Freistatt ist für Liebende Janet und Chris Morris

An der Uferpromenade, gegenüber dem Hafen, wo die fischäugigen Beysiber an Stelle eines niedergebrannten Lagerhauses eine Glasfabrik errichteten, die so sonderbar war wie sie selbst, saß ein großer, kräftiger Mann in arg mitgenommener Reisekleidung auf einem Pferd und beobachtete das Unwetter, das vom Meer heranzog.

Sommergewitter waren in Freistatt nicht selten. Dieses Tier, dessen Augen so dunkel waren wie die Augen einer Hexe, vertrieb die Leute im Hafen, während der Reiter es aus den Schatten von zwei überhängenden Dächern heraus studierte.

Gewitter zu dieser Zeit in einer von Unruhen geschüttelten Diebeswelt, die plötzlich aller Magie beraubt war, bedeuteten, daß ein neuer und wilder Gott namens Sturmbringer unterwegs war.

Der große Mann auf dem schlammbedeckten Pferd scherte sich nicht um den göttlichen Verursacher des Unwetters – wenn die Personifizierung des Chaos namens Sturmbringer überhaupt zu Recht ein Gott genannt werden konnte.

Viel mehr, als er zugeben wollte, machte er sich etwas aus der Tochter dieses Gottes – aus Jihan, genannt Gischttochter, die mit Randal verlobt war, dem tysianischen Magier, und hier festsaß, bis die Ehe entweder vollzogen oder das Verlöbnis aufgehoben war. So viel machte er sich aus ihr, daß er nach Freistatt zurückkehrte, obwohl die Stadt auf kaiserlichen Erlaß – und durch die Dummheit seiner selbstsüchtigen Bürger – verurteilt war, an Neujahr ausgelöscht zu werden, denn da lief die Gnadenfrist ab, die der neue rankanische Kaiser Theron dem Prinz-Statthalter gegeben hatte, um die Ordnung wiederherzustellen.

Dann würden des Kaisers Truppen in gewaltigen Verbänden aufmarschieren, und dann würde die Diebeswelt kein Paradies für Narren mehr sein.

Störrische Städte zu befrieden war eine Leidenschaft Therons. Das von Zauberern wimmelnde Freistatt zur Räson zu bringen, so etwas wäre noch vor kurzer Zeit unmöglich gewesen, doch den einander befehdenden Hexen und habgierigen Priestern war es gelungen, noch vor Frühlingsanfang beide nisibisischen Machtkugeln zu vernichten, wodurch Freistatts magisches Gefüge beschädigt und seine schützenden Zauber geschwächt worden waren.

Nun endlich war Freistatt wahrhaftig verdammt, wie Tempus’ Kämpfer der Heiligen Trupps es schon lange genannt hatten. Daß es zu dieser Verdammung durch die Machtkämpfe Unersättlicher aus den unteren Schichten gekommen war, nicht durch die Feuersäule, die aus einem Haus der Oberstadt zur Kränkung des Himmels emporgelodert hatte, wunderte Tempus nicht.

Die Tatsache jedoch, daß außer den geschwächten Zauberern und einer Handvoll machtloser Priester niemand die Wahrheit kannte, überraschte sogar den unerschütterlichen Geheimnisvollen, wie Tempus manchmal genannt wurde, der nun sein Pferd nordostwärts in das Unwetter und zum Labyrinth lenkte.

Er empfand nicht die geringste Sehnsucht nach den alten Tagen, da er allein durch diese Straßen geritten war, als Palasthöllenhund im Dienst Kadakithis’, dem er auf den Zahn fühlen sollte im Interesse Rankes, das sich dann jedoch für Theron statt für Kadakithis entschied. Wohl aber verspürte er einen Hauch Bedauern, als er an dem Pier vorbeiritt, von dem aus Nikodemus, der ihm von allen seinen Söldnern der liebste war, zu den Bandaranischen Inseln in See gestochen war. Begleitet wurde Niko von zwei Gottkindern, die Freistatts einzige Hoffnung hätten sein können.

Tempus war aller Pflichten hier entbunden und aller Verantwortung, außer jener, die ihm sein Gewissen auferlegte. Und die hatte ihn hierher zurückgebracht, nur um die Vorbereitungen zu Ende zu führen, an denen seit Ende des Winters gearbeitet wurde, als Theron ihm angeboten hatte, für ihn den unbekannten Osten zu erforschen.

So würde er nun und auf dieser Expedition in den Osten seine Stiefsöhne zur Gesellschaft haben und das 3. Kommando, Rankes berüchtigtste Einheit.

Und wenn ihr bevorstehender Abzug aus Freistatt den Untergang der Stadt nicht ankündigte und besiegelte, dann hatte Tempus nicht Hunderte von Feinden und ihre Legionen überlebt. Doch nicht das ließ ihn zögern, nicht das hatte ihn von der Hauptstadt heruntergeführt, um wieder durch die schmutzigen Straßen zu reiten, wo Gesetzlose einander Block um Block und Mann um Mann in offener Rebellion bekämpften.

Er konnte kaum ein Interesse an Freistatts Überleben haben. Die Stadt war sein Feind! Wer ihn nicht aus gutem Grund fürchtete, haßte ihn aus Prinzip; jene, auf die weder das eine noch das andere zutraf, waren längst aus dieser Senkgrube geflüchtet.

Er hätte den Abzug Critias überlassen können, dem Ersten Offizier der Stiefsöhne, und Sync, dem Befehlshaber des 3. Kommandos. Er hätte in Ranke im Kaiserpalast mit Theron warten und mit Kartenmachern und Seeleuten reden können, die von Drachen mit Smaragdaugen im Ostmeer erzählten und von Schätzen in Höhlen an der Küste, Schätze, derengleichen das Rankanische Reich nie zu Gesicht bekommen hatte.

Doch weder Jihan noch Randal, ihr Verlobter, wußten, daß ihr Verlöbnis durch eine Abmachung zustandegekommen war, die Tempus mit Sturmbringer, dem Vater der Gischttochter, getroffen hatte – eine Abmachung, die er aus Notwendigkeit und in aller Eile mit einem Gott eingegangen war, der für seine Streiche berüchtigt war. Er hatte allerdings nun seine Zweifel, ob es richtig gewesen war. Er könnte sowohl Jihan als auch Randal, den Magierkrieger, auf seinem Zug in den Osten gut gebrauchen, doch keiner der beiden konnte weg, bevor die Sache entschieden war.

So war er nun hier, um etwas dafür oder dagegen zu unternehmen; um sicherzugehen, daß Randal, ein Heiliger Trupp- Partner und einer seiner Männer, nicht gegen seinen Willen in die Hölle schlitterte und dort festsaß; und daß Jihans Vater nicht Stürme der Verwirrung in die Augen seiner Tochter blies, um sie dort zu halten, wo er sich zu bleiben entschlossen hatte.

Er war maskiert gekommen, so gut er das bewerkstelligen konnte. Er war von heroischer Statur und sah einem einst in Freistatt wohlbekannten, doch nun verbannten Gott ähnlich. Es hatte eine hohe Stirn und einen honigfarbenen Bart, ein Gesicht, das nun mit allem Abscheu eines Lebens von drei Jahrhunderten und mehr auf die Straßen des Lagerhausviertels blickte.

Es war das Gesicht Vashankas, den man jetzt den Verborgenen Gott nannte, das Tempus an diesem Abend trug: selbstsüchtig und stolz, voll von Krieg und Tod, war es das Gesicht Freistatts.

So fühlte er sich hier zu Hause. In Freistatt ließ der Eigennutz nie nach; seine Anwesenheit wegen dringender persönlicher Angelegenheiten bewies es.

Als er in die Schattenstraße zum Labyrinth einbog, sah er die verlassenen Kontrollpunkte einer Faktion, die alles von der Echsengasse bis zu den statthalterlichen Lagerhäusern als ihre Zone betrachtete.

Und weil diese Faktion die von Zips VFBF war, der Volksfront für die Befreiung Freistatts, die so berüchtigt war wie Zip selbst, zügelte Tempus sein Pferd in der Töpferstraße, um zu kundschaften.

Er hatte nie ein freundliches Wort mit Zip gewechselt, der, wie manche schworen, schuld an einem Gemetzel im Frühjahr gewesen war und von dem Crit behauptete, daß er versucht hatte, einen Mordanschlag Tempus’ Tochter Kama in die Schuhe zu schieben.

Und da der mißglückte Mordanschlag Straton gegolten hatte, Critias’ Heiligem Trupp-Partner, waren Tag und Nacht Trupps unterwegs, um zu versuchen, mit Zip abzurechnen, indem sie sich seine Augen und Zunge holten – eine alterprobte Maßnahme der Heiligen Trupps, weiteren Verrat durch den Missetäter unmöglich zu machen.

Ein Blitz zuckte, der den ganzen Himmel erhellte und die Dunkelheit sogar in der Schattenstraße vertrieb, so daß Tempus mehrere Gestalten sah, die ihm offenbar folgten und sich hastig hinter Abfallhaufen und in Eingängen versteckten.

Das war VFBF-Territorium, kein Zweifel!

Den Regen, der einen so lauten Donnerschlag begleitete, daß das Trospferd die Ohren anlegte und den Kopf senkte, kümmerte es nicht, wen er durchnäßte oder demaskierte: sowohl Tempus wie sein Pferd waren nur nachlässig maskiert.

Der Anblick von Pferd und Reiter genügte, ein abergläubisches Herz zum Stehen zu bringen oder einen Unhold in die Flucht zu schlagen.

Doch an der Ecke Westtorstraße – durch die die plötzliche Himmelsflut seewärts zum Hafen strömte – traten drei Männer aus ihrer Deckung hervor und versperrten ihm, knietief im Wasser, mit aufgezogenen Armbrüsten und gezückten Klingen den Weg. Bei diesem Wind, der so heftig war, daß er des Trospferds warnendes Schnauben übertönte, mußte jeder Schuß danebengehen.

Tempus wußte es, ebenso die drei, die dastanden und ihn herausforderten, sie niederzureiten.

Er überlegte es, obwohl er eine Konfrontation gesucht hatte, und ärgerte sich über die Burschen mit den Stirnbändern, die bessere Waffen hatten, als Gossenschläger wie sie haben sollten.

Das Trospferd blieb stehen und verrenkte sich schier den Hals, um zu ihm aufzublicken und mit den feuchtglänzenden Augen zu flehen, sich doch zu erinnern, weshalb er hierhergekommen war.

Diese Burschen sollten jedoch genug Verstand haben, ihn zu fürchten.

Daß dies offenbar nicht der Fall war, daß einer vortrat und mit dicker Stimme und Gossenakzent sagte: »Suchst du mich, Großer? Deine Jungs sind jedenfalls hinter mir her«, gab dem Geheimnisvollen genug Zeit, zu begreifen, daß, während er nach dem Rebellen namens Zip gesucht hatte, Zip auch ihn gesucht hatte.

Ein Geräusch hinter ihm verriet Reiter und Pferd ziemlich gut, wie die Chancen standen, ohne daß sie sich umdrehen mußten, um das Dutzend Rebellen zu sehen, die von Dächern herunterkletterten und aus Kellerfenstern stiegen.

Tempus’ Haut prickelte. Schmerz war wahrhaftig nicht, was er suchte, und ohne den Tod als Erlöser konnte er viel mehr leiden als normale Sterbliche. Doch es war sein Stolz, der ihm bei seiner Überlegung half. Eines wollte er bestimmt nicht, von den Vobfs als Geisel genommen zu werden. Das würde Crit ihn nie vergessen lassen.

Und die Folge für die VFBF wäre dann die totale Auslöschung, nicht die kleineren Scharmützel, für die Crit sich noch Zeit nehmen konnte, während er mit hunderterlei anderen Dingen beschäftigt war, um zwei Kampfeinheiten auf den Abzug aus einer Stadt vorzubereiten.

So sagte Tempus zu dem vordersten: »Wenn du Zip bist, dann suche ich dich.« Er glitt von seinem Pferd und schlang den Zügel um den Sattelknauf. Was immer auch Tempus wert war, das Trospferd jedenfalls war unersetzbar, und es würde auf einen bestimmten Pfiff hin zur Stiefsohnkaserne laufen.

Doch sobald das Tros mit Zähnen und Hufen niedergemacht hatte, was sich ihm in den Weg stellte, war das Schicksal jedes einzelnen dieser Rebellenkinder besiegelt.

Und Kinder waren es, das wurde dem Geheimnisvollen klar, als er näher herankam. Der Bursche an der Spitze seiner Schar war weit unter dreißig.

Er wich keinen Schritt zurück, und ein Zeichen seiner Hand brachte seine Truppen näher, und Tempus mußte seine Meinung über die Zucht und Ausbildung dieser Rebellen ändern.

Dann erinnerte sich der Geheimnisvolle, daß dieser Junge eine Liebschaft mit Kama gehabt hatte, seiner Tochter, die als Agent ebensogut war wie Critias und als Soldat ebensogut wie Sync.

Der Bursche nickte bestätigend und fügte hinzu: »Ja, ich bin Zip, Alter. Worum geht’s? Du hast doch unsere Linien nicht ›versehentlich‹ überquert! Wir werden weder mit Jubals Blaumasken Waffenstillstand schließen noch mit diesem Kadakithis, der die Ilsiger doppelt verraten und verkauft hat!«

In aller Seelenruhe entgegnete Tempus: »Nein, nicht versehentlich. Ich will mit dir reden – allein.«

»Hier ist so ›allein‹, wie wir zwei je sein werden – du bist nicht halb so hübsch wie deine Tochter.«

Tempus klammerte die Finger fest um den Schwertgürtel. Er sagte: »Zip – wie in Zero, nichts, null –, richtig? Aber trotzdem gebe ich dir eine Weisheit auf den Weg und eine Chance – weil meine Tochter glaubt, daß du das wert bist.« Das stimmte nicht; er hatte mit Kama nie über Zip gesprochen. Sie hatte sich längst das Recht verdient, ihre Bettgefährten auszusuchen.

Der Bursche mit dem ausdruckslosen Gesicht lachte schallend. »Deine Tochter liegt mit Nisibisihexern im Bett – oder zumindest mit Molin Fackelhalter, der Nisiblut in den Adern hat. Ihre Vorstellung von Wert ist nicht meine!«

Das Trospferd an Tempus’ Seite scharrte mit den Hufen. Tempus streckte die Hand aus, um es zu beruhigen, sofort klirrte ein Dutzend Klingen.

»Die Weisheit ist folgende: Freistatt ist für Liebende, nicht mehr für Kämpfer. Schließt Frieden untereinander, sonst wird euch das Reich zermalmen und eure Leichen als Dünger auf die Felder streuen, damit das Getreide üppig wächst.«

»Blödsinn, Alter. Ich hab’ gehört, daß du ein harter Bursche bist – nicht wie die übrigen.« Zip spuckte verächtlich auf den Boden. »Aber du redest den gleichen Mist, den ich von den andern höre. Sag deinen Leuten, daß sie schuld an allem sind.«

Tempus war mit seiner Geduld beinahe am Ende. »Junge, hör zu! Ich halte sie dir eine Woche vom Hals – sieben Tage lang! Das genügt, daß du dich mit den anderen Faktionen triffst, um zu einer Einigung zu kommen. Wenn nicht, wird die VFBF am Neujahrstag längst vergessen sein. Und du wirst nicht lange genug leben, dich daran zu erinnern!«

Stille setzte ein, dann murmelte jemand: »Bringen wir den Hundesohn doch um!« Und ein anderer flüsterte zurück: »Das geht nicht – weißt du denn nicht, wer das ist?«

Tempus blickte durch den strömenden Regen auf das ausdruckslose, nasse Gesicht. Es steckte Kraft in dem Jungen, wie in dem enlibrischen Stahl, von dem manche gehofft hatten, er könne hier etwas ändern. Aber genau wie bei dem Stahl war Zips Kraft zu gering und kam zu spät.

Alterslose Augen begegneten sterblichen, die sich ihrer Vernichtung zu sicher waren und nicht um einen Gefallen bitten wollten. Aber noch etwas begab sich zwischen ihnen: die Müdigkeit des jungen Kämpfers, der von zu vielen gejagt wurde und der bereit war, sein Ende durch die Übermacht der Feinde zu finden, war in Hoffnungslosigkeit umgeschlagen. Diese Verzweiflung spiegelte sich im Blick des sagenhaften Unsterblichen, der von Krieg zu Krieg, von Reich zu Reich zog und die Weisesten etwas über den Sieg des Geistes über den Tod lehrte.

Tempus, der die Stiefsöhne gegründet und in den Krieg geführt hatte, bot ein Stillhalteabkommen an, während ein Ultimatum erwartet worden war.

Es schwang etwas Ungewohntes aus der Stimme des Jungen, als er antwortete: »Ja, eine Woche. Ich kann nur versprechen, daß die VFBF es versuchen wird – ich kann nicht für die anderen reden. Es muß genügen. Oder…«

Tempus unterbrach ihn rasch. »Es genügt für dich und die Deinen. Was sie säen, werden sie ernten. Es kann dir mehr bringen, als du erwartest, Zip – einen kaiserlichen Pardon, vielleicht einen Beruf, und du kannst tun, was du am besten kannst, zum Wohl der Stadt, die du liebst.«

»Ich würde sterben für sie, so oder so«, murmelte Zip, denn er hatte verstanden, was Tempus sagte und was ungesagt geblieben war, als ihre Blicke sich getroffen hatten; und er wollte, daß der Geheimnisvolle das wußte. Dann winkte er seine Männer zurück.

Es dauerte nur Augenblicke, bis die Kreuzung Töpfer- und Westtorstraße scheinbar wieder verlassen war. Es dauerte auch nicht länger, auf das Trospferd aufzusitzen und Richtung Echsengasse hinaufzureiten.

Während das Tros an einem Abfallhaufen vorbeitrottete, hinter dem zweifellos einer der kriegerischen Jungen lauerte, dachte Tempus, daß das, was Zip vielleicht bekommen würde, wenn er das Unmögliche möglich machte – eine Koalition der Rebellenkräfte, ja vielleicht sogar eine Aussöhnung –, mehr war, als er auch nur zu träumen wagte: ein Zuhause.

Es gab keine Ablösung für die Stiefsöhne und das 3. Kommando. Die rankanische Garnison war das, was ihr Name sagte: rankanisch. Die Stiefsohnkaserne, die vor fünf Jahren unter schweren Opfern eingenommen worden war, würde leerstehen; die Arbeit der Heiligen Trupps ungetan bleiben. Nur eine Handvoll Höllenhunde würden gegen Therons Bataillon, beysibische Unterdrücker und die Verbrecherkönige der Stadt stehen.

Wenn Zip es nur zuließe, würde Tempus eine Reihe von Problemen lösen, die noch vor Minuten unlösbar ausgesehen hatten, und dem Jungen den einzigen Gefallen tun, den ein Mann einem anderen tun kann: ihm eine Starthilfe bei der Lösung seiner eigenen Probleme geben, einen eigenen Stand, eine Welt zu gewinnen – einen Neuanfang.

Wenn Tempus seine eigenen Leute davon abhalten konnte, den charismatischen jungen Rebellenführer in der Zwischenzeit zu töten. Und wenn Zip sich in Freistatt, wo Haß und Furcht als Respekt angesehen wurden, nicht so viele Feinde geschaffen hatte, daß ein Anschlag auf ihn, egal was Tempus tat, so sicher war wie der nächste Donner von Sturmbringers Begrüßungswetter.

Als dieser Donner krachte, kanterte Tempus bereits durch die Echsengasse, auf dem Weg zum Wilden Einhorn, wo ein Dämon namens Schnapper Jo hinter dem Schanktisch bediente und von wo aus sich Gerüchte so rasch wie Lauffeuer verbreiten ließen.

Schnapper Jo war ein Dämon mit grauer, warziger Haut und gelblichen Zahnstummeln. Sein orangefarbenes buschiges Haar stand in alle Richtungen, und seine Augen blickten in beide Richtungen gleichzeitig, was bestimmte Gäste in Verzweiflung bringen konnte, weil sie nicht wußten, auf welches sie sich konzentrieren sollten, wenn sie ihn anflehten, doch einmal anzuschreiben.

Schnappers Job, tagsüber den Schankwirt im Wilden Einhorn zu machen, war die Leistung, auf die er sehr stolz war – und stolz war er darauf, daß er seine Freiheit errungen hatte.

Roxane, die Nisibisihexe, auch Todeskönigin genannt, hatte ihn als ihren Diener beschworen. Aber seine Gebieterin hatte ihn freigegeben, auf ihre Art – das heißt, sie war in letzter Zeit zumindest nicht mehr gekommen, um ihm diese oder jene abscheuliche Untat zu befehlen.

Daß Schnapper sein früheres Dasein als Diener einer Hexe als unwürdig ansah, war bezeichnend für des Dämons neue Lebensanschauung. Hier unter den Windern, Bettlern und Dirnen bemühte er sich verzweifelt um Anerkennung.

Und er schaffte es. Niemand zog ihn seines Aussehens wegen auf oder zuckte furchterfüllt vor ihm zurück. Sie waren höflich, wie Menschen es waren, und sie behandelten ihn als Gleichgestellten, jedenfalls soweit hier irgend jemand irgend jemand anderen so behandelte.

Und aus tiefstem Herzen wünschte Schnapper Jo sich, von den Menschen anerkannt zu werden – vielleicht eines Tages sogar als Mensch. Denn war Menschlichkeit nicht etwas im Herzen und nicht an der Oberfläche?

Das wollte Schnapper Jo glauben, hier in dieser verrufenen Schenke, wo glotzäugige Beysiber noch ein bißchen verhaßter waren als blonde und gutaussehende Rankaner; wo dunkle Haut und krumme Glieder und Zahnstummel keine Verunstaltung waren; wo jeder gleichermaßen von den Hexern der Magiergilde und den Priestern der Oberstadt tyrannisiert wurde.

Als der hochgewachsene heroische Mann mit dem furchteinflößenden Gesicht hereinkam, dem Blut aus jeder Pore zu sickern schien, mit rauher Stimme sagte: »Schnapper, tut mir einen Gefallen«, richtete der Tagesschankwirt sich zur vollen Größe auf und erwiderte: »Jeden, hoher Herr – außer Kredit.«

Auch das gehörte zum Menschsein: sich etwas aus kleinen geprägten Scheiben aus Kupfer, Silber oder Gold zu machen, obwohl ihr Wert nur so groß war wie das Verlangen der Menschen, die um sie kämpften oder ihretwegens starben.

Doch dieser große Mensch wollte nur Auskunft, und er war deshalb extra zu Schnapper Jo gekommen.

Während zu beiden Seiten neben ihm mindestens eine Mannslänge Platz gemacht wurde, sich hinter ihm bestimmte Gäste in das Unwetter hinausstahlen und zwei Schankmaiden auf Zehenspitzen in die Hinterstube hasteten, sagte der Fremde: »Ich muß etwas über Eure frühere Herrin wissen – ist es Roxane gelungen, aus Tasfalens Haus in der Oberstadt zu kommen? Hat irgend jemand sie gesehen? Ihr von allen müßtet wissen, ob sie in der Gegend ist.«

»Nein, Freund«, antwortete Schnapper, der sich des Wortes Freund zu gern bediente, seit er vor kurzem seine Bedeutung erfahren hatte. »Seit die Feuersäule gelöscht wurde, hat niemand sie mehr gesehen oder von ihr gehört.«

Der große Mann nickte und lehnte sich über den Schanktisch.

Schnapper lehnte sich ihm entgegen. Er fühlte sich als etwas Besonderes, weil dieser so respekteinflößende Mensch ihn vor allen Gästen des Einhorns mit einem Gespräch auszeichnete. Als sie sich gegenüberstanden, fiel ihm durch sein nach rechts blickendes Auge so allerlei Bekanntes an diesem Mann auf: die zusammengekniffenen Augen, die ihn durchdringend beobachteten, der wie ein Schlitz geöffnete Mund, dessen Lippen leicht zu einem verstohlenen Lächeln verzogen waren. Dann fragte der Mann: »Und Ischade, die Vampirfrau – geht es ihr gut? Unten am Schlachthof? Hält sie hof unter ihren Schatten?«

»Es…« Eine Erinnerung fügte sich an die andere, und eine Gänsehaut umwogte Schnapper Jos Warzen. Das war der Schlaflose! Der legendäre Krieger, gegen den seine ehemalige Gebieterin so lange gekämpft hatte. »Es – es geht ihr gut, hoher Herr. Ischade – geht es gut. Es wird ihr immer gutgehen…«

Schnapper Jo hatte Freunde unter den Einsttoten, den im Nichts Harrenden. Ischade gehörte nicht zu ihnen, genausowenig wie dieser Mann, von dem er nun wußte, wer er war.

Jetzt wußte er auch, weshalb die Gäste sich zurückgezogen hatten, dieser Pöbel, der die Drahtzieher eines Spieles kannte, in dem sie nur als Figuren bewegt wurden, ohne die Freiheit einer eigenen Entscheidung zu haben.

Schnapper versuchte, seine Angst nicht zu zeigen, doch ohne sein Zutun barsten ihm Worte über die Lippen: »Mord und Totschlag, oh, überall wird es zum Blutvergießen kommen, aber Schnapper Jo ist doch so glücklich, wenn es friedlich ist…«

»Wenn das nächste Mal ein Stiefsohn oder jemand vom 3. Kommando hierherkommt, dann sagt ihm, er soll mich in der Söldnerherberge aufsuchen. Und vergeßt es nicht!« Der Mann, der auch Tempus genannt wurde, legte Münzen auf den Schanktisch.

Mit dem nach links blickenden Auge konnte Schnapper sie glitzern sehen, aber er griff nicht danach, ehe der hünenhafte Mann nicht gegangen war.

Dann rief der Dämon eine der Schankdirnen aus der Küche und gab diesem Mädchen das ganze Geld, das der Geheimnisvolle ihm dagelassen hatte. »Hab keine Angst«, sagte er. »Schnapper beschützt dich. Schnapper sorgt für dich. Du sorgst auch für Schnapper, später, ja?« Der Dämon schenkte dem Mädchen, das ihm gefiel, ein breites, lüsternes Lächeln, während die Schankdirne ihr Schaudern unterdrückte, das Geld einsteckte, das soviel war wie ihr Lohn für eine ganze Woche, und dem Dämon versprach, daß sie ihm seine einsame Nacht versüßen würde.

Das Leben in Freistatt war so hart geworden, daß man nahm, was man kriegen konnte.


»Ihr wollt, daß wir was tun?« Crits ungläubiges Schnauben ärgerte Tempus.

Die Söldnerherberge im Norden der Stadt weckte mit ihren fast blutroten Wänden und den daran hängenden Waffen, die so manchen Sieg errungen hatten, Erinnerungen in Tempus. Hier hatte er mit Crit den Plan ausgearbeitet, eine Hexe loszuwerden, ohne die Folgen zu bedenken. Hier hatte Tempus noch vor Crits Rekrutierung den Kader der Stiefsöhne zusammengestellt und den Befehl über des Schlächterpriester Abarsis’ Heilige Trupps übernommen.

Hier, und das lag noch weiter zurück, hatte er einen Schal verbrannt, der einer Frau, seinem schlimmsten Fluch, gehörte – ein Schal, der ihm auf magische Weise unversehrt zurückgegeben wurde und den er nun wieder unter seiner Rüstung trug, als wäre alles zwischen seinen ersten Tagen in Freistatt und der Gegenwart nur ein schlimmer Traum.

»Ich will, daß ihr Zip nicht jagt, sondern beschützt, eine Woche lang!« wiederholte Tempus. »Wenn es bis zum Ende der Woche noch keine Waffenstillstandsverhandlungen gibt und die Lage sich nicht verbessert hat, könnt ihr euch wieder daranmachen, Blutschulden einzutreiben.«

Crit war der gescheiteste der Stiefsöhne, ein syresischer Kämpfer, der den Heiligen-Trupp-Eid mehr als einmal geleistet hatte und nun mit Straton gepaart war, der wiederum ein Verhältnis mit Ischade hatte, der Vampirfrau aus der Schlachthausgegend.

Niemand wünschte sich mehr als Crit, daß die Heiligen Trupps Freistatt verließen. Und niemand kannte Tempus’ Gefühle besser und die Einzelheiten des Kaiserbesuchs in Freistatt.

Crit zupfte an seiner langen Nase und rührte mit einem Finger in seinem heißen Trank, in den er starrte, als wäre es die Kristallkugel einer Hexe. »Ihr – Ihr habt doch nicht…« sagte er zu dem Becher, dann blickte er zu Tempus auf. »Ihr habt doch nicht vor, Zips Bande als Schutzkräfte für Freistatt einzusetzen? Bitte, sagt mir, daß dies nicht Eure Absicht ist!«

»Das kann ich dir nicht sagen. Warum sollte ich sie nicht einsetzen? Bei den Göttern, sie sind gut ausgebildet – jedenfalls gut genug für diese Stadt, sie haben Mumm und Durchhaltevermögen, sie sind nicht schlechter, als die meisten, die wir ausgebildet haben. Niko hat sogar eine Zeitlang mit dem VFBF-Führer gearbeitet. Und es sollte dir doch egal sein, wem wir die Kaserne übergeben, solange es nicht Jubal ist. Wir dürfen nicht zulassen, daß Herrscher aus der Unterwelt die Dinge in die Hand nehmen und das Sagen haben – in dieser Beziehung war Theron überdeutlich. Für Ordnung müssen hier schon Einheimische sorgen oder wir.«

»Das meine ich ja. Keiner von uns wird hierbleiben wollen, um diese Meute von Schlächtern zu beaufsichtigen – ich nicht und keiner von meinen Männern. Versprecht mir, daß Ihr mir das nicht noch einmal antun werdet: mich mit einer unmöglichen Aufgabe und einer störrischen Schar unzufriedener Krieger zurückzulassen. Die Trupps wollen Euch folgen. Ich werde nicht imstande sein, sie hierzuhalten. Und Syncs Kommando hört nicht auf meinen Befehl.«

Ausreden sahen Crit gar nicht ähnlich, also waren es wohl auch keine: die Heiligen Trupps wollten, daß Tempus diese Dinge unbedingt beachtete.

»Keine Angst. Ihr sollt nur einsehen, daß Zip lebendig nützlicher ist als tot, und ich will sichergehen, daß ihr das auch tut – eine Woche lang einstweilen. Und was immer zwischen dir und meiner Tochter ist«, Tempus hob die Hand, als Crit den Mund öffnete, »sie ist jetzt mit Fackelhalter liiert, der ein Nisi ist – ein Feind. Wir lassen sie hier! Wir nehmen Jihan und Randal mit, selbst wenn wir sie betäuben müssen, und wir verlassen die Stadt – du, ich, Strat, die Stiefsöhne, die Dritten – und das wär’s. Wenn wir Kadakithis mit irgendeiner Schutzmacht helfen können, kann niemand uns etwas vorwerfen.«

»Deshalb seid Ihr persönlich hierhergekommen? Um einen Notbehelf zusammenzuschustern, der nicht halten kann, weil Theron es nicht will? Ihr wißt, was er will: ein lenkbares Hinterland des Reiches. Und jetzt, da die Magie erledigt ist oder nichts mehr taugt, kann er das mit Waffengewalt durchsetzen. Ich sehe für uns nichts zu gewinnen in einem solchen Kampf, und Ihr auch nicht – hoffe ich.«

Tempus lächelte seinen Unterführer voll Zuneigung an: »Sieh zu, daß du Straton von der Hexe und seinen hiesigen Verpflichtungen loseisen kannst. Ihr zwei werdet eigenhändig dafür sorgen, daß Zip imstande ist, seine Verbindungen aufzunehmen. Und daß keiner der unseren, dazu zähle ich auch das 3. Kommando, ihn auf irgendeine Weise behindert. Und nein, ich bin nicht deshalb hierhergekommen – sondern wegen Jihans Hochzeit. Um sie zu verhindern!«

Randal war in der Magiergilde, gemeinsam mit dem Ersten Hasard, gerade dabei, einem verhältnismäßig unkomplizierten Zauber zur Wirkung zu bringen, um den morastigen Boden zwischen der Außen- und Innenmauer in einen Garten zu verwandeln, als ihn Tempus aufsuchte.

Der Erste Hasard war zutiefst besorgt. Daß er ausgerechnet die Hilfe eines Rankaners von Randais Alter brauchte, der die Würde zu dem Zeitpunkt erworben hatte, da sie keine mehr war! Die Magiergilde hatte die Bürgerschaft seit undenkbarer Zeit durch Furcht und Macht in Knechtschaft gehalten. Doch nun, seit sich durch die Vernichtung der nisibisischen Machtkugeln die einfachsten Zauber nicht mehr durchführen ließen, seit Liebestränke keine Wirkung mehr erzielten, seit helfende Magie nicht mehr half, fürchteten die Adepten der Magiergilde nicht nur um ihr Einkommen.

Als die Freistätter erkannten, daß es keine Schutzzauber mehr um die hochmütigen Magier gab, daß Zauber, für die sie bezahlt und die sie angewandt hatten, nicht funktionierten, bestand Lebensgefahr für die Hasards.

Deshalb war die Suche nach einer Möglichkeit, Grund und Mauern durch Magie umzuformen, nicht nur eine Übung: die Hasards würden vermutlich eine uneinnehmbare Festung brauchen, in der sie sicher vor wütenden Kunden waren.

Und Randal, dessen magische Kräfte weniger betroffen waren als die der einheimischen Zauberer, war gerufen worden, seinen Gildengenossen zu helfen. Als die Gilde allmächtig gewesen war, war der Hasard der Stiefsöhne jedoch bei weitem nicht so beliebt gewesen.

»Es liegt nicht an mir, wißt Ihr«, versuchte Randal dem Ersten Hasard zu erklären, der Katze hieß und eher wie ein rankanischer Edelmann aussah denn ein erfahrener Adept. »Meine Magie, wenn man sie so nennen kann«, fuhr Randal bescheiden fort, »ist zum Teil ein Fluch, zum Teil traumgezeugt, deshalb hängt sie nicht von irgendwelchen Kräften ab, die im Süden geschwächt wurden.«

Der rankanische Adept blickte den tysianischen Hasard verkniffen an, dann fragte er: »Es ist also nicht irgendein Machtspiel nisibisischen Ursprungs? Nichts, was Fackelhalter, Roxane und ihr übrigen nordischen Hexer ausgebrütet habt?«

Randal nieste und wischte sich die Nase am Ärmel ab, während seine Ohren vor Verlegenheit glühten. »Wenn ich so mächtig wäre, könnte ich mich dann nicht von diesen verdammten Allergien befreien?« Seine alten Beschwerden waren wiedergekehrt, eine Begleiterscheinung der Not der hiesigen Adepten: Pollen, Vögel, vor allem aber Pelztiere konnten zu sehr unangenehmen Niesanfällen bei ihm führen.

Des Ersten Hasards unüberlegte Äußerung wurde durch eine Schülerin unterbrochen, die aufgeregt hereinstürmte.

»Edle Hasards, ein Mann, ein Fremder hat unsere Schutzzauber durchbrochen«, rief sie. »Er kommt die Treppe hoch – mit seinem Pferd!«

Der gutaussehende Erste Hasard senkte den Kopf und bemühte sich, die nervösen Finger auf seinem Schoß ruhig zu halten. »Wir haben ihn gerufen«, log er die Schülerin mit den großen, erschrockenen Augen an. »Kehr an deine Arbeit zurück… Was gibt es zum Abendessen? Wir haben natürlich Gäste, den Mann und – sein Pferd.«

»Abendessen?« Die Schülerin war ein junges Hexlein, zierlich und hübsch, mit prächtigem Haar, und nicht einmal das Sackgewand der Novizen konnte die sanften Kurven von Busen und Hüften und die schmale Taille völlig verbergen. Randal fragte sich, weshalb sie ihm bisher nie aufgefallen war. Doch rasch verdrängte er jeden Gedanken an sie. Schließlich war er verlobt und würde bald Jihan heiraten, eine Machtquelle, die er in der verstörten Magiergilde nie erwähnte.

Das Mädchen, das sich mühsam faßte, zählte auf: »Papageien, Flöhe und Eichhörnchen, edle Hasards – ein Eintopf, wenn es euch recht ist.«

»Was?« brauste der Erste Hasard auf. Dann, als das Mädchen die Hand auf den Mund drückte und ihre Augen sich noch mehr weiteten: »Schon gut, geh jetzt. Und sieh zu, daß wir bis zum Abendessen nicht gestört werden. Geh schon, Mädchen, lauf.«

Als sie rücklings aus dem Gemach hastete, war ganz laut Hufschlag zu hören, dann ein Klirren, als zerbreche Porzellan auf dem Marmorboden.

Und dann kamen ein Mann und ein Pferd durch die große Flügeltür, aus der die Schülerin soeben geflohen war. Der Reiter saß noch im Sattel des Pferdes, aus dessen Augen feurige Intelligenz sprach. Sein Fell war merkwürdig scheckig, rot und schwarz und grau, doch es bestand kein Zweifel: es war das Trospferd seines Befehlshabers.

Trotz eines quälenden Niesanfalls eilte Randal ihm entgegen, und als er wieder reden konnte, rief er: »Willkommen, Befehlshaber, willkommen, willkommen!«

»Hasard«, wandte der Geheimnisvolle sich an Katze. »Würdet Ihr uns alleinlassen, Erster Hasard? Mein Magier und ich müssen uns unterhalten.«

»Euer Magier!« Katze tat unwillkürlich, als wäre er immer noch so mächtig wie einst. Dann erinnerte er sich an seine Lage. Er erbleichte. »O ja, Euer Magier. Ich verstehe, Lord Tempus. Das Abendessen wird nach Sonnenuntergang serviert, wenn Ihr uns die Ehre geben würdet. Ich bin sicher, wir können ein paar – ah, Karotten – für Euer – Pferd finden.«

Kein Wort über die Entweihung der Magiergilde durch ein Pferd; kein weiterer Versuch, die Oberhand zurückzugewinnen. Katze kaute nur an seiner Lippe.

Obwohl Randais Augen bereits tränten, empfand er ein tiefes Bedauern für den gutaussehenden jungen Ersten Hasard, obwohl er sich früher mehr als alles andere gewünscht hatte, eine so gute Figur, ein so schönes Gesicht und eine so vornehme Herkunft zu haben wie dieser Rankaner, der jetzt aus seinem eigenen Gemach eilte, damit Randal und sein Befehlshaber unter vier Augen miteinander reden konnten.

Aber, was man war, nicht wie man aussah, war derzeit in Freistatt von Bedeutung. Und Randal war der einzige Kriegermagier in einer Stadt, die bald Krieger mehr schätzen würde als Zauberer.

»Ihr braucht mich, Befehlshaber?« Randal bemühte sich, deutlich zu sprechen.

»Ja, Randal.« Tempus ließ die Zügel fallen. Der Hengst blieb wie angewurzelt stehen, während der hünenhafte Krieger auf den kleinen, schmächtigen Magier zuging, einen Arm um dessen schmale Schultern legte und ihn zu des Ersten Hasards Alkoven führte. »Ich brauche deine Hilfe. Ich brauche deine Anwesenheit. Ich brauche deine volle Aufmerksamkeit – jetzt und immer.«

Randal spürte, wie ihn Stolz durchwallte. »Ich bin für Euch da, Geheimnisvoller, jetzt und immer – das wißt Ihr. Ich habe den Heiligen-Trupp-Eid geleistet. Das habe ich nie vergessen.«

Niko offenbar schon, doch nicht einmal diese Wolke konnte sich vor das Licht von Tempus’ Gunst schieben – jedenfalls nicht völlig, sagte Randal sich.

»Genausowenig wie wir. Die Trupps brechen in Kürze nach Ranke auf, Niko wird sich ihnen dort anschließen, dann marschieren sie gen Osten. Wir wollen dich auf diesem Marsch dabeihaben, Randal – als ein Heiliger Truppler, wie er sein soll.«

»Wie er sein soll? Ich verstehe nicht. Es war Niko, der den Paarbund gebrochen hat, nicht…«

»Es geht nicht um Niko. Es geht um Jihan.«

»Oh. Oh!« Randal glitt unter des Geheimnisvollen Arm weg. »Das… Sie – nun, es war nicht meine Idee, die Vermählung. Das müßt Ihr wissen. Ich bin nicht einmal – gut – mit Frauen. Und sie ist – anstrengend.« Die Worte überschlugen sich schier, nun, da er endlich mit jemandem reden konnte, der sein Problem verstehen würde. »Ich habe sie bisher hingehalten, ihr erklärt, daß ich nicht kann – Ihr wißt schon –, bis wir verheiratet sind. Aber ich verliere so viel – Kraft, und es gibt derzeit ohnehin so wenig. Sie sagt, sie wird es gutmachen, durch ihren Vater, aber ich bin nicht gottgebunden, ich bin gebunden…«

»Auf andere Art, ich weiß, Randal. Ich glaube, ich habe eine Lösung, die dich vom Haken bringt, wenn du mir hilfst.«

»O Geheimnisvoller, ich wäre Euch ja so dankbar. Sie ist – bitte faßt es nicht als Beleidigung auf – eher Eure Art von Problem als meine. Wenn Ihr mich nur von ihr befreien könntet, ohne daß es den Trupps schadet. Ich könnte mich davonstehlen und in Ranke wieder zu euch stoßen. Ich…«

»Kein Davonstehlen, Randal«, sagte Tempus, und seine Lippen entblößten die Zähne.

Dieses Lächeln kannten alle Stiefsöhne. Randal sagte benommen: »Wir dürfen ihr nicht – weh tun, Befehlshaber. Ich soll mich nicht davonstehlen? Aber wie…?«

»Mit deiner Erlaubnis, Randal, werde ich sie dir ausspannen – dir deine Braut vor der Nase wegschnappen.«

»Erlaubnis! O Tempus, ich wäre Euch ja so dankbar, so unendlich dankbar.«

»Dann habe ich sie also?«

»Was? Meine Erlaubnis? Beim Heiligen Buch und den Teufeln, die mich lieben, ja! Spannt sie mir aus! Und mögen die…«

»Deine Erlaubnis genügt, Randal. Wir wollen lieber keine Kräfte mithineinziehen, deren Reaktion wir nicht vorhersehen, geschweige denn kontrollieren können.«


Die Dame lustwandelte allein im Garten, während im Herrenhaus eine kultivierte Oberstadtgesellschaft stattfand. Das Haar dieser Dame war blondgelockt und hochgebunden, wie es zur Zeit unter den Edelfrauen der Hauptstadt Mode war. Kleine goldene Spangen mit den Bildern rankanischer Götter hielten es zusammen.

Er trat von hinten auf sie zu und schlang in Sekundenschnelle den linken Arm um ihren Hals. Er sagte lediglich: »Pst, ich bin nicht gekommen, um dir weh zu tun«, während sich in seinem Innern ein Gott regte, der gar nicht dort sein sollte.

Er achtete nicht auf die lüsternen und immer verlockenderen Vorschläge, die der Kriegsgott in seinem Kopf machte, und gab der Dame Zeit, zu erraten, wer sie hielt.

Sie brauchte dazu nicht lange, sie war keine typische rankanische Edle – niemand ohne Tempus’ übernatürliche Schnelligkeit und besonderen Fähigkeiten hätte sie überraschen können.

Sie erstarrte, und jeder Muskel spannte sich – es war ihr erster Zug, ihn aus dem Gleichgewicht zu bringen und ihre Ausbildung einzusetzen, um sich seinem Griff zu entziehen.

»Halt dich ruhig, Chenaya, sonst hast du dir die Folgen selbst zuzuschreiben!«

»Zur Hölle mit dir, Tempus«, knirschte sie mit erstaunlich damenhafter Stimme, die so gar nicht zu ihren Worten paßte. Er spürte, wie sie die Fäuste ballte und sich dann entspannte. Die Gäste im Haus hinter ihm plauderten und ließen die Weinkelche klingen.

»Dafür ist jetzt keine Zeit, außer du begleitest mich.« Er legte die freie Hand um ihre Hüfte.

»Ihr Götter, du hast dich nicht verändert, du Bastard! Wenn es nicht mein Körper ist – für den du mehr bezahlen wirst, als er wert ist, das versichere ich dir –, was willst du dann?«

»Ich dachte schon, das würdest du nie fragen. Es geht um deinen kleinen Anschlag auf Theron an Bord seiner Barke. Kein sehr kluger Schachzug für ein Mitglied des ehemaligen Kaiserhauses. Riskant für dich, riskant für Kadakithis, den Therons Zorn mit dir treffen wird, wenn er erfährt, wer versucht hat, ihn an die Haie zu verfüttern. Und nicht gut für die Überlebenden deiner Familie.«

»Ich frage dich noch einmal, Halbblut, was willst du?«

Darauf gab es in diesem Augenblick zwei Antworten. Eine davon hatte mit dem Gott in seinem Kopf zu tun, der flüsterte: Sie ist eine Frau, und Frauen verstehen nur eines. Sie ist eine Kämpferin. Es ist lange her, daß Wir eine Kämpferin hatten. Gib sie Uns, und Wir werden sehr dankbar sein – und sie wird Unsere bereitwillige Dienerin sein. Anders kannst du ihr nicht trauen.

Dem Gott in seinem Kopf entgegnete er: Dir kann ich nicht trauen! Vergiß sie! Zu der Dame sagte er: »Chenaya, abgesehen von dem Offensichtlichen, auf das wir noch eingehen werden« – während er sie fest genug mit dem Ellbogen hielt, daß ein kleiner Ruck ihr den Hals brechen würde, hob er ihren weiten, weißen Rock von hinten –, »möchte ich, daß du etwas für mich tust. Es gibt hier eine Faktion, die eine Frau braucht, eine Frau, die auf Beschluß der Götter unbesiegbar ist. Was ich erbitte, erbitte ich für Kadakithis, für das Bestehen deines Geschlechts und für das Wohl von Freistatt. Was der Gott will, fürchte ich, ist etwas anderes.«

Sie war eine Kämpferin und gottgebunden. Er hoffte, daß sie ihn verstehen würde.


Der Posten am Tunneleingang zur Rattenfalle, Zips Stützpunkt in Abwind, war geknebelt und zappelte hilflos in einer Lache seines eigenen Blutes.

Zip war ausgerutscht und im Halbdunkel über den Jungen gestolpert, ehe ihm bewußt wurde, was es war: Syncs Visitenkarte – Hände und Füße des Postens waren abgehackt.

Zip dankte dem Gott, vor dessen morastigem Altar er manchmal betete, daß er allein nach Haus gekommen war, als er sich auf Hände und Knie stützte und mit seinem Gürteldolch den Qualen des zitternden Jungen ein Ende machte.

Die Taktiken des 3. Kommandos sollten Furcht einflößen, das wußte er, aber es änderte nichts daran, daß er sich übergeben mußte. Es trug auch nicht zur Verbesserung von Zips Zustand bei, daß es nicht länger als eine halbe Stunde hätte dauern können, bis der Posten verblutet wäre. Syncs Leute beobachteten ihn wahrscheinlich aus der baufälligen Hütte, die Zip seinen Stützpunkt nannte.

Sync, der Führer des 3. Kommandos, sagte ruhig hinter ihm: »Hast du einen Augenblick Zeit, Söhnchen? Ein paar Leute möchten mit dir reden.«

Den ganzen Winter hindurch hatten Syncs Leute Zip nicht belästigt, hatten Freundschaft vorgetäuscht, hatten die VFBF sich selbst überlassen, solange sie hin und wieder einem Vorschlag des kaltblütigen Führers des 3. Kommandos folgten.

Doch damals war Rede von einem Bündnis gewesen – bevor Theron Freistatt besucht hatte; bevor Zips Faktion zu viele Freistätter rekrutiert hatte; bevor irgendein Idiot unter ihnen die S’danzo Illyra bedrängt und ihr Kind getötet hatte; bevor ein für Straton bestimmter Pfeil vor Zips Tür gelegt worden war; bevor Kama Zips Bett verlassen und sich mit Fackelhalter, dem Palastpriester, zusammengetan hatte; bevor Zip sich bei Jubal unbeliebt gemacht hatte; bevor die Dinge zu verdammt kompliziert geworden waren, weil Zip das Gebiet nicht halten konnte, das er auf der anderen Seite des Schimmelfohlenflusses erobert hatte, ein Gebiet, an dem er nie interessiert gewesen war.

»Mit mir reden? Nennst du das Reden?« Zips Stimme zitterte, aber Sync würde nicht erkennen, ob aus Zorn oder Angst. In diesem Moment hätte Zip das selbst nicht zu sagen vermocht.

Hände und Knie blutverschmiert, dachte Zip, daß es das nun wohl war: der Tod, den er verdient und den er sich nur zu oft ausgemalt hatte. Er fragte sich, ob es eine Klinge von hinten sein würde, die das Reden übernahm. Syncs sagte mit dem rankanischen Akzent neben ihm: »Ja, reden, das stimmt. Wenn dein Mann hier geredet und nicht gleich zugeschlagen hätte, würde er jetzt noch leben.« Behandschuhte Finger langten zu ihm hinunter. Das Armband über den Handschuhen zeigte die Insignien des 3. Kommandos aus makellos poliertem Silber – ein sich aufbäumendes Pferd mit Pfeilen zwischen den Zähnen.

Sogar Theron, der durch die Schwerter des 3. Kommandos auf den Thron gekommen war, wollte die Einheit auflösen oder sie zumindest heftiger an die Kandare nehmen. Das war der Grund, meinten manche, weshalb Tempus, der sie gegründet hatte, sie wieder zurückbekam: niemand sonst vermochte sie zu lenken. Ohne eine starke Hand an der Spitze würden sie einen rankanischen Kaiser nach dem anderen niedermetzeln und den Thron jeweils an den höchsten Bieter versteigern – Zip hatte gehört, wie Sync und Kama darüber Witze machten, als sie betrunken waren.

Zip ließ zu, daß Sync ihm aufhalf, und versuchte, das klebrige Blut von den Händen zu wischen. Er stritt nicht mit Sync wegen des toten Postens. Man stritt nicht mit Sync, jedenfalls nicht über jemanden, der sich nicht mehr lebendig machen ließ.

Die übrigen kamen nun zum Vorschein; es waren mindestens zwanzig Kämpfer.

Eine Faust schien auf Zips Magen zu drücken, als er Kama im Kampfanzug sah, auf dessen hartem Leder die Insignien des Kommandos sich in Rot über der rechten Brust abhoben.

Er war nicht fertig mit ihr, würde es nie sein. Er sagte: »Also, hier bin ich. Redet!« Er stellte fest, daß seine Zunge schwer war.

Als endlich das Bild des niedergemetzelten Jungen verschwand, erkannte er, daß um sie herum die Führer anderer Oberstadtbanden waren: Critias, ein Untergrundmann der Heiligen Trupps, der sich selten in Uniform sehen ließ; Straton, sein breitschultriger Partner, der Hexenliebhaber; Jubal, so schwarz wie Ischades Umhang und mit noch finstererer Miene; Walegrin, der Standortkommandant und Bruder der S’danzo, dessen Kind Zips Männer getötet hatten; und eine blonde Frau, die er nicht kannte, mit Lederharnisch und einem Vogel auf der Schulter.

Er sollte wachsam sein – eine Versammlung dieser Art hatte sich nicht für etwas so Unwichtiges wie seine Hinrichtung eingefunden. Aber immer wieder wanderte sein Blick zu Kama zurück, und das Bild ihres Vaters schob sich vor diese Frau, die ihn Dinge über die Liebe gelehrt hatte, die er zuvor nicht für möglich gehalten hätte.

Und da wurde ihm bewußt, weshalb diese Bonzen aus der Oberstadt zur Rattenfalle gekommen waren: auf Anweisung von Kamas Vater. Alle von ihnen hörten auf Tempus, einige von sich aus, andere, weil er ihr Befehlshaber war. Und keiner von ihnen hatte ein gutes Wort über Zip zu sagen, nur die Tochter des Geheimnisvollen vielleicht.

Furcht schärfte seine Augen, und er blickte hinter die versammelten Führer auf ihre Truppen und dorthin, wo seine Rebellen lauerten. Nicht einer von ihnen würde eingreifen, um ihn zu retten – dazu war die Übermacht zu groß.

Außerdem wären weder die Rattenfalle noch Zip wert, gerettet zu werden.

Während er tief atmete und beschloß, dieser Meute von ausgebildeten Kämpfern nichts zu sagen, erinnerte sich Zip, daß hier doch etwas durchaus wert war, gerettet zu werden: hinter den Männern in dem langen Schuppen befand sich ein Vorrat an Zündstoffen, die er von den beysibischen Glasmachern erstanden hatte: Flaschen, in denen sich alchimistisches Gebräu befand. Sobald die Zündschnüre brannten, wurden die Flaschen geworfen und explodierten dann mit einer solchen Gewalt, daß der Druck einer einzigen explodierenden Flasche eine ganze Straße räumen konnten – oder einen Palastsaal.

Die Revolution konnte mit oder ohne ihn fortgesetzt werden, solange die beysibischen Glasbläser VFBF-Geld nahmen und der ilsigische Kampfgeist weiterlebte.

Und nachdem er nun erkannt hatte, daß er etwas verlieren konnte, knurrte Zip aufs neue: »Redet, habe ich gesagt! Oder soll das eine Art Bankett sein?«

»Nein«, erwiderte die Blonde, die er nicht kannte. »Es ist ein Revolutionsrat – eine Verhandlung über dich!«


Als Kama von der Rattenfalle zurückkam, waren ihre Augen rot, und sie war völlig durcheinander, so daß sie Molins Hintertreppe hinaufrannte und hoffte, die Mädchen könnten ihr ein Bad richten, damit sie den Zip-Geruch abwaschen und das Stroh aus ihrem Haar entfernen konnte, bevor Fackelhalter sie sah.

Aber Molin war zu Haus. Sie konnte seine und die Stimme eines anderen Rankaners aus dem vorderen Gemach hören.

Sie erstarrte. Entsetzt wurde ihr plötzlich klar, daß sie ihm nicht gegenübertreten konnte – nicht mit klebrigen Schenkeln und dem Erbe ihres Vaters so glühend lebendig in ihr, daß sie nichts mit dem Halbrankaner, dem Halbnisi zu tun haben wollte, der ihr das Leben gerettet hatte und dem sie so viel verdankte.

Aber war Dankbarkeit dasselbe wie Liebe? Zips perfekt in Szene gesetzte »Verhandlung« hatte ihr Herz dreifach gebrochen.

Das Urteil – bedingter Freispruch – hatte von vornherein auf Tempus’ Anweisung festgestanden. Zip hatte das als einziger nicht gewußt.

Es war das grausamste, was sie je Menschen einem anderen hatte antun sehen, und sie hatte bereitwillig mitgemacht. Der Beobachter in ihr war fasziniert gewesen von den menschlichen Gefühlen, von der Leidenschaftlichkeit jener, die geliebte Menschen verloren hatten – und das alles, weil Kamas Vater von Ranke heruntergeritten war und gesehen hatte, was die armseligen Sterblichen von Freistatt anrichteten, und weil ihm das gar nicht gefallen hatte.

Manchmal haßte sie Tempus sogar noch mehr als die Götter.

Und so war sie bei Zip geblieben, nachdem die anderen gegangen waren, um den Schweiß der Unsicherheit von seinem gutgebauten jungen Körper zu wischen und die Verwirrung aus seinem Herzen – auf die einzige Weise, auf die sie es tun konnte.

Zip war… ihr Fehltritt: körperlich paßte er so perfekt zu ihr, wie Molin es nie könnte. Doch das war alles. Einen weiteren Schritt würde sie niemals gehen.

Zip brauchte Hilfe, das war alles. Alle benutzten ihn, schubsten ihn dahin und dorthin. Er tat ihr leid.

Deshalb gab sie ihm Trost in der Nacht. Es bedeutete nichts.

Und doch trieb die Erinnerung daran sie vor Fackelhalters Türschwelle in die Flucht, denn Molin war zu intelligent, er durchschaute Ausreden, und nicht einmal Kopfschmerzen könnte Kama in dieser Nacht vortäuschen.

So streifte sie durch die schwülen nächtlichen Straßen, obwohl sie es besser wußte. Fast hoffte sie, daß ein Taschendieb oder ein Untoter oder ein Beysiber sie belästigen würde. In dieser Beziehung war sie ihrem Vater sehr ähnlich: Wenn die seelische Belastung übermächtig wurde, drängte es sie nach Gewalttätigkeit. Sie hätte selbst einen Stiefsohn oder einen ihrer eigenen Kameraden getötet, wenn er es gewagt hätte, in dieser Nacht ihren Weg zu kreuzen.

Sie setzte sich sogar eine Zeitlang ins Wilde Einhorn, in der Hoffnung auf einen Streit, aber niemand beachtete sie.

Auf einem geborgten Pferd trottete sie durch Hintergassen und ließ ihm schließlich die Zügel, damit es zur Kaserne zurückkehren konnte, wenn es wollte, bis sie bemerkte, daß es sie zur Schimmelfohlenbrücke gebracht hatte. Und als es die Brücke überquerte, fing sie heftig zu weinen an.

Crit war es, den sie jetzt wollte, doch ob ihn in den Armen zu halten oder ihn umzubringen, hätte sie jetzt nicht sagen können. Aber Crit war, wie Zip sagte, Schnee von gestern.

Kama wischte sich verärgert mit dem Ärmel über die Augen und blinzelte die Tränen fort, als der Fuchs wie aus Gewohnheit auf Ischades kleine Gartentür zutrottete.

Der üble Geruch des Schimmelfohlenflusses im Sommer, wenn er Aas zum Meer trug, stieg ihr in die Nase, ebenso der Duft nächtlich blühender Blumen magischer Art, die Ischade hier zog.

Und der Geruch eines Pferdes. Zwei stampfende Pferde waren an Ischades Tor gebunden, und eines davon war Crits kräftiger Rappe. Sie erkannte ihn an der Blesse, als er den Kopf drehte und dem Pferd zuwieherte, auf dem sie ritt.

Ihre Stute antwortete, da wurde Kama klar, daß das Pferd, das sie ritt, und der Rappe ein Paar waren.

Selbst darüber ärgerte sie sich, und deshalb wiederum war sie wütend auf sich. Sie saß ab und bemühte sich, überhaupt nicht zu denken.

So führten ihre Schritte sie wie von selbst zur Gartentür der Vampirfrau, und sie schob die Tür mit schwitzender Hand auf.

Vielleicht rannte sie hier in ihr Verderben – Ischade hatte keinen Grund, Kama die Samtpfötchen zu zeigen, wie sie es bei Strat tat und bei Kamas Vater irgendeiner Abmachung wegen, über deren Einzelheiten Tempus nie gesprochen hatte.

Wenn Crit im Haus war, wollte Kama ihn sehen. Sie konzentrierte sich darauf und verdrängte jeden anderen Gedanken.

Liebe zehrt, redete sie sich ein und fragte sich, was er sagen würde.

Ischades Tür war beleuchtet, obwohl in der Lampe weder eine Kerze brannte noch eine Fackel flackerte. Sie klopfte, ehe ihr irgendeine Ausrede eingefallen war. Aber sie konnte ja immer sagen, daß sie dringende Information brauchte.

Falls er hier war. Falls es keine Falle war. Falls die Nekromantin in diesem Sommer nicht auf Frauen scharf war.

Da schwang die Tür auch schon auf, eine zierliche, dunkle Gestalt trat heraus und schloß die Tür, so daß Kama sich gezwungen sah, einen Schritt zurückzuweichen und eine Stufe tiefer zu steigen.

Dadurch standen sie Auge in Auge, und Ischades Augen waren tiefer als Kamas heimlicher Schmerz um ein vor langer Zeit auf dem Schlachtfeld verlorenes Kind und um den Mann, der sich geweigert hatte, ihr eine zweite Chance zu geben.

»Ja?« fragte die Frau, die Strat in Bann hielt, mit samtener Stimme.

Kama, die mehr Frau war, als sie wollte, blickte tief in die Augen dieser Frau, die alles war, was ein Mann, der sie gesehen hatte, sich auch nur im Traum wünschte, und fühlte sich grobschlächtig, ungepflegt und dumm.

»Crits Pferd… Ist er – ist er…«

»Hier? Beide sind da. Ihr seid Kama, nicht wahr?« Ischades dunkle Augen forschten, zogen sich flüchtig zusammen, dann weiteten sie sich.

»Es – ich… Ich hätte nicht kommen sollen. Entschuldigt. Ich gehe einfach…«

»Kein Schaden. Aber auch kein Frieden«, sagte die Vampirfrau, die plötzlich traurig wirkte. »Nicht, wenn Euer Vater das Sagen hat. Ihr wollt ihn – Crit? Paßt auf, was Ihr wollt, Kleines.«

Und Kama, die nie eine Mutter gehabt hatte und über andere Frauen dachte, als wäre sie selbst ein Mann, streckte trostsuchend die Arme nach Ischade aus und begann so heftig zu weinen, daß nichts, was sie sagen wollte, verständlich über ihre Lippen kam.

Aber die Nekromantin wich zurück, fauchend und mit einer abwehrenden Gebärde, mit einem Kopfschütteln und einem Blinzeln, das irgendeinen Zauber brach.

Dann drehte sie sich um und war schon wieder im Haus, obwohl Kama nicht gesehen hatte, daß sich die Tür geöffnet hatte, um sie einzulassen.

Kama, die plötzlich allein mit ihren Tränen vor der Tür einer der gefürchtetsten Mächte in Freistatt stand, hörte Worte, die im Haus gesprochen wurden – leise Worte, Männerstimmen.

Bevor die Tür wieder aufschwingen konnte und Crit sie wie ein Kleinkind heulen sah, mußte sie weg von hier. Sie hätte nicht kommen sollen. Sie brauchte niemanden – nicht ihren Vater oder seine Krieger, nicht Zip oder Fackelhalter – und vor allem nicht Crit!

Sie war bereits den Pfad zurückgelaufen und hatte sich in den Sattel geschwungen, als die Tür sich wieder öffnete.

Was immer der Mann dort auch gerufen haben mochte, wurde von den donnernden Hufen der Stute übertönt, da Kama sie erbarmungslos mit den Zügeln peitschte und Hals über Kopf zur Stiefsohnkaserne galoppierte.

Es gab nichts, was Crit ihr sagen könnte – außer vielleicht, wieso sie Zip vergeben konnte, der sie verraten und versucht hatte, ihr den Anschlag auf Strat in die Schuhe zu schieben.


Tasfalens Herrenhaus in der Oberstadt war ein prunkvolles Gebäude mitten in Freistatts vornehmstem Viertel gewesen.

Jetzt stand es einsam und verkohlt da, ansonsten aber unbeschädigt, während ringsum nur die schwarzen Gerippe ausgebrannter Häuser zu sehen waren, von denen dann und wann ein geschwärzter Balken in die Tiefe stürzte und so die gespenstische Stille brach.

Nicht einmal Ratten huschten des Nachts durch diese Straßen, seit die Flammensäule die ganze Hexerei erstickt hatte, die von dem samtbehangenen Schlafgemach des Hauses ausgegangen war.

Aber Tempus hatte mitten in der Nacht, gegenüber von Tasfalens Haustür, ein Treffen befohlen – eine Zusammenkunft aller Beteiligten –, nachdem seine Vorbereitungen alle getroffen waren.

Der schlaflose Veteran war der einzige, dem die endlosen Stunden nicht anzumerken waren, die er und seine Leute in der vergangenen Woche in Freistatt gearbeitet hatten.

Crit, der die Hauptlast der Aufgaben getragen hatte, schwankte vor Erschöpfung, während er die Fackeln in den Schutt des Hauses gegenüber dem Tasfalens steckte; wäre das Licht besser gewesen, hätten die schwarzen Ringe um seine Augen eine deutlichere Sprache gesprochen, was er durchgemacht und was es ihn gekostet hatte, Ischades Erlaubnis zu erbitten, heute nacht hier zu tun, was getan werden mußte.

Strat, Crits Partner, arbeitete stumm neben ihm. Er lud fette Ochsenlenden von einem schnaubenden Braunen, dem seine Last gar nicht gefiel, und Öl in kindsgroßen, reichverzierten Tongefäßen, und legte alles auf einen behelfsmäßigen Altar, genau gegenüber Tasfalens Tür.

Tempus beaufsichtigte die Arbeit seiner Stiefsöhne wortlos und wartete auf das Erscheinen der Hexe. Ischade hatte verlangt, daß dieses Treffen um Mitternacht stattfinde – Nekromanten bleiben eben Nekromanten. Sie war nicht sehr erfreut über dieses Unternehmen, das hatte zumindest Randal gesagt.

Das interessierte Tempus kaum; der Gott war in ihm, wild und stark, wodurch alles wie in Feuer gerahmt und alle Bewegungen unendlich langsam zu sein schienen: sein Unterführer, der hexenhörige Strat, die Pferde mit den Opferlasten. Wenn er sich nicht daran erinnert hätte, daß er es für wichtig gehalten hatte, hier abzuziehen, ohne etwas schuldig zu bleiben, würde er sich damit jetzt nicht abgeben.

Aber Ischade schuldete ihm diesen Gefallen. Und er wiederum schuldete etwas, was er nicht schuldig bleiben wollte – er schuldete es der Nisibisihexe, die zuletzt hinter der Tür des durch Schutzzauber gesicherten Hauses gegenüber gesehen worden war.

Tasfalens Tür. Sie hatte sich nicht geöffnet, seit die Flammensäule die ganze Umgebung gesäubert hatte. Was dort herauskommen mochte, wußte nicht einmal Ischade. Kräfte hatten sich gesammelt, um den Erdboden hier zu reinigen, aber sie hatten dicht vor dem Haus angehalten – Kräfte, von denen niemand gedacht hätte, daß sie zusammenarbeiten würden, hatten jene Tür gesichert. Ischades Kräfte und andere aus einer tieferen Hölle, Sturmbringers elementare Gewalt, und jene, aus der Art von Himmel, in der Jihans Vater herrschte.

So zumindest verstand Tempus es. Der Gott in ihm verstand etwas anders – etwas von gefangener Leidenschaft und Lust ohne Ablaß.

Was immer es war – Nisibisihexe, ihr rasender Geist, ein gefangener Dämon, eine Scherbe von einer nisibisischen Machtkugel – es hatte da drinnen nicht seit Winterende von den Vorräten und hin und wieder einer Maus überlebt.

Falls es Roxane war, hinter Ischades undurchlässigen Schutzzaubern, die nicht einmal ein Riß im Gewebe der Magie schwächen könnte, mußte unendlich vorsichtig vorgegangen werden. Wenn es etwas anderes war, würde Tempus dagegen kämpfen – er hatte einmal wegen einer geringeren Sache mit Jihans sturmkaltem Vater gekämpft, bis beide aufgeben mußten.

Schnapper Jo kam zu dem Trospferd, neben dem Tempus stand. Die Arme des Dämons hingen so tief herab, daß die Finger fast über den Boden schleiften, und seine Zahnstümpfe schimmerten im Fackelschein. »Edler Herr«, brummte er, »habt Ihr sie gesehen? Schnapper weiß nicht.« In seiner Verzweiflung schwankte er wie ein Bär. »Gebieterin wird es nicht gefallen, nicht gefallen… Darf Schnapper jetzt gehen?«

»Habt Ihr den Stein hingelegt, Schnapper?« Es war ein bläulicher, mit Sprüngen durchzogener Edelstein, den Ischade Crit gegeben hatte. Für welchen Preis hatte Tempus nicht gefragt.

Und Ausreden hatte es für Crit nie gegeben. Aber es hatte an diesem Abend nicht wie sonst kameradschaftliche Verwünschungen oder Hänseleien zwischen den Stiefsöhnen gegeben. Als Randal kurz vorbeigekommen war, um Bescheid zu sagen, daß Jihan teilnehmen würde, hatte er nicht die üblichen freundschaftlichen Neckereien über sich ergehen lassen müssen. Strat hatte ihn nicht einmal Zuckohr genannt.

Tempus wußte, daß er ihnen zusetzte, aber er hatte seine Gründe. Und der Gott, der sich in ihn gedrängt hatte, war Zeichen genug, daß ihn sein Gespür nicht trog.

Einen Teil dieses ungeheuren Unterfangens – die Befreiung dessen, was immer hinter Tasfalens Türen lauerte – unternahm er, um ein völlig aus den Fugen geratenes Gleichgewicht wieder herzustellen. Das war etwas, das keiner seiner Helfer ahnte. Aber Niko, der abwesende Stiefsohn hätte es verstanden: Tempus kämpfte nun um Maat, die Ausgewogenheit in einer Stadt, die der Anarchie entgegentaumelte; und für die Stiefsöhne, die sich vielleicht bald dort hinbegaben, wo Nisibisimagie noch stark war und es besser nicht wäre, solange er einer Hexe von Nisiblut noch etwas schuldete.

Aber den größten Teil dieser scheinbar schlimmen Tat – die Randal ihn angefleht hatte, sein zu lassen, und die Ischade so sehr beunruhigte, daß sie hierhergekommen war – unternahm er um Jihans und ihres Vaters willen und wegen einer Heirat, die, wenn vollzogen, einen Gott an Freistatt binden würde, den keine kleine Diebeswelt beherbergen konnte.

Über dreihundert Jahre hatten Tempus gelehrt, daß Instinkt das einzige war, wonach er sich richten konnte; daß das Opfer eines Menschen nur dann gewürdigt wurde, wenn es einen Gott besänftigen sollte; und daß die einzige Befriedigung, die sich lohnte, in der Tat selbst lag – in der Ausführung, nicht im Ergebnis.

Deshalb würde seine bevorstehende Opferdarbietung – nicht die der Ochsenlenden auf dem Öl, sondern die seines eigenen Seelenfriedens – von den Männern gar nicht bemerkt werden. Aber er wußte es. Und der Gott würde es wissen. Und die Kräfte, die für das Gleichgewicht zuständig waren, würden es wissen.

Wie Jihans Vater reagieren würde, konnte nur Jihan wissen.

Eine Bewegung lenkte seine Aufmerksamkeit auf sich, und das Gottesauge in ihm erkannte sofort, daß eine Frau sie verursachte. Er war bereit, sich Jihan in all ihrer unersättlichen Herrlichkeit zu stellen.

Aber es war Ischade, nicht Jihan, die kam. Besorgnis und Unsicherheit quälten Tempus plötzlich – etwas, das er in all den Jahren kaum je empfunden hatte. Würde Jihan seine Einladung mißachten? Seine Herausforderung? Die Macht in seinem Spiel? Könnte Sturmbringer Wind von Tempus’ Absicht bekommen und sich eingemischt haben? Einen Gott zu überlisten war nicht einfach. Aber es war auch nicht einfach, Tempus zu überlisten.

Randal hatte ihm versichert, daß Jihan gesagt hatte, sie würde hierherkommen. Er wußte, daß sie dachte, sie habe sich mit Randal eingelassen, um Tempus eifersüchtig, ihn empfänglich zu machen und ihn dazu zu bringen, ihr aus der Hand zu fressen. Die Frage war jedoch, ob Jihan überhaupt verstand, was sie tat und warum – daß Sturmbringer ihren Blick auf Randal gebannt hatte.

Plötzlich fragte sich Tempus, ob es Jihan etwas ausmachen würde, wenn sie es erfuhr. Sie war ebensowenig menschlich wie die zierliche und doch so gefährliche Ischade oder wie Roxane.

Jihan war immer noch dabei zu lernen, wie es mit dem Leben war; eine Frau zu sein, war beunruhigend und verwirrend für sie, ganz im Gegensatz zu den Hexen und den verfluchten Frauen, die alles mit Hexenblut bekämpften.

Ischade, die im Vergleich mit Tempus nicht größer als ein Kind war, kam ganz in Schwarz gehüllt herbei, ihr Gesicht glich dem Zaubermond in der Mittsommernacht, ihre Augen waren wie die Hölle, die sie bewachte.

»Geheimnisvoller«, hauchte sie, »seid Ihr Euch sicher?«

»Nie«, antwortete er grinsend. »Über gar nichts.«

Er sah, wie die Nekromantin zurückwich. Sie fühlte den Gott, der in ihm steckte, einen Gott, den Krieger Lord Sturm nannten und dessen Name in mehr Sprachen übersetzt war, als die Diebeswelt kannte, der jedoch immer dasselbe meinte: die Veranlagung des Menschen, zu kämpfen und zu töten, um zu erobern und die Lust zu befriedigen. An schlechten Tagen dachte Tempus, daß der Gott, der ihn verfolgte, lediglich eine Erfindung seines Verstands war, der er die Schuld für seine Ausschweifungen und Sünden und die Verantwortung für jeden Tod geben konnte, den er verursacht hatte.

Doch als er Ischades Reaktion auf den Gott in ihm bemerkte, wurde ihm bewußt, daß er wirklich war.

Die Nekromantin trat entschlossen einen Schritt näher, legte den Kopf schief, benetzte die Lippen und sagte: »Ihr scherzt mit mir, wenn ER hier ist?« Als Tempus nicht antwortete, machte sie das Schutzzeichen. »Dann befreit Eure Hexe. Da drüben ist weniger zu befürchten als jetzt hier bei Euch.«

Und mein Kämpfer Strat? wollte er oder der Gott fragen, tat es jedoch nicht. Man fragte Ischade nicht, man verhandelte. Aber Tempus war im Augenblick nicht in einer Position zu verhandeln. Außer…

»Ischade, wartet!« rief er – oder der Gott. Und als sie näher kam, beugte er sich zu ihr hinunter und ließ den Gott der Schändung und Plünderung etwas ins Ohr der Nekromantin flüstern, die alle teilweise Toten und ruhelosen Toten befehligte, die sich nie zu Freistatts Göttern begaben.

Tempus versuchte, nicht mitzuhören, was der Gott sagte oder die Nekromantin antwortete, doch die Abmachung, auf die sie sich einigten, ging auch ihn an – sie betraf das Fleisch seines Fleisches und die Seele seines Stiefsohns Strat.

Als er sich aufrichtete, berührte das zerbrechliche, bleiche Geschöpf seinen Arm und blickte in seine Augen. Einen Moment lang, glaubte er, eine Träne in ihren zu sehen, aber dann schloß er, daß es das Leuchten der Leidenschaft war, die Nekromanten und ihresgleichen überkam.

Er konnte überleben, was der Gott Ischade versprochen hatte – zumindest nahm er es an.

Es würde interessant sein, es herauszufinden, das heißt, falls Sturmbringer ihm nicht einen Tritt versetzte, daß er von einer Dimension in die andere flog.

Ein wenig verwirrt, als Ischade im wahrsten Sinne des Wortes in den Schatten verschwand, schwang er sich auf seinen Troshengst und streichelte beruhigend seinen Hals.

Im Norden winkte ihm ein ruhigeres Leben. Wenn er sich nur damit zufriedenzugeben vermöchte, könnte er Pferde züchten und eine neue Generation Kämpfer aufziehen, um mit seinem Freund Bashir die Grenze gegen die nördlichen Zauberer zu halten.

Aber wie sehr er sich auch in solchen Zeiten wie dieser nach einem anderen Leben sehnte, würde der Gott ihm keine Ruhe lassen.

Fackelhalter, der halbnisibisische Priester, hatte behauptet, sein ganzer Fluch und die Gottbesessenheit seien reine Einbildung. Das mochte an dem Tag, an dem der Priester es gesagt hatte, sogar so gewesen sein, aber hier und jetzt stimmte es wahrhaftig nicht.

Als Jihan endlich kam – ihr muskulöser, geschmeidiger Körper war weiblicher als der des schönsten sterblichen Mädchens –, war er mehr denn bereit, zu sein, was er war, ihr die Folgen ihrer Verbindung und ihrer Spiele klarzumachen.

Sie blieb etwa eine Armlänge vor dem Trospferd stehen, das einen Schritt zurückwich: der Hengst erinnerte sich zu gut, wie sie ihn immer gestriegelt hatte, bis sein Fell fast durchgescheuert war.

Tempus glitt aus dem Sattel, als sie mit kehliger Stimme voll kindlicher Eitelkeit sagte: »Du wolltest mich sehen, Tempus? Ich kann mir nicht vorstellen, weshalb. Ich habe dich nicht zu meiner Hochzeit eingeladen.«

»Weil es keine geben wird!« Er streckte den Arm aus und ging einen Schritt auf sie zu.

Seine Hand schloß sich um ihren Arm, als ihre nach seinem Gürtel langte.

Sie rangen miteinander, und er warf sie zu Boden, indem er sein Bein zwischen ihre Schenkel stieß.

Als Jihan unter ihm zu fluchen und zu toben begann, gingen Critias, Strat und Randal an die Opferung der Ochsenlenden und des Öls, um den Gott zu beschwichtigen, während Ischade tat, was sie tun mußte, um ihre Schutzzauber aufzulösen.

Es war nicht leicht, der Gischttochter Gewalt anzutun. Sie war so stark und flink wie er.

Er hatte mit der Lust gerechnet und ihrer Erinnerung an die gespielten Vergewaltigungen, um ihren Ärger in Leidenschaft zu verwandeln und ihren Körper in ein Instrument, das er meisterhaft spielen konnte.

Und etwas dieser Art geschah auch, doch wer wen vergewaltigte, hätte er nicht mit Sicherheit zu sagen vermocht, während sie halb nackt in den Trümmern herumrollten, ohne sich um irgend etwas um sie herum zu kümmern, während eine Hexe ihre Zauber wirkte, Soldaten ein uraltes Ritual sprachen und Randal, der tysianische Hasard, eine feurige Opferhandlung vornahm, die das, was immer in Tasfalens Haus lauerte, endlich freisetzen sollte.

Da Tempus auf seine Weise Opfer Sturmbringers, des Vaters Jihans, war und Jihans Beine ihn umklammerten, während ihre Zähne sich in seinen Hals gruben, und da der Gott in ihm dieses Vergewaltigungsspiel liebte und Jihan ebenfalls, entging ihm das Schauspiel, das sich gegenüber in Tasfalens Haus abspielte.

Tatsächlich löschte das Feuerwerk in seinem Schädel, als der Gott und er und Jihan und ihr Vater zusammenkamen, das Scheinbild der Flammensäule des vergangenen Winters, die zum Himmel aufstieg aus Tasfalens Haus.

Später erfuhr er, daß die Türen und Fenster von Tasfalens Haus von selbst aufschwangen und ein Feuerwesen hinausflog und flatternd hoch über dem Haus kreiste.

Und in den Rauch verschwand, der überall wallte, Rauch, der von Tasfalens Schornstein aufstieg oder zu ihm hinunterwogte, als käme das Licht, das aus jedem Fenster loderte, von etwas, das weißglühend im Haus brannte.

Aber was in Tempus brannte, war das Licht als solches.

Jihan war ihm in allen körperlichen Dingen ebenbürtig. Als sie schließlich still beisammenlagen und mehr als nur ihren eigenen Atem hören und mehr als nur ihre eigenen Seelen sehen konnten, flüsterte sie ihm zu, das Gesicht an seinem Hals vergraben: »O Geheimnisvoller, weshalb hast du so lange gebraucht, zurückzukommen und mich wieder zu nehmen? Wie konntest du mir das antun? Und Randal?«

»Ich kümmere mich um Randal. Er wird verstehen. Ich will dich, Jihan – ich will dich bei mir. Ich…« Es fiel ihm schwer, das zu sagen, aber er mußte es, nicht nur Randais wegen, sondern um aller willen, die ihm vertrauten. »Ich – brauche dich, Jihan! Wir alle brauchen dich! Komm nach Norden und Osten und überallhin mit mir – schau dir die ganze Welt an.«

»Aber mein Vater…« Die Augen der Gischttochter glühten so rot wie das Feuer auf der anderen Straßenseite, das er jetzt erst bemerkte.

»Wird er den Wunsch seiner Tochter nicht respektieren?«

Jihans Arme schlangen sich um seinen Hals in einer Umklammerung, die weder Tempus noch der Tod brechen könnte, und sie zog ihn zu sich hinab. »Gut, Geheimnisvoller, dann zeigen wir ihm, daß es mein Wunsch ist.«

Er war nicht sicher, ob er es selbst mit Hilfe des Kriegsgottes so schnell schon wieder fertigbrächte. Aber der Gott war ebenso unersättlich wie sie, und obwohl Sturmbringer vor Ärger grollte und die Erde erschütterte, daß sie sich bald in einem Wolkenbruch herumwälzten, der das Feuer auf dem Altar und in Tasfalens Haus löschte, war es zu spät, als daß Jihans Vater sie noch hätte abhalten können.

Tempus hatte um Jihan gefreit und sie bekommen, und nun gab es nichts mehr, das etwas am Entschluß der Gischttochter hätte ändern können, jetzt, da sie ihn gefaßt hatte.

Zip konnte sich die Schwierigkeiten gar nicht vorstellen, in denen er sich nun befand, da er zu einem Bündnis mit so vielen gezwungen war, die guten Grund hatten, ihm den Tod zu wünschen.

Jubals Falkenmasken geleiteten ihn hinaus zur Stiefsohnkaserne, um ihm dort alles zu zeigen. Nun, wenigstens mußte er hier nicht leben – noch nicht.

Die Abmachung sah so aus, daß er den Anführer eines verrückten Zusammenschlusses aller seiner bekannten Feinde machte – und einiger, von denen er gar nichts gewußt hatte: beispielsweise eine Frau namens Chenaya, die mehr Mumm hatte als die meisten Söldner, die auf dem weißgetünchten Übungsplatz herumlungerten – und sie hatte ihm klargemacht, daß die Hackordnung nicht von Dauer sein würde, solange sie nicht der Kopf war.

Mit einer übertriebenen Verbeugung und spöttisch galant ausgestreckter Hand bedeutete er ihr, daß sie gern jederzeit und überall den Vortritt in ein Grab haben könnte, und machte ihr klar, daß in Freistatt Köpfe dazu neigten, schnell zu rollen.

Aber Chenaya, die anscheinend eine rankanische Edle war, begriff nicht, daß er es spöttisch meinte. Sie nahm an, daß er sich aus Gewohnheit verbeugte und Kratzfüße machte wie andere Winder, und sie gestattete ihm, ihr in ihre Prunkkutsche zu helfen, sie sagte, sie würden sich später wiedersehen.

Er hätte sich besser gefühlt, bei all diesen Veränderungen, wenn Jubal von Mann zu Mann das erste Wort über die Regelung der Angelegenheiten zu ihm gesagt hätte; oder wenn der Rankaner Walegrin ihn nicht anblickt hätte, als wäre Zip eine Ziege, die man angepflockt hatte, um einen Wolf anzulocken.

Ja, es wäre auszuhalten in der Landgut-Festung des ehemaligen Sklavenhändlers. Ja, es war viel besser als das stinkende Loch seiner Rattenfalle. Aber irgendwie war er überzeugt, er würde nicht so lange leben, daß er mit seinen Rebellen hier einziehen könnte.

Er glaubte auch nicht, daß das 3. Kommando die Stadt verlassen würde, wenn die Stiefsöhne erst zur Hauptstadt unterwegs waren. Schließlich waren die Dritten die größte Macht hier, nach den Göttern, der Zauberei und nach Tempus.

Sync ließ sich von niemandem etwas vormachen. Und Sync blickte ihn eigenartig an, als er ein Pferd für ihn herbeipfiff, um ihm die Gangarten eines Streitrosses zu zeigen.

Es war ein sonniger Tag, das Pferd schwitzte, und Zip ritt mit Sync auf dem Übungsplatz herum wie ein rankanisches Kind mit seinem Papi, als der Pfeil sirrend sein Ohr streifte.

Er fluchte, tauchte auf der anderen Seite des Pferdes hinunter und rollte zum Zaun hinüber, während Sync Befehle brüllte und die Männer besorgt umherliefen.

Zip suchte nach dem Pfeil und fand ihn.

Wenn es nicht derselbe war, mit dem im Winter von einem Dach aus nach Straton geschossen worden, sah er zumindest genauso aus.

»Das bedeutet nicht, daß Strat – oder irgendein Stiefsohn – dahintersteckt«, sagte Sync, mit einem Grashalm zwischen den Zähnen, eine Stunde später, als sie ihre Pferde im Schritt gehen ließen. Die Männer kehrten schwitzend und schmutzig zurück und konnten keinen Erfolg melden. Sie grinsten Zip, den einzigen Ilsiger in der Kaserne, mit kühler Belustigung in den Söldneraugen an.

»Das habe ich auch nicht gedacht. Aber wahrscheinlich will jemand, daß ich es denke. Kein Problem.« Und er glaubte beinahe selbst, was er sagte. Wenn Strat ein Stück von ihm wollte, würden die Heiligen Trupps es sich mit großem Tamtam holen, nach dem seltsamen Kodex der Heiligen Trupps, damit Mord nicht Mord sein würde, weil er von dem bereitwilligen Mördergott abgesegnet war.

Für so einen Zweck hatten sie ganz hinten am Übungsplatz einen Altar.

Mit dem Pfeil in der Hand führte Zip sein neues Pferd dort hinüber, um seine Meinung kundzutun, indem er die aufgehäuften Steine in alle Richtungen trat.

Doch dann überlegte er es sich anders, saß auf und ritt aus der Kaserne.

Es interessierte ihn nicht wirklich, wer versucht hatte, ihn zu töten; und nach allem, was er in der Kaserne mitgehört hatte, interessierte es auch die Stiefsöhne nicht sonderlich. Sie machten sich mehr Sorgen wegen des Wetters.

Er hatte es doch gewußt, daß dieses ganze Getue, ihn an die Spitze einer Waffenstillstandskoalititon zu stellen, nur eine etwas umständlichere Art war, für seine Hinrichtung zu sorgen.

Durch die rituelle Hinrichtung zu sterben, war nicht gerade angenehm. Aber Zip hatte oft genug getötet, um zu wissen, daß keine Art zu sterben, angenehm war.

Er ritt den ganzen Tag im Sumpf der Nächtlichen Geheimnisse umher und dachte über seine Chancen nach und seine Alternativen – aber es gab gar keine.

Er würde in dem Augenblick tot sein, in dem er erklärte, daß er das Spiel nicht mitmachte. Und wenn er so tat, als machte er mit, blieb ihm zumindest eine Gnadenfrist von einer Woche.

Es war nicht viel, aber das einzige, was er hatte. Er konnte nirgendwohin fliehen; er hatte zu viele Feinde, ohne daß er auch noch Tempus dazu rechnen wollte. Wenn er von der ›Abmachung‹ abwich, blieb ihm überhaupt keine Überlebenschance. Dann wäre Zip Freiwild.

Eine Trumpfkarte besaß er – vielleicht – in Kama. Er konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich aus Rache so um ihn gekümmert hatte.

Er wollte sie wiedersehen, doch bis er endlich aus dem Sumpf heraus war, ging bereits die Sonne unter, und es war höchste Zeit, daß er in die Rattenfalle zurückkehrte.

Sync hatte bewiesen, daß Zip in Abwind nicht sicher war, und irgend jemand hatte bewiesen, daß er in der Kaserne nicht sicher war. Aber er wußte schon lange, daß er nirgendwo sicherer sein konnte, als seine eigenen Fähigkeiten ihn machten.

Also kehrte er zur Rattenfalle zurück und erlaubte sich nur einen kurzen Umweg, um den Pfeil auf den kleinen Steinaltar am Ufer des Schimmelfohlenflusses zu legen.

Früher hatte er hier Blutopfer dargebracht – an etwas. Was dieses Etwas war, wußte er nicht so recht. Aber es hatte seine Opfer gemocht. Er dachte, wenn es ihn vielleicht genug mochte, weil er die Geschenke brachte, daß es dann möglicherweise zornig auf denjenigen war, der den Pfeil abgeschossen hatte.

Denn ohne die Hilfe eines Gottes hatte ein Stück Gossendreck wie Zip keine Chance, auch nur eine weitere Freistätter Nacht unversehrt zu überleben.

Tempus hatte recht: Freistatt war für Liebende, nicht mehr für Kämpfer.


Originaltitel: Sanctuary is for Lovers

Copyright: 1986 by Janet und Chris Morris


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