Vielleicht müssen wir lernen … daß unsere Aufgabe erst anfängt und wir auch nicht den Hauch einer Hilfe bekommen, außer der Hilfe der unaussprechlichen, unvorstellbaren Zeit. Vielleicht müssen wir lernen, daß das ewige Rad von Tod und Geburt, dem wir nicht entrinnen können, unsere eigene Schöpfung, selbstgemacht ist; — daß die Kräfte, die Welten vereinen, die Irrtümer der Vergangenheit sind; — daß das ewige Leid die ewige Gier unstillbaren Verlangens ist; — und daß die erloschenen Sonnen nur durch die unauslöschlichen Leidenschaften vergangener Leben neu entzündet werden können.
George Orrs Apartment lag im Obergeschoß eines alten Holzhauses ein paar Blocks den Hügel hinauf in der Corbett Avenue, einem schäbigen Teil der Stadt, wo die meisten Häuser schon hundert Jahre alt oder älter waren. Es hatte drei große Zimmer, ein Bad samt tiefer Wanne auf Löwenpfoten und einen Ausblick über die Dächer hinweg bis zum Fluß, wo Schiffe, Vergnügungsdampfer, Flöße, Möwen und große, kreisende Taubenschwärme dahinzogen.
Er erinnerte sich natürlich noch deutlich an sein anderes Apartment, das 2,5 Ч 3,5 Meter große Zimmer mit ausziehbarem Herd, Luftmatratze und gemeinschaftlichem Etagenklosett am Ende des langen Linoleumkorridors im achtzehnten Stock des Wohnturms Corbett Condominium, der nie gebaut worden war.
Er stieg in der Whiteaker Street aus der Straßenbahn und ging den Hügel und die breite, dunkle Treppe hinauf; er trat ein, ließ die Aktentasche auf den Boden und sich selbst auf das Bett fallen und verlor die Beherrschung. Er war ängstlich, erbost, erschöpft, fassungslos. »Ich muß etwas tun, ich muß etwas tun«, sagte er sich immer wieder panisch, aber er wußte nicht, was er tun sollte. Er hatte nie gewußt, was er tun sollte. Er hatte stets nur getan, was getan werden mußte, das Nächstliegende, ohne Fragen zu stellen, ohne sich zu etwas zu zwingen, ohne sich Gedanken zu machen. Aber diese traumwandlerische Sicherheit hatte ihn verlassen, als er anfing, Medikamente zu nehmen, und inzwischen war er vom rechten Weg abgekommen. Er sollte handeln, er mußte handeln. Er durfte sich nicht mehr von Haber als Werkzeug benutzen lassen. Er mußte sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Er breitete die Hände aus und betrachtete sie, dann vergrub er das Gesicht darin; es war naß von Tränen. Oh, verflucht, verflucht, dachte er verbittert, was bin ich für ein Mann? Tränen in meinem Bart? Kein Wunder, daß Haber mich benutzt. Wie könnte er anders? Ich habe keine Kraft, ich habe keinen Charakter, ich bin das geborene Werkzeug. Ich habe kein Schicksal. Ich habe nur Träume. Und selbst die steuern jetzt andere Menschen.
Ich muß weg von Haber, dachte er und versuchte, nachdrücklich und entschlossen zu sein, aber noch während er es dachte, wußte er, daß er es nicht fertigbringen würde. Haber hatte ihn an der Angel, und das nicht nur mit einem Haken.
Eine so ungewöhnliche, in der Tat sogar einzigartige Traumkonfiguration, hatte Haber gesagt, sei von unschätzbarem Wert für die Forschung: Orrs Beitrag zur menschlichen Erkenntnis würde sich als immens erweisen. Orr glaubte, daß Haber das ernst meinte und wußte, wovon er sprach. Der wissenschaftliche Aspekt der ganzen Sache war für ihn zumindest tatsächlich der einzige Hoffnungsschimmer; er überlegte sich, daß die Wissenschaft dieser eigentümlichen und schrecklichen Gabe vielleicht noch etwas Gutes abringen, sie einer sinnvollen Verwendung zuführen und das ungeheure Leid, das sie gebracht hatte, wenigstens ein wenig kompensieren konnte.
Die Ermordung von sechs Milliarden nicht existierenden Menschen.
Orr hatte quälende Kopfschmerzen. Er ließ kaltes Wasser in das tiefe, gesprungene Waschbecken fließen und tauchte das Gesicht mehrmals hintereinander jeweils eine halbe Minute hinein, bis er rot, blind und naß wie ein neugeborenes Baby war.
Haber hatte das moralische Druckmittel gegen ihn, aber so richtig am Haken hatte er ihn mit dem Gesetz. Wenn Orr die Freiwillige Therapie beendete, würde er wahrscheinlich angeklagt werden, weil er sich auf illegale Weise Medikamente beschafft hatte, und sie würden ihn ins Gefängnis oder Irrenhaus stecken. Diese Möglichkeit schied aus. Und wenn er nicht aufhörte, sondern einfach nicht mehr zu den Sitzungen kam oder die Zusammenarbeit verweigerte, stand Haber eine wirkungsvolle Zwangsmaßnahme zur Verfügung: die Träume unterdrückenden Medikamente, die Orr nur mit Habers Rezept bekommen konnte. Jetzt erfüllte ihn der Gedanke daran, spontan zu träumen, ohne Kontrolle, mit noch größerem Unbehagen. In seinem momentanen Zustand, nachdem er darauf konditioniert worden war, jedesmal wirkungsvoll im Labor zu träumen, wollte er gar nicht daran denken, was alles passieren konnte, wenn er ohne die durch Hypnose auferlegten rationalen Schranken wirkungsvoll träumte. Das wäre ein Alptraum, ein schlimmerer Alptraum als der, den er gerade erst in Habers Büro erlebt hatte; davon war er felsenfest überzeugt und wagte nicht, es dazu kommen zu lassen. Er mußte die Traumblocker nehmen. Daran führte kein Weg vorbei, es ließ sich nicht vermeiden. Aber er konnte es nur, solange Haber ihn ließ, und aus diesem Grund mußte er mit Haber zusammenarbeiten. Er saß in der Klemme. Eine Ratte in der Falle. Er lief für einen verrückten Wissenschaftler durch ein Labyrinth, und ihm blieb kein Ausweg. Kein Ausweg, kein Ausweg.
Aber er ist kein verrückter Wissenschaftler, dachte Orr betrübt, er ist an sich ganz normal, jedenfalls war er es. Den Verführungen der Macht, die meine Träume ihm geben, ist er erlegen. Er spielt weiter eine Rolle, und dies ermöglicht ihm, eine so schrecklich wichtige Rolle zu spielen. So daß er jetzt sogar seine Wissenschaft als Mittel zum Zweck einsetzt … Aber seine Absichten sind gut, oder nicht? Er möchte das Leben für die ganze Menschheit verbessern. Ist das verwerflich?
Sein Kopf schmerzte wieder. Er hielt ihn unter Wasser, als das Telefon läutete. Hastig versuchte er, sein Gesicht und das Haar trockenzureiben und kehrte tastend in das dunkle Schlafzimmer zurück. »Hallo, hier Orr.«
»Hier ist Heather Lelache«, hörte er eine leise, mißtrauische Altstimme.
Eine irrelevantes, aber ausgeprägtes Gefühl der Freude stieg in ihm auf wie ein Baum, der binnen eines Blicks wuchs und Blüten trieb, mit den Wurzeln in seinem Unterleib und den Blüten in seinem Verstand. »Hallo«, sagte er wieder.
»Möchten Sie sich mit mir treffen, damit wir darüber reden können?«
»Ja. Natürlich.«
»Na ja. Sie sollen aber nicht denken, daß wir mit dieser Maschine, dem Verstärker, eine Anklage basteln könnten. Der scheint einwandfrei zu funktionieren. Er hat eine ausführliche Probephase im Labor hinter sich, alle erforderlichen Tests bestanden, den Marsch durch die Institutionen begangen und ist jetzt beim Gesundheitsamt registriert. Er ist natürlich ein Vollprofi. Ich hatte keine Ahnung, wer er ist, als Sie ihn das erste Mal bei mir erwähnt haben. Ein Mann erreicht so eine Position nur, wenn er wirklich gut ist.«
»Welche Position?«
»Na ja. Leitender Direktor einer staatlich finanzierten Forschungseinrichtung.«
Ihm gefiel, wie sie ihre verbissenen, verächtlichen Sätze so häufig mit einem schwachen, versöhnlichen »na ja« einleitete. Sie zog ihnen damit den Boden unter den Füßen weg, noch ehe sie richtig begannen, und ließ sie haltlos in der Leere hängen. Sie hatte Mut, großen Mut.
»Oh, ja, ich verstehe«, sagte er vage. Dr. Haber hatte den Posten des leitenden Direktors einen Tag, nachdem Orr seine Blockhütte bekommen hatte, erhalten. Den Traum von der Blockhütte hatte er in einer Sitzung, die die ganze Nacht andauerte, gehabt; eine weitere hatten sie nicht mehr versucht. Hypnotische Suggestion von Trauminhalten wirkte beim nächtlichen Träumen nur unzureichend, daher hatte Haber um drei Uhr nachts schließlich aufgegeben, Orr an den Verstärker angeschlossen und ihm den Rest der Nacht ein Tiefschlafmuster eingespeist, damit sie sich beide entspannen konnten. Aber am nächsten Nachmittag hatten sie wieder eine Sitzung, doch der Traum, den Orr dabei geträumt hatte, war so lang, so wirr und so kompliziert gewesen, daß er nie genau sagen konnte, was er alles verändert, welche guten Taten Haber während dieser Zeit erreicht hatte. Er war in der alten Praxis eingeschlafen und im Büro des O. I. O. aufgewacht: Haber hatte sich eine Beförderung erschlichen. Aber das war längst nicht alles gewesen — wie es schien, war das Wetter seit diesem Traum offenbar nicht mehr ganz so regnerisch; vielleicht hatten sich auch noch andere Dinge verändert. Er war nicht sicher. Er hatte dagegen protestiert, soviel wirkungsvolle Träume in so kurzer Zeit zu träumen. Haber hatte sich sofort bereit erklärt, ihn nicht zum Äußersten zu treiben, und ihm fünf Tage ohne eine Sitzung gewährt. Also war Haber doch ein wohlmeinender Mensch. Und außerdem wollte er die Gans, die goldene Eier legte, sicher nicht umbringen.
Die Gans. Exakt. Das ist die perfekte Bezeichnung für mich, dachte Orr. Eine verdammte weiße, fade dumme Gans. Er hatte einen Teil von Miss Lelaches Worten nicht gehört. »Tut mir leid«, sagte er. »Ich hab was nicht mitbekommen. Ich glaube, ich bin gerade nicht ganz recht im Kopf.«
»Geht es Ihnen gut?«
»Ja, ausgezeichnet. Ich bin nur müde.«
»Sie hatten einen beunruhigenden Traum über den Schwarzen Tod, nicht? Sie haben hinterher schrecklich ausgesehen. Geht es Ihnen nach diesen Sitzungen immer so?«
»Nein, nicht immer. Heute war es besonders schlimm. Ich nehme an, das konnten Sie sehen. Haben Sie ein Treffen vereinbart?«
»Ja. Montag zum Mittagessen. Sie arbeiten in der Innenstadt, richtig, bei Bradford Industries?«
Zu seinem gelinden Erstaunen wurde ihm klar, daß das stimmte. Die großen Stauprojekte von Bonneville-Umatilla existierten nicht mehr, um die Riesenstädte John Day und French Glen, die nicht mehr existierten, mit Wasser zu versorgen. Es gab keine Großstädte in Oregon, mit Ausnahme von Portland. Er arbeitete nicht mehr als Bauzeichner für den Bezirk, sondern für eine private Werkzeugfirma in der Innenstadt; er arbeitete in der Verwaltung in der Stark Street. Natürlich. »Ja«, sagte er. »Ich habe von eins bis zwei Mittagspause. Wir könnten uns im Dave’s in der Ankeny treffen.«
»Zwischen eins und zwei ist hervorragend. Also im Dave’s. Wir sehen uns am Montag dort.«
»Warten Sie«, sagte er. »Hören Sie zu. Könnten Sie — würden Sie mir erzählen, was Dr. Haber gesagt hat, ich meine, was er mir unter Hypnose zu träumen befohlen hat? Sie haben doch alles gehört, oder nicht?«
»Ja, aber das könnte ich nicht. Ich würde in seine Therapie eingreifen. Wenn er wollte, daß Sie es wissen, würde er es Ihnen sagen. Es wäre unethisch, ich kann nicht.«
»Vermutlich haben Sie recht.«
»Ja. Es tut mir leid. Also Montag?«
»Wiedersehen«, sagte er, fühlte sich plötzlich überwältigt von Niedergeschlagenheit und düsteren Vorahnungen und legte auf, ohne sie wiedersehen sagen zu hören. Sie konnte ihm nicht helfen. Sie war couragiert und stark, aber nicht so stark. Vielleicht hatte sie die Veränderung gesehen oder gespürt, aber sie hatte das Erlebnis geleugnet, verdrängt. Warum auch nicht? Sie waren eine unerträgliche Last, diese doppelten Erinnerungen, und sie hatte keinen Grund, sich diese Last aufzubürden, kein Motiv, auch nur einen Augenblick einem stammelnden Psychopathen zu glauben, der behauptete, daß seine Träume wahr wurden.
Morgen war Samstag. Eine lange Sitzung bei Haber, sechzehn bis achtzehn Uhr oder länger. Kein Ausweg.
Es war Zeit, etwas zu essen, aber Orr hatte keinen Hunger. Er hatte das Licht weder in seinem hohen, halbdunklen Schlafzimmer noch im Wohnzimmer eingeschaltet, das er in den drei Jahren, seit er hier wohnte, noch nicht möbliert hatte, weil er nicht dazu gekommen war. Dorthin ging er jetzt. Die Fenster boten Ausblick auf Lichter und den Fluß, es roch nach Staub und Frühlingsanfang. Das Zimmer enthielt einen holzgetäfelten offenen Kamin, ein altes Klavier, dem acht Tasten aus Elfenbein fehlten, neben dem Ofen einen Stapel Holzabfälle aus dem Sägewerk und einen fünfundzwanzig Zentimeter hohen wackeligen japanischem Bambustisch. Dunkelheit hüllte weich den kahlen Pinienholzboden ein, der weder poliert noch gefegt worden war.
George Orr legte sich der ganzen Länge nach mit dem Gesicht nach unten in dieser weichen Dunkelheit hin, so daß ihm der Geruch des staubigen Holzes in die Nase stieg und dessen harte Fläche seinem Körper Halt gab. Er lag vollkommen reglos, schlief jedoch nicht; er war anderswo als im Schlaf, tiefer, weiter draußen, an einem Ort, wo es keine Träume gab. Und er befand sich nicht zum erstenmal dort.
Als er aufstand, dann nur, um eine Chlorpromazintablette zu nehmen und ins Bett zu gehen. Haber versuchte es diese Woche mit Phenothiazinen bei ihm; sie schienen gut zu wirken, ließen ihn in die Phase des paradoxen Schlafs hinübergleiten, schwächten die Intensität der Träume jedoch so sehr ab, daß sie nie die wirkungsvolle Stufe erreichten. Das war prima, aber Haber sagte, daß die Wirkung nachlassen würde, wie bei allen anderen Medikamenten auch, bis sie überhaupt keine Wirkung mehr hätten. Nichts hindert einen Menschen am Träumen, sagte er, außer dem Tod.
In dieser Nacht jedenfalls schlief er tief, und wenn er träumte, waren die Träume flüchtig und ohne Gewicht. Er wachte samstags erst am späten Vormittag auf. Er ging zum Kühlschrank und sah hinein; dann genoß er den Anblick eine Weile. Es befanden sich mehr Lebensmittel darin, als er in seinem ganzen Leben in einem privaten Kühlschrank gesehen hatte. In seinem anderen Leben. Das er zwischen sieben Milliarden anderen geführt hatte in dem Nahrung stets knapp gewesen war. Wo ein Ei als Luxus des Monats galt — »Heute ovulieren wir!« pflegte seine Halbehefrau stets zu sagen, wenn sie ihre Eierration gekauft hatte … Sonderbar, in diesem Leben hatten sie keine Ehe auf Probe gehabt, er und Donna. Rechtlich gesehen gab es so etwas in den Jahren nach dem Schwarzen Tod gar nicht. Heute gab es nur die Vollehe. In Utah, wo die Geburtenrate immer noch niedriger lag als die Sterberate, versuchten sie sogar, aus religiösen und patriotischen Gründen die Vielweiberei wieder einzuführen. Aber er und Donna hatten diesmal überhaupt keine irgendwie geartete Ehe geführt, sie hatten nur zusammengelebt. Doch auch das war nicht von Dauer gewesen. Er konzentrierte sich wieder auf die Lebensmittel im Kühlschrank.
Er war nicht mehr der dünne, knochige Mann, der er in der Welt der sieben Milliarden gewesen war; tatsächlich sah er recht untersetzt aus. Dennoch verschlang er die Mahlzeit eines Verhungernden, eine enorme Mahlzeit — hartgekochte Eier, Toast mit Butter, Sardellen, Pökelfleisch, Sellerie, Käse, Walnüsse, ein Stück kalten Heilbutt mit Mayonnaise, Salat, rote Beete, Schokoladenkekse — was Kühlschrank und Vorratskammer hergaben. Nach dieser Orgie fühlte er sich körperlich gleich viel besser. Als er einen echten Kaffee trank, keinen Ersatzkaffee, dachte er an etwas, bei dem er sogar grinsen mußte. Er dachte: In diesem Leben, gestern, träumte ich einen Traum, der sechs Milliarden Menschen ausradierte und den Verlauf der gesamten Menschheitsgeschichte des letzten Vierteljahrhunderts veränderte. Aber in diesem Leben, das ich dann erschuf, habe ich keinen wirkungsvollen Traum geträumt; ich habe gar nichts verändert. Es ist die ganze Zeit so gewesen und ich hatte lediglich einen Alptraum über die Jahre des Schwarzen Todes. Mit mir ist alles in Ordnung; ich brauche keine Therapie.
So hatte er das noch nie gesehen, und es amüsierte ihn so, daß er grinsen mußte, allerdings kein besonders glückliches Grinsen.
Er wußte, er würde wieder träumen.
Es war schon nach zwei. Er spülte das Geschirr, fand seinen Regenmantel (echte Baumwolle, ein Luxus in dem anderen Leben) und machte sich zu Fuß auf zum Institut, ein Fußmarsch von zwei Meilen, der an der Universitätsklinik vorbei und, ein Stück weiter, in den Washington Park führte. Er hätte natürlich mit der Straßenbahn hinfahren können, aber die verkehrte nur sporadisch und unzuverlässig, und außerdem hatte er keine Eile. Es war angenehm, durch den warmen Märzregen und die ausgestorbenen Straßen zu gehen; die Bäume trieben Blätter, die Kastanien waren bereit, ihre Kerzen zu entzünden.
Der Zusammenbruch, die karzinome Seuche, die die Weltbevölkerung binnen eines Jahres um fünf Milliarden und in den nächsten zehn Jahren noch einmal um eine Milliarde Menschen reduziert hatte, hatte die Zivilisation der Welt bis in die Grundfesten erschüttert, sie am Ende aber doch unversehrt gelassen. Sie hatte nichts radikal verändert: nur quantitativ.
Die Luft war immer noch gründlich und irreparabel verpestet: diese Verschmutzung ging dem Zusammenbruch Jahrzehnte voraus, stellte sogar seine eigentliche Ursache dar. Heute gefährdete sie praktisch keinen mehr, außer den Neugeborenen. Der Schwarze Tod holte in seiner leukämieähnlichen Variante immer noch selektiv und umsichtig eines von vier Babys, die zur Welt kamen, und tötete es innerhalb von sechs Monaten. Alle, die überlebten, waren so gut wie immun gegen Krebs. Aber es gab andere Sorgen.
Unten am Fluß stieg kein Rauch aus den Fabrikschloten auf. Keine Autos verpesteten die Luft mit ihren Abgasen; die wenigen noch existierenden wurden mit Dampf oder Batterien betrieben.
Es gab auch keine Singvögel mehr.
Man konnte die Folgen der Seuche immer noch allerorten erkennen, sie selbst blieb nach wie vor virulent, und doch hatte sie nicht verhindern können, daß wieder ein Krieg ausbrach.Tatsächlich wurde im Nahen Osten erbitterter gekämpft als in der überbevölkerteren Welt. Die USA engagierten sich stark für die israelisch-ägyptische Seite und stellten Waffen, Munition, Flugzeuge und »militärische Berater« im Dutzend billiger zur Verfügung. China engagierte sich gleichermaßen stark für die iranisch-irakische Seite, hatte allerdings noch keine chinesischen Soldaten entsandt, nur Tibetaner, Nordkoreaner, Vietnamesen und Mongolen. Rußland und Indien hielten sich noch nervös aus allem heraus; aber jetzt, wo Afghanistan und Brasilien sich mit dem Iran verbündeten, schien es denkbar, daß sich Pakistan auf die Seite der Isrägypter stellte. In dem Fall würde Indien Panik bekommen und ein Bündnis mit China eingehen, was der UdSSR soviel Kopfzerbrechen bereiten könnte, daß sie sich auf die Seite der USA stellte. Damit wären insgesamt zwölf Atommächte im Spiel, sechs auf jeder Seite. Dies waren die Spekulationen. Derweil lag Jerusalem in Schutt und Asche, während die Zivilbevölkerung in Saudiarabien und dem Irak zusammengepfercht in unterirdischen Bunkern hauste, Panzer und Flugzeuge Feuer in der Luft und Cholera im Wasser verbreiteten und Babys von Napalm geblendet aus den Bunkern krabbelten.
In Johannesburg wurden immer noch Weiße abgeschlachtet, konnte Orr einer Schlagzeile am Zeitungskiosk an der Ecke entnehmen. Jahre waren seit dem Aufstand vergangen, und es gab in Südafrika immer noch Weiße, die man abschlachten konnte! Die Menschen sind zäh …
Der Regen fiel warm, verseucht, sanft auf seinen entblößten Kopf, während er die grauen Hügel von Portland erklomm.
Im Sprechzimmer mit dem großen Eckfenster, das Aussicht auf den Regen bot, sagte er: »Bitte hören Sie auf damit, mit meinen Träumen etwas zu verbessern, Dr. Haber. Das funktioniert nicht. Es ist falsch. Ich möchte geheilt werden.«
»Das ist eine unabdingbare Voraussetzung für eine Heilung, George! Daß Sie es wollen.«
»Das ist keine Antwort.«
Aber der große Mann glich einer Zwiebel, schälte Schale für Schale Persönlichkeit, Glauben, Verantwortung ab, unendlich viele Schalen, ohne Ende, er hatte kein Zentrum. Niemals hielt er an, mußte anhalten, sagte: Hier bleibe ich! Kein Wesen, nur Schalen.
»Sie benutzen meine wirkungsvollen Träume, um die Welt zu verändern. Nur mir gegenüber geben Sie nicht zu, daß Sie das machen. Warum nicht?«
»George, Sie müssen sich vergegenwärtigen, daß Sie Fragen stellen, die von Ihrem Standpunkt aus vernünftig erscheinen mögen, von meinem Standpunkt aus jedoch buchstäblich nicht zu beantworten sind. Wir sehen die Realität auf unterschiedliche Weise.«
»Aber wenigstens soweit identisch, daß wir uns unterhalten können.«
»Ja. Zum Glück. Aber dennoch können wir nicht immer fragen und antworten. Noch nicht.«
»Ich kann Ihre Fragen beantworten und beantworte sie auch … Jedenfalls: Hören Sie mir zu. Sie können nicht damit weitermachen, alles zu verändern, sich zum Leiter aufzuschwingen.«
»Bei Ihnen hört sich das an, als wäre es ein allgemeiner moralischer Imperativ.« Er sah Orr mit einem jovialen, väterlichen Lächeln an und strich sich über den Bart. »Aber ist das nicht tatsächlich gerade der Sinn des Menschen auf Erden — etwas zu schaffen, zu verändern, zu leiten, eine bessere Welt zu schaffen?«
»Nein!«
»Was ist dann sein Sinn?«
»Ich weiß nicht. Die Dinge haben keinen Sinn, als wäre das Universum eine Maschine, wo jedes Teil eine nützliche Funktion hat. Was ist der Sinn einer Galaxie? Ich weiß nicht, ob unser Leben einen Sinn hat, und ich sehe auch nicht, daß das wichtig wäre. Wichtig ist, daß wir ein Teil sind. Wie ein Faden in einem Tuch oder ein Grashalm auf einer Wiese. Es ist und wir sind. Und unsere Taten sind wie Wind, der über das Gras weht.«
Es folgte eine kurze Pause, und als Haber antwortete, klang seine Stimme nicht mehr jovial, tröstlich oder ermutigend. Sie klang neutral, mit einer gerade noch erkennbaren Spur von Geringschätzung.
»Sie haben eine seltsam passive Anschauung für einen Mann, der im jüdisch-christlich-rationalistischen Westen aufgewachsen ist. Eine Art von natürlichem Buddhismus. Haben Sie jemals die fernöstliche Mystik studiert, George?« Die letzte Frage mit ihrer offenkundigen Antwort stellte eine offene Verhöhnung dar.
»Nein. Ich weiß nichts darüber. Aber ich weiß, es ist falsch, Zwang auf das Muster des Daseins auszuüben. Das geht einfach nicht. Das ist seit Jahrhunderten unser Fehler. Begreifen Sie, begreifen Sie denn nicht, was gestern passiert ist?«
Die milchigen dunklen Augen sahen direkt in seine.
»Was ist gestern passiert, George?«
Kein Ausweg. Kein Ausweg.
Inzwischen benutzte Haber Natriumpentothal, um seinen Widerstand gegen den Hypnosevorgang zu reduzieren. George fügte sich und sah die Nadel nach einem Augenblick des Schmerzes in seine Ader gleiten. Das war der Weg, den er gehen mußte; er hatte keine andere Wahl. Er hatte nie eine Wahl gehabt. Er war nur ein Träumer.
Haber ging irgendwo hin, irgendwas erledigen, während das Medikament seine Wirkung entfaltete; aber nach fünfzehn Minuten stand er prompt wieder da, polternd, jovial und unbekümmert. »Also gut! Legen wir los, George!«
Orr wußte schmerzhaft deutlich, womit er heute loslegen würde: mit dem Krieg. Die Zeitungen berichteten über nichts anderes mehr; nicht einmal der Nachrichten-resistente Orr hatte sich dem Thema auf dem Weg hierher entziehen können. Der eskalierende Krieg im Nahen Osten. Haber würde ihn beenden. Und das Morden in Afrika zweifellos auch. Denn Haber war ein gütiger Mensch. Er wollte die Welt für die Menschen verbessern.
Der Zweck heiligt die Mittel. Was aber, wenn es gar keinen Zweck gibt? Wir haben nur die Mittel. Orr legte sich auf die Couch und machte die Augen zu. Die Hand berührte seinen Hals. »Sie versinken jetzt im Hypnosezustand, George«, sagte Haber mit seiner tiefen Stimme. »Sie sind …«
Dunkelheit.
In der Dunkelheit.
Noch nicht ganz Nacht: Abenddämmerung über den Feldern. Baumgruppen, die schwarz und feucht aussahen. Die Straße, auf der er dahinschritt, spiegelte das letzte schwache Licht des Himmels; sie verlief lang und schnurgerade, eine alte Landstraße mit rissiger Asphaltdecke. Eine Gans lief fünf Meter vor ihm, etwa fünfzehn Schritte voraus und lediglich als heller, wankender Fleck zu erkennen. Hin und wieder zischelte sie verhalten.
Die Sterne kamen weiß wie Gänseblümchen heraus. Ein besonders großer erblühte rechts von der Straße, dicht über dem dunklen Land, grellweiß. Als Orr wieder aufschaute, war der Stern schon größer und heller geworden. Er wächst, dachte Orr. Und je heller er wurde, desto rötlicher sah er aus. Er verrötlich-größerte sich. Der Blick verschwamm. Kleine blaugrüne Linien züngelten um ihn, zickzackförmiges Brownsches ringelreinherumringelreinherum. Ein riesiger milchiger Schein pulsierte um den großen Stern und kleine Linien, schwacher, klarer, pulsierend. Oh nein nein nein! sagte er, als der große Stern riesendlich aufloderte und blendend BARST. Er fiel zu Boden, bedeckte den Kopf mit den Armen, während der Himmel sich zu Streifen gleißenden Todes auftat, konnte sich aber nicht auf das Gesicht drehen, mußte alles sehen und bezeugen. Der Boden zuckte auf und ab, die Haut der Erde schlug enorme bebende Falten. »Laß ab, laß ab!« schrie er laut mit himmelwärts gewandtem Gesicht und erwachte auf der Ledercouch.
Er setzte sich auf und barg das Gesicht in den schweißnassen, zitternden Händen.
Wenig später spürte er Habers Hand schwer auf der Schulter. »Wieder ein schlimmes Erlebnis? Verdammt, ich dachte, diesmal würde ich es Ihnen leicht machen. Ich hatte Ihnen befohlen, daß Sie vom Frieden träumen.«
»Das habe ich.«
»Und das empfanden Sie als beängstigend?«
»Ich habe eine Weltraumschlacht beobachtet.«
»Beobachtet? Von wo?«
»Von der Erde.« Er schilderte den Traum kurz, ließ die Gans jedoch unerwähnt. »Ich weiß nicht, ob sie eins von uns oder wir eins von ihnen abgeschossen haben.«
Haber lachte. »Ich wünschte, wir könnten sehen, was da draußen vor sich geht! Vielleicht würden wir dann verantwortungsvoller handeln. Aber natürlich finden diese Begegnungen in Geschwindigkeiten und Entfernungen statt, für die das menschliche Auge einfach nicht geschaffen ist. Ihre Version ist zweifellos sehr viel pittoresker als die Wirklichkeit. Hört sich ganz wie ein guter Science-Fiction-Film aus den siebziger Jahren an. Die habe ich mir als Kind immer angesehen … Aber warum glauben Sie, Sie hätten von einer Schlacht geträumt, wo doch Frieden suggeriert wurde?«
»Nur Frieden? Träumen Sie vom Frieden — mehr haben Sie nicht gesagt?«
Haber antwortete nicht sofort. Er machte sich an den Kontrollen des Verstärkers zu schaffen.
»Okay«, sagte er schließlich. »Lassen wir Sie dieses eine Mal die Suggestion mit dem Traum vergleichen. Vielleicht finden wir heraus, warum er einen negativen Verlauf nahm. Ich sagte … nein, spielen wir das Band ab.« Er ging zu einem Paneel in der Wand.
»Sie schneiden die ganze Sitzung mit?«
»Freilich. Psychiatrische Standardvorgehensweise. Wußten Sie das nicht?«
Woher sollte ich es wissen, wenn das Tonband versteckt ist, kein Signal von sich gibt und du es mir nicht mitgeteilt hast, dachte Orr; aber er sagte nichts. Vielleicht war es die Standardvorgehensweise, vielleicht Habers persönliche Arroganz; so oder so konnte er nichts daran ändern.
»Da sind wir, hier etwa müßte es sein. Jetzt der Hypnosezustand, George. Sie sind — Hier! Dämmern Sie mir nicht weg, George!« Das Band zischte. Orr schüttelte den Kopf und blinzelte. Die letzten Anweisungen stammten natürlich nur von dem Haber auf Tonband; aber er stand immer noch unter dem Einfluß des hypnoseinduzierenden Medikaments.
»Ich muß ein Stück überspringen. Also gut.« Jetzt ertönte wieder Habers Stimme vom Tonband:»- Frieden. Kein Massenmord mehr von Menschen an anderen Menschen. Keine Kämpfe im Iran, in Arabien und Israel. Keine Völkermorde mehr in Afrika. Keine Arsenale von nuklearen und biologischen Waffen. Keine Forschung mehr an Mitteln und Wegen, wie man Menschen tötet. Eine Welt in Frieden mit sich selbst. Friede als allgemeingültiger Lebensstil auf Erden. Sie werden von dieser Welt träumen, die in Frieden mit sich ist. Jetzt werden Sie einschlafen. Wenn ich —« Er hielt das Band unvermittelt an, um Orr mit dem Schlüsselwort nicht wieder in Schlaf zu versetzen.
Orr rieb sich über die Stirn. »Na ja«, sagte er leise, »ich habe die Anweisungen befolgt.«
»Kaum. Von einem Kampf im cislunaren Raum zu träumen —« Haber verstummte so unvermittelt wie das Band.
»Cislunar«, sagte Orr, dem Haber ein wenig leid tat. »Wir haben dieses Wort nicht benutzt, als ich einschlief. Wie ist die Lage in Isrägypten?«
Das Kunstwort aus der alten Realität hatte eine seltsame Schockwirkung, als es in dieser Realität ausgesprochen wurde: wie der Surrealismus, schien es einen Sinn zu ergeben, oder schien scheinbar ohne Sinn zu sein und dennoch einen zu ergeben.
Haber ging in dem langen, geschmackvollen Raum auf und ab. Einmal strich er mit der Hand über seinen rotbraunen, lockigen Bart. Die Geste war berechnend und Orr wohl bekannt, doch als er zum Sprechen ansetzte, spürte Orr, daß er seine Worte mit Bedacht aussuchte und wählte und sich zur Abwechslung einmal nicht auf seinen unerschöpflichen Fundus an Improvisation verließ. »Es ist eigentümlich, daß Sie die Verteidigung der Erde als Symbol oder Metapher für den Frieden, für das Ende der Kriegführung benutzt haben. Und dennoch nicht unangebracht. Nur sehr subtil. Träume sind unendlich subtil. Unendlich. Denn tatsächlich war es die Gefahr, die unmittelbare Bedrohung durch die Invasion von nichtkommunizierenden, grundlos feindlichen Außerirdischen, die uns gezwungen hat, die Kampfhandlungen untereinander einzustellen, unsere aggressiven-defensiven Energien nach außen zu richten, das territoriale Streben dahingehend auszudehnen, daß es die gesamte Menschheit umfaßt, unsere Waffen gegen einen gemeinsamen Feind zu vereinigen. Wenn die Außerirdischen nicht zugeschlagen hätten, wer weiß? Vielleicht würden wir immer noch im Nahen Osten kämpfen.«
»Vom Regen in die Traufe«, sagte Orr. »Begreifen Sie nicht, Dr. Haber, daß Sie nie mehr als das von mir bekommen werden? Hören Sie, es ist nicht so, daß ich gegen Sie arbeiten, Ihre Pläne zunichte machen möchte. Es war eine gute Idee, den Krieg zu beenden, da bin ich vollkommen Ihrer Meinung. Ich habe bei der letzten Wahl sogar für die Isolationisten gestimmt, weil Harris versprochen hat, unser Engagement im Nahen Osten zu beenden. Aber ich denke, ich, oder mein Unterbewußtsein, kann mir eine Welt ohne Krieg nicht einmal vorstellen. Es kann bestenfalls einen Krieg gegen einen anderen eintauschen. Sie sagten, Menschen sollen keine anderen Menschen mehr töten. Also träumte ich die Außerirdischen. Ihre eigenen Einfälle sind klug und rational, aber Sie versuchen, mein Unterbewußtsein zu benutzen, nicht meinen rationalen Verstand. Vielleicht könnte ich mir rational vorstellen, daß die menschliche Rasse nicht versucht, sich gegenseitig nationenweise auszurotten, das ist rational sogar leichter zu begreifen als die Motive für einen Krieg. Aber Sie haben es mit etwas außerhalb der Vernunft zu tun. Sie versuchen, progressive, humanitäre Ziele mit einem Werkzeug zu erreichen, das nicht für diese Aufgabe geeignet ist. Wer hat schon humanitäre Träume?«
Haber sagte nichts und ließ keinerlei Reaktion erkennen, daher fuhr Orr fort.
»Oder vielleicht ist es nicht nur mein unterbewußter, irrationaler Verstand, vielleicht ist es mein ganzes Ich, mein gesamtes Wesen, das für den Job einfach nicht geeignet ist. Ich bin vielleicht zu defätistisch, oder zu passiv, wie Sie gesagt haben. Ich besitze nicht genügend Begierden. Vielleicht hat das etwas damit zu tun, daß ich diese — diese Gabe besitze, wirkungsvoll zu träumen; und wenn nicht, gibt es möglicherweise andere, die es können, Menschen mit einem Verstand, der mehr so wie Ihrer funktioniert, mit denen Sie besser zusammenarbeiten können. Sie können doch Tests durchführen; ich kann nicht der einzige sein; vielleicht bin ich nur der einzige, dem es bewußt geworden ist. Aber ich will es nicht machen. Ich will weg vom Haken. Ich ertrage es nicht. Ich meine, sehen Sie doch her: der Krieg im Nahen Osten ist seit sechs Jahren beendet, gut und schön, aber jetzt sitzen die Außerirdischen auf dem Mond. Was ist, wenn sie landen? Was für Ungeheuer haben Sie im Namen des Friedens aus meinem Unterbewußtsein heraufbeschworen? Ich weiß es nicht einmal!«
»Niemand weiß, wie die Außerirdischen aussehen, George«, sagte Haber in einem vernünftigen, beschwichtigenden Tonfall. »Wir hatten alle ihretwegen unsere Alpträume, weiß Gott! Aber wie Sie sagten, ihre erste Landung auf dem Mond ist jetzt sechs Jahre her, und sie haben es noch nicht bis zur Erde geschafft. Mittlerweile sind unsere Raketenabwehrsysteme höchst wirkungsvoll. Wenn sie es bis jetzt nicht geschafft haben, besteht kein Grund zu der Annahme, daß sie durchbrechen können. Diese ersten paar Monate, bevor die Verteidigung auf der Basis internationaler Zusammenarbeit organisiert wurde, das war die Gefahrenperiode.«
Orr saß eine Weile mit hängenden Schultern da. »Lügner!« wollte er Haber anbrüllen, »warum lügst du mich an?« Aber der Wunsch war nicht besonders ausgeprägt. Es führte zu nichts. Möglicherweise war Haber gar nicht fähig, die Wahrheit zu sagen, weil er sich selbst belog. Vielleicht unterteilte er seinen Verstand in zwei hermetische Hälften: In einer wußte er, daß Orrs Träume die Realität veränderten, und nutzte das für seine Zwecke; in der anderen wußte er, daß er Hypnosetherapie und Traum-Abreaktionen anwandte, um einen schizoiden Patienten zu heilen, der glaubte, daß seine Träume die Realität veränderten.
Daß Habers interne Kommunikation solchermaßen außer Kontrolle geraten sein könnte, fiel Orr schwer zu glauben; sein eigener Verstand war so resistent gegen derartige Unterteilungen, daß er sie bei anderen nur schwer erkannte. Aber er hatte gelernt, daß es sie gab. Er war in einem Land aufgewachsen, in dem Politiker Piloten losschickten, um Jagdbomber zu bemannen, um Babys zu töten, um die Welt so sicher zu machen, daß Kinder darin aufwachsen konnten.
Aber das war jetzt in der alten Welt gewesen. Nicht in der schönen neuen Welt.
»Ich drehe durch«, sagte er. »Das müssen Sie doch sehen. Sie sind Psychiater. Sehen Sie denn nicht, daß ich außer Rand und Band bin? Außerirdische aus dem Weltraum, die die Erde angreifen: Wenn Sie mich wieder auffordern, zu träumen, was werden Sie dann bekommen? Vielleicht eine vollkommen wahnsinnige Welt, das Produkt eines wahnsinnigen Verstandes. Ungeheuer, Gespenster, Hexen, Drachen, Verwandlungen — alles, was wir in uns herumschleppen, alle Schrecken unserer Kindheit, die nächtlichen Ängste, die Alpträume. Wie wollen Sie verhindern daß das alles freigesetzt wird? Ich kann es nicht verhindern. Ich habe keine Kontrolle darüber.«
»Machen Sie sich keine Sorgen über Kontrolle! Sie arbeiten auf die Freiheit hin«, sagte Haber mit Gusto. »Freiheit! Ihr Unterbewußtsein ist kein Sumpf der Schrecken und Laster. Das ist eine viktorianische Vorstellung, und eine schrecklich destruktive obendrein. Sie schadete den größten Geistern des neunzehnten Jahrhunderts und rückte die Psychologie in der gesamten ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts in ein schiefes Licht. Haben Sie keine Angst vor Ihrem Unterbewußtsein! Es ist keine schwarze Grube voller Alpträume. Nichts dergleichen! Es ist eine Quelle von Gesundheit, Phantasie, Kreativität. Was wir das ›Böse‹ nennen, wird von der Zivilisation hervorgebracht, ihren Zwängen und Repressionen, die den spontanen, freien Ausdruck der Persönlichkeit deformieren. Das Ziel der Psychotherapie ist ja gerade eben, diese unbegründeten Ängste und Alpträume zu entfernen, das Unbewußte ins Licht des rationalen Bewußtseins zu holen, es objektiv zu untersuchen und festzustellen, daß es nichts zu fürchten gibt.«
»Aber es gibt etwas zu fürchten« sagte Orr sehr leise.
Haber ließ ihn schließlich gehen. Er trat in die frühlingshafte Dämmerung hinaus, blieb eine Minute mit tief in den Manteltaschen vergrabenen Händen auf der Treppe des Instituts stehen, betrachtete die Straßenlaternen unten in der Stadt, die Nebel und abendliches Zwielicht so einhüllten, daß sie zu funkeln und sich zu bewegen schienen wie die winzigen, silbernen Umrisse tropischer Fische in einem dunklen Aquarium. Eine Seilbahn fuhr rasselnd den steilen Hang herauf zu ihrem Wendepunkt oberhalb des Washington Park, vor dem Institut. Er trat auf die Straße hinaus und erklomm den Wagen, während er wendete. Sein Gang war forsch und dennoch ziellos. Er bewegte sich wie ein Schlafwandler, wie unter Zwang.