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Nichts ist beständig, nichts exakt und gewiß (ausgenommen der Verstand eines Pedanten), Perfektion ist nur die Zurückweisung der unvermeidlichen marginalen Unexaktheit, die den geheimnisvollen innersten Kern des Daseins darstellt.

H. G. Wells, A Modern Utopia


Die Anwaltskanzlei Forman, Esserbeck, Goodhue und Rutti lag in einem zu Wohnzwecken umgebauten Parkhaus für Automobile aus dem Jahre 1973. Viele ältere Gebäude in der Innenstadt von Portland waren von ähnlicher Abstammung. Früher schien wahrhaftig die gesamte Innenstadt aus Flächen bestanden zu haben, wo man Automobile parken konnte. Anfangs bestanden diese noch weitgehend aus ebenerdigen asphaltierten Plätzen mit vereinzelten Gebührenhäuschen oder Parkuhren, doch dann wuchs ihre Höhe in direkter Relation zur Zahl der Einwohner. Es ist sogar eine unumstößliche Tatsache, daß das Parkhaus mit automatischen Fahrstühlen vor langer Zeit in Portland erfunden wurde; und bevor der Individualverkehr an seinen eigenen Abgasen erstickte, hatten Parkhäuser mit Rampen eine Höhe von bis zu fünfzehn oder zwanzig Stockwerken erreicht. Davon hatte man seit den achtziger Jahren nicht alle wieder abgerissen, um Platz für hohe Büro- und Wohntürme zu schaffen; manche waren umgebaut worden. Dieses hier, 209 S. W. Burnside, roch immer noch nach Autoabgasen. Die Betonböden wurden von den Flecken der Ausscheidungen zahlloser Motoren verunziert, die Reifenspuren der Dinosaurier bildeten fossile Abdrücke im Staub der hallenden Flure. Allen Stockwerken war eine seltsame Abschüssigkeit zu eigen, eine Schräge, die auf das Bauprinzip spiralförmiger Auf- und Abfahrtsrampen zurückzuführen war; in den Büros von Forman, Esserbeck, Goodhue und Rutti fiel es einem schwer zu glauben, daß man tatsächlich immer aufrechten Ganges ging.

Miss Lelache saß hinter einer Trennwand aus Bücherregalen und Aktenordnern, die ihr Quasi-Büro quasi vom Quasi-Büro von Mr. Pearl trennte, und sah sich selbst als eine Schwarze Witwe.

Da saß sie, giftig; hart, glänzend und giftig; und wartete, wartete.

Und das Opfer kam.

Ein geborenes Opfer. Haar wie das eines kleinen Mädchens, braun und dünn, kurzer blonder Bart; zarte weiße Haut, wie ein Fischbauch; sanftmütig, schüchtern, stotternd. Scheiße! Wenn sie auf den treten würde, würde es nicht einmal richtig knirschen.

»Also ich, ich glaube, es handelt sich irgendwie um eine Frage des Rechts auf Privatsphäre«, sagte er. »Verletzung des Rechts auf Privatsphäre, meine ich. Aber ich bin nicht sicher. Darum wollte ich eine Beratung.«

»Naja. Schießen Sie los«, sagte Miss Lelache.

Das Opfer konnte nicht losschießen. Sein ohnehin stockender Redestrom war offenbar schon versiegt.

»Sie sind in Freiwilliger Therapeutischer Behandlung«, sagte Miss Lelache und berief sich auf die Aktennotiz, die Mr. Esserbeck zuvor herübergeschickt hatte, »wegen Vergehen gegen Bundesgesetze, die kontrollierte Abgabe von Arzneimitteln an Medikamentenautomaten betreffend.«

»Ja. Wenn ich psychiatrischer Behandlung zustimme, werde ich nicht angeklagt.«

»Das ist der Knackpunkt, ja«, sagte die Anwältin trocken. Der Mann kam ihr nicht gerade schwachsinnig, aber abstoßend einfältig vor. Sie räusperte sich.

Er räusperte sich ebenfalls. Nachahmungstäter.

Nach und nach ließ er sich mit viel gutem Zureden aus der Nase ziehen, daß er sich einer Therapie unterzog, die im wesentlichen aus hypnotisch induziertem Schlaf und Träumen bestand. Er glaubte, daß der Psychiater, indem er ihm befahl, bestimmte Träume zu träumen, sein Recht auf Privatsphäre verletzte, wie es die Neue Bundesverfassung von 1984 festlegte.

»Na ja. So etwas ähnliches passierte letztes Jahr in Arizona«, sagte Miss Lelache. »Ein Mann in FTB, so wie Sie, wollte seinen Psychiater verklagen, weil der angeblich homosexuelle Neigungen in ihm geweckt haben sollte. Natürlich wandte der Seelenklempner einfach nur die Standardtechniken der Konditionierung an, der Kläger freilich war in Wahrheit schon immer eine hoffnungslose Klemmschwuchtel; er wurde, noch bevor der Fall überhaupt vor Gericht kam, verhaftet, weil er am hellichten Tag mitten im Phoenix Park versucht hatte, einen zwölfjährigen Knaben in den Arsch zu ficken. Er landete in der Zwangstherapie in Tehachapi. Na ja. Worauf ich hinaus will, ist, daß Sie bei derartigen Beschuldigungen vorsichtig sein müssen. Die meisten Psychiater, die im Auftrag der staatlichen Behörden arbeiten, sind selbst vorsichtige Männer und angesehene Ärzte. Wenn Sie ein Beispiel anführen können, einen Vorfall, der als echter Beweis dienen könnte; aber der bloße Verdacht allein reicht nicht aus. Sie könnten sich tatsächlich aber eine Zwangstherapie im Sanatorium für Geisteskranke in Linnton damit einhandeln, wenn nicht sogar Gefängnis.«

»Könnten sie … mir vielleicht einfach einen anderen Psychiater geben?«

»Na ja. Nicht ohne triftigen Grund. Die Uniklinik hat Sie an diesen Haber überwiesen; und die da oben sind gut, wissen Sie. Wenn Sie eine Beschwerde gegen Haber vorbringen, wären die Leute, die als Experten zu der Anhörung hinzugezogen werden, höchstwahrscheinlich Mitglieder der medizinischen Fakultät, möglicherweise sogar dieselben, die das Gespräch mit Ihnen geführt haben. Die werden die Aussage eines Patienten nicht ohne Beweis höher bewerten als die eines Arztes. Nicht bei dieser Art von Fall.«

»Einem Fall von Geisteskrankheit«, sagte der Klient traurig.

»Exakt.«

Er sagte eine Weile nichts. Schließlich schaute er auf, so daß sie seine Augen sehen konnte, klare, helle Augen mit einem Ausdruck ohne Zorn und ohne Hoffnung; er lächelte. »Haben Sie vielen Dank, Miss Lelache«, sagte er. »Tut mir leid, daß ich Ihre Zeit vergeudet habe.«

»Halt, warten Sie!« sagte sie. Er mochte einfältig sein, aber er sah ganz sicher nicht verrückt aus; er machte nicht einmal einen neurotischen Eindruck. Er schien nur verzweifelt zu sein. »So leicht müssen Sie auch nicht aufgeben. Ich sagte nicht, daß wir keinen Fall haben. Sie haben gesagt, daß Sie Ihre Medikamentenabhängigkeit überwinden möchten, Dr. Haber Ihnen jetzt aber Barbiturate in höherer Dosierung verordnet, als Sie sie vorher genommen haben; das könnte eine Untersuchung rechtfertigen. Allerdings bezweifle ich es stark. Aber die Wahrung des Rechts auf Privatsphäre ist mein Spezialgebiet, und ich möchte gern wissen, ob es zu einer Verletzung der Privatsphäre gekommen ist. Ich habe lediglich gesagt, daß Sie mir Ihren Fall ja noch gar nicht geschildert haben — wenn es denn einen gibt. Was hat denn dieser Arzt genau gemacht?«

»Wenn ich Ihnen das sage«, meinte der Klient mit einer beklagenswerten Objektivität, »halten Sie mich für verrückt.«

»Woher wollen Sie das wissen?«

Miss Lelache ließ sich nicht leicht beeinflussen, eine exzellente Eigenschaft für eine Anwältin, wußte aber, daß sie es ein wenig zu weit trieb.

»Wenn ich Ihnen sagen würde«, fuhr der Klient im selben Tonfall fort, »daß einige meiner Träume einen gewissen Einfluß auf die Wirklichkeit ausüben, und daß Dr. Haber das herausgefunden hat und sie … meine spezielle Begabung … für seine eigenen Zwecke mißbraucht, und zwar ohne meine Zustimmung … dann würden Sie doch denken, daß ich verrückt bin. Oder nicht?«

Miss Lelache sah ihn eine Weile an, das Kinn auf die Hände gestützt. »Na ja. Fahren Sie fort«, sagte sie schließlich schneidend.

Er hatte ganz recht damit, was sie dachte, aber der Teufel sollte sie holen, wenn sie das zugab. Und wenn er verrückt war, na und? Welcher normale Mensch konnte in dieser Welt leben und nicht verrückt werden?

Er betrachtete eine Weile seine Hände und versuchte offenbar, seine Gedanken zu ordnen. »Sehen Sie«, sagte er, »er hat so eine Maschine. Eine Gerät wie einen EEG-Rekorder, aber es führt eine Art Analyse und Rückkopplung der Gehirnwellen durch.«

»Sie meinen, er ist ein verrückter Wissenschaftler mit einer Höllenmaschine?«

Der Klient lächelte kläglich. »So hört es sich bei mir an. Nein, ich glaube, daß er einen sehr guten Ruf als Forscher genießt und es wirklich seine Absicht ist, den Menschen zu helfen. Ich glaube nicht, daß er mir oder einem anderen Schaden zufügen möchte. Seine Motive sind edel.« Er bemerkte einen Moment den ernüchterten Blick der Schwarzen Witwe und geriet ins Stottern. »Die, die Maschine. Also ich kann Ihnen nicht sagen, wie sie funktioniert, aber er benutzt sie bei mir, um mein Gehirn im paradoxen Schlaf zu halten, wie er sich ausdrückt — das ist der Fachausdruck für diesen speziellen Schlaf, in dem man träumt. Er unterscheidet sich sehr vom gewöhnlichen Schlaf. Dr. Haber versetzt mich durch Hypnose in den Schlaf, und dann schaltet er diese Maschine ein, damit ich unverzüglich anfange zu träumen — normalerweise ist das nicht der Fall. So jedenfalls habe ich es verstanden. Die Maschine gewährleistet, daß ich träume, und ich glaube, sie regt das Traumstadium auch an. Und dann träume ich das, was er mir in der Hypnose befohlen hat.«

»Na ja. Das hört sich nach einer narrensicheren Methode an, wie ein altmodischer Psychoanalytiker Träume analysieren kann. Aber statt dessen befiehlt er Ihnen durch hypnotische Suggestion, was Sie träumen sollen? Ich vermute einmal, daß er Sie aus irgendeinem Grund durch die Träume konditioniert. Jetzt ist ja allgemein bekannt, daß eine Person unter Hypnose praktisch alles kann und tun wird, ganz gleich, ob ihr Gewissen es im Normalzustand zulassen würde oder nicht: das ist seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts bekannt und wurde durch den Fall Somerville versus Projanski 1988 in der Rechtsprechung verankert. Na ja. Haben Sie Gründe zu der Vermutung, daß dieser Arzt Hypnose benutzt, um Ihnen zu suggerieren, daß Sie etwas Gefährliches ausführen, etwas, das Sie moralisch verwerflich finden würden?«

Der Klient zögerte. »Gefährlich, ja. Wenn man akzeptiert, daß ein Traum gefährlich sein kann. Aber er gibt mir keine Anweisungen, etwas zu tun. Nur, es zu träumen.«

»Naja, aber sind denn die Träume, die er Ihnen suggeriert, moralisch verwerflich für Sie?«

»Er ist kein … böser Mensch. Er meint es gut. Ich habe nur Einwände dagegen, daß er mich als Instrument benutzt, als Mittel zum Zweck — auch wenn er die besten Absichten haben sollte. Ich kann mir kein Urteil über ihn anmaßen — meine eigenen Träume hatten unmoralische Auswirkungen, eben darum habe ich ja versucht, sie mit Hilfe von Medikamenten zu unterdrücken und bin in dieses Schlamassel hineingeraten. Und ich möchte wieder da raus, möchte von den Medikamenten loskommen, möchte geheilt werden. Aber er heilt mich nicht. Er ermutigt mich.«

»Was zu tun?« fragte Miss Lelache nach einer Pause.

»Die Realität zu verändern, indem ich träume, daß sie anders ist«, sagte der Klient unterwürfig und ohne Hoffnung.

Miss Lelache ließ die Spitze des Kinns erneut zwischen ihre Hände sinken und betrachtete eine Zeitlang die blaue Schachtel mit Büroklammern an der äußersten Peripherie ihres Gesichtsfelds auf dem Schreibtisch. Sie schaute verstohlen zu dem Klienten auf. Da saß er, so sanftmütig wie zuvor, aber jetzt glaubte sie, daß er nicht mehr zerquetscht werden würde, sollte sie auf ihn treten, er würde auch nicht knirschen, vermutlich nicht einmal brechen. Er wirkte erstaunlich solide.

Menschen, die einen Anwalt aufsuchen, sind meist in der Defensive, wenn sie nicht in der Offensive sind; sie haben es natürlich auf etwas abgesehen — ein Erbe, einen Besitz, eine einstweilige Verfügung, eine Scheidung, eine Einweisung, was auch immer. Sie kam nicht dahinter, worauf es dieser Bursche, der so zurückhaltend und schutzlos wirkte, abgesehen hatte. Seine Worte ergaben keinen Sinn, und dennoch hörte er sich nicht an, als würde er keinen Sinn ergeben.

»Na ja«, sagte sie vorsichtig. »Und was ist falsch an dem, was er mit Hilfe Ihrer Träume tut?«

»Ich habe kein Recht, etwas zu verändern. Und er nicht, mich dazu zu zwingen.«

O Gott, er glaubte das wirklich, er hatte tatsächlich nicht mehr alle Tassen im Schrank. Und doch faszinierte sie seine moralische Festigkeit, als wäre auch sie selbst nicht mehr ganz richtig im Oberstübchen.

»Wie verändern Sie etwas? Und was? Nennen Sie mir ein Beispiel!« Sie empfand kein Mitleid mit ihm, wie es sich bei einem Kranken, einem Schizo oder Paranoiden mit Wahnvorstellungen, daß er die Wirklichkeit manipulieren konnte, geziemt hätte. Hier saß »wieder ein Opfer dieser unserer Zeiten, die die Seelen der Menschen auf die Probe stellen«, wie Präsident Merdle mit seiner stets erheiternden Art, ein Zitat zu entstellen, in seinem Bericht zur Lage der Nation gesagt hatte; und hier saß sie und war gemein zu einem armen, elenden, blutenden Opfer mit Löchern im Gehirn. Aber sie wollte nicht freundlich zu ihm sein. Er konnte es ertragen.

»Die Blockhütte«, sagte er, als er ein wenig nachgedacht hatte. »Bei meinem zweiten Besuch fragte er mich nach Tagträumen, und ich sagte ihm, daß ich manchmal Tagträume von einem Stück Land in den Naturschutzgebieten hätte, wissen Sie, ein Häuschen auf dem Land, wie in alten Romanen, einen Ort, wohin ich mich zurückziehen könnte. Natürlich hatte ich keine. Wer schon? Aber letzte Woche muß er mir suggeriert haben, daß ich träume, ich hätte eine, denn jetzt gehört eine mir. Eine auf dreiunddreißig Jahre gepachtete Blockhütte im Siuslaw-Nationalpark in der Nähe des Neskowin. Am Sonntag habe ich mir ein Batterieauto gemietet und bin hingefahren. Sie ist sehr hübsch. Aber …«

»Warum sollten Sie keine Blockhütte haben? Ist das unmoralisch? Viele Leute haben an der Lotterie für die Pachtverträge teilgenommen, seit sie letztes Jahr eigens einen Teil der Naturschutzgebiete dafür geöffnet haben. Sie hatten einfach verdammtes Glück.«

»Aber ich hatte keine«, sagte er. »Niemand hatte eine. Die Parks und Wälder, soweit sie überhaupt noch existierten, dienten ausschließlich als Naturschutzgebiete, sogar Camping war nur in den Randbereichen erlaubt. Es existierten keine Blockhütten, die der Staat verpachtete. Bis letzten Freitag. Als ich träumte, daß es sie gibt«

»Aber hören Sie, Mr. Orr, ich weiß —«

»Ich weiß, daß Sie es wissen«, sagte er leise. »Und ich weiß es auch. Alles darüber, wie sie letztes Frühjahr beschlossen, einen Teil des Nationalparks zu verpachten. Und ich bewarb mich, bekam ein Los in der Lotterie, das gezogen wurde, und so weiter. Aber ich weiß auch, daß das bis letzten Freitag nicht so gewesen ist. Und Dr. Haber weiß es auch.«

»Dann hat Ihr Traum vom letzten Freitag«, sagte sie spöttisch, »die Realität rückwirkend für den gesamten Bundesstaat Oregon verändert, eine Entscheidung beeinflußt, die letztes Jahr in Washington getroffen wurde, und die Erinnerung von allen gelöscht, außer Ihrer eigenen und der Ihres Arztes? Ein toller Traum! Können Sie sich daran erinnern?«

»Ja«, sagte er mürrisch, aber nachdrücklich. »Es ging um die Blockhütte und den Bach davor. Ich erwarte nicht, daß Sie das alles glauben, Miss Lelache. Ich glaube, nicht einmal Dr. Haber durchschaut es völlig; er wartet einfach nicht ab, bis er ein Gefühl dafür bekommen hat. Andernfalls würde er vielleicht etwas vorsichtiger damit umgehen. Sehen Sie, es funktioniert folgendermaßen: Wenn er mir unter Hypnose befehlen würde zu träumen, daß sich ein rosa Hund in dem Zimmer befindet, würde ich es tun; aber der Hund könnte nicht da sein, solange rosa Hunde in der Natur nicht vorkommen, nicht Bestandteil der Realität sind. Es würde so aussehen, daß ich einen weißen Pudel bekomme, der rosa eingefärbt wurde, sowie einen stichhaltigen Grund für seine Anwesenheit; und wenn er darauf bestehen würde, daß es sich um einen wahrhaftigen rosa Hund handelt, dann müßte mein Traum die natürliche Ordnung dahingehend verändern, daß rosa Hunde dazugehören. Überall. Seit dem Pleistozän, oder wann immer Hunde entstanden sind. Dann wären sie schon immer schwarz, braun, gelb, weiß und — rosa gewesen. Und einer dieser rosa Hunde hätte sich dann in seine Praxis verirrt, oder er wäre sein Collie oder der Pekinese seiner Sprechstundenhilfe, oder etwas in der Art. Nichts Wundersames. Nichts Ungewöhnliches. Jeder Traum verwischt seine Spuren vollständig. Es würde einfach ein ganz normaler rosa Hund da sein, wenn ich erwache, und es würde einen ganz plausiblen Grund für seine Anwesenheit geben. Und gar niemandem würde etwas Neues auffallen, außer mir — und ihm. Ich behalte die Erinnerung an beide Realitäten. Genau wie Dr. Haber. Er ist im Augenblick der Veränderung anwesend und weiß, wovon der Traum gehandelt hat. Er gibt nicht zu, daß er es weiß, aber ich weiß, daß es so ist. Für alle anderen hätte es schon immer rosa Hunde gegeben. Aber für mich, und ihn, hat es sie gegeben — und auch wieder nicht.«

»Zweierlei Zeitverläufe, Alternativuniversen«, sagte Miss Lelache. »Sehen Sie sich viele alte Filme im Nachtprogramm des Fernsehens an?«

»Nein«, sagte der Klient fast so trocken wie sie. »Ich verlange nicht von Ihnen, daß Sie mir glauben. Ganz bestimmt nicht ohne Beweise.«

»Na also. Gott sei Dank!«

Er lächelte, beinahe ein Lachen. Er hatte ein gütiges Gesicht, aus einem unerfindlichen Grund sah es so aus, als ob er sie mochte.

»Aber hören Sie, Mr. Orr, wie, zum Teufel, soll ich Beweise für Ihre Träume bekommen? Besonders, da Sie jedesmal, wenn Sie träumen, alle Beweise vernichten, indem Sie alles bis ins Pleistozän verändern?«

»Könnten Sie«, fragte er plötzlich eifrig, als wäre neue Hoffnung in ihm geweckt worden, »könnten Sie als meine Anwältin nicht darauf bestehen, daß Sie bei einer meiner Sitzungen mit Dr. Haber dabei sind — wenn Sie möchten?«

»Na ja. Möglich. Es ließe sich einrichten, wenn ein triftiger Grund vorliegt. Aber hören Sie, wenn Sie einen Anwalt als Zeugen für eine mögliche Verletzung der Privatsphäre hinzubitten, wird das Ihre Therapeut-Patient-Beziehung völlig ruinieren. Nicht, daß Sie eine besonders gute zu haben scheinen, aber das ist von außen natürlich schwer zu beurteilen. Tatsache ist jedoch, Sie müssen ihm vertrauen, wissen Sie, und er muß Ihnen gleichermaßen vertrauen. Wenn Sie ihm mit einem Anwalt kommen, weil Sie ihn aus Ihrem Kopf draußen haben möchten, was kann er da schon machen? Vermutlich versucht er ja nur, Ihnen zu helfen.«

»Ja. Aber er benutzt mich zu Versuchs…« Weiter kam Orr nicht: Miss Lelache war erstarrt; die Spinne hatte endlich ihre Beute entdeckt.

»Zu Versuchszwecken? Wirklich? Inwiefern? Dieser Verstärker, den Sie erwähnt haben — ist er noch im Experimentierstadium? Hat er die Genehmigung des Gesundheitsamts? Was haben Sie unterschrieben, irgendwelche Unterlassungserklärungen, etwas, das über die normalen FTB-Formulare und die Einverständniserklärung zur Hypnose hinausgeht? Nichts? Das hört sich an, als hätten Sie hier tatsächlich einen Anlaß zur Beschwerde, Mr. Orr.«

»Sie können mich zu einer der Sitzungen begleiten?«

»Möglicherweise. Aber natürlich müßten wir die Schiene Bürgerrechte fahren, nicht Verletzung der Privatsphäre.«

»Ihnen ist doch bewußt, daß ich Dr. Haber nicht in Schwierigkeiten bringen möchte?« fragte er und sah besorgt drein. »Das will ich nicht. Ich weiß, er meint es gut. Es ist nur so, daß ich geheilt werden möchte, nicht benutzt.«

»Wenn seine Motive anständig sind, und wenn er ein Gerät im Experimentierstadium bei einer menschlichen Testperson anwendet, dann sollte er die Sache als übliche Vorgehensweise betrachten, ohne Verstimmungen; und wenn es sich um etwas in dieser Hinsicht handelt, wird er auch keinen Ärger bekommen. Ich habe schon zwei solcher Fälle gehabt. Jedesmal im Auftrag des Gesundheitsamts. Ich habe einen neuen Hypnoseinduktor im Praxistest an der Uniklinik geprüft, hat nicht funktioniert, und habe mir drüben am Institut in Forest Grove eine Vorführung angesehen, wie man Agoraphobie durch Suggestion induzieren kann, damit sich die Leute in Menschenmengen wohlfühlen. Das hat funktioniert, bekam aber keine Genehmigung, Verstoß gegen das Gesetz gegen Gehirnwäsche, haben wir entschieden. Also ich kann ganz bestimmt eine Verfügung des Gesundheitsamts bekommen, diesen Klapperatismus zu untersuchen, den Ihr Arzt da benutzt. Damit sind Sie aus allem fein raus. Ich trete überhaupt nicht als Ihre Anwältin in Erscheinung.Tatsächlich kenne ich Sie vielleicht gar nicht. Ich wäre eine offiziell akkreditierte ACLU-Beobachterin für das Gesundheitsamt. Und wenn wir damit nicht weiterkommen, bleibt die Beziehung zwischen Ihnen und ihm unbeschadet. Das einzig Knifflige ist, ich muß zu einer Ihrer Sitzungen eingeladen werden.«

»Ich bin der einzige psychiatrische Patient, bei dem er den Verstärker einsetzt, das hat er mir selbst gesagt. Er sagte, daß er immer noch daran arbeitet — ihn perfektioniert.«

»Dann ist das Gerät tatsächlich noch im Experimentierstadium, was immer er damit mit Ihnen anstellt. Gut. Schön. Ich sehe, was ich tun kann. Aber es dürfte eine Woche oder länger dauern, bis die Formulare alle bearbeitet sind.«

Er sah unglücklich drein.

»Sie werden mich diese Woche nicht aus der Existenz träumen, Mr. Orr«, sagte sie, hörte ihre chitinartige Stimme, ließ ihre Kauwerkzeuge klackern.

»Nicht freiwillig«, sagte er voller Dankbarkeit — nein, bei Gott, das war keine Dankbarkeit, das war Zuneigung. Er mochte sie. Er war ein armer, verdammt durchgeknallter Psycho auf Drogen, natürlich mochte er sie. Sie mochte ihn auch. Sie streckte die braune Hand aus, er nahm sie mit seiner weißen, genau wie auf diesem verdammten Button, den ihre Mutter immer ganz unten in ihrer Schmuckschatulle aufbewahrte, SCNN oder SNCC, irgendwas, dem sie Mitte des vorigen Jahrhunderts angehört hatte, die schwarze Hand und die weiße Hand vereint. Gütiger Himmel!

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