Freistatt wohin? Robert Lynn Asprin

Zum ersten Mal seit über einem Jahrzehnt ertappte Hakiem sich dabei, daß er ernsthaft überlegte, ob er seiner Wahlheimat Freistatt nicht lieber den Rücken kehren sollte.

Er lehnte sich, während er überlegte, aus einem oberen Fenster des Palastes und betrachtete die Stadt – doch nicht einmal das verbesserte seine Stimmung. Er war immer gern durch die Straßen geschlendert, anfangs als Geschichtenerzähler und später als Ratgeber der beysibischen Kaiserin. Solange er sich erinnerte, hatte die Stadt ihre eigene, herbe Ausstrahlung gehabt, ähnlich dem Zersetzungsgeruch des Sumpfes, und er hatte sie ebenso aufgesogen wie all die Gerüche, um die beruhigende Lebenskraft der Stadt zu spüren. Doch jetzt begab er sich kaum noch auf die Straße, um sie auf sich einwirken zu lassen.

Nicht, daß er um seine Sicherheit fürchtete, o nein. Ob es an seiner langjährigen Bürgerschaft lag, an seiner allgemein bekannten Unparteilichkeit und Harmlosigkeit, an der Achtung für sein Amt als Ratgeber der Beysa oder an all diesen Tatsachen zusammen, er wurde jedenfalls auf der Straße nie belästigt. Daß er sich soviel im Halbdunkel des Palasts verkroch, lag eher daran, daß er sich den Schmerz ersparen wollte, mitansehen zu müssen, wie es seinem geliebten Freistatt erging.

Der Geist der Stadt war durch das Elternpaar Armut und Verzweiflung gezeugt. Zwar hatte Hakiem, genau wie alle anderen Bürger, die Schandtaten und den Schmutz verdammt, aber er war auch insgeheim stolz auf die Unerschütterlichkeit und Zähigkeit der Freistätter gewesen. Ähnlich der herausfordernden Zuversicht eines Gassenbengels hatte die Überzeugung in der Luft gehangen, daß die Stadt überleben würde, egal welche Klötze das Schicksal oder das Rankanische Reich ihr in den Weg werfen würde. Scheinbar unbedeutende Augenblicke der Zärtlichkeit oder des aufopfernden Heldentums prägten sich hier als unanfechtbarer Beweis der Kraft des menschlichen Geistes um so stärker ein.

Dann ereignete sich zweierlei fast gleichzeitig: Die Beysiber trafen ein, und Rankes Sturmgott war plötzlich gestorben oder hatte sich ins Nichts zurückgezogen.

Als sich Freistatts wirtschaftliche Lage durch beysibisches Gold verbesserte, hatten Einfluß und Macht des Reiches zu schwinden begonnen – und das Wesen der Stadt hatte sich verändert. Statt kleiner, wilder Raufereien ums Überleben waren in der Stadt eigensüchtige Machtkämpfe ausgebrochen, die sich als zerstörerischer und tödlicher erwiesen als alles, womit die Bewohner bisher geplagt gewesen waren. Statt nach Verzweiflung und Armut stank es nun nach Habgier, und das fand Hakiem viel bedrückender.

Vielleicht sollte er die Stadt wirklich verlassen – bald, bevor die gegenwärtigen Unruhen auch noch die letzten angenehmen Erinnerungen verdrängten. Wenn die Stadt erst auf ihrem neuen Kurs festlag, konnte er nicht…

»Ihr seid so ruhig, Weiser, für einen, der sich den Unterhalt mit seiner geschickten Zunge verdient.«

Aus seinen Gedanken gerissen, drehte Hakiem sich um und sah, daß ihn Shupansea, das lebende Avatar der Mutter Bey und Erbmonarchin – wenngleich jetzt im Exil – des Beysibischen Reiches, mit dem glücklichen Lächeln eines Kindes bedachte, das seinen Lehrer auf einen Rechtschreibfehler aufmerksam machen kann.

»Verzeiht, o Beysa, ich hörte Euch nicht kommen.«

»Außer uns ist niemand hier, Hakiem. Förmlichkeit zwischen uns ist nur vor uns nicht wohlwollenden Augen erforderlich. Außerdem bezweifle ich, daß Ihr selbst den Aufmarsch einer ganzen Armee gehört hättet. Wo ist diese stete Wachsamkeit geblieben, die Ihr mir so angestrengt anzuerziehen trachtet?«

»Ich – ich habe nachgedacht.«

Das Lächeln schwand aus dem Gesicht der Beysa und machte Besorgnis Platz. Sie legte sanft eine Hand auf den Arm ihres Ratgebers. »Ich weiß. Ihr erscheint mir in letzter Zeit unglücklich, Weiser. Ich vermisse unsere anregenden Gespräche. Ich gestehe, ich habe mir heute Zeit genommen, um Euch aufzusuchen und zu erfahren, was Euch bedrückt. Ihr habt mir so oft geholfen, daß es mit Gold allein nicht aufzuwiegen ist. Verratet mir, was bekümmert Euch? Gibt es irgend etwas, was ich tun kann, um Euch zu helfen?«

Trotz seiner Niedergeschlagenheit war Hakiem gerührt durch die ehrliche Besorgnis dieser jungen Frau, die geboren und erzogen war, ein großes Reich zu regieren, und die es statt dessen nach Freistatt verschlagen hatte. Obwohl ein Teil seines Ichs instinktiv seine Gefühle verbergen wollte, sah er sich veranlaßt, ehrlich zu antworten.

»Ich habe Angst um meine Stadt.« Er warf wieder einen Blick durch das Fenster. »Die Freistätter haben sich verändert, seit die Beysiber hier sind.

Nicht, daß ich Euch die Schuld daran gebe«, fügte er hastig hinzu. »Ihr mußtet irgendwohin, und Eure Leute haben alles Erdenkliche getan, sich dieser für sie fremden und oft feindlichen Umwelt anzupassen.

Nein, was mit meiner Stadt geschehen ist, haben ihr jene angetan, die schon am längsten hier leben. Gewiß, viele der Veränderungen wurden ihnen durch das Rankanische Reich und seine Götter aufgezwungen – ich weiß auch, daß die Zeit nicht stehenbleibt und alles sich verändern muß. Trotzdem befürchte ich, daß die Freistätter den Willen verloren haben und gewißlich die Weisheit, die Veränderungen zu überleben, die so sicher folgen werden wie Donner auf Blitz. Der Rankanische Kaiser ist bereits dabei, Truppen zu rekrutieren, um…«

Er hielt abrupt inne, als er bemerkte, daß die Beysa lautlos lachte.

»Es lag nicht in meiner Absicht, Euch zu belustigen«, sagte er steif, während Ärger in ihm aufwallte. »Es ist mir natürlich klar, daß die Probleme eines einfachen Geschichtenerzählers unbedeutend sind gegenüber…«

»Verzeiht mir, Weiser, ich wollte Euch wahrhaftig nicht kränken. Es ist nur… Bitte laßt ausnahmsweise einmal mich die Lehrerin sein.«

Zu Hakiems Überraschung trat sie neben ihn ans Fenster und lehnte sich so weit hinaus, daß gerade noch die Spitzen ihrer nackten Zehen den kühlen Boden berührten.

»Ich fürchte, Ihr seid dem Problem zu nah«, sagte sie ernst. »Ihr wißt soviel über Freistatt und beobachtet so viele seiner Bürger, daß Euch die oberflächlichen Veränderungen den Blick getrübt haben für die Strömungen unter der Oberfläche. Laßt mich Euch sagen, was ich, die ich verhältnismäßig neu in Freistatt bin, sehen kann.

Ihr unterschätzt Eure Stadt, Weiser. Ihr liebt sie so sehr, daß Ihr Euch einbildet, niemand sonst täte es – aber das ist ganz und gar nicht der Fall. In den zwei Jahren, seit mein Volk und ich hier ankamen, ist mir noch niemand – ob nun Mann, Frau oder Kind – begegnet, dem Freistatt nicht, trotz lautstarker, gegenteiliger Beteuerungen, ebenso am Herzen liegt wie Euch, auch wenn sie es auf andere Weise zeigen mögen. Und zu meiner Verwunderung muß ich feststellen, daß diese Gefühle sehr ansteckend sind.«

Sie bemerkte seinen überraschten Blick und lachte wieder. »Ja, trotz des Blutes von vierzig Generationen von Beysas und unseres Inselreichs in meinen Adern sind weder ich noch meine Göttin immun gegen die Verlockung Eurer Stadt. Zuerst erschien sie mir grausam und barbarisch, und das ist sie wohl, aber sie hat auch einen Schwung und eine Lebenslust, die berauschend ist, etwas, das meinem eigenen, o so zivilisierten Volk fehlt. Während Ihr befürchtet, daß sich das geändert hat oder völlig verlorengegangen ist, kann ich, die ich es mit neuen Augen sehe, Euch versichern, daß es noch da und, wenn möglich, noch stärker ist als bei unserer Ankunft. Gewiß, es mag Streitigkeiten um Geld und Macht geben, die noch so neu hier sind, aber es ist nach wie vor Freistatt. Im Ernstfall werden die Menschen hier kämpfen oder tun, was immer nötig ist, um dieses Gefühl der Unabhängigkeit und Freiheit zu erhalten, für das sie so viel auf sich genommen haben. Die Beysiber werden Seite an Seite mit ihnen stehen, denn mein Volk und ich sind nun Teil davon, genau wie Ihr und die Euren.«

Danach schwieg sie, und gemeinsam – als lebende Symbole des alten und neuen Freistatt – studierten sie durch das Fenster die Stadt. Und jeder hoffte insgeheim inbrünstig, daß sie recht hatte.


Originaltitel: Introduction

Copyright: 1986 by Robert Lynn Asprin


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