte.

Da wimmerte Latilla wieder, und Gilla streckte die Hand nach seiner aus. Lalo atmete noch einmal tief ein und konzentrierte sich auf das Tor.

Auch jetzt begann das üppige Grün Lalos inneres Auge zu beherrschen und zu wirbeln. Er kämpfte gegen das Bedürfnis an, zu blinzeln und woanders hinzublicken, und versuchte, sich vorzustellen, er hielte einen Pinsel in der Hand. Schau! befahl er sich und atmete gleichmäßig. Nun war alles, was er noch spüren konnte, der Druck von Gillas warmer Hand. Würde sie ihn auf der Erde festhalten? Doch noch während er sich das fragte, beruhigte sich das wirbelnde Grün und nahm feste Form an – Blätter wiegten sich im Sonnenschein. Er stieß sich darauf zu, und dann war der Garten rings um ihn. Er war durch!

Einen Moment lang fühlte Lalo nur den weichen Rasen unter den Füßen und die duftende Luft, die ihresgleichen in Freistatt nicht fand. Dann wurde er sich bewußt, daß er nicht allein war. Er drehte sich um und zuckte zurück, als er die Göttin sah, die er an Molin Fackelhalters Wand gemalt hatte. Sie lächelte, und ihr Gesicht war plötzlich das des goldenhaarigen Mädchens, um das er im Frühling der Welt gefreit hatte, und dann waren beide Gillas Gesicht, ganz und gar Gilla, die ihn anblickte wie damals, nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten.

Doch der Garten war nicht mehr so schön, wie er ihn in Erinnerung hatte. Der Rasen war teilweise verdorrt, während er an anderen Stellen die häßlichen Flecken zeigte, die nur Hochwasser hinterlassen konnte. Ähnliches traf auf die Eichen zu, von denen viele Blätter von einer Pilzkrankheit befallen waren, die an Aussatz denken ließ.

»Auch hier ist es«, sagte Gilla. »Das gleiche, was in Freistatt geschehen ist.«

Lalo nickte und fragte sich, auf welcher Ebene es begonnen hatte. Doch das spielte nicht wirklich eine Rolle – wichtig war nur, daß er erfuhr, wie alles geheilt werden konnte. Er faßte Gilla bei der Hand, und sie schritten durch das fleckige Gras unter den Bäumen.

Es dauerte eine Weile, bis er den Teich und den Wasserfall fand. Aber die Lichtung, auf der er mit den Göttern Ilsigs gespeist hatte, war leer. Lalos Herz wurde schwer. Wenn selbst die Götterwelt leer war, mußte die Magie Freistatts wahrhaftig zerstört sein. Vielleicht hatte die S’danzo recht, und die Götter waren wirklich nur ein Wahn der Menschen. Doch noch während ihm dieser Gedanke durch den Kopf zuckte, bewegten seine Lippen sich im Gebet.

»Vater Ils, erhöre mich! Shipri Allmutter, laß Gnade walten! Nicht um meinetwillen, sondern um unseres Volkes…«

»Und um meines Kindes!« vernahm er Gillas Stimme.

Ein Windstoß pfiff an ihnen vorbei und riß ein Blatt von einer Eiche. Lalo beobachtete fasziniert, wie es herunterwirbelte und schließlich in Gillas Ausschnitt zu liegen kam. Da ertönte eine neue Stimme hinter ihnen.

»Warum fleht ihr Ils und Shipri an? Dies ist das Antlitz, zu dem die Freistätter nunmehr beten!«

Lalo wirbelte herum. Er zuckte heftig zusammen, als er sah, wer auf ihre Anrufung erschienen war, dann stolperte er über seine eigenen Füße, während er versuchte, sich schützend vor Gilla zu stellen. Aber sie war schon immer kräftig und standfest gewesen, und sie faßte nach seinem Arm und blieb neben ihm.

Die Gestalt, die gesprochen hatte, lachte über seine Verwirrung. Lalo starrte sie an und erkannte entsetzt, daß es eine Frau in versengtem Gewand war, von dem bleiche Rauchfähnchen gespenstisch aufstiegen, und daß ihr ebenfalls versengtes Haar sich aufstellte und vom Wind zu Flammen angefacht wurde. Ihr Gesicht glühte wie eine Laterne, als käme das Feuer, das sie verbrannte, aus ihrem Innern, und die Züge waren zur dämonischen Maske verzerrt.

»Dyareela!« flüsterte er verstört.

Die Göttin dankte ihm mit einem furchterregenden Lächeln. »Stimmt, dies ist einer der Namen, den die Menschen mir geben, wenn sie zu mir beten. Doch du warst es, die mich als erstes rief, Tochter.« Sie winkte Gilla zu. »Wie soll ich dich belohnen?«

»Heb dich hinweg, Dämonin!« zischte Gilla vor Abscheu.

Dyareela lachte. »Du verstehst nicht! Ich komme weder, noch gehe ich – ich bin! Nur mein Gesicht ändert sich…«

»Dann ändere es wieder!« stöhnte Lalo.

»Drei Hochzeiten wurden versprochen, eine davon eine kaiserliche, um das Land wiederherzustellen! Ich wäre zu ihnen als Göttin des Liebesfeuers gekommen! Aber Freistatt wollte mich anders sehen!« Der Wind wirbelte um sie alle, und wenn die fallenden Blätter das Haar der Göttin berührten, fingen sie Feuer.

»Zeig dein schönes Gesicht, Göttin, bitte, zeig dein schönes Gesicht für uns!« Tränen glänzten in Gillas Augen und schwangen in ihrer Stimme.

»Tochter, an diesem Ort bin ich nur ein Scheinbild, so wie ihr beide nur ein Traum seid. Eure Worte haben hier keine Macht über mich. Wenn ich euch segnen soll, müßt ihr mich in der Welt der Menschen rufen!«

Der Himmel schien sich zu verdunkeln, und das einzige, was Lalo zu sehen vermochte, war die Göttin, die wie eine Dämonenlaterne beim Totenfest leuchtete.

»Wir haben es doch versucht!« rief Gilla verzweifelt. »Aber die Karten hatten keine Kraft!«

»Die Karten hatten nie Kraft, sie lenkten nur die eure. Sorgt dafür, daß die Große Hochzeit in Freistatt wie versprochen stattfindet, dann zeige ich euch wieder mein freundliches Gesicht!«

Wind heulte um sie und Dunkelheit hüllte sie ein, nur von den brennenden Blättern gebrochen, die aufstoben und die kahle Nacht mit Sternen erfüllten. Plötzlich verschwand alles: die Göttin, der Eichenhain, sogar der feste Boden unter ihren Füßen. Vom Wind gepeitscht und herumgewirbelt vergaß Lalo, wer er war und woher er gekommen war, und als er das Bewußtsein verlor, war das letzte, was er spürte, der feste Druck von Gillas Hand.


Gilla fiel durch einen langen finsteren Schacht zurück in ihren Körper. Eine Ewigkeit später versuchte sie, sich zu rühren. Sie war steif und schwer, während sie sich zuvor so leicht bewegt hatte wie… Sie stöhnte und öffnete die Augen.

»Den Göttern sei Dank!« rief Illyra. Im flackernden Lampenlicht sah sie verhärmt aus.

»Ich dachte, du glaubst nicht an sie«, murmelte Gilla. Sie hielt immer noch Lalos Hand. Behutsam öffnete sie die Finger und legte die Hand zur anderen in den Schoß. Lalo war noch bewußtlos, aber er atmete bereits schneller. Gleich wird er aufwachen, dachte sie, was dann?

Die S’danzo rieb sich die Stirn. »Im Augenblick glaube ich an alles, was uns helfen könnte. Ich habe dem Umzug gelauscht – er hat die Stadt umrundet und dürfte inzwischen wieder bei den Tempelruinen angelangt sein. Wir haben nicht mehr viel Zeit.« Sie hob den Kopf und blickte Gilla eindringlich an. »Wird es uns helfen? Ihr wart beide plötzlich erloschen, wie ausgeblasene Kerzen. Habt ihr geschlafen, oder seid ihr wirklich an einem anderen Ort gewesen?«

Lalo schauderte und öffnete die Augen. »Wir sind dort gewesen. Wir haben die Göttin gesehen – eine Göttin…« Wieder schauderte er. »Sie ist erzürnt. Sie will kein Opfer! Sie will, daß Shu-sea und Kittycat heiraten!« Er fing zu lachen an und war der Hysterie so nahe, daß Gilla sofort aufsprang und ihn an sich drückte, bis er aufhörte, am ganzen Leib zu zittern. Schließlich vergrub er das Gesicht an ihrem üppigen Busen und stöhnte. »Wir haben versagt!« flüsterte er. »Wir haben versagt!«

Gilla hielt ihn ganz fest und blickte über seinen Kopf. Vor ihrem inneren Auge sah sie den prächtigen jungen Mann, mit dem sie durch die andere Welt geschritten war. Er war so schön gewesen wie ein Prinz. Da erinnerte sie sich, wie leicht sie sich gefühlt hatte, daß sie fast geschwebt war neben ihm, und plötzlich fragte sie sich: Wie hat er wohl mich gesehen?

Gleich darauf richtete sie den Blick auf das stille Figürchen im Bett, dann wieder auf Illyra. »Wie ist es Latilla gegangen?«

Tränen glänzten in den Augen der S’danzo. »Sie hat das ruhelose Stadium des Fiebers hinter sich. Ihr Schlaf ist jetzt tiefer, als Eurer war. Ich habe versucht, das Fieber zu senken, aber die nassen Umschläge trocknen von ihrer Glut, kaum daß ich sie ihr auflege. Ich habe es versucht, Gilla. Ich habe es versucht!« Sie beugte den Kopf und schlug die Hände vors Gesicht.

»Das weiß ich, Illyra«, sagte Gilla sanft. »Doch jetzt muß ich dich bitten, es ein Weilchen länger zu versuchen, während ich etwas noch Schwierigeres tun werde. Ich muß versuchen, die Göttin schön zu machen.«

Lalo wich zur Seite und verfolgte Gilla mit staunendem Blick, während sie ans Bett trat und ihre kleine Tochter sanft auf die Stirn küßte. Dann schritt sie majestätisch zur Tür und rief nach der Besitzerin des Etablissements.

Myrtis’ Augen weiteten sich, als sie Gillas Wünsche vernahm, doch dann nickte sie, und ihre Augen leuchteten. »Ja, das stimmt, doch es gibt kaum eine ehrbare Frau in Freistatt, die verstehen würde, was Ihr meint. Von Euch hätte ich gewiß nie erwartet, daß Ihr…« Als Gilla sie anfunkelte, schluckte Myrtis den Rest des Satzes hinunter und wandte sich ab, um ihren Mädchen Anweisungen zu erteilen.

Ich selbst hätte auch nie gedacht, daß ich so was tun würde, dachte Gilla. Sie strich mit den Händen über den üppigen Busen und die gewaltige Rundung ihrer Hüfte. Aber bei den Brüsten der Göttin, ich werde es versuchen!

Während kichernde Sklavinnen sich ihrer im Bad annahmen, fand Gilla ihren Einfall lächerlich. Sie hatte erwachsene Kinder, ihr Blut hatte schon vor zwei Jahren aufgehört, dem Ruf des Mondes zu folgen, und Lalo war nur noch selten mehr als angenehme, wärmende Gesellschaft in ihrem Bett. Als sie in das marmorne Badebecken gestiegen war, hatte ihre Masse das duftende Wasser in einer wahren Flutwelle über die Seiten gespült.

Sie versuchte sich vorzustellen, wie die Mädchen in dem anderen Becken Lalos erkahlenden Kopf und dürre Beine schrubbten, und dachte, daß er in all dem Luxus noch ungewohnter aussehen mußte als sie. Sie fragte sich, weshalb im Namen der Götter er sich einverstanden erklärt hatte. Aber natürlich, das war der Grund – wegen der Gottheiten und wegen eines Bildes, dessen Modell sie, Gilla, gewesen war, wie er ihr geschworen hatte.

Dann steckte sie in einem wundervollen, weich fließenden Gewand aus durchsichtiger seegrüner Seide, ein Kranz aus süßduftenden Gartenkräutern krönte ihr feuchtes Haar, und singende Mädchen geleiteten sie zu einem Gemach, wo der Duft brennenden Sandelholzes den Rauchgestank ferner Feuer überlagerte.

Das Gemach war mit Zedernholz getäfelt, und die Fenster hinter den feinen Vorhängen waren mit Marmorgitterwerk geschützt. Was an Bodenfläche von dem Bett nicht eingenommen wurde, bedeckte ein dicker Teppich, auf dem Seidenkissen lagen. Es gab auch ein Rosenholztischchen, auf dem eine Karaffe und zwei goldene Kelche standen. Doch natürlich war das Bett der Mittelpunkt, und Lalo wartete bereits davor. Er trug mit majestätischerer Haltung, als sie für möglich gehalten hätte, einen langen Kaftan aus jadegrün-goldenem Brokat. Er sah aus, als studiere er das Teppichmuster. Gilla dachte: Wenn er mich auslacht, bring’ ich ihn um!

Da hob er den Kopf, und die Augen in seinem abgespannten Gesicht leuchteten auf wie in der anderen Welt, als er sie angeblickt hatte. Hinter sich konnte Gilla das Rascheln von Seide hören und ein wie abgeschnittenes Kichern, als die Sklavinnen das Gemach verließen und die Tür hinter sich schlossen.

»Auf deine Gesundheit, mein Gemahl und Gebieter.« Gillas Stimme zitterte nur ganz leicht, als sie diese Worte sagte.

Lalo benetzte die trockenen Lippen, während er vorsichtig zu dem Tischchen trat und Wein einschenkte. Er reichte ihr einen Kelch. »Auf deine Gesundheit«, erwiderte er und hob den anderen Kelch an die Lippen, »meine Gemahlin und Königin.«

Sie stießen an, und die Kelche klingelten. Gilla spürte, wie das süße Feuer des Weines durch ihre Kehle hinab zu ihrem Magen brannte, und eine andere Art von Feuer entfachte in ihrem Körper, als sie Lalo in die Augen blickte.

»Auf die Gesundheit des ganzen Landes«, flüsterte sie, »und das heilende Feuer der Liebe…«


Fackeln färbten den Schutt von Dyareelas Tempel mit ihrem roten Schein und vertieften das Rot der blutbespritzten Roben der Priester und des abgetrennten Schädels des Opfers. Der süßliche, Geruch von Blut hing schwer in der Luft, und die Soldaten des Kordons beobachteten wachsam die betende, murmelnde Menschenmenge, die sich in die Ruine gedrängt hatte, damit ihr nichts entgehe. Die Priester beteten nun und blickten angespannt zu der dunklen Wolken- oder Rauchdecke hinauf, welche die Sterne verbarg.

»Was immer sie auch erwarten, es wird Zeit, daß es anfängt«, sagte einer vom 3. Kommando. »Ihr Gebrabbel wird diesen Mob nicht lange halten können. Die Leute haben Blut gerochen und wollen bald mehr!«

Sein Kamerad zur Rechten nickte. »Dumm von Kittycat, daß er es zugelassen hat – jeder konnte doch sehen, wohin es führen…« Er verstummte hastig, als Syncs strenger Blick den Kordon entlangwanderte, aber dann fügte er so leise hinzu, daß nur sein Kamerad es zu hören vermochte – der sein Vertrauen unter den Umständen rührend fand –, »das hätte nicht passieren können, wenn Tempus hier wäre!«

»Dyareela, Dyareela, erhöre uns! Erhöre uns!« rief die Menge, und die Echos hallten von beschädigten Säulen und Wänden. »Erbarme dich!« Ein Zittern der Erwartung rann durch die Menge, und die Soldaten erstarrten, denn sie wußten, was nun folgen würde.

Fackeln flackerten wild in einem gewaltigen Windstoß, einem feuchten Wind, der vom Meer her kam. Stärker brauste der Wind herbei, und es wurde dunkler in der Ruine, denn er blies viele der Fackeln aus. Ein Priester haschte hilflos nach seinem davonstürmenden Kopfputz, und der Mob vergaß abrupt seinen Blutdurst in einer Balgerei um Goldfaden und Edelsteine. Dann grollte draußen über dem Meer Donner, und die ersten heftigen Regentropfen löschten die letzten Fackeln.

Regen zischte in der Glut niedergebrannter Häuser und spülte die Asche von den Dächern der Häuser, die unversehrt geblieben waren. Er schrubbte die Straßen, floß durch die Rinnsteine, füllte die Abwässerkanäle und fegte deren krankheiterregenden Inhalt hinunter zum Fluß und rasch hinaus ins Meer. Er wusch den Gestank von Blut aus der Luft und ließ seinen eigenen, reinen Duft zurück. Menschen, die Augenblicke zuvor noch wie Bestien geknurrt hatten, hoben die Gesichter zum plötzlich wohlmeinenden Himmel und erkannten, daß das Wasser, das über ihre Wangen rann, unerklärlicherweise mit Tränen vermischt war.

Brummelnd beeilten die Priester sich, ihre Prunkgewänder ins Trockene zu bringen, während die Menge sich zerstreute, und schließlich durften auch die Soldaten Schutz vor dem Regen in ihren Kasernen suchen.

Die ganze Nacht hindurch trommelte sauberer Regen auf die Dächer der Stadt. Illyra öffnete das Fenster, um die frische Luft einzulassen, und als sie zu Latilla zurückkehrte, spürte sie die Feuchtigkeit plötzlichen Schweißes auf der gespannten Haut des Kindes. Mit Tränen der Erleichterung häufte sie Decken um Latilla, dann trat sie voll Angst zu Lalos Arbeitstisch. Die Karten flatterten wie lebende Wesen in dem feuchten Wind. Ihr Herz hämmerte, als sie das Muster wieder auslegte.

Am Morgen ging die Sonne über einer reingewaschenen Stadt auf.

Und Gillas Pfirsichbaum stand in Blüte.


Originaltitel: Lady of Fire

Copyright: 1986 by Diana L. Paxson


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