9

Wer vom Jubel träumt, wird mit Wehklagen erwachen.

Lao-tse, II


Es war die dritte Woche im April. Orr hatte letzte Woche mit Heather Lelache ausgemacht, daß sie sich am Donnerstag im Dave’s zum Mittagessen treffen würden, aber als er sich von seinem Büro auf den Weg machte, wußte er schon, daß nichts daraus werden würde.

Inzwischen besaß er so viele verschiedene Erinnerungen, so viele Schicksalsfäden an Lebenserfahrung, die in seinem Kopf durcheinanderwirbelten, daß er kaum noch versuchte, sich an irgend etwas zu erinnern. Er nahm alles, wie es kam. Er lebte, fast wie ein kleines Kind, ausschließlich im aktuellen Geschehen. Nichts, und alles, konnte ihn überraschen.

Sein Büro lag im dritten Stock der Öffentlichen Planungsbehörde; seine Position war eindrucksvoller als jede, die er vorher gehabt hatte: Er hatte die Leitung der für die Vorstadtparks Südost zuständigen Abteilung der Städtebaukommission. Er mochte seinen Job nicht, hatte ihn nie gemocht.

Es war ihm stets gelungen, eine Art Bauzeichner zu bleiben, bis zu dem Traum am vergangenen Montag, durch den die Bundesregierung und die Verwaltung der Bundesstaaten, damit sie einem Plan Habers entsprachen, so gründlich durcheinandergewirbelt wurden, daß es zu einer Neuorganisation des gesamten sozialen Systems kam und er als städtischer Bürokrat endete. In all seinen Leben hatte er nicht einen einzigen Job gehabt, der tatsächlich seinen Wünschen entsprochen hätte; er wußte, er war am besten im Entwerfen, im Erfinden von angemessenen und zweckdienlichen Formen von Gegenständen, aber diese Begabung war in keiner seiner zahlreichen Existenzen gefragt gewesen. Doch dieser Job, den er (jetzt) seit fünf Jahren hatte und verabscheute, lag vollkommen außerhalb seiner Interessen. Und das erfüllte ihn mit Besorgnis.

Bis zu dieser Woche hatte es eine essentielle Kontinuität, eine Kohärenz zwischen allen Existenzen gegeben, die auf seinen Träumen basierten. Er war immer eine Art Bauzeichner gewesen, hatte stets in der Corbett Avenue gelebt. Selbst in dem Leben, das auf den Betonstufen eines ausgebrannten Hauses in einer verwüsteten Stadt auf einer sterbenden Welt zu Ende gegangen war, selbst in diesem Leben hatte die Kontinuität angehalten, bis es keine Jobs und keine Häuser mehr gab. Und quer durch alle anschließenden Träume oder Leben hindurch, waren viele bedeutende Sachverhalte ebenfalls gleich geblieben. Er hatte das lokale Klima ein wenig verändert, aber nicht sehr, und der Treibhauseffekt, das dauerhafte Erbe der Mitte des vergangenen Jahrhunderts, war geblieben. Die Geographie blieb unverändert: Kontinente lagen weiterhin dort, wo sie hingehörten. Ebenso die Grenzen der Nationalstaaten; die menschliche Natur änderte sich nicht, und so weiter. Falls Haber ihm suggeriert haben sollte, ein edleres Menschengeschlecht herbeizuträumen, war der Erfolg bislang ausgeblieben.

Aber Haber lernte, wie er seine, Orrs, Träume besser steuern konnte. Die letzten beiden Sitzungen hatten die Lage radikal verändert. Er hatte nach wie vor seine Wohnung in der Corbett Avenue, dieselben drei Zimmer, durch die immer noch der Marihuanaduft des Hausmeisters wehte; doch jetzt arbeitete er als Verwaltungsangestellter in einem riesigen Gebäude in der Innenstadt, und die Innenstadt hatte sich bis zur Unkenntlichkeit verändert. Die Wolkenkratzer wirkten beinahe so eindrucksvoll wie in der Welt, in der die Bevölkerung nicht dezimiert worden war, schienen aber viel haltbarer und hübscher zu sein. Inzwischen wurde alles vollkommen anders gehandhabt.

Seltsamerweise war Albert M. Merdle nach wie vor Präsident der Vereinigten Staaten. Er schien so unveränderlich zu sein wie die Umriße der Kontinente. Aber die Vereinigten Staaten waren nicht mehr die Weltmacht, die sie einst gewesen waren, und auch kein anderes einzelnes Land.

Portland hatte es zum Hauptsitz des Weltplanungszentrums gebracht, Herz des supranationalen Völkerbundes. Portland war, wie man auf Ansichtskarten lesen konnte, die Hauptstadt des Planeten. Zwei Millionen Einwohner. Der gesamte Innenstadtbereich bestand aus gigantischen WPZ-Gebäuden, keines älter als zwölf Jahre, allesamt sorgfältig geplant und von Grünanlagen und Alleen umgeben. Tausende Menschen, größtenteils VöBu-Beamte oder Angestellte des WPZ, tummelten sich auf diesen Alleen; Touristengruppen aus Ulan Bator und Santiago de Chile defilierten mit erhobenen Köpfen vorbei und lauschten den Stimmen der Reiseführer in ihren Kopfhörern. Es war ein lebendiger und imposanter Anblick — die hohen, ansprechenden Gebäude, die gepflegten Rasen, die gutgekleideten Menschenmassen. Für George Orr sah alles recht futuristisch aus.

Natürlich konnte er Dave’s nicht finden. Er konnte nicht einmal die Ankeny Street finden. Er erinnerte sich aus früheren Existenzen so deutlich an sie, daß er sich, bis er dort eintraf, schlichtweg weigerte, seiner momentanen Erinnerung zu glauben, in der es einfach keine Ankeny Street gab. Wo sie sein sollte, ragte zwischen Rasenflächen und Rhododendren das Koordinationszentrum für Forschung und Entwicklung in den Himmel. Er sparte sich die Mühe, nach dem Pendleton Building zu suchen; Morrison Street gab es noch, eine breite Allee, deren Mittelstreifen man gerade neu mit Orangenbäumen bepflanzt hatte, aber es gab dort keine Gebäude im Neo-Inka-Stil und hatte sie nie gegeben.

Er konnte sich nicht an den genauen Namen von Heathers Kanzlei erinnern; lautete er Forman, Esserbeck und Rutti oder Forman, Esserbeck, Goodhue und Rutti? Er fand eine Telefonzelle und schlug die Kanzlei nach. Nichts Vergleichbares war eingetragen, aber es gab einen P. Esserbeck, Rechtsanwalt. Orr rief dort an und fragte nach, aber eine Miss Lelache arbeitete nicht dort. Schließlich nahm er allen Mut zusammen und suchte nach ihrem Namen. Es standen keine Lelaches in dem Buch.

Sie konnte noch existieren, aber einen anderen Namen tragen, dachte er. Vielleicht hatte ihre Mutter den Namen ihres Mannes abgelegt, als er nach Afrika ausgewandert war. Oder sie hätte nach der Scheidung den Namen ihres Mannes behalten können. Aber er wußte überhaupt nicht, wie ihr Mann mit Nachnamen geheißen hatte. Vielleicht hatte sie ihn ja auch gar nicht angenommen; viele Frauen änderten ihre Nachnamen nach einer Eheschließung nicht mehr, weil sie den Brauch als ein Relikt der Unterdrückung der Frau betrachteten. Doch welchen Sinn hatten derartige Spekulationen? Es konnte gut sein, daß es gar keine Heather Lelache gab: daß die — dieses Mal — nicht geboren worden war.

Als er das akzeptiert hatte, fiel Orr eine andere Möglichkeit ein. Wenn sie in diesem Augenblick vorbeilaufen und nach mir suchen würde, dachte er, würde ich sie überhaupt erkennen?

Sie war braun. Ein klares, dunkles Bernsteinbraun, wie Bernstein aus dem Baltikum oder eine Tasse starken Tees aus Ceylon. Aber es gingen keine braunen Menschen vorbei. Keine schwarzen Menschen, keine weißen, keine gelben, keine roten. Sie kamen aus allen Teilen der Welt her, um im Weltplanungszentrum zu arbeiten oder es sich anzusehen, aus Thailand, Argentinien, Ghana, China, Irland, Tasmanien, dem Libanon, Äthiopien, Vietnam, Honduras, Liechtenstein. Aber alle trugen dieselbe Kleidung, Hosen, Jacken, Regencapes; und unter der Kleidung hatten sie alle dieselbe Hautfarbe. Sie waren grau.

Dr. Haber war entzückt gewesen, als das passierte. Es war am letzten Samstag gewesen, ihre erste Sitzung nach einer Woche. Er hatte sich fünf Minuten lang kichernd und bewundernd im Spiegel des Waschraums betrachtet; Orr hatte er auf dieselbe Weise bewundert. »Diesmal haben Sie es zur Abwechslung einmal auf die wirtschaftliche Weise gemacht, George! Bei Gott, ich glaube, Ihr Gehirn scheint allmählich mit mir zu kooperieren. Sie wissen, was ich Ihnen zu träumen suggeriert habe — hm?«

Denn neuerdings redete Haber frank und frei mit Orr darüber, was er mit Orrs Träumen machte und bewirken wollte. Nicht, daß es viel geholfen hätte.

Orr hatte seine eigenen hellgrauen Hände mit den kurzen grauen Nägeln betrachtet. »Ich nehme an, Sie haben mir suggeriert, daß es kein Problem mit unterschiedlicher Hautfarbe mehr geben soll. Keine Rassenfrage.«

»Exakt. Und natürlich schwebte mir eine politische und ethische Lösung vor. Statt dessen wählten Ihre primären Denkprozesse wieder einmal die übliche Abkürzung, die sich normalerweise als Kurzschluß erweist, aber diesmal haben Sie das Problem an der Wurzel beseitigt. Haben die Veränderung biologisch und absolut gemacht. Es hat nie ein Rassenproblem gegeben! Sie und ich sind die einzigen Menschen auf der Welt, George, die wissen, daß es jemals ein Rassenproblem gegeben hat. Können Sie sich das vorstellen? Niemand war je Ausgestoßener in Indien — niemand wurde je in Alabama gelyncht — niemand wurde in Johannesburg abgeschlachtet. Der Krieg ist ein Problem, das wir überwunden haben, und Rassenzugehörigkeit ist ein Problem, das wir überhaupt nie hatten! In der gesamten Menschheitsgeschichte mußte niemand je wegen seiner Hautfarbe leiden. Sie lernen dazu, George! Sie werden der größte Wohltäter sein, den die Menschheit je kannte, wenn auch unwillig. Soviel Zeit und Energie haben Menschen dafür verschwendet, um eine religiöse Lösung für das Leid zu finden, und dann kommen Sie daher und entlarven Buddha und Jesus Christus und alle anderen als die Fakire, die sie waren. Sie haben versucht, vor dem Bösen davonzulaufen, aber wir, wir merzen es aus — wir schaffen es Stück für Stück ab!«

Habers triumphierende Äußerungen erfüllten Orr mit Unbehagen, daher hörte er gar nicht darauf; statt dessen hatte er sein Gedächtnis abgefragt und darin keine Ansprache gefunden, die auf einem Schlachtfeld in Gettysburg gehalten worden war, und auch keine historische Persönlichkeit namens Martin Luther King. Doch derartige Kleinigkeiten schienen ein geringer Preis für die vollständige rückwirkende Ausrottung aller Rassenvorurteile zu sein, daher sagte er nichts.

Aber jetzt: daß er nie eine Frau mit brauner Haut gekannt hatte, mit brauner Haut und drahtigem schwarzen, Haar, so kurz geschnitten, daß man die elegante Wölbung des Schädels darunter erkennen konnte, die den Kurven einer Bronzevase glich — nein, das war falsch. Das war unerträglich. Daß jeder Menschen auf Erden die Farbe eines Schlachtschiffs haben sollte: Nein!

Darum ist sie nicht hier, dachte er. Sie hätte nicht grau geboren werden können. Ihre Hautfarbe, ihre braune Hautfarbe, war ein essentieller Teil von ihr, kein Zufall. Ihr Zorn, ihre Schüchternheit, Schroffheit, Zärtlichkeit, das waren alles Elemente ihrer Mischlingspersönlichkeit, ihres Mischlingscharakters, dunkel und dennoch transparent, wie Bernstein aus dem Baltikum. Sie konnte in einer Welt grauer Menschen nicht existieren. Sie war gar nicht geboren worden.

Aber er. Er konnte in jeder Welt geboren werden. Er hatte keinen Charakter. Er war ein Klumpen Lehm, ein unbearbeiteter Holzklotz.

Und Dr. Haber: auch er war geboren worden. Nichts konnte ihn verhindern. Er wurde nur mit jeder Reinkarnation größer.

Während der schrecklichen Tagesreise von der Blockhütte ins umkämpfte Portland, als sie in dem pfeifenden Ford Steamer über eine Landstraße geholpert waren, hatte Heather ihm eröffnet, sie hätte zu suggerieren versucht, daß er von einem besseren Haber träumen sollte, worin sie sich auch einig gewesen waren. Und seither verhielt sich Haber Orr gegenüber wenigstens aufrichtig, was seine Manipulationen betraf. Aber aufrichtig war nicht das richtige Wort dafür; Haber besaß einen viel zu komplexen Charakter für Aufrichtigkeit. Man konnte Schicht für Schicht von der Zwiebel abschälen, und doch kam darunter nichts anderes zum Vorschein als Zwiebel.

Dieses Abschälen einer Schicht nach der anderen stellte die einzige wahre Veränderung an ihm dar, und es schien durchaus denkbar, daß das gar nicht auf einen wirkungsvollen Traum zurückzuführen war, sondern auf die veränderten Umstände. Haber war jetzt so selbstbewußt, daß er seine Absichten nicht mehr verheimlichen oder Orr täuschen mußte; er konnte ihn einfach zwingen. Orr hatte weniger Chancen denn je, ihm zu entrinnen. Freiwillige Therapeutische Behandlung trug jetzt die Bezeichnung Kontrolle Privaten Wohlbefindens, aber die gesetzlichen Mittel blieben gleich, und kein Anwalt hätte es gewagt, einem Patienten bei einer Klage gegen Dr. William Haber beizustehen. Er war ein wichtiger Mann, ein überaus wichtiger Mann. Er war leitender Direktor von EFMEG, dem Herzstück des Weltplanungszentrums, wo alle wichtigen Entscheidungen gefällt wurden. Er hatte stets Macht haben wollen, um Gutes zu tun. Jetzt hatte er sie.

In dieser Hinsicht entsprach er immer noch exakt dem jovialen und distanzierten Mann, den Orr anfangs im Willamette East Tower in der schäbigen Praxis mit dem Wandbild des Mount Hood kennengelernt hatte. Er hatte sich nicht verändert; er war einfach nur gewachsen.

Die Eigenschaft des Machtstrebens ist, ganz exakt, Wachstum. Errungenschaft ist sein Ende. Um überhaupt zu existieren, muß das Machtstreben mit jeder Errungenschaft größer werden, damit die Errungenschaft lediglich zu einem Schritt wird, der zum nächsten führt. Je größer die Macht ist, die erlangt wurde, desto größer die Gier nach mehr. Und da die Macht, die Haber durch Orrs Träume ausüben konnte, scheinbar keine sichtbaren Grenzen kannte, gab es auch für Habers Entschlossenheit, die Welt zu verbessern, keine Grenze.

Ein Außerirdischer rempelte Orr in dem Gewühl auf der Morrison Mall an und entschuldigte sich tonlos mit erhobenem Ellbogen. Die Außerirdischen hatten ziemlich schnell gelernt, nicht auf Menschen zu zeigen, weil es sie beunruhigte. Orr schaute erschrocken auf; seit der Krise am ersten April hatte er die Außerirdischen fast vergessen.

Im augenblicklichen Stand der Dinge — oder Kontinuum, wie Haber sich störrisch auszudrücken beliebte —, fiel Orr jetzt wieder ein, war die Landung der Außerirdischen nicht so katastrophal für Oregon, die NASA und die Luftwaffe verlaufen. Anstatt hastig und in einem Hagel von Bomben und Napalm ihre Übersetzungscomputer zu erfinden, hatten sie sie gleich vom Mond mitgebracht, waren kreuz und quer durch die Gegend geflogen, bevor sie landeten, hatten über Funk ihre friedlichen Ab sichten mitgeteilt, sich für den Krieg im All entschuldigt, der einem Irrtum entsprungen war, und um Anweisungen gebeten Natürlich hatten sie Schrecken verbreitet, aber keine Panik. Es war fast rührend gewesen, auf jeder Funkfrequenz und jedem Fernsehsender ihre tonlosen Stimmen zu hören, mit denen sie beteuerten, daß die Zerstörung der Mondkuppel und der russischen Orbitalstation unabsichtliche Folgen ihrer unwissenden Bemühungen, Kontakt herzustellen, gewesen seien, daß sie die Raketen der Weltraumflotte der Erde als unsere eigenen unwissenden Bemühungen, Kontakt herzustellen, fehlinterpretiert hätten, daß sie alles ausgesprochen bedauern würden und jetzt, da sie die menschlichen Kommunikationskanäle, wie zum Beispiel die Sprache, endlich beherrschten, Wiedergutmachung leisten wollten.

Das WPZ, das nach dem Ende der Jahre des Schwarzen Todes in Portland gegründet worden war, hatte mit ihnen kooperiert und die Bevölkerung und Generäle beruhigt. Das war, fiel Orr jetzt ein, wo er darüber nachdachte, aber nicht am ersten April vor zwei Wochen gewesen, sondern letztes Jahr im Februar — vor vierzehn Monaten. Die Außerirdischen hatten ihre Landeerlaubnis erhalten; zufriedenstellende Beziehungen mit ihnen waren aufgenommen worden; und zu guter letzt hatte man ihnen gestattet, ihren sorgfältig bewachten Landeplatz nahe Steens Mountain in der Wüste von Oregon zu verlassen und sich unter die Menschen zu mischen. Ein paar von ihnen teilten sich mittlerweile friedlich die wiederaufgebaute Mondkuppel mit staatlichen Wissenschaftlern, und rund zweitausend hielten sich auf der Erde auf. Mehr existierten nicht, oder besser gesagt, mehr waren nicht gekommen; nur wenige derartige Einzelheiten drangen an die Öffentlichkeit. Sie stammten von einem Planeten des Sterns Aldebaran mit Methanatmosphäre und mußten auf der Erde wie auf dem Mond ständig ihre fremdartigen, schildkrötenähnlichen Schutzanzüge tragen, was sie indessen nicht weiter zu stören schien. Wie sie in ihren Schildkrötenanzügen wirklich aussahen, davon hatte Orr keine klare Vorstellung. Sie konnten nicht herauskommen und malten keine Bilder. Tatsächlich beschränkten sich ihre Möglichkeiten der Kommunikation mit Menschen auf Sprachemission vom linken Ellbogen und eine Art Audioempfänger; Orr war nicht einmal sicher, ob sie sehen konnten, ob sie ein Sinnesorgan für das sichtbare Spektrum besaßen. Es gab weite Bereiche, in denen gar keine Kommunikation möglich war: das Delphinproblem, nur komplizierter. Aber da sich das WPZ von ihrer Friedfertigkeit überzeugt hatte, ihre Zahl überschaubar blieb und ihre Ziele offenkundig waren, hatte man sie mit einem gewissen Eifer in die terranische Gesellschaft aufgenommen. Es war angenehm, wenn man einmal jemanden betrachten konnte, der anders aussah. Sie schienen bleiben zu wollen, wenn man es ihnen gestattete; einige hatten sich schon niedergelassen und kleine Geschäfte eröffnet, denn sie schienen gut im Verkaufen und Organisieren zu sein, genau wie in der Raumfahrt, deren überragende Kenntnisse sie den terranischen Wissenschaftlern ohne zu zögern weitergegeben hatten. Sie hatten noch nicht klargemacht, was sie sich als Gegenleistung erhofften und warum sie zur Erde gekommen waren. Es schien ihnen hier einfach zu gefallen. Und da sie sich verhielten wie fleißige, friedfertige und gesetzestreue Bürger der Erde, existierten Schlagworte wie »außerirdische Invasion« oder »nichtmenschliche Infiltration« lediglich im Sprachgebrauch von paranoiden Politikern, aussterbenden nationalistischen Splittergruppen und den Leuten, die schon Unterredungen mit richtigen UFO-Besatzungen geführt hatten.

Das einzige, das tatsächlich von diesem schrecklichen ersten April geblieben zu sein schien, war die Tatsache, daß Mount Hood wieder zum aktiven Vulkan wurde. Keine Bombe hatte ihn getroffen, denn diesmal waren keine Bomben gefallen. Er erwachte einfach wieder. Eine hohe, graubraune Rauchsäule stieg jetzt nordwärts von ihm auf. Zigzag und Rhododendron hatten das Schicksal von Pompeji und Herculaneum erlitten. Kürzlich hatte sich in der Nähe des winzigen alten Kraters im Mount Tabor Park, noch innerhalb der Gemarkung der Stadt, eine Fumarole aufgetan. Die Anwohner aus der Gegend um Mount Tabor zogen in die aufblühenden neuen Vororte West Eastmont, Chestnut Hills Estates und Sunny Slopes Subdivision um. Sie konnten damit leben, daß der Mount Hood in der Ferne Rauch ausspie, aber eine Eruption unmittelbar die Straße rauf war denn doch zuviel.

Orr kaufte in einem überfüllten Selbstbedienungsrestaurant einen faden Teller Fisch mit Pommes und afrikanischer Erdnußsoße; beim Essen dachte er bekümmert: einst habe ich sie bei Dave’s versetzt, jetzt versetzt sie mich.

Er konnte seinen Schmerz, seinen Verlust nicht ertragen. Traumschmerz. Trauer um eine Frau, die nie existiert hatte. Er versuchte sein Essen zu genießen, seine Mitmenschen zu beobachten. Aber das Essen hatte keinen Geschmack und die Menschen waren alle grau.

Vor den Glastüren des Restaurants wurde die Menge dichter: die Leute strömten zur Nachmittagsvorstellung zum Portland Palace of Sports, einem riesigen und schicken Kolosseum unten am Fluß. Die Leute saßen nicht mehr daheim und sahen fern; das VöBu-Fernsehen sendete nur noch zwei Stunden täglich. Gemeinsamkeit hieß der neue Lebensstil. Heute war Donnerstag; da fanden die Faustkämpfe statt, die größte Attraktion, abgesehen vom Football am Samstagabend. Bei den Faustkämpfen kamen an sich mehr Sportler ums Leben, aber ihnen fehlten die dramatischen, kathartischen Aspekte des Football, das Gemetzel, wenn einhundertvierundvierzig Männer auf einmal im Einsatz waren und ihr Blut auf die Zuschauertribünen spritzte.

Kein Krieg mehr, sagte Orr zu sich und ließ die letzten aufgeweichten Pommes liegen. Er ging hinaus in die Menge. Ain’t gonna … war no more … Das war ein Song gewesen. Einst. Ein alter Song. Ain’t gonna … Wie lautete das Verb? Nicht »fight«, das paßte nicht. Ain’t gonna … war no more …

Er lief mitten in eine Bürgerfestnahme hinein. Ein großer Mann mit einem langen, runzligen grauen Gesicht packte einen kleinen Mann mit einem runden, glänzenden grauen Gesicht, packte ihn an der Vorderseite seines Hemds. Die Menge rempelte gegen das Paar, einige blieben stehen und sahen zu, andere drängten weiter zum Palace of Sports. »Dies ist eine Bürgerfestnahme, Passanten aufgepaßt!« sagte der große Mann mit einem schrillen, durchdringenden Tenor. »Dieser Mann, Harvey T. Gonno, leidet an unheilbarem, bösartigem Unterleibskrebs, verheimlicht den Behörden jedoch seinen Aufenthaltsort und lebt weiter mit seiner Frau zusammen. Mein Name ist Ernest Ringo Marin, 2624287 South West Eastwood Drive, Sunny Slopes Division, Groß-Portland. Sind zehn Zeugen anwesend?« Einer der Zeugen half mit, den Kriminellen festzuhalten, der schwache Gegenwehr leistete, während Ernest Ringo Marin Köpfe zählte. Orr floh und drängte sich mit gesenktem Kopf durch die Menge, bevor Marin die Euthanasie mit seiner Injektionspistole durchführen konnte, wie alle erwachsenen Bürger sie trugen, die sich ihr Bürgerrechtszertifikat verdient hatten. Er selbst trug auch eine. Das war gesetzlich vorgeschrieben. Seine war momentan freilich nicht geladen; sie hatten die Ladung entfernt, als er zum psychiatrischen Patienten unter KPW wurde; aber sie hatten ihm wenigstens die Waffe gelassen, damit sein vorübergehender Statusverlust nicht zu einer öffentlichen Demütigung für ihn wurde. Die Geisteskrankheit, wegen der er behandelt wurde, durfte man nicht mit einem strafbaren Verbrechen, zum Beispiel einer ernsten übertragbaren Seuche oder Erbkrankheit, verwechseln.

Er sollte nicht den Eindruck gewinnen, als wäre er in irgendeiner Weise eine Gefahr für die Rasse oder ein Bürger zweiter Klasse, und sobald Dr. Haber ihn als geheilt entließ, würde seine Waffe wieder geladen werden.

Ein Tumor, ein Tumor … Hatte der karzinome Schwarze Tod nicht dadurch, daß er entweder während des Zusammenbruchs oder in der Kindheit alle tötete, die anfällig für Krebs waren, die Überlebenden von dieser Geißel befreit? Doch, aber in einem anderen Traum. Nicht in diesem. Offenbar war Krebs wieder ausgebrochen, so wie Mount Tabor und Mount Hood.

Study. Das war es. Ain’t gonna study war no more …

Er stieg an der Ecke Fourth und Alder in eine Seilbahn; und fuhr über die graugrüne Stadt hinweg zum EFMEG Tower, der anstelle der alten Pittock-Villa die westlichen Hügel des Washington Park krönte.

Das Hochhaus überragte alles — die Stadt, die Flüsse, die dunstigen Täler im Westen, die dunklen Hänge von Forest Park im Norden. Über dem Säuleneingang stand in klassischen Großbuchstaben, deren Proportionen jeder Phrase einen Hauch von Erhabenheit verliehen hätten: DAS GRÖSSTE WOHL FÜR DIE GRÖSSTE ANZAHL.

Im Inneren zierte das Foyer aus schwarzem Marmor, dem Pantheon in Rom nachempfunden, eine kleinere Inschrift in Goldbuchstaben um den Rand der Kuppel herum: DAS BESTE STUDIENOBJEKT DER MENSCHHEIT IST DER MENSCH — A. POPE, 1688-1744.

Das Gebäude, hatte man Orr gesagt, war in der Grundfläche größer als das British Museum und fünf Stockwerke höher. Außerdem war es erdbebensicher. Bombensicher war es nicht, denn es gab keine Bomben. Die Reste der Atomwaffenarsenale hatte man nach dem Cislunaren Krieg fortgeschafft und in einer Reihe interessanter Experimente im Asteroidengürtel gesprengt. Dieses Gebäude konnte praktisch jeder Gefahr auf Erden trotzen, außer vielleicht Mount Hood. Oder einem bösen Traum.

Er fuhr auf dem Laufband in den Westflügel und mit der breiten gewendelten Rolltreppe zum obersten Stockwerk.

Dr. Haber hatte die Psychiatercouch in seinem Büro behalten, eine Art absichtlich bescheidener Erinnerung an seine Anfänge als praktizierender Psychiater, als er sich immer nur um einen Menschen gekümmert hatte, nicht um Milliarden. Aber es dauerte eine Weile, bis man zu dieser Couch gelangte, denn seine Suite war etwa zweitausend Quadratmeter groß und hatte sieben Zimmer. Orr meldete sich bei der Autorezeptionistin an der Tür zum Wartezimmer an, dann ging er an Miss Crouch vorbei, die gerade Daten in ihren Computer eingab, und passierte das offizielle Büro, einen Prunksaal, in dem nur der Thron fehlte, wo der Direktor Botschafter, Delegationen und Nobelpreisträger empfing, bis er schließlich zu dem kleineren Büro mit dem Panoramafenster vom Boden bis zur Decke und der Couch gelangte. Dort waren die antiken Rotholzpaneele einer ganzen Wand beiseite geschoben worden und gaben den Blick auf ein grandioses Arsenal von Forschungsmaschinen frei: Haber steckte bis zur Taille in den freiliegenden Eingeweiden des Verstärkers. »Hallöchen, George!« polterte er aus dem Inneren, ohne sich umzudrehen. »Ich schließ mal eben einen neuen Ergisschalter an Babys Hormokupplung an. Klitzekleines Augenblickchen noch. Ich glaube, heute machen wir mal eine Sitzung ohne Hypnose. Setzen Sie sich, das wird noch ein Weilchen dauern, ich hab wieder ein wenig herumgebastelt … Hören Sie. Erinnern Sie sich an die Batterie von Tests, denen Sie unterzogen wurden, als Sie zum erstenmal unten in der Universitätsklinik aufgekreuzt sind? Persönlichkeitsanalyse, IQ, Rorschachtest und so weiter, und so fort. Dann habe ich persönlich bei Ihrer dritten Sitzung hier Assoziationstests und ein paar simulierte Begegnungssituationen mit Ihnen durchgeführt. Erinnern Sie sich nicht mehr? Haben Sie sich je gefragt, wie Sie abgeschnitten haben?«

Habers von schwarzen Locken und einem Bart eingerahmtes graues Gesicht erschien plötzlich über der herausgezogenen Verkleidung des Verstärkers. Als er Orr ansah, spiegelte sich das Licht vom deckenhohen Fenster in seinen Augen.

»Vermutlich ja«, sagte Orr; eigentlich hatte er nicht einmal daran gedacht.

»Ich glaube, es ist an der Zeit, Ihnen mitzuteilen, daß Sie im Referenzrahmen dieser standardisierten, aber extrem subtilen und nützlichen Tests so normal sind, daß man es schon als abnormal bezeichnen könnte. Natürlich benutze ich den laienhaften Ausdruck ›normal‹, der keine exakte, objektive Bedeutung hat; in meßbaren Ausdrücken sind Sie Mittelmaß. Ihr Extrovertiert/Introvertiert-Wert, zum Beispiel, liegt bei 49,1. Das heißt, Sie sind um 0,9 Punkte introvertierter als extrovertierter. Das ist nicht ungewöhnlich; auffällig ist aber, daß dieses verdammte Muster sich überall wiederholt, quer durch die Bank. Wenn man sie alle in ein einziges Diagramm überträgt, bekommt man einen glatten Mittelwert von 50. Dominanz, zum Beispiel; ich glaube, da hatten Sie 48,8. Weder dominant noch unterwürfig. Unabhängigkeit/Abhängigkeit — dasselbe. Kreativ/Destruktiv auf der Ramirez-Skala — dasselbe. Beides, keines. Entweder, oder. Wo es gegensätzliche Paare gibt, eine Polarität, stehen Sie in der Mitte; wenn es etwas abzuwägen gibt, stehen Sie am Gleichgewichtspunkt. Sie sind so austariert, daß in gewissem Sinne nichts übrigbleibt. Also Walters unten in der Uniklinik, der deutet die Ergebnisse etwas anders; er sagt, Ihr Mangel an sozialen Errungenschaften sei das Resultat Ihrer ganzheitlichen Anpassung, was immer er darunter verstehen mag, und was ich als Selbstverleugnung betrachte, sei ein ganz besonderer Zustand des Gleichgewichts, der Harmonie. Woran man ermessen kann, seien wir ehrlich, der alte Walters ist ein kläglicher Scharlatan, er ist dem Mystizismus der siebziger Jahre nie entwachsen; aber er meint es gut. Also, sprechen wir es ruhig aus: Sie sind der Mann in der Mitte des Diagramms. So, jetzt können wir das Glumdalklitsch mit dem Brobdingnag verbinden, und schon sind wir bereit … Verflucht!« Er hatte sich beim Aufstehen den Kopf an einem Paneel gestoßen. Er ließ den Verstärker offen. »Sie sind ein schräger Vogel, George, und das Schrägste an Ihnen ist, daß nichts schräg an Ihnen ist.« Er lachte sein polterndes, joviales Lachen. »Also, heute versuchen wir eine neue Vorgehensweise. Keine Hypnose. Kein Schlaf. Kein REM-Stadium und keine Träume. Heute möchte ich Sie im Wachzustand mit dem Verstärker verbinden.«

Orr wurde ganz mulmig, aber er wußte nicht, warum. »Wieso das?« fragte er.

»Prinzipiell, um eine Aufzeichnung Ihrer normalen Gehirnströme im Wachzustand zu bekommen, wenn sie verstärkt werden. Ich habe zwar bei der ersten Sitzung eine vollständige Analyse durchgeführt, aber das war, bevor der Verstärker etwas anderes machen konnte als den Rhythmus aufzugreifen, den Sie in dem Moment ausgesandt haben. Jetzt kann ich ihn benutzen, um bestimmte individuelle Charakteristiken Ihrer Gehirnaktivität spezieller anzuregen, besonders diesen Peak-Effekt Ihres Ammonshorns. Danach kann ich sie mit Ihren REM-Schlaf-Mustern und den Mustern anderer Gehirne vergleichen, normaler wie abnormaler. Ich versuche herausfinden, wie Sie ticken, George, damit ich erfahren kann, was Ihre Träume wirkungsvoll macht.«

»Wieso das?« wiederholte George.

»Wieso das? Sind Sie denn nicht gerade deswegen hier?«

»Ich bin hier, damit ich geheilt werde. Damit ich lerne, nicht wirkungsvoll zu träumen.«

»Wenn es ein einfaches Eins-zwei-drei-Heilmittel gäbe, wären Sie dann hierher ins Institut geschickt worden, zu EFMEG — zu mir?«

»Und werden Sie das auch tun?«

Orr barg den Kopf in den Händen und sagte nichts.

»Ich kann Ihnen erst zeigen, wie Sie aufhören können, wenn ich herausgefunden habe, was Sie machen, George.«

»Aber wenn Sie es herausfinden, werden Sie mir dann zeigen, wie ich aufhören kann?«

Haber wippte auf den Absätzen hin und her. »Warum haben Sie solche Angst vor sich selbst, George?«

»Habe ich nicht«, sagte Orr. Seine Hände waren schweißnaß. »Ich habe Angst davor —« Aber seine Angst war so groß, daß er es nicht einmal aussprechen wollte.

»Davor, etwas zu verändern, wie Sie sich ausdrücken. Okay. Ich weiß. Das haben wir oft genug besprochen. Warum, George? Diese Frage müssen Sie sich stellen. Was ist falsch daran, etwas zu verändern? Also ich frage mich, ob diese Ihre selbstverleugnende, austarierte Persönlichkeit die Ursache dafür ist, daß Sie alles so defensiv sehen. Bitte versuchen Sie einmal für mich, sich selbst kritisch unter die Lupe zu nehmen und Ihren Standpunkt objektiv von außen zu sehen. Sie haben Angst, Ihr Gleichgewicht zu verlieren. Aber Veränderung muß Sie nicht aus dem Gleichgewicht bringen; schließlich ist auch das Leben kein statisches Objekt. Es ist ein Vorgang. Stillstand gibt es nicht. Intellektuell wissen Sie das, aber emotional wehren Sie sich dagegen. Nichts bleibt von einem Augenblick zum nächsten gleich, man kann nicht zweimal in denselben Fluß steigen. Leben — Evolution — das ganze Universum mitsamt Raum/Zeit — Materie/Energie — die Existenz selbst — besteht im wesentlichen aus Veränderung.«

»Das ist ein Aspekt davon«, sagte Orr. »Der andere ist Stillstand.«

»Wenn sich nichts mehr verändert, dann haben wir es mit dem Endergebnis der Entropie zu tun, dem Wärmetod des Universums. Je mehr Dinge sich bewegen, interagieren, zusammenprallen, sich verändern, desto weniger Gleichgewicht gibt es — und desto mehr Leben. Ich bin für das Leben, George. Das Leben selbst ist ein großes Glücksspiel, ein Glücksspiel gegen jede Chance! Sie können nicht versuchen, sicher zu leben, weil es so etwas wie Sicherheit gar nicht gibt. Also strecken Sie den Kopf aus Ihrem Panzer heraus und leben Sie waghalsig! Es kommt nicht auf den Weg an, sondern auf das Ziel. Sie haben Angst davor, zu akzeptieren, daß wir beide in ein wirklich großes Experiment verwickelt sind, Sie und ich. Wir sind kurz davor, zum Wohle der gesamten Menschheit eine ganz neue Kraft zu entdecken und zu beherrschen, ein vollkommen neues Feld der anti-entropischen Energie, der Lebenskraft, des Willens zu handeln, zu verändern!«

»Das stimmt alles. Aber es ist —«

»Was, George?« Er gab sich jetzt väterlich und geduldig; und Orr zwang sich, fortzufahren, wohl wissend, daß es keinen Sinn hatte.

»Wir sind in der Welt, nicht dagegen. Es funktioniert nicht, wenn man versucht, außerhalb der Dinge zu stehen und sie auf diese Weise zu manipulieren. Es funktioniert einfach nicht, es ist gegen das Leben. Es gibt einen Weg, aber man muß ihm folgen. Die Welt ist, ganz egal, wie sie unserer Meinung nach sein sollte. Man muß mit dem Strom schwimmen. Man muß sie sein lassen.«

Haber ging in dem Zimmer auf und ab und blieb vor dem großen Fenster stehen, das ein Panorama nordwärts des gleichmütigen und inaktiven Mount St. Helen einrahmte. Er nickte mehrmals. »Ich verstehe«, sagte er mit dem Rücken zu Orr. »Ich verstehe voll und ganz. Aber lassen Sie es mich einmal so ausdrücken, George, vielleicht verstehen Sie dann, worauf ich hinaus will. Sie sind allein im Dschungel, im Mato Grosso, und finden eine Eingeborenenfrau auf dem Weg, die nach einem Schlangenbiß im Sterben liegt. Sie haben Serum in Ihrem Rucksack, jede Menge, genug, um Tausende Schlangenbisse zu heilen. Geben Sie es ihr nicht, weil es ›der Lauf der Welt‹ ist, weil man es ›sein lassen‹ muß?«

»Das käme darauf an«, sagte Orr.

»Käme worauf an?«

»Na ja … ich weiß auch nicht. Wenn Reinkarnation existiert, dann verweigert man ihr möglicherweise ein besseres Leben und verdammt sie zu einem elenden. Vielleicht heilt man sie, und sie geht nach Hause und ermordet sechs Menschen in ihrem Dorf. Ich weiß, Sie würden ihr das Serum geben, weil Sie es haben und sie Ihnen leid tut. Aber Sie wissen nicht, ob das, was Sie tun, gut oder böse oder beides ist …«

»Okay! Zugegeben! Ich weiß, was ein Schlangengiftserum bewirkt, aber ich weiß nicht, was ich bewirke — Okay, unter diesen Voraussetzungen kaufe ich das gern. Und sage: Was spielt das schon für eine Rolle? Ich gebe unumwunden zu, daß ich in fünfundachtzig Prozent der Fälle nicht die geringste Ahnung habe, was ich mit Ihrem verflixten schrägen Gehirn anstelle, und Sie auch nicht, aber wir machen es — also können wir jetzt weitermachen?« Sein viriler, jovialer Schwung war überwältigend; er lachte, und auch Orr konnte ein klägliches Lächeln nicht unterdrücken.

Aber während ihm die Elektroden angelegt wurden, unternahm er einen letzten Versuch, mit Haber zu kommunizieren. »Ich habe auf dem Weg hierher eine Bürgerfestnahme und Euthanasie gesehen«, sagte er.

»Weswegen?«

»Eugenik. Krebs.«

Haber nickte wachsam. »Kein Wunder sind Sie deprimiert. Sie haben die Anwendung kontrollierter Gewalt zum Wohle der Gemeinschaft noch nicht rückhaltlos akzeptiert; vielleicht werden Sie das nie. Wir haben es hier mit einer harten Welt zu tun, George. Einer realistischen Welt. Aber wie schon gesagt, das Leben kann nicht sicher sein. Diese Gesellschaft ist hart und wird jedes Jahr härter: die Zukunft wird es rechtfertigen. Wir brauchen Gesundheit. Wir haben einfach keinen Platz für die Unheilbaren, die genetisch Geschädigten, die die Spezies schädigen; wir haben keine Zeit für vergebliches, sinnloses Leiden.« Er sagte es mit einer Begeisterung, die hohler als sonst klang; Orr fragte sich, wie sehr Haber diese Welt gefiel, die er selbst so unerschrocken geschaffen hatte. »Jetzt bleiben Sie so sitzen, ich möchte aber nicht, daß Sie aus reiner Gewohnheit einschlafen. Okay, prima. Vielleicht langweilen Sie sich. Ich möchte, daß Sie eine Weile nur so dasitzen. Halten Sie die Augen offen, denken Sie an was Sie wollen. Ich mache mich hier noch an Babys Eingeweiden zu schaffen. Also, es geht los: Bingo.« Er drückte den weißen EIN-Knopf in dem Paneel rechts vom Verstärker am Kopfende der Couch.

Ein vorübergehendes außerirdisches Wesen rempelte Orr im Gedränge der Allee aus Versehen an; es hob den linken Ellbogen, um sich zu entschuldigen, und Orr murmelte: »Entschuldigung.« Es blieb stehen, versperrte ihm halb den Weg; und auch er blieb stehen und betrachtete beeindruckt und erschrocken die gleichmütige, zwei Meter siebzig große, grünlich gepanzerte Gestalt. Es sah so grotesk aus, daß es fast schon komisch wirkte; wie eine Meeresschildkröte, und doch besaß es, wie eine Meeresschildkröte, eine seltsame, erhabene Schönheit, eine verklärtere Schönheit als alles, das im Sonnenlicht hauste oder auf Erden wandelte.

Die Stimme erklang tonlos aus dem noch erhobenen linken Ellbogen. »Jor Jor«, sagte es.

Nach einem Moment identifizierte Orr diese barsoomsche Doppelsilbe als seinen eigenen Namen. »Ja, ich bin Orr«, sagte er leicht betreten.

»Bitte gerechtfertigte Unterbrechung entschuldigen. Sie sind zu iahklu’ fähiger Mensch, wie schon früher festgestellt. Das bekümmert selbst.«

»Ich glaube — ich verstehe nicht —«

»Auch wir waren verschiedentlich verstört. Vorstellungen kreuzen sich im Nebel. Wahrnehmung ist schwierig. Vulkane spucken Feuer. Hilfe wird angeboten: ablehnbar. Schlangengiftserum wird nicht für alle verschrieben. Bevor Sie Anweisungen in falsche Richtung folgen, können Kräfte zur Unterstützung gerufen werden in unmittelbar folgender Weise: Er’ perrehnne!«

»Er’ perrehnne«, wiederholte Orr automatisch und konzentrierte sich ganz darauf, zu verstehen, was ihm der Außerirdische sagen wollte.

»Wenn gewünscht. Reden ist Silber, Schweigen ist Gold. Selbst ist Universum. Bitte Unterbrechung, Kreuzung im Nebel verzeihen.« Der Außerirdische machte, obwohl er weder Hals noch Taille besaß, die Andeutung einer Verbeugung und entfernte sich riesig und grünlich über der Masse der grauen Gesichter. Orr blieb stehen und sah ihm nach, bis Haber sagte: »George!«

»Was?« Er betrachtete verwirrt das Zimmer, den Schreibtisch, das Fenster.

»Was, zum Teufel, haben Sie gemacht?«

»Nichts«, sagte Orr. Er saß immer noch auf der Couch und hatte das Haar voller Elektroden. Haber hatte den AUS-Knopf des Verstärkers gedrückt, war vor die Couch getreten und betrachtete zuerst Orr und dann den EEG-Monitor.

Er machte die Maschine auf und prüfte den Ausdruck darin, den Schreibgeräte auf einer Papierrolle festgehalten hatten. »Ich dachte, ich hätte den Monitor falsch gelesen«, sagte er und gab ein eigentümliches Lachen von sich, eine sehr abgespeckte Version seines üblichen fröhlichen Gebrülls. »Hier gehen merkwürdige Dinge in Ihrer Großhirnrinde vor sich, dabei habe ich gar nichts mit dem Verstärker in die Großhirnrinde eingespeist, ich hatte gerade mit einer schwachen Stimulation der Brücke begonnen, nichts Bestimmtes … Was ist das … Herrgott, das müssen hundertfünfzig mV sein.« Er drehte sich unvermittelt zu Orr um. »Was haben Sie gedacht? Rekonstruieren Sie es.«

Ein extremer Widerwille, der zum Gefühl einer Bedrohung, einer Gefahr anwuchs, überkam Orr.

»Ich dachte — ich habe über die Außerirdischen nachgedacht.«

»Die Aldebaraner? Und?«

»Ich dachte nur an einen, den ich auf dem Weg hierher auf der Straße gesehen habe.«

»Und das erinnerte Sie bewußt oder unterbewußt an die Euthanasie, deren Ausführung Sie Zeuge wurden. Richtig? Okay. Das könnte die komische Sache hier unten in den Emotionszentren erklären, die der Verstärker empfangen und verstärkt hat. Das müssen Sie doch gespürt haben — etwas Besonderes, Ungewöhnliches, das sich in Ihrem Geist abgespielt hat?«

»Nein«, sagte Orr aufrichtig. Ihm war es nicht ungewöhnlich vorgekommen.

»Okay. Also hören Sie, falls meine Reaktion Sie beunruhigt hat, sollten Sie wissen, daß ich den Verstärker schon hundertmal an mein eigenes Gehirn angeschlossen habe, und an Laborsubjekte, alles in allem sogar rund fünfundvierzig verschiedene Subjekte. Er wird Ihnen so wenig ein Leid zufügen wie denen. Aber diese Daten sind höchst ungewöhnlich für ein erwachsenes Subjekt, darum wollte ich mich nur bei Ihnen vergewissern, ob Sie etwas subjektiv gespürt haben.«

Haber wollte sich selbst beruhigen, nicht Orr; aber das spielte keine Rolle. Beruhigungen beeindruckten Orr nicht mehr.

»Okay. Zweiter Versuch.« Haber schaltete das EEG wieder ein und näherte sich dem EIN-Schalter des Verstärkers. Orr biß die Zähne zusammen und rechnete mit Chaos und Nacht.

Aber die kamen nicht. Und er befand sich auch nicht in der Innenstadt und redete mit einer zwei Meter siebzig großen Schildkröte. Er blieb auf der bequemen Couch sitzen und betrachtete den dunstigen, graublauen Kegel des St. Helen vor dem Fenster. Und so heimlich, still und leise wie ein Dieb in der Nacht überkam ihn ein Gefühl des Wohlbehagens, eine Gewißheit, daß alles gut war, daß er sich mittendrin befand. Selbst ist Universum. Man würde nicht zulassen, daß er in Isolation geriet, daß er strandete. Er war wieder da, wo er hingehörte. Er verspürte eine große Ruhe und die absolute Gewißheit, wo er sich befand und wo sich alles andere befand. Dieses Gefühl erschien ihm nicht ekstatisch oder mystisch, sondern einfach nur normal. So hatte er sich meistens gefühlt, außer in Krisenzeiten oder unter Schmerzen; es war die Stimmung seiner Kindheit und der besten und denkwürdigsten Stunden seiner Jugend und Reife; es war sein natürlicher Daseinsmodus. In den vergangenen Jahren hatte er ihn verloren, Stück für Stück, aber fast gänzlich, ohne zu merken, daß er ihn verloren hatte. Vor vier Jahren in diesem Monat, vor vier Jahren im April, war etwas geschehen, durch das er dieses Gleichgewicht eine Weile ganz verloren hatte; und in letzter Zeit hatten ihn die Medikamente, die er einnahm, die Träume, die er träumte, die unablässigen Sprünge von einer Lebenserinnerung zur nächsten, die Verschlechterung der Lebensqualität, je mehr Haber versuchte, sie zu verbessern, hatte ihn das alles noch mehr vom rechten Weg abgebracht. Und jetzt war er auf einmal wieder da, wo er hingehörte.

Er wußte aber auch, daß er das nicht allein bewerkstelligt hatte.

»Hat der Verstärker das gemacht?« fragte er laut.

»Was gemacht?« fragte Haber, der sich wieder um die Maschine herumbeugte und den EEG-Monitor betrachtete.

»Oh … ich weiß nicht.«

»Er macht überhaupt nichts, wie Sie es verstehen«, antwortete Haber mit einer Spur Gereiztheit. In solchen Augenblicken konnte man Haber fast mögen, wenn er keine Rolle spielte, keine Reaktionen heuchelte, und ganz und gar darin aufging, was er aus den schnellen und subtilen Reaktionen seiner Maschinen lernen konnte. »Er verstärkt nur das, was Ihr eigenes Gehirn im Augenblick macht, indem er selektiv die Aktivität steigert, und Ihr Gehirn macht gerade absolut nichts Interessantes … Da.« Er notierte sich hastig etwas, ging wieder zum Verstärker, lehnte sich zurück und betrachtete die tanzenden Linien auf dem kleinen Monitor. Er trennte drei Linien, die wie eine ausgesehen hatte, indem er an Schaltern drehte, und vereinte sie erneut. Orr unterbrach ihn nicht noch einmal. »Machen Sie die Augen zu«, sagte er einmal schroff. »Drehen Sie die Augäpfel aufwärts. Gut. Lassen Sie sie zu und stellen Sie sich etwas vor — einen roten Würfel. Gut …«

Als er schließlich die Maschinen abschaltete und die Elektroden löste, ließ die Gleichmut, die Orr empfand, im Gegensatz zu mit Drogen oder Alkohol induzierten Stimmungen, nicht nach.

»Dr. Haber«, sagte er ohne Umschweife und ohne Schüchternheit, »ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine wirkungsvollen Träume benutzen.«

»Hm?« sagte Haber, der sich im Geiste immer noch mit Orrs Gehirn beschäftigte, nicht mit Orr selbst.

»Ich kann nicht mehr zulassen, daß Sie meine Träume benutzen.«

»Benutzen?«

»Benutzen.«

»Nennen Sie es, wie Sie wollen«, sagte Haber. Er hatte sich aufgerichtet und überragte Orr, der immer noch saß. Er war grau, groß, breitschultrig, lockenbärtig, seine Brust gewölbt und die Stirn gerunzelt. Dein Gott ist ein eifersüchtiger Gott. »Es tut mir leid, George, aber Sie sind nicht in der Position, so etwas zu sagen.«

Orrs Götter kannten weder Namen noch Neid, verlangten weder Anbetung noch Gehorsam.

»Und doch sage ich es«, antwortete er sanftmütig.

Haber sah auf ihn herab, sah ihn einen Moment wirklich an, und durchschaute ihn. Er schien zu erschrecken wie ein Mann, der einen Gazevorhang zur Seite schieben möchte und feststellen muß, daß es sich um eine Tür aus Granit handelt. Er durchquerte das Zimmer. Er setzte sich hinter seinen Schreibtisch. Jetzt stand Orr auf und streckte sich ein wenig.

Haber strich sich mit einer großen grauen Hand über den Bart.

»Ich stehe kurz vor einem Durchbruch — nein, ich bin mittendrin«, sagte er, und seine tiefe Stimme klang nicht mehr polternd und jovial, sondern dunkel, mächtig. »Ich benutze Ihr Gehirnwellenmuster für eine Rückkopplungs-Eliminierungs-Replikations-Verstärkungs-Routine und programmiere den Verstärker so, daß er die EEG-Rhythmen reproduziert, die beim wirkungsvollen Träumen auftreten. Ich nenne Sie Post-REM-Rhythmen. Wenn ich sie hinreichend verallgemeinert habe, kann ich die REM-Rhythmen eines anderen Gehirns damit überlagern und bin fest überzeugt, nach einer Periode der Synchronisierung werden sie wirkungsvolles Träumen in diesem Gehirn induzieren. Ist Ihnen klar, was das bedeutet? Ich kann das PREM-Stadium in einem sorgfältig ausgewählten und trainierten Gehirn induzieren, und zwar so mühelos, wie ein Psychologe vermittels ESB Wut bei einer Katze oder Gelassenheit bei einem psychotischen Menschen induzieren kann — noch leichter sogar, denn ich kann stimulieren, ohne daß ich Kontakte einpflanzen oder auf Chemikalien zurückgreifen muß. Ich bin nur wenige Tage, vielleicht sogar nur wenige Stunden davon entfernt, dieses Ziel zu erreichen. Und wenn es soweit ist, sind Sie vom Haken. Sie sind dann überflüssig. Ich arbeite nicht gern mit einem unwilligen Subjekt; mit einem angemessen ausgestatteten und orientierten Subjekt dürften wesentlich schneller Fortschritte zu erzielen sein. Aber bis ich soweit bin, brauche ich Sie. Diese Forschungen müssen zu Ende geführt werden. Es sind wahrscheinlich die wichtigsten Forschungen, die überhaupt jemals durchgeführt wurden. Ich brauche Sie in dem Maße … Wenn Sie sich mir als Freund, dem Streben nach Wissen oder dem Wohl der gesamten Menschheit nicht in dem Maße verpflichtet fühlen, daß Sie freiwillig bleiben — dann hätte ich keine Skrupel, Sie zu zwingen, dem höheren Ziel zu dienen. Gegebenenfalls erwirke ich eine Einweisung in die Zwangsther… die Persönliches-Wohlbefinden-Kontrolle. Falls erforderlich, greife ich auf Medikamente zurück wie bei einem gewalttätigen Psychopathen. Ihre Weigerung, bei einem Projekt dieser enormen Bedeutung mitzuhelfen, ist natürlich psychotisch. Ich muß wohl nicht eigens betonen, daß mir Ihre freiwillige Mitarbeit, ohne rechtlichen oder psychischen Zwang, natürlich unendlich viel lieber wäre. Mir würde sie außerordentlich viel bedeuten.«

»Für Sie würde es überhaupt keinen Unterschied machen«, sagte Orr ohne Aggression.

»Warum wehren Sie sich gegen mich — jetzt? Warum jetzt, George? Wo Sie soviel dazu beigetragen haben und wir dem Ziel so nahe sind?« Dein Gott ist ein vorwurfsvoller Gott. Aber mit Schuldgefühlen kam man George Orr nicht bei; wäre er ein Mann gewesen, der zu Schuldgefühlen neigte, wäre er keine dreißig geworden.

»Weil es um so schlimmer wird, je länger Sie weitermachen. Und anstatt mich daran zu hindern, wirkungsvolle Träume zu haben, möchten Sie jetzt selbst welche träumen. Ich zwinge den Rest der Welt nicht gern, in meinen Träumen zu leben, aber ich will ganz gewiß nicht in Ihren leben.«

»Was soll das heißen: ›um so schlimmer wird es‹? Passen Sie auf, George.« Von Mann zu Mann. Die Vernunft obsiegt. Wenn wir uns nur zusammensetzen und darüber reden … »In den wenigen Wochen, in denen wir zusammenarbeiten, haben wir folgendes erreicht. Die Überbevölkerung eliminiert; die städtische Lebensqualität erhöht und das ökologische Gleichgewicht des Planeten wieder hergestellt. Krebs als hauptsächliche Todesursache ausgerottet.« Er bog bei der Aufzählung seine kräftigen grauen Finger nach hinten. »Das Problem verschiedener Hautfarben und damit den Rassenhaß eliminiert. Den Krieg eliminiert. Das Risiko eliminiert, daß die gesamte Rasse genetisch verfällt, indem wir schadhaftes Genmaterial aussondern. Die Armut eliminiert — nein, dabei sind wir gerade —, und damit einhergehend wirtschaftliche Ungleichheit und Klassenkämpfe überall auf der Welt. Was noch? Geisteskrankheiten, unzureichende Anpassung an die Realität: das wird eine Weile dauern, aber wir haben die ersten Schritte unternommen. Unter der Führung von EFMEG sind die Verringerung menschlichen Leids, körperlichen wie seelischen, und die konstante Verbesserung valider individueller Selbstverwirklichung ein fortwährender Vorgang mit raschem Fortschritt. Fortschritt, George! Wir haben in sechs Wochen mehr Fortschritte gemacht, als die Menschheit in sechshunderttausend Jahren!«

Orr war der Meinung, daß diese Argumente nicht unbeantwortet bleiben sollten. »Aber was ist aus der demokratischen Regierung geworden?« begann er. »Die Leute können überhaupt nichts mehr für sich selbst entscheiden. Warum ist alles so wischi-waschi, warum sind alle so freudlos? Man kann die Menschen nicht einmal mehr richtig auseinanderhalten, und je jünger sie sind, desto schlimmer ist es. Und diese Sache, daß der Weltstaat alle Kinder in diesen Zentren interniert —«

Aber Haber unterbrach ihn rechtschaffen wütend. »Die Kinderzentren waren Ihre Idee, nicht meine! Ich habe Ihnen lediglich während der Suggestion des Traums einen Abriß der Desiderata mit auf den Weg gegeben, wie ich es immer mache; ich habe versucht, etwas davon durchzusetzen, aber diese Suggestionen scheinen nie richtig zu greifen, oder Ihre verdammten primären Denkprozesse verzerren sie bis zur Unkenntlichkeit. Sie müssen mir nicht sagen, daß Sie alles mißbilligen und ablehnen, was ich für die Menschheit zu erreichen versuche, wissen Sie — das war von Anfang an offensichtlich. Sie vereiteln alle Schritte vorwärts, zu denen ich Sie zwinge, Sie verzerren sie durch die Heimtücke oder Dummheit der Mittel und Wege, mit denen Ihre Träume sie realisieren sollen. Sie versuchen jedesmal, einen Schritt rückwärts zu gehen. Ihre eigenen Triebkräfte sind ganz und gar negativ. Wenn Sie beim Träumen nicht unter einem starken hypnotischen Zwang stehen würden, hätten Sie die ganze Welt schon vor Wochen in Schutt und Asche gelegt! Denken Sie nur daran, was Sie in der einen Nacht angerichtet haben, als Sie mit dieser Anwältin abgehauen sind —«

»Sie ist tot«, sagte Orr.

»Gut. Sie hatte einen destruktiven Einfluß auf Sie ausgeübt. Unverantwortlich. Sie besitzen kein soziales Gewissen, keinen Altruismus. Sie sind eine moralische Qualle. Ich muß Ihnen jedesmal durch Hypnose soziale Verantwortung einbleuen. Und jedesmal wird sie vereitelt, verdorben. Das ist mit den Kinderzentren passiert. Ich hatte angedeutet, daß die Kleinfamilie die wesentliche Brutstätte neurotischer Persönlichkeitsstrukturen ist, daß es in einer idealen Gesellschaft bestimmte Möglichkeiten gäbe, sie zu modifizieren. Ihr Traum hat sich einfach die primitivste Interpretation herausgegriffen, sie mit billigen utopischen Vorstellungen vermengt, möglicherweise auch mit zynischen anti-utopischen Vorstellungen, und die Zentren hervorgebracht! Die dennoch besser geworden sind als das, was sie ersetzt haben! In dieser Welt gibt es so gut wie keine Schizophrenie — haben Sie das gewußt? Es ist eine seltene Krankheit!« Habers dunkle Augen leuchteten, die Lippen waren zu einem Grinsen verzerrt.

»Die Gesamtsituation ist besser als sie — als sie einst gewesen ist«, sagte Orr, der jede Hoffnung auf eine Diskussion fahren ließ. »Aber wenn Sie weitermachen, verschlimmert sie sich. Ich versuche nicht, Ihre Bemühungen zu vereiteln, es ist nur so, daß Sie etwas versuchen, das unmöglich ist. Ich besitze diese, diese Gabe, das weiß ich; und ich weiß auch, was ich ihr schuldig bin. Sie nur einzusetzen, wenn ich muß. Wenn es keine andere Möglichkeit gibt. Im Augenblick gibt es aber Möglichkeiten. Ich muß aufhören.«

»Wir können jetzt nicht aufhören — wir haben gerade erst angefangen! Wir erlangen gerade erst die Kontrolle über Ihre Gabe. Ich bin nur einen Schritt davon entfernt, und ich werde mich nicht beirren lassen. Keine persönlichen Ängste dürfen sich dem Guten entgegenstellen, das mit dieser neuen Fähigkeit des menschlichen Gehirns für die gesamte Menschheit getan werden kann!«

Haber hielt einen Vortrag. Orr betrachtete ihn, aber die milchigen Augen, die ihn unverwandt anblickten, erwiderten den Blick nicht, sahen ihn gar nicht. Der Vortrag ging weiter.

»Ich versuche, diese neue Fähigkeit reproduzierbar zu machen. Es besteht eine Analogie zur Erfindung des Buchdrucks, überhaupt zur Einführung jedes neuen technologischen oder wissenschaftlichen Konzepts. Wenn das Experiment oder die Technik nicht erfolgreich von anderen wiederholt werden kann, taugen sie nichts. Genauso ist das PREM-Stadium, solange es im Gehirn eines einzigen Menschen eingeschlossen ist, für die Menschheit nicht nützlicher als ein Schlüssel, der sich in einem abgeschlossenen Raum befindet, oder eine einmalige, geniale, aber unfruchtbare Mutation. Ich jedoch besitze die Mittel und Wege, mit denen der Schlüssel aus dem abgeschlossenen Raum herausgeholt werden kann. Und dieser ›Schlüssel‹ wird für die menschliche Evolution ein so großer Meilenstein sein wie die Entwicklung des denkenden Gehirns selbst! Jedes Gehirn, das ihn benutzen kann, das es verdient, ihn zu benutzen, wird es können. Wenn ein geeignetes, trainiertes, vorbereitetes Subjekt unter der Stimulation durch den Verstärker in das PREM-Stadium hinübergleitet, wird es unter vollständiger autohypnotischer Kontrolle sein. Nichts bleibt dem Zufall, willkürlichen Impulsen oder irrationalen narzißtischen Launen überlassen. Es wird keinerlei Spannungen mehr geben zwischen Ihrem Willen zum Nihilismus und meinem Willen zum Fortschritt, Ihren Wünschen nach dem Nirwana und meiner bewußten, gründlichen Planung zum Wohle aller. Wenn ich sicher sein kann, daß meine Technik funktioniert, steht es Ihnen frei, zu gehen. Jederzeit frei. Und da Sie die ganze Zeit nicht müde wurden, zu behaupten, Sie möchten keinerlei Verantwortung übernehmen, nicht mehr wirkungsvoll träumen, verspreche ich Ihnen, daß mein erster wirkungsvoller Traum Ihnen Ihre ›Heilung‹ bringen wird — sie werden nie wieder einen wirkungsvollen Traum haben.«

Orr war aufgestanden; er verharrte reglos und blickte Haber an; sein Gesicht sah ruhig, aber außerordentlich wachsam und konzentriert aus. »Sie wollen Ihre eigenen Träume kontrollieren«, sagte er, »ganz aliein — ohne daß Ihnen jemand hilft oder sie überwacht …?«

»Ich kontrolliere Ihre schon seit Wochen. In meinem eigenen Fall, und selbstverständlich werde ich selbst das erste Subjekt meines Experiments sein, das ist eine zwingende ethische Verpflichtung, in meinem eigenen Fall wird diese Kontrolle absolut sein.«

»Ich habe es mit Selbsthypnose versucht, bevor ich die Träume unterdrückenden Medikamente benutzt habe —«

»Ja, das haben Sie schon früher erwähnt; Sie sind natürlich gescheitert. Die Frage, ob ein unwilliges Subjekt eine erfolgreiche Autosuggestion erreichen kann, ist höchst interessant, aber dies war natürlich kein Testlauf dafür; Sie sind kein professioneller Psychologe, Sie sind kein ausgebildeter Hypnotiseur, und Sie waren ohnehin wegen der ganzen Sache schon emotional gestört; natürlich haben Sie nichts erreicht. Aber ich bin ein Profi, und ich weiß ganz genau, was ich tue. ich kann mir einen vollständigen Traum autosuggerieren und ihn bis in die kleinste Einzelheit hinein genau so exakt träumen, als hätte ich ihn mit meinem wachen Verstand erdacht. Das habe ich die ganze letzte Woche jede Nacht getan, um in Übung zu kommen. Wenn der Verstärker die verallgemeinerten Muster des PREM-Stadiums mit meiner eigenen REM-Phase synchronisiert, werden diese Träume dadurch wirkungsvoll. Und dann — und dann —« Die Lippen in dem lockigen dunklen Bart verzerrten sich zu einem gezwungenen, klaffenden Lächeln, einem Grinsen der Ekstase, von dem sich Orr abwenden mußte, als hätte er etwas gesehen, das niemand jemals sehen sollte, etwas Grauenhaftes und Bemitleidenswertes zugleich. »Dann wird diese Welt wie der Himmel sein, und die Menschen Göttern gleich!«

»Das sind wir, das sind wir schon«, sagte Orr, aber der andere beachtete ihn gar nicht.

»Es gibt nichts mehr zu fürchten. Die gefährliche Zeit — hätten wir sie denn je erlebt —, war die, als Sie allein die Gabe des PREM-Träumens besaßen und nicht wußten, was Sie damit anfangen sollten. Wenn Sie nicht zu mir gekommen, wenn Sie nicht in die Obhut eines ausgebildeten Wissenschaftlers überwiesen worden wären, wer weiß, was alles hätte passieren können. Aber Sie wurden überwiesen, und ich war da; wie heißt es so schön: Genialität zeigt sich darin, stets zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein!« Er posaunte sein polterndes Lachen hinaus. »Also, es gibt nichts mehr zu führen, weil es sowieso nicht mehr in Ihren Händen liegt. Ich weiß wissenschaftlich und moralisch ganz genau, was ich tue und wie ich es tun muß. Ich weiß, wohin ich will.«

»Vulkane spucken Feuer«, murmelte Orr.

»Was?«

»Kann ich jetzt gehen?«

»Morgen um fünf.«

»Ich komme«, sagte Orr und ging hinaus.

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