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Das Tor zu Gott ist Nicht-Sein.

Dschuang-Dsi, XXIII


Dr. William Habers Praxis hatte keine Aussicht auf Mount Hood. Es handelte sich um eine der innen gelegenen Gewerbesuiten im dreiundsechzigsten Stock des Willamette East Tower und hatte überhaupt keine Aussicht. Aber eine der fensterlosen Wände zeigte ein großes fotografisches Wandbild von Mount Hood, und das betrachtete Dr. Haber, als er über Sprechanlage mit seiner Vorzimmerdame redete.

»Wer ist dieser Orr, der jetzt drankommt, Penny? Der Hysteriker mit den Leprasymptomen?«

Sie saß nur drei Schritte jenseits der Mauer von ihm entfernt, aber eine Bürosprechanlage weckt, ebenso wie ein Diplom an der Wand, Zuversicht beim Patienten wie auch beim Arzt. Und es gehört sich nicht, daß ein Psychiater selbst die Tür aufreißt und »Der Nächste!« ruft.

»Nein, Doktor, das ist Mr. Greene morgen um zehn. Dies ist der, den uns Dr. Walters von der Universitätsklinik herschickt, ein FTB-Fall.«

»Medikamentenmißbrauch. Richtig. Ich habe die Akte hier. Okay, schicken Sie ihn rein, wenn er da ist.«

Er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, da konnte er den Fahrstuhl aufheulen und anhalten, die Türen zischend aufgehen hören; danach Schritte, Zögern, die Vorzimmertür, die geöffnet wurde. Außerdem konnte er jetzt, wo er horchte, Türen, Schreibmaschinen und Toilettenspülungen den ganzen Flur hinauf und hinab und auf den Stockwerken über und unter sich hören. Der wahre Trick bestand darin, sie nicht zu hören. Die einzig verbliebenen soliden Wände befinden sich im Kopf.

Während Penny die Formalitäten des ersten Besuchs mit dem Patienten durchging und Dr. Haber wartete, betrachtete er abermals das Wandbild und fragte sich, wann diese Fotografie gemacht worden sein konnte. Blauer Himmel, Schnee von den Vorgebirgen bis zum Gipfel. Zweifellos schon vor geraumer Zeit, in den sechziger oder siebziger Jahren. Die Folgen des Treibhauseffekts hatten sich nur langsam gezeigt, und Haber, der 1962 geboren worden war, konnte sich deutlich an den blauen Himmel seiner Kindheit erinnern. Heute war der ewige Schnee von allen Bergen der Erde verschwunden, sogar vom Everest, sogar vom Erebus mit seinem Feuerschlund an der Küste der antarktischen Wüste. Aber natürlich hätten sie auch eine moderne Fotografie nachkolorieren, den blauen Himmel und den weißen Gipfel fälschen können; schwer zu sagen.

»Guten Tag, Mr. Orr!« sagte er, stand auf, lächelte, streckte jedoch nicht die Hand aus, denn viele Patienten litten heutzutage unter einer ausgeprägten Abscheu vor Körperkontakt.

Der Patient zog unsicher die fast dargebotene Hand zurück und fingerte nervös an seiner Halskette. »Wie geht es Ihnen?« sagte er. Die Halskette war das übliche Modell, lang und aus versilbertem Stahl. Gewöhnliche Kleidung, Büroangestelltenstandard; Haarschnitt konservativ schulterlang, Bart kurz. Helle Haare und Augen, ein kleiner, zierlicher, blonder Mann, leicht unterernährt, bei guter Gesundheit, zwischen achtundzwanzig und zweiunddreißig Jahren. Unaggressiv, sanftmütig, ein Hasenfuß, selbstbeherrscht, konventionell. Der wichtigste Zeitraum der Beziehung zu einem Patienten, sagte Haber häufig, waren die ersten zehn Sekunden.

»Setzen Sie sich, Mr. Orr. Prima! Rauchen Sie? Die mit braunen Filtern beruhigen, die mit weißen sind nikotinfrei.« Orr rauchte nicht. »Also, mal sehen, ob wir Ihre Situation richtig einschätzen. Das Gesundheitsamt möchte wissen, warum Sie sich die Pharmaziekarten Ihrer Freunde ausgeborgt haben, um sich mehr als die Ihnen zustehende Ration Aufputschmittel und Schlaftabletten am Medikamentenautomaten zu beschaffen. Richtig? Darum haben die Sie zu den Jungs auf dem Hügel geschickt, und die wiederum haben Freiwillige Therapeutische Behandlung vorgeschlagen und Sie zur Therapie an mich überwiesen. Alles korrekt?«

Er hörte seinen eigenen jovialen, entspannten Tonfall, der sorgfältig einstudiert war, damit sich die andere Person entspannte; aber der hier war alles andere als entspannt. Er blinzelte häufig, seine Sitzhaltung wirkte verkrampft, die Haltung seiner Hände übertrieben förmlich: das klassische Bild unterdrückter Nervosität. Er nickte, als würde er gleichzeitig nach Luft ringen.

»Okay, prima, das ist nichts Ungewöhnliches. Wenn Sie Ihre Tabletten gehortet hätten, um sie an Süchtige zu verkaufen oder einen Mord zu begehen, säßen Sie jetzt in der Patsche. Aber da Sie sie selbst genommen haben, ist Ihre Strafe nicht schlimmer als ein paar Sitzungen bei mir! Aber ich möchte natürlich wissen, warum Sie sie genommen haben, damit wir dann gemeinsam einen besseren Lebensplan für Sie ausarbeiten können, der einerseits dafür sorgt, daß Sie innerhalb der Dosierungslimits Ihrer Pharmaziekarte bleiben, Sie aber andererseits vielleicht völlig von der Medikamentenabhängigkeit heilt. Sie haben gewohnheitsmäßig«, er warf einen kurzen Blick in den Ordner, den die Uniklinik geschickt hatte, »zwei Wochen Barbiturate eingenommen, dann ein paar Nächte zu Dextroamphetamin gewechselt, und dann wieder zurück zu Barbituraten. Wie fing das an? Schlaflosigkeit?«

»Ich schlafe gut.«

»Aber Sie haben Alpträume.«

Der Mann sah ängstlich auf: ein Anflug unverhohlenen Entsetzens. Das würde ein einfacher Fall werden. Er hatte keine Schutzmechanismen.

»Irgendwie schon«, sagte er heiser.

»Das war für mich leicht zu erraten, Mr. Orr. Sie schicken mir normalerweise die mit Träumen.« Er grinste den kleinen Mann an. »Ich bin Traumspezialist. Buchstäblich. Oneirologe. Schlaf und Träume sind mein Metier. Okay, damit komme ich zur nächsten klugen Schlußfolgerung, nämlich der, daß Sie das Phenobarbiturat genommen haben, um die Träume zu unterdrücken, aber feststellen mußten, daß das Medikament bei zunehmender Gewöhnung Träume immer weniger unterdrückt, und schließlich gar nicht mehr. So ähnlich verhält es sich mit dem Dexedrin. Also haben Sie sie abwechselnd genommen. Richtig?«

Der Patient nickte steif.

»Warum war der Zeitraum der Einnahme von Dexedrin stets kürzer?«

»Es machte mich nervös.«

»Das kann ich mir denken. Und die letzte kombinierte Dosis, die Sie einnahmen, brachte das Faß zum Überlaufen. War aber an sich nicht gefährlich. Trotzdem haben Sie etwas Gefährliches gemacht, Mr. Orr.« Er legte eine rhetorische Pause ein. »Sie haben Ihre Träume unterdrückt.«

Der Patient nickte abermals.

»Würden Sie versuchen, Nahrungs- und Wasseraufnahme zu unterdrücken, Mr. Orr? Haben Sie in letzter Zeit einmal versucht, ohne Luft auszukommen?«

Er wahrte den jovialen Tonfall, und der Patient brachte ein kurzes, unglückliches Lächeln zustande.

»Sie wissen, daß Sie Schlaf brauchen. So, wie Sie Nahrung, Wasser und Luft brauchen. Aber ist Ihnen klar, daß Schlaf allein nicht ausreicht, daß Ihr Körper ebenso nachdrücklich darauf besteht, sein gerüttelt Maß an Traumschlaf zu bekommen? Wenn Ihrem Gehirn systematisch alle Träume entzogen werden, wird es ziemlich merkwürdige Dinge mit Ihnen anstellen. Es wird Sie gereizt, hungrig und unkonzentriert machen — kommt Ihnen das bekannt vor? Das lag nicht nur an dem Dexedrin! — Neigung zu Tagträumen, unregelmäßige Reaktionszeiten, Vergeßlichkeit, Verantwortungslosigkeit und eine Tendenz zu paranoiden Wahnvorstellungen. Und zuletzt wird es Sie zwingen, zu träumen — ganz gleich, wie. Kein uns bekanntes Medikament kann Sie am Träumen hindern, es sei denn, es bringt Sie um. Extremer Alkoholismus kann beispielsweise zu einem Zustand führen, der zentrale varolische Myelinolyse genannt wird und tödlich ist; Ursache dafür ist eine Schädigung des Hirnstamms, die durch fehlende Träume ausgelöst wird. Nicht durch Schlafmangel! Durch das Fehlen eben jenes bestimmten Stadiums, das im Schlaf eintritt, das Traumstadium, REM-Schlaf, sogenannter paradoxer Schlaf. Sie sind jedenfalls kein Alkoholiker und nicht tot, darum weiß ich, was immer Sie genommen haben, um Ihre Träume zu unterdrücken, hat nur teilweise funktioniert. Aus diesem Grund sind Sie a) durch teilweisen Traumentzug in einer recht schlechten körperlichen Verfassung, und b) haben Sie versucht, in eine Sackgasse zu gehen. Gut. Warum wollten Sie in diese Sackgasse gehen? Angst vor Träumen, vor Alpträumen, nehme ich an, oder was Sie als Alpträume betrachten. Können Sie mir irgend etwas über diese Träume erzählen?«

Orr zögerte.

Haber machte den Mund auf und wieder zu. Er wußte so oft, was seine Patienten sagen wollten, und konnte es besser für sie sagen als sie selbst. Aber es war wichtig, daß sie den ersten Schritt machten. Das konnte er ihnen nicht abnehmen. Und letztendlich stellte dieses Gespräch auch nur eine Art Auftakt dar, ein verkümmertes Ritual aus den Kindertagen der Psychoanalyse; seine einzige Funktion bestand aus einer Entscheidungshilfe für ihn selbst, wie er dem Patienten helfen konnte, ob eine positive oder eine negative Konditionierung angebracht war, wie er vorgehen sollte.

»Ich habe nicht mehr Alpträume als die meisten anderen Menschen auch, glaube ich«, sagte Orr und sah auf seine Hände hinab. »Keine besonderen. Ich… ich fürchte mich davor, zu träumen.«

»Alpträume zu träumen.«

»Alle Träume.«

»Ich verstehe. Haben Sie eine Ahnung, wie diese Angst ihren Anfang nahm? Oder wovor Sie sich fürchten, was Sie vermeiden möchten?«

Da Orr nicht gleich antwortete, sondern nur dasaß und seine Hände betrachtete, derbe, rötliche Hände, die zu reglos auf seinen Knien lagen, bohrte Haber ein wenig nach. »Liegt es am Irrationalen, Gesetzlosen, manchmal Unmoralischen der Träume, erfüllt Sie etwas Derartiges mit Unbehagen?«

»Ja, in gewisser Weise. Aber aus einem bestimmten Grund. Sehen Sie, hier … hier bin ich …«

Das ist der springende Punkt, die Blockierung, dachte Haber, der ebenfalls diese verkrampften Hände betrachtete. Armer Kerl. Er hat feuchte Träume und Schuldkomplexe deswegen. Als Kind Bettnässer, eine zwanghafte Mutter —

»Sie werden mir nicht glauben.«

Der kleine Kerl war gestörter, als er aussah.

»Ein Mann, der sich mit Träumen im Schlaf und mit Tagträumen befaßt, schert sich nicht übertrieben um Begriffe wie glauben oder nicht glauben, Mr. Orr. Das sind Kategorien, in denen ich nicht denke. Sie haben keine Gültigkeit. Also ignorieren Sie sie und fahren Sie fort. Ich bin interessiert.« Hörte sich das väterlich an? Er schaute zu Orr, um festzustellen, ob die Bemerkung falsch aufgenommen worden war, und sah dem Mann einen Moment in die Augen. Außergewöhnlich schöne Augen, dachte Haber, und reagierte selbst erstaunt auf dieses Wort, denn Schönheit war ebenfalls eine Kategorie, die er nicht häufig benutzte. Die Pupillen waren blau oder grau, sehr klar, fast wie durchsichtig. Einen Moment blickte Haber selbstvergessen in diese klaren, trügerischen Augen; aber nur einen Moment, so daß das seltsame Erlebnis kaum einen Eindruck in seinem Bewußtsein hinterließ.

»Also gut«, sagte Orr mit einer gewissen Entschlossenheit, »ich hatte Träume, die … die die Welt … außerhalb der Träume beeinflußten. Die reale Welt.«

»Die haben wir alle, Mr. Orr.«

Orr sah ihn an. Der perfekte, normale Mensch.

»Die Wirkung der Träume des paradoxen Schlafs, kurz vor dem Erwachen, auf die generelle emotionale Stufe der Psyche kann dergestalt sein —«

Aber der normale Mensch unterbrach ihn. »Nein, das meine ich nicht.« Und ein wenig stotternd: »Ich meine, ich habe etwas geträumt und es ist wahr geworden.«

»Das ist nicht so schwer zu glauben, Mr. Orr. Und das meine ich im vollen Ernst. Seit dem Aufkommen naturwissenschaftlichen Denkens ist niemand mehr geneigt, eine derartige Behauptung in Frage zu stellen, geschweige denn, als Hirngespinst abzutun. Prophetische —«

»Ich habe keine prophetischen Träume. Ich kann nichts vorhersehen. Ich verändere einfach etwas.« Die Hände waren zu Fäusten geballt. Kein Wunder, daß die hohen Tiere der Uniklinik den Kerl zu ihm geschickt hatten. Sie schickten die Irren, mit denen sie nicht fertig wurden, immer zu Haber.

»Können Sie mir ein Beispiel geben? Können Sie sich zum Beispiel an das allererste Mal erinnern, als Sie so einen Traum hatten? Wie alt waren Sie da?«

Der Patient zögerte eine ziemlich lange Zeit. »Sechzehn, glaube ich«, sagte er schließlich. Sein Verhalten blieb nach wie vor friedfertig; er ließ eine erhebliche Angst vor dem Thema erkennen, aber keine Abwehrreaktion oder Feindseligkeit gegenüber Haber. »Ich bin nicht sicher.«

»Erzählen Sie mir von dem ersten Traum, bei dem Sie sicher sind.«

»Ich war siebzehn. Ich wohnte noch zu Hause, ebenso wie die Schwester meiner Mutter. Sie lebte in Scheidung, arbeitete nicht und bekam nur die Wohlfahrt. Sie war uns immer irgendwie im Weg. Wir hatten die Dreizimmer-Standardwohnung, und sie ging nie aus. Sie trieb meine Mutter die Wände hoch. Besonders rücksichtsvoll war sie nicht, ich meine Tante Ethel. Belegte das Badezimmer — in dieser Wohnung hatten wir noch ein eigenes Bad.

Und mir hat sie im Spaß Avancen gemacht. Halb im Spaß. Kam in ihrem Schlafanzug oben ohne in mein Zimmer, und so weiter. Sie war erst Anfang dreißig. Das machte mich irgendwie nervös. Ich hatte noch keine Freundin und … Sie wissen schon. Die Pubertät. Da bringt man einen Jungen rasch aus der Fassung. Mir mißfiel das. Ich meine, sie war meine Tante.«

Er sah zu Haber um sich zu vergewissern, daß der Arzt wußte, was ihm mißfallen hatte, und dieses Mißfallen nicht verurteilte. Die sexuelle Freizügigkeit in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts hatte, was die Sexualität betraf, zu genauso viel Angst- und Schuldkomplexen bei den Erben geführt wie die hartnäckige Unterdrückung im neunzehnten Jahrhundert. Orr fürchtete, Haber könnte schockiert darüber sein, daß er nicht mit seiner Tante ins Bett gehen wollte. Doch Haber behielt den unverbindlichen, aber interessierten Ausdruck bei, und Orr fuhr fort.

»Also ich hatte damals jede Menge solcher Angstträume, und diese Tante kam immer darin vor. Meistens in einer Verkleidung, wie das mit Leuten in Träumen eben so ist; einmal kam sie als eine weiße Katze, aber ich wußte auch, daß es Ethel war. Jedenfalls brachte sie mich eines Abends dazu, sie ins Kino einzuladen und versuchte, sich von mir verführen zu lassen, und als wir nach Hause kamen, räkelte sie sich auf meinem Bett und sagte immer wieder, daß meine Eltern schliefen und so weiter, und als ich sie endlich aus meinem Zimmer geschafft hatte und einschlief, hatte ich diesen Traum. Einen ausgesprochen lebhaften. Ich konnte mich ganz deutlich daran erinnern, als ich aufwachte. Ich träumte, Ethel wäre bei einem Autounfall in Los Angeles ums Leben gekommen und wir hätten eben das Telegramm erhalten. Meine Mutter weinte, während sie versuchte, das Essen zuzubereiten, und sie tat mir leid und ich wünschte, ich hätte etwas für sie tun können, aber ich wußte nicht, was ich tun sollte. Das war alles … Aber als ich aufstand, ging ich ins Wohnzimmer. Keine Ethel auf der Couch. Es war niemand mehr in dem Apartment, nur meine Eltern und ich. Sie war nicht da. Sie war nie da gewesen. Ich mußte nicht fragen. Ich erinnerte mich. Ich wußte, daß Tante Ethel vor sechs Wochen in Los Angeles auf dem Freeway bei einem Autounfall ums Leben gekommen war, als sie sich auf der Rückfahrt vom Scheidungsanwalt befand. Man hatte uns die Nachricht in einem Telegramm mitgeteilt. Der ganze Traum war tatsächlich so, als hätte ich nur etwas noch einmal erlebt, das bereits geschehen war. Aber es war nicht geschehen. Bis zu dem Traum. Ich meine, ich wußte auch, daß sie bei uns gewohnt und bis gestern Nacht auf der Couch im Wohnzimmer geschlafen hatte.«

»Aber es gab nichts, das das untermauert, das es bewiesen hätte?«

»Nein. Nichts. Sie war nicht da gewesen. Niemand erinnerte sich daran, daß sie da gewesen war, außer mir. Und ich hatte mich geirrt. Na also.«

Haber nickte verständnisvoll und strich über seinen Bart. Der leichte Fall von Medikamentenmißbrauch schien sich zu einer ernsthaften Verwirrung ausgewachsen zu haben, aber noch nie war ihm eine Wahnvorstellung so unverblümt geschildert worden. Orr mochte ein intelligenter Schizophrener sein, der ihn an der Nase herumführte, ihm mit schizoider Erfindungsgabe und Heimtücke etwas vorspielte; aber ihm fehlte die leicht introvertierte Arroganz dieser Leute, für die Haber ein ganz außerordentlich feines Gespür besaß.

»Was meinen Sie, warum Ihre Mutter nicht bemerkte, daß sich die Realität seit der vergangenen Nacht verändert hatte?«

»Also sie hat es nicht geträumt. Ich meine, der Traum hat die Realität tatsächlich verändert. Er schuf rückwirkend eine andere Realität, zu der sie die ganze Zeit gehört hatte. Da sie sich darin befand, hatte sie keine Erinnerung an eine andere. Ich schon, ich erinnerte mich an beide, weil ich im Augenblick der Veränderung … da … war. Das ist die einzige Erklärung, die ich habe, und ich weiß, daß sie nicht besonders logisch erscheint. Aber ich brauche eine Erklärung, andernfalls müßte ich der Tatsache ins Auge sehen, daß ich verrückt bin.«

Nein, dieser Bursche war kein Hasenfuß.

»Ich halte nichts von Spekulationen, Mr. Orr. Ich habe es auf Fakten abgesehen. Und geistige Vorgänge sind Fakten für mich, glauben Sie mir. Wenn man sieht, wie die Träume eines anderen Menschen so, wie er sie träumt, in Schwarzweiß mit dem Elektro-Enzephalographen aufgezeichnet werden, was ich schon zehntausendmal gemacht habe, dann betrachtet man Träume nicht mehr als ›unwirklich‹. Sie existieren; sie sind Ereignisse; sie hinterlassen ihre Spuren. Okay. Ich nehme an, Sie hatten noch andere Träume, die dieselben Auswirkungen zeitigten?«

»Einige. Aber lange Zeit nicht mehr. Nur unter Streß. Aber es schien … öfter zu passieren. Ich bekam es mit der Angst zu tun.«

Haber beugte sich vor. »Warum?«

Orr sah ihn mit leerem Blick an.

»Warum Angst?«

»Weil ich nichts verändern will!« sagte Orr, als würde er etwas mehr als Offensichtliches aussprechen. »Wer bin ich, in den Lauf der Dinge einzugreifen? Außerdem bewirkt mein Unterbewußtsein diese Veränderungen, ohne Kontrolle durch den Intellekt. Ich habe es mit Selbsthypnose versucht, aber das hat nichts genützt. Träume sind zusammenhanglos, egoistisch, irrational — unmoralisch, wie Sie vor einer Minute gesagt haben. Sie stammen aus dem unzivilisierten Part von uns, jedenfalls teilweise, oder nicht? Ich wollte die arme Ethel nicht töten. Ich wollte sie nur aus dem Weg haben. In Träumen geschieht so etwas immer auf drastische Weise. Träume schlagen den kürzesten Weg ein. Ich hatte sie umgebracht. Bei einem Autounfall, tausend Meilen entfernt, sechs Wochen vorher. Ich bin verantwortlich für ihren Tod.«

Haber strich sich wieder über den Bart. »Darum«, sagte er bedächtig, »die Träume unterdrückenden Medikamente. Damit Sie eine weitere Verantwortung vermeiden.«

»Ja. Die Medikamente verhinderten, daß diese Träume sich aufbauen und allzu lebhaft werden konnten. Es sind nur ganz bestimmte, sehr intensive, die …« Er suchte nach dem richtigen Wort, »… Wirklichkeit werden.«

»Richtig. Okay. Wollen mal sehen. Sie sind unverheiratet; Sie sind Bauzeichner bei der Bonneville-Umatilla-Energieversorgung. Wie gefällt Ihnen Ihre Arbeit?«

»Gut.«

»Wie ist es um Ihr Liebesleben bestellt?«

»Ich hatte eine Probeehe. Ging letzten Sommer in die Brüche, nach zwei Jahren.«

»Haben Sie oder die Frau sie beendet?«

»Beide. Sie wollte kein Kind. Es war kein umfassender Ehevertrag.«

»Und seither?«

»Na ja, ein paar Mädchen aus meinem Büro, ich bin eigentlich nicht so ein … triebhafter Hengst.«

»Wie sieht es mit zwischenmenschlichen Beziehungen generell aus? Finden Sie, daß Sie zufriedenstellende Beziehungen zu anderen Menschen haben, daß Sie eine Nische in der emotionalen Ökologie Ihrer Umgebung finden konnten?«

»Ich denke ja.«

»So, daß Sie sagen können, mit Ihrem Leben ist im großen und ganzen alles in Ordnung. Richtig? Okay. Und jetzt verraten Sie mir noch eines; möchten Sie, möchten Sie sich wirklich von ganzem Herzen von dieser Medikamentenabhängigkeit befreien?«

»Ja.«

»Okay, gut. Sie haben Medikamente eingenommen, weil Sie nicht mehr träumen wollen. Aber nicht alle Träume sind gefährlich; nur ganz bestimmte besonders lebhafte. Sie haben im Traum Ihre Tante Ethel als weiße Katze gesehen, aber am nächsten Morgen war sie nicht wirklich eine weiße Katze — richtig? Manche Träume sind in Ordnung — sicher.«

Er wartete auf Orrs zustimmendes Nicken.

»Denken Sie über folgendes nach. Was halten Sie davon, wenn wir die ganze Sache einmal testen und dabei vielleicht herausfinden, wie Sie sicher träumen können, ohne Angst? Lassen Sie mich das erklären. Das Thema Träume ist bei Ihnen emotional ziemlich aufgeladen. Sie haben buchstäblich Angst davor, zu träumen, weil Sie glauben, daß einige Ihrer Träume das wirkliche Leben in einer Art und Weise beeinflussen können, auf die Sie keinen Einfluß haben. Also das mag eine komplexe und bedeutungsvolle Metapher sein, mit der Ihr Unterbewußtsein Ihrem bewußten Verstand etwas über die Realität sagen möchte — Ihre Realität, Ihr Leben —, das Sie momentan rational noch nicht zu akzeptieren bereit sind. Aber wir können die Metapher auch wortwörtlich nehmen; es ist im Augenblick noch nicht nötig, sie in rationale Begriffe umzuwandeln. Ihr Problem ist derzeit folgendes: Sie haben Angst davor, zu träumen, aber Sie müssen träumen. Sie haben bisher versucht, Ihre Träume mit Hilfe von Medikamenten zu unterdrücken; das hat nicht funktioniert. Okay, versuchen wir das Gegenteil. Bringen wir Sie absichtlich zum Träumen. Bringen wir Sie gleich hier dazu, intensiv und lebhaft zu träumen. Unter meiner Aufsicht, unter kontrollierten Bedingungen. Damit Sie wieder die Kontrolle über alles haben, das Ihnen Ihrer Meinung nach aus dem Ruder gelaufen ist.«

»Wie soll ich auf Kommando träumen?« fragte Orr extrem nervös.

»In Dr. Habers Palast der Träume können Sie das! Sind Sie schon hypnotisiert worden?«

»Bei der Zahnbehandlung.«

»Gut. Okay. Wir gehen folgendermaßen vor. Ich versetze Sie in hypnotische Trance und suggeriere, daß Sie schlafen, daß Sie träumen werden, und was Sie träumen werden. Sie bekommen eine Trancekappe auf, um sicherzustellen, daß Sie sich wirklich im Tiefschlaf befinden, nicht nur in einer Hypnosetrance. Während Sie träumen, beobachte ich Sie leibhaftig und über EEG die ganze Zeit. Ich wecke Sie, und dann sprechen wir über das Traumerlebnis. Wenn alles sicher über die Bühne gegangen ist, können Sie dem nächsten Traum vielleicht ein wenig gelassener entgegensehen.«

»Aber ich werde hier nicht wirkungsvoll träumen; es passiert nur bei einem einzigen Traum unter Dutzenden oder Hunderten.« Orrs Schutzbehauptungen waren erstaunlich konsistent.

»Sie können hier jedwede Art von Traum träumen. Trauminhalt und Traumwirkung können von einem motivierten Subjekt und einem entsprechend ausgebildeten Hypnotiseur fast vollkommen kontrolliert werden. Ich mache das schon seit zehn Jahren. Und Ich werde die ganze Zeit bei Ihnen sein, weil Sie eine Trancekappe tragen werden. Haben Sie schon mal eine getragen?«

Orr schüttelte den Kopf.

»Aber Sie wissen, was das ist.«

»Sie schicken ein Signal durch Elektroden, mit dem das … das Gehirn stimuliert wird, mitzumachen.«

»Im großen und ganzen. Die Russen benutzen sie seit fünfzig Jahren, die Israelis haben sie weiterentwickelt, und zuletzt kamen wir mit an Bord und haben mit der Massenproduktion für die Anwendung zur Beruhigung psychotischer Patienten und für den Hausgebrauch zur Induzierung von Schlaf oder Alpha-Trance begonnen. Also ich habe vor zwei Jahren im Klinikum von Linnton mit einer Patientin gearbeitet, die unter schweren Depressionen litt. Wie so viele Depressive, bekam sie nicht viel Schlaf und besonders wenig Schlaf im REM-Stadium, Traumschlaf; jedesmal, wenn sie in die Phase des paradoxen Schlafs kam, wachte sie auf. Ein circulus vitiosus: Mehr Depressionen — weniger Träume; weniger Träume — mehr Depressionen. Durchbrechen. Aber wie? Kein uns bekanntes Medikament verstärkt den paradoxen Schlaf. EHS — elektronische Hirnstimulation? Aber dazu hätte man Elektroden implantieren müssen, und zwar tief, um die Schlafzentren zu erreichen; Operationen vermeidet man besser. Ich benutzte die Trancekappe bei ihr, um den Schlaf zu fördern. Was aber, wenn man das diffuse, niederfrequente Signal spezifischer machen und direkt zu dem spezifischen Bereich im Hirn dirigieren würde; na klar, Dr. Haber, das ist ein Kinderspiel! Aber sobald ich mir den angemessenen Etat für die Elektronikforschung unter den Nagel gerissen hatte, dauerte es nur zwei Monate, eine einfache Maschine zu bauen. Dann versuchte ich, das Hirn des Subjekts mit einer Aufzeichnung von Hirnwellen gesunder Menschen während der entsprechenden Phasen von Schlaf und Traum zu stimulieren. Mit mäßigem Erfolg. Ich fand heraus, daß ein Signal von einem anderen Gehirn vielleicht eine Reaktion bei dem Subjekt auslösen konnte, vielleicht auch nicht; mußte lernen, zu verallgemeinern, aus Hunderten von normalen Hirnwellenaufzeichnungen den Durchschnitt bilden. Wenn ich dann mit der Patientin arbeite, enge ich ihn wieder ein, schneidere ihn zurecht: wann immer das Gehirn des Subjekts etwas macht, das es in stärkerem Umfang machen soll, zeichne ich diesen Augenblick auf, verstärke ihn, vergrößere und verlängere ihn, spiele ihn wieder ab und stimuliere das Gehirn dadurch, seinen eigenen gesündesten Impulsen zu folgen, wenn das Wortspiel gestattet ist. Also das erforderte alles eine Menge Feedbackanalysen, so daß aus einem einfachen EEG mit Trancekappe das da wurde«, und er zeigte zu dem Urwald elektronischer Geräte hinter Orr. Den größten Teil davon verbarg er hinter Kunststoffpaneelen, denn viele Patienten hatten entweder Angst vor Maschinen oder identifizierten sich in allzu großem Maße mit ihnen, aber auch so beanspruchte alles ein Viertel des Sprechzimmers für sich. »Das ist die Traummaschine«, sagte er mit einem Grinsen, »oder, prosaischer gesprochen, der Verstärker; und seine Wirkung besteht darin, er gewährleistet, daß Sie schlafen und träumen — so kurz und leicht oder so lang und intensiv, wie wir es wollen. Oh, nebenbei, die depressive Patientin in Linnton wurde diesen Sommer als völlig geheilt entlassen.« Er beugte sich vor. »Möchten Sie es versuchen?«

»Jetzt?«

»Worauf wollen Sie warten?«

»Aber ich kann nicht um sechzehn Uhr dreißig am Nachmittag einschlafen —«

Dann sah er belemmert drein. Haber hatte in einer übervollen Schublade seines Schreibtischs gekramt und brachte jetzt ein Formular zum Vorschein, das Formular »Einverständniserklärung zur Hypnose«, wie es das Gesundheitsamt vorschrieb. Orr nahm den Kugelschreiber, den Haber ihm reichte, unterschrieb das Formular und legte es ergeben auf den Schreibtisch.

»Wunderbar. Gut. Jetzt verraten Sie mir noch eines, George. Benutzte Ihr Zahnarzt ein Hypnoseband oder machte er es eigenhändig?«

»Band. Ich habe Stufe drei auf der Empfänglichkeitsskala.«

»Genau in der Mitte der Kurve, hm? Also, für die Suggestion eines Trauminhalts, der gut funktioniert, brauche ich eine ziemliche tiefe Trance. Wir wollen schließlich keinen Trancetraum, sondern einen echten Schlaftraum; der Verstärker sorgt dafür, aber wir wollen gewährleisten, daß die Suggestion ziemlich tief geht. Um zu vermeiden, daß wir Stunden damit vergeuden, Sie für die tiefe Trance zu konditionieren, greifen wir auf die Pressurmethode zurück. Schon mal gesehen, wie die funktioniert?«

Orr schüttelte den Kopf. Er sah ängstlich drein, widersprach jedoch nicht. Er hatte eine ergebene, passive Haltung, die feminin, fast schon kindlich wirkte. Haber entdeckte eine beschützende/unterdrückende Reaktion auf diesen körperlich schmächtigen und fügsamen Mann in sich. Es war so einfach, ihn zu beeinflussen, zu beherrschen, daß der Wunsch dazu fast übermächtig wurde.

»Ich wende sie bei den meisten Patienten an. Sie ist schnell, sicher und gefahrlos — und eindeutig die beste Methode, um Hypnose zu induzieren, und sie bereitet dem Hypnotiseur wie dem Subjekt gleichzeitig am wenigsten Probleme.« Orr hatte ganz bestimmt das eine oder andere Ammenmärchen über Subjekte gehört, die aufgrund von zu langer oder unsachgemäßer Anwendung der Pressurmethode Hirnschäden davongetragen hatten, und auch wenn diese Gefahr hier nicht bestand, mußte Haber doch entsprechend reagieren und beruhigen, damit Orr sich nicht gegen die Pressur wehrte. Darum plauderte er unbekümmert weiter, beschrieb die fünfzigjährige Geschichte der Pressurmethode, schweifte ganz von der Hypnose ab und kam wieder auf den Themenkomplex Schlaf und Träume zurück, um Orrs Aufmerksamkeit vom Induktionsprozeß an sich weg und zu dessen eigentlichen Zielen hin zu lenken. »Das Hindernis, das wir überwinden müssen, ist die Kluft, die zwischen dem Wachzustand oder Hypnosetrancezustand und dem Traumstadium existiert. Diese Kluft hat einen gebräuchlichen Namen: Schlaf. Orthodoxer Schlaf, SEM-Schlaf, wie Sie wollen. Es existieren, vereinfacht ausgedrückt, vier geistige Stadien, die für uns relevant sind: Wachzustand, Trance, orthodoxer Schlaf und paradoxer Schlaf. Wenn man Geistesvorgänge betrachtet, haben orthodoxer Schlaf, paradoxer Schlaf und Trancestadium etwas gemeinsam: Schlaf, Traum und Trance setzen allesamt die Aktivität des Unterbewußtseins, des unbewußten Verstandes, frei; sie greifen auf primäre Denkprozesse zurück, wohingegen es sich bei wachen Geistesvorgängen um sekundäre Prozesse — rationale — handelt. Aber betrachten wir einmal die EEG-Aufzeichnungen der vier Stadien. Jetzt haben der paradoxe Schlaf, die Trance und der Wachzustand viel gemeinsam, während der orthodoxe — gewöhnliche — Schlaf vollkommen anders ist. Und man kann nicht direkt von einer Trance in das echte Träumen des REM-Stadiums überwechseln. Das SEM-Stadium muß dazwischenliegen. Normalerweise erlebt man den paradoxen Schlaf vier- oder fünfmal in einer Nacht, etwa alle ein oder zwei Stunden und auch jeweils nur eine Viertelstunde am Stück. Die restliche Zeit befindet man sich im einen oder anderen Stadium des orthodoxen Schlafs. Auch da träumt man, aber normalerweise nicht lebhaft; Geistesvorgänge im orthodoxen Schlaf erinnern an einen Motor im Leerlauf, eine Art von konstantem Murmeln von Bildern und Gedanken. Wir haben es jedoch auf die lebhaften, emotionsgeladenen, einprägsamen Träume des paradoxen Schlafs abgesehen. Unsere Hypnose und der Verstärker werden gewährleisten, daß wir sie bekommen, daß wir die neurophysiologische und zeitliche Kluft des Schlafs überwinden und direkt zu den Träumen vorstoßen. Darum müssen Sie auf dieser Couch hier Platz nehmen. Die Pioniere meines Fachgebiets waren Dement, Aserinsky, Berger, Oswald, Hartmann und alle anderen, aber die Couch haben wir direkt von Papa Freud übernommen … Nur benutzen wir sie zum Schlafen, wogegen er Vorbehalte hatte. Also für den Anfang möchte ich, daß Sie sich hier an das Fußende der Couch setzen. Ja, genau so. Sie werden eine Weile hier verbringen, also machen Sie es sich so bequem wie möglich. Sie sagten, Sie haben es schon mit Selbsthypnose versucht, nicht? Also gut, dann wenden Sie getrost die Techniken an, die Sie dafür benutzt haben. Wie sieht es mit tief Durchatmen aus? Zählen Sie beim Einatmen bis zehn, halten Sie den Atem fünf Sekunden an; ja, genau so, ausgezeichnet. Sehen Sie jetzt bitte zur Decke hinauf und überstrecken Sie den Kopf dabei. Okay, gut so.«

Während Orr gehorsam den Kopf zurücklegte, streckte Haber, der dicht neben ihm stand, rasch und lautlos die linke Hand hinter den Kopf des Mannes aus und drückte mit Daumen und einem Finger fest hinter jedes Ohr; gleichzeitig drückte er mit dem rechten Daumen und Finger fest auf die dargebotene Kehle, dicht unter dem blonden Bart, wo Vagusnerv und Halsschlagader verlaufen. Er spürte die zarte, glatte Haut unter den Fingern; er spürte die erste erschrockene Bewegung des Widerstands, dann sah er, wie die klaren Augen zufielen. Er verspürte den Nervenkitzel der Freude über seine eigene Kunstfertigkeit, seine sofortige Dominanz über den Patienten, während er gleichzeitig leise und schnell murmelte: »Sie werden jetzt einschlafen; schließen Sie die Augen, schlafen Sie, entspannen Sie sich, machen Sie Ihren Verstand leer; Sie werden einschlafen, Sie sind entspannt, Sie werden ganz schlaff; entspannen Sie sich, lassen Sie los —«

Und Orr fiel nach hinten auf die Couch, als wäre er erschossen worden; die rechte Hand hing schlaff an seiner Seite herunter.

Haber kniete sofort neben ihm nieder, ließ die rechte Hand leicht auf den Druckpunkten und machte keine Pause in dem leisen, raschen Schwall der Suggestion. »Sie sind jetzt in Trance, nicht im Schlaf, sondern tief in hypnotischer Trance, und Sie werden nicht daraus erwachen, bevor ich es Ihnen sage. Sie sind jetzt in Trance, und Sie gehen immer tiefer in diese Trance, aber Sie können immer noch meine Stimme hören und meinen Anweisungen folgen. Von nun an werden Sie jedesmal, wenn ich Sie einfach am Hals berühre wie jetzt, sofort in hypnotische Trance fallen.« Er wiederholte die Anweisungen und fuhr fort. »Wenn ich Ihnen jetzt sage, Sie sollen die Augen öffnen, werden Sie es tun und eine Kristallkugel vor sich schweben sehen. Ich möchte, daß Sie Ihre ganze Aufmerksamkeit darauf konzentrieren, und während Sie das machen, werden Sie immer tiefer in Trance sinken. Schlagen Sie jetzt die Augen auf, ja, gut, und sagen Sie mir, wenn Sie die Kristallkugel sehen.«

Die hellen Augen sahen mit einem jetzt seltsam verinnerlichten Blick an Haber vorbei ins Leere. »Jetzt«, sagte der hypnotisierte Mann sehr leise.

»Gut. Sehen Sie sie weiter an und atmen Sie ganz regelmäßig dabei; bald werden Sie in einer sehr tiefen Trance sein …«

Haber sah zur Uhr hinauf. Das Ganze hatte nur rund zwei Minuten gedauert. Gut; er vergeudete nicht gern Zeit für lange Wege, das Ziel war das entscheidende. Während Orr liegend seine imaginäre Kristallkugel betrachtete, stand Haber auf und setzte ihm die modifizierte Trancekappe auf, die er unablässig wegzog und wieder andrückte, um die winzigen Elektroden anzupassen und unter dem dichten hellbraunen Haar an der Kopfhaut zu befestigen. Er redete viel und leise, wiederholte die Suggestion und stellte zwischendurch unverblümte Fragen, damit Orr noch nicht in den Schlaf abglitt, sondern aufmerksam blieb. Als die Kappe sich an Ort und Stelle befand, schaltete er das EEG ein und beobachtete es eine Zeitlang, um sich zu vergegenwärtigen, wie Orrs Gehirn aussah.

Acht Elektrodenkabel an der Kappe führten in das EEG; im Innern der Maschine zeichneten acht Stifte ununterbrochen die elektrische Aktivität des Gehirns auf. Der Monitor, den Haber im Auge behielt, gab die Impulse direkt wieder, krakelige weiße Linien auf dunkelgrauem Grund. Er konnte jede einzeln isolieren und vergrößern oder eine über die andere legen, ganz nach Belieben. Es war ein Bild, dessen er niemals überdrüssig wurde, das rund um die Uhr geöffnete Kino, der Film auf Kanal eins.

Die sigmoidalen Ausschläge, die er suchte, charakteristisch für bestimmte schizoide Persönlichkeitstypen, konnte er nicht erkennen. Das Muster insgesamt wies, abgesehen von seiner Vielfalt, nichts Ungewöhnliches auf. Ein einfaches Gehirn erzeugt ein relativ einfaches Zickzack-Muster und begnügt sich damit, das ständig zu wiederholen; dies war kein einfaches Gehirn. Die Bewegungsmuster waren subtil und komplex, die Wiederholungen weder häufig noch ohne Variationen. Der Computer des Verstärkers würde sie analysieren, aber bis er diese Analyse sah, konnte Haber keinen einzelnen Faktor isolieren, abgesehen von der Komplexität selbst.

Als er dem Patienten befahl, die Kristallkugel nicht mehr zu sehen und die Augen zu schließen, bekam er sofort einen starken, klaren Alpharhythmus mit zwölf Zyklen. Er spielte noch ein wenig mit dem Gehirn herum, machte Aufzeichnungen für den Computer und prüfte die Tiefe der Hypnose: »Also, John —« Nein, wie, zum Teufel, lautete der Name des Subjekts? »George. Sie werden jetzt in einer Minute einschlafen. Sie werden tief schlafen und träumen; aber Sie werden erst einschlafen, wenn ich das Wort ›Antwerpen‹ sage; wenn ich das sage, werden Sie einschlafen und schlafen, bis ich dreimal Ihren Namen nenne. Wenn Sie schlafen, werden Sie einen Traum haben, einen schönen Traum. Einen klaren, angenehmen Traum. Überhaupt keinen bösen Traum, einen angenehmen, aber sehr deutlich und lebhaft. Sie werden sich ganz sicher daran erinnern, wenn Sie wieder aufwachen. Sie werden von —« Er zögerte einen Moment; er hatte nichts geplant, sondern sich auf seine Inspiration verlassen. »Von einem Pferd träumen. Einem großen kastanienroten Pferd, das auf einer Wiese galoppiert. Herumläuft. Vielleicht reiten Sie das Pferd, fangen es ein oder betrachten es nur. Aber der Traum soll von einem Pferd handeln. Ein lebhafter —« was für ein Wort hatte der Patient benutzt? — »wirkungsvoller Traum von einem Pferd. Danach werden Sie nichts anderes mehr träumen; und wenn ich dreimal Ihren Namen nenne, werden Sie aufwachen und sich ruhig und ausgeruht fühlen. Und jetzt versetze ich Sie in Schlaf … indem ich es sage … Antwerpen.«

Gehorsam veränderten sich die dünnen tanzenden Linien auf dem Monitor. Sie wurden kräftiger und langsamer; wenig später tauchten die Schlafspindeln des Schlafs im Stadium 2 auf, sowie erste Andeutungen der langen, tiefen Deltarhythmen von Stadium 4. Und so, wie sich der Hirnwellenrhythmus änderte, änderte sich auch die träge Masse, die von dieser tanzenden Energie bewohnt wurde: Die Hände lagen schlaff auf der Brust, die langsam atmete, das Gesicht wirkte schief und reglos.

Der Verstärker hatte eine vollständige Aufzeichnung des Hirnwellenmusters im Wachzustand aufgezeichnet; jetzt zeichnete er die Muster des orthodoxen Schlafs auf und analysierte sie; bald würde er die Anfänge der Muster des paradoxen Schlafs des Patienten empfangen und imstande sein, sie schon in dem ersten Traum an das schlafende Gehirn zurückzusenden und so dessen eigene Emissionen zu verstärken. Gut möglich, daß das schon in diesem Augenblick geschah. Haber hatte mit einer Wartezeit gerechnet, aber die hypnotische Suggestion und der lange Quasi-Traumentzug des Patienten versetzten diesen sofort in den paradoxen Schlafzustand: Kaum hatte er Stadium 2 erreicht, begann der Wiederaufstieg. Die langsam kriechenden Linien auf dem Monitor schlugen mal hier, mal da aus; schlugen erneut aus; wurden schneller und fingen an zu tanzen, entwickelten einen hastigen, asynchronen Rhythmus. Nun war die Varolsbrücke aktiv und die Linie des Ammonshorns zeigte einen Fünf-Sekunden-Zyklus, den Thetarhythmus, der sich bei diesem Subjekt nicht klar gezeigt hatte. Die Finger zuckten ein wenig; die Augen bewegten sich unter den geschlossenen Lidern, beobachteten; die Lippen öffneten sich zu einem tiefen Atemzug. Der Schlafende träumte.

Es war 17:06 Uhr.

Um 17:11 Uhr drückte Haber auf die schwarze AUS-Taste des Verstärkers. Um 17:12 Uhr, als er abermals die tiefen Kerben und Spindeln des orthodoxen Schlafs wieder auftauchen sah, beugte er sich über den Patienten und sagte dreimal deutlich dessen Namen.

Orr seufzte, machte eine weite, ausholende Geste mit den Armen, schlug die Augen auf und erwachte. Haber löste mit wenigen geübten Bewegungen die Elektroden von seiner Kopfhaut. »Fühlen Sie sich gut?« fragte er jovial und selbstsicher.

»Bestens.«

»Und Sie haben geträumt. Soviel kann ich Ihnen sagen. Können Sie mir den Traum erzählen?«

»Ein Pferd«, sagte Orr heiser und immer noch ein wenig schlaftrunken. Er setzte sich auf. »Er handelte von einem Pferd. Von dem da.« Und er winkte mit der Hand zu dem fenstergroßen Wandbild, das Habers Büro zierte, eine Fotografie des berühmten Rennhengstes Tammany Hall, der in einem grasbewachsenen Pferch herumtollte.

»Was haben Sie über das Pferd geträumt?« fragte Haber zufrieden. Er war nicht sicher gewesen, ob die Hypnosuggestion schon bei der ersten Hypnose auf den Inhalt des Traums wirken würde.

»Es war … ich ging auf dieser Wiese spazieren, und das Pferd war eine Weile in weiter Ferne. Dann kam es zu mir galoppiert, und nach einem Moment wurde mir klar, daß es mich niedertrampeln würde. Aber ich hatte gar keine Angst. Ich überlegte mir, daß ich vielleicht seinen Zügel packen oder mich hinaufschwingen und es reiten könnte. Ich wußte, daß es mir an sich gar nichts tun konnte, weil es das Pferd auf Ihrer Fotografie hier war, kein echtes. Es war alles irgendwie ein Spiel … Dr. Haber, kommt Ihnen etwas an diesem Bild … irgendwie … ungewöhnlich vor?«

»Also manche Leute finden es übertrieben dramatisch für das Büro eines Seelenklempners, ein wenig überwältigend. Ein lebensgroßes Sexsymbol direkt gegenüber der Couch!« Er lachte.

»War es vor einer Stunde auch schon da? Ich meine, war da nicht eine Ansicht des Mount Hood, als ich hereinkam — bevor ich von dem Pferd geträumt habe?«

Großer Gott es war Mount Hood gewesen der Mann hatte recht.

Es war nicht Mount Hood gewesen es konnte nicht Mount Hood gewesen sein es war ein Pferd es war ein Pferd.

Es war ein Berg gewesen.

Ein Pferd es war ein Pferd es war —

Er sah George Orr an, sah ihn mit leerem Blick an, mehrere Sekunden mußten seit Orrs Frage vergangen sein, er durfte sich nicht verunsichern lassen, er mußte Vertrauen einflößen, er kannte die Lösung für alles.

»George, erinnern Sie sich daran, daß das Bild da eine Fotografie des Mount Hood gewesen ist?«

»Ja«, sagte Orr auf seine etwas traurige, aber unerschütterliche Art und Weise. »Ich erinnere mich. Er war es. Mit Schnee drauf.«

»Mhm.« Haber nickte abwägend, überlegend. Die schreckliche Kälte in seiner Magengrube hatte nachgelassen.

»Sie nicht?«

Die Augen des Mannes, deren Farbe so unergründlich, deren Blick aber so klar und direkt war: das waren die Augen eines Psychopathen.

»Nein, leider nicht. Es ist Tammany Hall, der dreifache Sieger von ’89. Ich vermisse die Pferderennen, es ist eine Schande, wie die niederen Arten durch unsere Nahrungsprobleme verdrängt werden. Natürlich ist ein Pferd der perfekte Anachronismus, aber ich mag das Bild; es besitzt Vitalität, Kraft — totale Selbsterkenntnis auf tierischer Ebene. Es stellt gewissermaßen ein Idealbild von dem dar, was ein Psychiater mit der Humanpsychologie anstrebt, ein Symbol. Es ist natürlich die Quelle meiner Suggestion für Ihren Traum, ich habe es zufällig betrachtet …« Haber warf einen scheelen Blick zu dem Wandbild. Natürlich war es das Pferd. »Aber hören Sie, wenn Sie eine dritte Meinung hören wollen, fragen wir Miss Crouch; sie arbeitet seit zwei Jahren hier.«

»Sie wird sagen, daß es immer ein Pferd gewesen ist«, sagte Orr ruhig, aber resigniert. »Und das war es auch immer. Seit meinem Traum. Ich dachte, Sie hätten, da Sie mir den Trauminhalt suggeriert haben, eine doppelte Erinnerung, so wie ich. Aber dem ist wohl nicht so.« Aber er hatte den Kopf nicht mehr gesenkt und betrachtete Haber wieder mit dieser Klarheit, dieser Vorahnung, dieser stummen und verzweifelten Bitte um Hilfe.

Der Mann war krank. Er mußte geheilt werden. »Ich möchte, daß Sie wiederkommen, George, und zwar morgen, wenn möglich.«

»Naja, ich arbeite —«

»Gehen Sie eine Stunde früher und kommen Sie um vier Uhr zu mir. Sie sind in FTB. Sagen Sie das Ihrem Chef, und keine falsche Scham. Irgendwann einmal waren zweiundachtzig Prozent der Bevölkerung in FTB, ganz zu schweigen von den einunddreißig Prozent, die ZTB bekommen. Seien Sie also um vier Uhr hier, dann machen wir uns an die Arbeit. Wir werden Resultate erzielen, wissen Sie. Hier haben Sie ein Rezept für Meprobamat; es wird Ihre Träume unterdrücken, ohne den paradoxen Schlaf völlig auszuschalten. Sie können den Vorrat alle drei Tage am Medikamentenautomaten auffrischen lassen. Wenn Sie einen Traum oder ein anderes Erlebnis haben, das Sie erschreckt, rufen Sie mich an, Tag oder Nacht. Aber ich bezweifle es, wenn sie das einnehmen; und wenn Sie bereit sind, hart mit mir an dieser Sache zu arbeiten, werden Sie bald gar keine Medikamente mehr brauchen. Das ganze Problem mit Ihren Träumen wird sich erledigen und Sie sind erlöst. Richtig?«

Orr nahm die IBM-Rezeptkarte. »Das wäre eine Erleichterung für mich«, sagte er. Er lächelte ein zaghaftes, unglückliches, aber nicht humorloses Lächeln. »Noch etwas wegen dem Pferd«, sagte er.

Haber, der einen Kopf größer war, sah auf ihn herab.

»Es sieht aus wie Sie«, sagte Orr.

Haber blickte hastig zu dem Wandbild. Tatsächlich. Groß, gesund, haarig, rotbraun, im gestreckten Galopp —

»Vielleicht hatte das Pferd in Ihrem Traum Ähnlichkeit mit mir?« fragte er verschmitzt und jovial.

»So ist es«, sagte der Patient.

Als er fort war, setzte sich Haber und blickte nervös zum Wandbild der Fotografie von Tammany Hall. Es war wirklich zu groß für das Sprechzimmer. Verdammt, er wünschte, er könnte sich eine Praxis mit einem Fenster mit Aussicht leisten!

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