»Manche Leute erleben einfach dauernd Abenteuer«, meinte ich.
Wir hätten uns noch lange über Tod und Leben unterhalten können, doch plötzlich klopfte es, und ein verschreckter Bote trat ein.
»Sir Max, hier ist Besuch für Sie. Die Leute behaupten, sie seien Ihre Untertanen«, sagte er verlegen.
»Meine Untertanen?«, fragte ich erschrocken. »Sündige Magister, die haben mir noch gefehlt!«
Ich wandte mich an Juffin: »Haben Sie den Mann entlassen? Diesen ... wie hieß er doch gleich?«
»Dschimach«, sagte mein Chef nickend. »Ja, das hab ich gestern Abend erledigt. Lass ihn doch mit seinen Landsleuten reinkommen. Die wollen sich nur bei dir bedanken. Das könnte unterhaltsam werden.«
Die Nomaden aus Fangachra erschienen in der Tür. Einmal mehr trugen sie Bermudashorts und hatten große Reisetaschen dabei. Zum Glück fielen sie diesmal nicht vor mir auf die Knie, sondern verbeugten sich nur feierlich. Der mir schon bekannte grauhaarige Nomade trat vor und sagte: »Bedank dich bei deinem König, Dschimach!«* Dann wurde ein Mann mittleren Alters aus der Gruppe heraus nach vorn geschubst.
»Ihr habt mich gerettet! Meine Seele gehört Euch - so wie mein Leib, meine Pferde und mein Haus.«
»Vielen Dank, aber ich komme auch ohne das ganz gut zurecht. Behalt das alles und sei glücklich und zufrieden.«
»Habt ihr das gehört?«, fragte der erschrockene Dschimach seine Begleiter. »Fangachra hat mir befohlen, glücklich zu sein!«
Alle Ankömmlinge sahen Dschimach an wie einen Heiligen, doch der grauhaarige Alte sagte: »Wir sind gekommen, Euch um Gnade zu bitten, Fangachra. Seit Ihr verschwunden seid, liegt ein Fluch auf uns. Kommt bitte zu uns zurück.«
Ich sah Sir Juffin Hilfe suchend an, doch er ließ mich im Stich und schwieg. Also musste ich mit der Situation allein klarkommen.
»Ich kehre nicht zu euch zurück«, sagte ich schroff. »Ich hab hier in Echo zu tun. Damit müsst ihr leben.«
»Wir sind bereit, so lange auf Euch zu warten, bis Ihr alles erledigt habt«, sagte der Alte.
»Ich werde hier nicht fertig - ich lebe hier! Ich trage den Todesmantel! Wisst ihr, was das bedeutet? Geht nach Hause und lebt wohl.«
Ich fürchtete, sie hatten mich nicht verstanden, und sah Juffin erneut und geradezu flehend an, doch er wollte sich nicht einmischen. Lonely-Lokley klappte sein Buch zu und verfolgte meine Bemühungen mit großem Interesse.
»Wir können ohne Euch nicht leben, Fangachra«, sagte der Alte erpresserisch.
»Das könnt ihr schon. Das habt ihr bis jetzt schließlich auch geschafft.«
Meine Untertanen tauschten Blicke und sahen mich dann flehend an.
»Lebt wohl«, sagte ich bestimmt. »Bringt eure Geschäfte zu Ende, fahrt nach Hause, bestellt den unendlichen Steppen der Grafschaft Wuk einen Gruß von mir und begreift euch als Untertanen von König Gurig. Haben wir uns verstanden?«
Meine ehemaligen Untertanen nickten wortlos und verließen den Saal der allgemeinen Arbeit. Beunruhigt bemerkte ich in ihrer Miene eine Mischung aus Hoffnung und Sturheit.
»Mein Herz spürt, dass das erst der Anfang war«, meinte ich finster, als sich die Tür hinter meinen Untertanen geschlossen hatte. »Sie werden meine Adresse herausfinden und ihre Zelte neben meinem Haus aufschlagen. Davon werden die Nachbarn sicher nicht begeistert sein.«
»Lustige Geschichte«, sagte Juffin angetan und wirkte zufrieden wie ein Dorfjunge, der zum ersten Mal im Zirkus war. »Ich kann nicht sagen warum, aber sie gefällt mir«, fügte er entschieden hinzu.
»Sie finden das nur lustig, weil Sie ein schlechter Mensch sind und enormen Spaß an fremdem Leid haben«, meinte ich lächelnd.
»Stimmt«, pflichtete Juffin mir bei. »Hör mal, Max, tu mir bitte einen Gefallen, da du sowieso ihr König bist. Sag ihnen, sie sollen sich eine vernünftige Kopfbedeckung besorgen - einen Turban zum Beispiel oder eine Mütze.«
»Je niedriger die Entwicklung einer Kultur, desto stärker die Bindung an die Tradition«, meinte Lonely-Lokley.
»Ja«, sagte mein Chef und nickte beiläufig. »Und jetzt bringt mir bitte den Verwandlungsmeister Warich Ariam. Ich brauche ihn lebendig und wohlauf, aber ihr könnt ihn ruhig erschrecken.«
»Gut«, sagte Lonely-Lokley und wandte sich zur Tür. »Lass uns gehen, Max. Oder soll ich dich König Max nennen? Immerhin kannst du das verlangen.«
»Auf keinen Fall«, murmelte ich und stand auf. »Du weißt doch, dass ich kein Fangachra bin.«
»Das spielt ja keine Rolle«, meinte Lonely-Lokley. »Wenn gewisse Leute behaupten, du bist ihr König, dann bist du es - mit allen Konsequenzen.«
»Diese Konsequenzen bringen mich noch ins Grab«, seufzte ich. »Und jetzt lass uns gehen.«
Kaum waren wir auf der Straße, verscheuchte ich den Chauffeur vom Lenkrad unseres Dienstwagens. Alle Mitarbeiter des Fahrdienstes waren daran gewöhnt, dass ich selbst fuhr.
Lautes Singen erregte meine Aufmerksamkeit. Allerdings erreichten nur Fetzen des Lieds mein Ohr:
»Bei Sonnenuntergang ist er in die Stadt gekommen, in der sich der Grässliche Mudlach verbirgt.
Seine Krieger aus Arwaroch hat er mitgenommen, und sie alle wollen, dass Mudlach stirbt.«
»Was ist denn das, Schürf?«, fragte ich erstaunt.
»Das ist unser guter Freund Alotho Aliroch. Er singt Lady Melamori das neueste Lied über seine Erfolge vor. Wenn ich mich nicht irre, stehen die beiden an der königlichen Brücke.«
»Was?«, fragte ich schockiert. »Und das gefällt ihr?«
»Vermutlich ja. Wäre es anders, hätte sie ihn längst zum Schweigen gebracht. Du kennst sie doch.«
»Bisher glaubte ich jedenfalls, sie zu kennen«, seufzte ich. »Dieser Mann ist wirklich fabelhaft, aber ich würde es nicht aushalten, mir seine Lieder anzuhören.«
»Geschmackssache«, stellte Lonely-Lokley ungerührt fest. »Lass uns fahren, Max. Du sagst zwar, das Lied sei schlecht, aber dennoch ist dir die Kinnlade heruntergefallen. Ich finde, das passt nicht recht zusammen.«
»Natürlich nicht«, meinte ich und lachte. »Du bist so klug, Schürf, dass es mir Schauer über den Rücken jagt.«
Ich setzte mich ans Steuer, und wir fuhren zu Alothos Versen los:
»Dann hat er eine wunderbare Frau getroffen, doch sein Schwert wollte beschäftigt sein.«
»Dieser Gesang ist ein Albtraum«, brummte ich. »Ruhestörung ist das.«
»Geht's dir nicht gut?«, fragte Schürf vorsichtig.
»Ach was, alles in Ordnung. Alotho ist ein erstaunlicher Mensch, und ich freue mich, dass er und Melamori sich so gut verstehen. Aber wenn ich schlechte Lieder höre, werde ich zum Tier.«
»Ist das Lied wirklich so schlecht?«, fragte Schürf gelassen. -Ich mag das dichterische Werk unserer Besucher aus Arwaroch eigentlich ganz gern. Ihre Lyrik hat eine Unschuld, die sich in unvergleichlicher Authentizität ausdrückt.
Ich seufzte. Über Geschmack soll man nicht streiten, schon gar nicht mit Sir Schürf - es lohnt sich einfach nicht. Dieser Mensch schneidet nicht nur fremdem Leben, sondern auch fremden Meinungen den Faden ab. Das musste ich mir endlich mal merken.
Ein paar Minuten später hielten wir vor einem gelben, zweistöckigen Haus in der Posaunenstraße. Lonely-Lokley zog seine tödlichen Handschuhe aus und verschloss sie in der Ablage des Armaturenbretts. Das seltsame blaue Auge in seiner linken Handfläche starrte mich an, und ich zuckte zusammen. Ich konnte mich einfach nicht daran gewöhnen.
»Max, ich glaube, er ist zu Hause. Ich vermute, Lady Melamori wird nicht erfreut darüber sein, herkommen zu müssen, um ihm auf die Spur zu treten.«
»Stimmt«, meinte ich nickend. »Denn dann kann sie das wunderbare Lied nicht zu Ende hören.«
Möglichst lautstark betraten wir das Haus. Die Vertreter der Justiz sollen ja besonders polternd auftreten, damit die Bevölkerung sich erschrickt.
Wir taten, was wir konnten, und ich trampelte so fleißig, dass mir die Füße schmerzten.
Ein sympathisch wirkender junger Mann sah aus dem letzten Zimmer im ersten Stock. Als er Lonely-Lokley erblickte, bekam er sofort eine erschrockene Miene. Dann bemerkte er mich und wurde endgültig schwach.
Eigentlich hätte einer von uns gereicht, um Warich Ariam zu verhaften. Der ehemalige Große Magister des Ordens der Kupfernadel war nie besonders wichtig gewesen, aber unser Chef übertrieb mitunter einfach ganz gern.
»Was gibt's, meine Herren?«, fragte der Mann mit zitternder Stimme.
»Wir müssen Sie kurz von der Arbeit abhalten, Sir Warich«, sagte Lonely-Lokley höflich. »Der Ehrwürdige Leiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps würde sich freuen, wenn Sie Zeit für ein Gespräch erübrigen könnten.«
»Sie wollen vermutlich meinen Vater sprechen«, entgegnete der Mann rasch. »Aber ich weiß nicht, wo er sich aufhält.«
»Sie müssen auf alle Fälle mitkommen«, sagte Sir Schürf hartnäckig. Dann wandte er sich an mich. »Vielleicht sagt er die Wahrheit, vielleicht aber gibt er sich als sein eigener Sohn aus. Das kommt bei Festnahmen gar nicht so selten vor. Sir Juffin wird das klären.«
»Dann bleibe ich am besten hier«, schlug ich vor, »und rufe Lady Melamori. Wenn dieser Mann nicht der Gesuchte ist, werden wir einiges zu tun bekommen.«
»Das ist vernünftig«, nickte Schürf und wandte sich an den Fremden. »Also, Sir, gehen wir. Wenn Sie die Wahrheit gesagt haben, wird diese Sache Sie kaum Zeit kosten.«
Der arme Mann ging mit finsterer Miene zur Tür, und Sir Schürf folgte ihm.
Ich blieb allein zurück und lief durch alle Räume, um mich zu vergewissern, dass das Haus wirklich leer war. Dann ging ich ins Gästezimmer und meldete mich per Stummer Rede bei Lady Melamori.
»Entschuldige, dass ich dich aus deinem wunderbaren Konzert reiße, aber ich fürchte, ich habe eine Aufgabe für dich. Ich bin in der Posaunenstraße 14 und wäre froh, wenn du kommen würdest.«
»Gut«, sagte Lady Melamori ruhig. »Unter uns gesagt, ist Alotho schon mit seinem Lied fertig. Ich bin gleich da. Ende.«
Ich legte die Beine auf den Tisch, fand in der Tasche meines Todesmantels eine letzte Zigarette, zündete sie an und wartete.
Melamori tauchte verdächtig schnell auf.
»Wenn du so rasch von der königlichen Brücke hergefahren bist, ist das ein echter Rekord«, rief ich entzückt.
»Na ja, ich war am Siegesplatz von König Gurig VII.«, gab sie zu.
Ich verbarg meine Enttäuschung und sagte: »Das war trotzdem eine sehr gute Zeit. Gratuliere! Aber sag mal, hat dir Alothos schreckliches Lied wirklich gefallen?«
»Natürlich«, erklärte Melamori und kicherte los. »Ich hab im Leben noch nichts Lustigeres gehört. Und ich kann dir noch was sagen: Ich hab ihm auch ein Lied vorgesungen - über meine Erfolge, eine echte Parodie der Selbstbeweihräucherung unseres Gastes. Alotho allerdings war davon ernstlich begeistert.«
»Da hast du ja viel Spaß mit ihm gehabt«, sagte ich neidisch.
»Ich tu, was ich kann«, sagte Melamori seufzend. »Dieser Alotho gefällt mir. Er ist sehr hübsch und so ganz anders. Er ist fremd hier und seltsam - und das brauche ich jetzt.«
»Max, der Kerl, den Schürf angeschleppt hat, ist wirklich ein Sohn von Warich Ariam«, unterbrach uns Sir Juffin per Stummer Rede. »Ist Melamori schon bei dir?«
»Ja, sie ist gerade eingetrudelt.«
»Prima. Sucht so schnell wie möglich nach dem alten Ariam. Ich glaube nicht, dass er sich vor euch versteckt, sondern vermute eher, dass er irgendwo in der Stadt seinen Geschäften nachgeht. Am besten wäre es, wenn Lady Melamori ihm im Schlafzimmer auf die Spur tritt, weil sein Sohn erzählt hat, sein Vater habe sich dort nach dem Mittagessen kurz erholt und sei dann weggegangen. Das Schlafzimmer liegt im ersten Stock, gleich links von der Treppe. Ende.«
»Wir müssen ins Schlafzimmer«, sagte ich und zwinkerte Melamori zu. Sie sah mich erstaunt an, und ich meinte: »Wir sollen die Spur von Warich Ariam finden.«
Melamori lachte erleichtert, und wir gingen nach oben.
»Da ist sie ja«, rief sie, kaum dass sie das Zimmer betreten hatte. »Dieser Ariam mag ein Großer Magister gewesen sein - ein großer Zauberer war er nie.«
»Nicht alle können wirklich gut sein«, meinte ich. »Dazu muss man eben Talent haben.«
»Was redest du denn da? In der Ordensepoche ist es oft so gewesen, dass ein Großer Magister sich plötzlich für ganz andere Sachen interessiert hat und die Macht darum inoffiziell auf einen Jüngeren Magister übergegangen ist. Den wiederum hat man allerdings nur selten ernst genommen.«
»Lass uns gehen, Unvergessliche«, sagte ich und führte die gesprächige Lady zur Treppe. »Wir sollten diesen Mann möglichst schnell finden. Danach spendiere ich dir im Namen unserer alten Freundschaft eine Tasse Kamra. Ich hoffe, du hast nichts dagegen.«
»Doch«, meinte Melamori lächelnd. »Ich hätte gern etwas Stärkeres.«
»Wird alles wunschgemäß erledigt, absolut alles.«
»Ich weiß - früher oder später.«
Ich zuckte zusammen. Melamori klang wie Machi Ainti, der alte Sheriff aus Kettari. Aber sie schüttelte nur ihre Mähne und lächelte, und wir gingen auf die Straße. Dort traf uns der kühle Wind vom Fluss Churon.
Wir fanden Warich Ariam im Wirtshaus Geib Iraschi. Der Arme wollte sich gerade über ein exotisches Gericht hermachen, verlor bei unserer Ankunft aber den Appetit und bekam Herzschmerzen. Wenn Lady Melamori jemandem auf die Spur tritt, hat das ziemlich üble Folgen.
Der Mann musterte scheel meinen Todesmantel und tat, als sei seine Verhaftung das schlimmste Übel. Und das, obwohl seine Herzschmerzen sofort aufhörten, als Melamori seine Spur verließ. Wir fuhren den ehemaligen Magister ins Haus an der Brücke und übergaben ihn Sir Juffin.
»Ich habe dieser Lady versprochen, ihr ein schnell wirkendes Gift zu spendieren«, sagte ich zu. »Erlauben Sie mir das?«
»Natürlich«, meinte Juffin großzügig. »Aber bitte nur bis morgen. Und schlaf die Nacht über durch. Vielleicht gibt es morgen viel zu tun, vielleicht auch nicht. Auf alle Fälle musst du erholt sein. Ich brauche deine Geistesgegenwart und kann nichts mit einer Schlafmütze anfangen.«
»Habe ich Sie je enttäuscht? Selbst wenn mich Müdigkeit überkommt, reicht eine Mütze Büroschlaf, und ich bin wieder topfit.«
Ich wandte mich an Melamori. »Gehen wir?«
»Wir müssen nur noch entscheiden, wohin«, antwortete sie.
Wir verließen das Haus an der Brücke und blieben unentschieden an einer Kreuzung stehen, wo es viele Lokale zur Auswahl gab. Ausgerechnet jetzt meldete sich Melifaro per Stummer Rede.
»Was machst du gerade, Max?«
»Ich stehe mit Melamori auf der Straße der Kupfermünzen, wir überlegen, wohin wir etwas trinken gehen können.«
»Ihr Schmarotzer!«, rief Melifaro. »Na schön, richte unserer schönen Lady aus, dass unser exotischer Adonis mit seiner Pseudospinne durch die Stadt geistert. Er kann einem leidtun. Niemand außer unserer Verfolgungsmeisterin will seine Lieder hören. Außerdem beschütze ich ihn nicht mehr. Nicht mal Juffin kann ernstlich glauben, diesen Kerl könnte man beleidigen. Tja, eigentlich wollte ich dir vorschlagen, mir Gesellschaft zu leisten, aber du bist wohl beschäftigt.«
»Nein, nein, das lässt sich einrichten. Wo bist du?«
»In der Neustadt, nicht weit von deinem Haus. Der blonde Adonis ist gerade ins Wirtshaus Armstrong und Ella gegangen. Ich glaube, das ist ein ganz lustiges Lokal.«
»Wie heißt das Gasthaus?«, fragte ich erstaunt.
»Du hast richtig gehört - es heißt wie deine Katzen und wurde kurz nach Erscheinen der Reportage eröffnet, die der dicke Journalist über deine Tiere geschrieben hat. Ich dachte, du wüsstest davon.«
»Woher denn? Ich war über ein Jahr nicht in der Stadt. Aber ich muss dort unbedingt hin. Wo ist das?«
»In der Straße der vergessenen Träume 16. Kommt ihr also dorthin?«
»Da fragst du noch?«
Ich wandte mich an Melamori. »Melifaro erwartet uns im Wirtshaus Armstrong und Ella - kannst du dir das vorstellen?«
»Müssen wir dort wirklich hin? Melifaro schmollt mit mir. Deshalb dürfte es in seiner Gesellschaft schwierig werden, sich normal zu unterhalten.«
»Aber ich schmolle nicht mit dir! Reicht dir das nicht?«, fragte ich und kitzelte sie an der Nasenspitze. »Außerdem ist Melifaro dort nicht freiwillig, sondern beschützt deinen Schatz aus Arwaroch.«
»Ach!«, rief Melamori. »Das ändert alles. Aber ich setze mich ans Steuer.«
»Das musst du sogar. Du hast doch versprochen, mich überallhin zu fahren.«
Für jemanden, der über hundert Jahre geglaubt hatte, dreißig Meilen pro Stunde sei die Höchstgeschwindigkeit, fuhr Melamori sehr flott. Auf der Fahrt schwiegen wir wie nachdenkliche gute Freunde. »Alte Freundschaften haben frischen Leidenschaften gegenüber so ihre Vorteile«, hätte Juffin dazu sicher gesagt.
Wir fanden die Straße der vergessenen Träume schnell. Sie kreuzt die Straße der gelben Steine in der Nähe meines Hauses, doch erstaunlicherweise war ich dort noch nie gewesen.
»Hier gibt es tatsächlich ein Lokal namens Armstrong und Ellal», rief Melamori. »Das ist echter Ruhm!«
»Da hast du Recht. Ich bin wirklich stolz.«
Als wir das Wirtshaus betraten, stürzte uns eine hoch gewachsene Lady im schwarzen Lochimantel entgegen. Ihre vielen glänzenden Löckchen ließen mich an einen Heiligenschein denken, und ihre dunklen Augen musterten mich aufmerksam. Ich gefiel dieser Frau, und sie warf sich mir geradezu an den Hals, was mich aus dem Takt brachte und beinahe hätte stürzen lassen. Immerhin gelang es mir, nicht aus der Haut zu fahren.
»Sie sind Sir Max«, sagte die Lady. Das war keine Frage, sondern eine Feststellung. Ich konnte sie nicht enttäuschen, sondern nickte nur und wartete, was da kommen würde.
»Es ist verrückt zu sehen, wie sehr die Frauen auf dich stehen«, lachte Melamori.
»So ist das eben«, antwortete ich stolz und sah mir die Unbekannte aufmerksam an, die sich an meinem Lochimantel festhielt. »Ist etwas Schlimmes passiert?«
»Kommen Sie bitte mit. Da drin gibt es Streit«, sagte sie und zeigte auf die Fenster des Wirtshauses. »Die Leute bringen sich gegenseitig um.«
»Was?«, rief ich und rannte zum Eingang. Melamori folgte mir. Wir öffneten die Wirtshaustür und blieben wie angewurzelt stehen. Sir Melifaro stand in Siegerpose auf dem Tisch, und Alotho Aliroch, der mit fremdem oder eigenem Blut beschmiert war, wischte sich das Schwert an seinem Lochimantel ab. Als er Melamori sah, bekam er gleich das Lächeln des Verliebten, vor dem auch die guten Gene aus Arwaroch nicht schützen können. Auf dem Boden lagen viele Tote, die aussahen wie Bewohner der Hauptstadt. Der prächtige Körperbau allerdings deutete eher darauf hin, dass sie aus Arwaroch stammten.
»Ihr hättet viel schneller hier sein können! Was habt ihr die ganze Zeit gemacht, Nachtantlitz? Dein berühmtes Gift hätten wir viel eher gebraucht, aber wie du siehst, sind wir mit der Situation auch ohne dich fertig geworden«, sagte Melifaro stolz. »Wir hätten hier eine Schlacht aus der Frühzeit der Epoche des Gesetzbuchs nachstellen können, aber dazu ist es jetzt zu spät.«
»Was ist passiert?«, fragte ich und setzte mich auf einen unbequemen Stuhl.
Melifaro sprang vom Tisch und setzte sich neben mich. Die Unbekannte ging hinter die Theke und füllte gleichmütig unsere Gläser. Jetzt erst begriff ich, dass sie die Wirtin war. Kurz darauf stellte sie uns ein Getränk auf den Tisch, das ich noch nicht kannte. Es roch nach Äpfeln und Honig, wärmte die Kehle aber angenehm.
»Vielen Dank«, sagte Melamori, die als Erste an ihre Kinderstube dachte.
»Nichts zu danken. Das ist mein Beruf«, meinte die Wirtin lächelnd und ging wieder hinter die Theke. Kurz darauf spürte ich ihren aufmerksamen Blick auf mir ruhen.
Alotho Aliroch verbeugte sich tief vor Melifaro. Ich war baff: Bisher hatte er diese Geste nur vor dem König gemacht.
»Ich bin Euch sehr dankbar«, sagte er stoßweise. »Wenn Ihr nicht gewesen wärt, wäre ich jetzt wahrscheinlich tot und könnte meine Mission nicht vollenden. Ihr seid ein großer Held und Schamane - nochmals vielen Dank.«
»Nichts zu danken. Das ist mein Beruf«, echote Melifaro lächelnd.
Die Wirtin des Armstrong und Ella grinste ein wenig, als sie das hörte.
»Was ist hier passiert?«, fragte ich.
»Nichts Besonderes«, sagte Melifaro achselzuckend. »Sir Alotho hat sich an einen Tisch gesetzt, und ich bin an der Theke geblieben, denn ich wollte nicht aufdringlich sein. Als die Tür aufging, dachte ich, ihr wärt es, doch dann sah ich all diese Männer reinkommen und mit den verschiedensten Waffen angeben. Einer hätte Alotho beinahe mit dem Babum getroffen, doch er konnte gerade noch ausweichen. Erst hatte ich ziemlich viel Angst, weil die Männer reichlich Krawall schlugen, doch dann sah ich, wie tapfer Alotho war.« Nun wandte Melifaro sich an ihn: »Wie viele habt Ihr eigentlich umgebracht?«
»Keine Ahnung. Ich hab nicht gerechnet, ich hab gekämpft.«
»Verstehe. Und nachdem Alotho einen der Ankömmlinge mit seiner falschen Spinne erledigt hatte - stell dir mal vor: Das Wesen, das er huckepack trägt, ist eine tödliche Waffe! -, beschloss ich, Kugelblitze in Umlauf zu bringen.«
»Diesen Trick kennst du also auch?«, fragte ich erstaunt.
»Ich bin nicht so unbegabt, wie du denkst«, sagte Melifaro lächelnd. »Na ja, eigentlich verlangt dieser Trick mir einiges ab, und danach hab ich immer Kopfschmerzen, und meine Stimmung ist nicht gerade rosig. Aber hier ist es anders, denn hier gibt es Asch - das beste Getränk im Vereinigten Königreich!«
»Mir gefällt es hier auch«, sagte ich und wandte mich an Alotho. »Das waren bestimmt Mudlachs Leute, was?«
»Das waren seine Diener«, bestätigte er. »Ich hab ihre Anwesenheit schon den ganzen Tag gespürt und gehofft,
auch Mudlach würde aufkreuzen, aber nein. Nur ein ehrloser Mensch schickt seine Diener und ist zu feige, selbst aufzutauchen.«
»Bring ihn zu Juffin, Melamori«, sagte ich entschieden. »Erstens wird er sich über Neuigkeiten freuen, und zweitens kann er unseren Gast ein wenig verarzten. Ihre rechte Hand ist verletzt, Sir Alotho, stimmt's?«
»Allerdings.«
»Wie hast du das rausbekommen?«, fragte Melamori und sah mir tief in die Augen. »Er ist doch über und über mit Blut beschmiert. Da kann man doch nicht erkennen, wo er verletzt ist.«
»Als ich Alotho sah, begann meine rechte Hand zu schmerzen«, sagte ich und zuckte die Achseln. »So was nennt man Sympassion. Das kann passieren.«
»Du klopfst heute ja wieder Sprüche«, meinte Melifaro begeistert. »Kannst du vielleicht auch heilen?«
»Wahrscheinlich nicht«, sagte ich bescheiden. »Wenn es ums Töten geht, bin ich allzeit bereit, aber wenn ich der Gesellschaft nützlich sein soll, klappt es leider selten.«
»Das stimmt nicht«, widersprach Alotho plötzlich. »Es macht Euch keine Freude zu töten. Und wenn Ihr mich anschaut, verschwindet mein Schmerz sofort.«
»Wirklich? Das ist mir neu. Andererseits kann ich Euch nicht ewig anstarren. Und Sir Juffin heilt alle Wunden sehr effektiv. Das kann ich bezeugen.«
»Alotho, wir fahren«, sprang Melamori mir bei. »Max hat Recht: Wir müssen uns beeilen.«
»Du hättest dich wenigstens dafür bedanken können, dass ich dieses Weltwunder gerettet habe«, rief Melifaro ihr nach und wandte sich dann an die Wirtin. »Jetzt, meine Liebe, möchte ich etwas trinken. Also lass uns von deinen wunderbaren Vorräten kosten.«
»All meine Getränke möchtest du probieren? Willst du auf der Stelle umkippen, mein Held?«, fragte sie und lächelte freundlich. »Das solltest du besser nicht. Auch ohne dich liegen hier Tote genug.«
»Das hab ich auch nicht vor«, sagte Melifaro pikiert. »Ich will nur etwas trinken, denn ich fühle mich furchtbar.«
»Das kommt vor, verschwindet aber wieder. Sonst wäre unser Leben unerträglich«, sagte die Wirtin und stellte einen Krug auf die Theke. »Setzt euch bitte hierher, meine Herren. Ich fürchte zwar, mein Gesicht ist nicht das schönste im Weltall, aber es ist hübsch genug, um es zu ertragen.«
Als ich merkte, dass die schwarzhaarige Lady mich schon wieder aufmerksam musterte, wurde mir angenehm schwindelig.
Ich wechselte schnell vom Tisch an die Theke. Melifaro tat es mir seufzend nach. Wir bekamen jeder ein neues Glas. Die Wirtin setzte sich uns gegenüber, dachte einen Moment nach und schenkte sich dann auch einen Schluck ein.
»Eigentlich wollte ich bloß etwas Kamra trinken«, sagte ich. »Und eine Kleinigkeit essen.«
»Meine Kamra ist die beste der Stadt. Das werden Sie gleich merken«, sagte die Wirtin und stellte einen Topf auf den Herd. »Aber mit dem Essen sieht es düster aus, denn ich habe keinen Koch. Ich finde es langweilig, Leute zu füttern. Zu mir soll kommen, wer trinken, rauchen und plaudern will.«
»Das ist toll!«, rief ich entzückt. »Wo ich früher gelebt habe, gibt es ähnliche Lokale. Sie heißen Bistros. Aber dort kann man wenigstens ein Sandwich bekommen.«
»Bistro ist ein lustiges Wort, doch bei mir gibt es nicht mal Butterbrote.«
»Dann muss ich eben verhungern«, seufzte ich. »Nicht so schlimm. Die Welt wird nur etwas langweiliger sein, wenn ich nicht mehr da bin.«
»Um die Welt vor diesem Verlust zu bewahren, trete ich Ihnen die Hälfte meines Abendessens ab, und zwar sofort.«
Sie stand auf und ging in einen kleinen Raum.
Melifaro sah mich finster an. »Unter uns gesagt: Ich will auch etwas essen. Hast du vergessen, dass der Gefräßige Truthahn nur ein paar Schritte von hier entfernt ist? Wir hätten dorthin gehen sollen, statt dieser Frau die letzten Krümel wegzufuttern. Sie ist ohnehin mager genug.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte ich frech. »Diese Frau ist nicht mager, sondern schlank. Du bist eben kein Frauenkenner.«
»Na schön«, sagte Melifaro beleidigt. »Dann muss ich eben auf leeren Magen trinken. Du wirst sehen, was du davon hast.«
»Ich gebe dir ein paar Happen ab. Ehrenwort.«
»Wie ich dich kenne, darf ich zweimal beißen«, maulte Melifaro. Langsam war er wieder in seiner guten alten Form. »Sündige Magister, was bin ich für ein Dummkopf!«, rief er dann. »Ich hätte warten sollen, bis die Angreifer den Adonis aus Arwaroch fertiggemacht haben, und erst danach mit meinen Kugelblitzen einschreiten sollen. Dann hätte ich jetzt ein Problem weniger.«
Ich sah ihn fragend an. Bisher war ich überzeugt gewesen, seine Bemühungen um Lady Melamori seien nur Zeitvertreib. Ich war offenbar kein guter Psychologe.
»Ist es so schlimm?«, fragte ich mitfühlend.
»Noch schlimmer, aber ich will nicht darüber reden. In der Rolle des verschmähten Liebhabers fühle ich mich nicht wohl. Sie steht mir einfach nicht.«
»Aber als unbesiegbarer Held bist du großartig«, tröstete ich ihn. »Ich beneide dich richtig. Und jetzt nimm einen kräftigen Schluck und vergiss die ganze Geschichte.«
Melifaro lächelte stolz und tat, wie geheißen.
Die dunkeläugige Wirtin des Armstrong und Ella kehrte mit einem ziemlich großen Päckchen und einem Krug zurück.
»Hier drin hab ich nicht nur Abendessen, sondern auch Mittagessen für Sie«, rief sie freundlich. »Und hier im Krug ist Asch, Sir Max. Wenn Sie sagen, es schmeckt Ihnen nicht, bin ich beleidigt und nehme Ihnen das Essen wieder weg.«
»Bis dahin haben wir es längst verdrückt«, rief Melifaro und packte ein Sandwich aus.
»Entschuldigen Sie meine Neugier«, sagte ich zu unserer Retterin, »aber finden Sie nicht, dass wir Ihren Namen erfahren dürften, wenn Sie uns schon mit Essen versorgen?«
»Ich heiße Techi Scheck. Ich dachte, Sie wüssten alles über mich, Sir Max.«
»Fast alles«, sagte ich lächelnd. »Mir fehlen nur noch die Namen Ihrer Eltern, Ihre Adresse und Ihr Geburtsdatum, aber für so was haben wir ja Buriwuche. Es freut mich sehr, dass Sie keine Angst vor meinem Todesmantel haben, Lady Techi. Langsam fühle ich mich bei Ihnen wie ein Normalbürger.«
»Das wirst du nie sein«, mischte sich Melifaro ein. »Du bist und bleibst ein blutgieriger Sonderling und wirst nie und nimmer ein Mensch.«
»Du hast schon zweimal abgebissen«, meinte ich beckmesserisch. »Lass mich auch mal probieren.«
»Warum sollte ich Ihnen gegenüber scheu sein?«, fragte die Wirtin erstaunt. »Seit ich mein Gasthaus aufgemacht habe, warte ich darauf, dass Sie kommen. Das Lokal ist immerhin nach Ihren Tieren benannt.« Sie zog eine kleine Pfeife aus der Tasche ihres Mantels und stopfte sie. »Und was Ihren bekannten Todesmantel anlangt, Sir Max - wissen Sie, ich habe keine Angst vor dem Tod. Das ist familiär bedingt.«
»Sind etwa alle in Ihrer Familie Helden gewesen?«, fragte ich erstaunt.
»Ach was«, sagte sie mit wegwerfender Handbewegung und nahm einen tiefen Zug aus der Pfeife. »Aber alle Mitglieder meiner Familie sind tot und treten nur noch als Gespenster auf. Ich fürchte, auch mich wird dieses Schicksal ereilen. Ab und an sehe ich meine verstorbenen Brüder und kann Ihnen versichern, dass ihr Leben nach dem Tod interessanter ist als das Leben davor. Obwohl meine Brüder nie über Langeweile geklagt haben!«
»Toll!«, rief ich. »Sie haben wirklich Glück, Lady Techi. Für Sie ist schon klar, dass Sie nach dem Tod weiterleben.«
»Ja«, sagte sie und nickte nachdenklich. »Was das angeht, kann ich mich nicht beklagen.«
»So was wünsche ich mir auch-, mischte Melifaro sich ein.
Ich merkte, dass er den ganzen Krug geleert hatte.
»Dafür hättest du ein Sohn meines Vaters sein müssen«, meinte Lady Techi achselzuckend. »Anders geht es nicht.«
»Wirklich?«, seufzte Melifaro. »Das wird schwierig. Ich muss also am Leben bleiben - je länger, desto besser.«
»Eine gute Entscheidung«, meinte Lady Techi nickend.
Ich sah sie erstaunt an. Sie war wirklich schlagfertig, doch im Tiefsten meines Herzens spürte ich, dass mir an ihr nicht nur die Schlagfertigkeit gefiel.
Endlich tauchte die Stadtpolizei unter Leitung des uns schon bekannten Tschekta Schach auf. Er begrüßte uns freundlich und musterte Lady Techi flüchtig. Offenbar gefiel sie ihm nicht, denn er wandte sich rasch ab und brüllte seine Untergebenen an. Die Polizisten schafften die Leichen - allesamt Diener des so grässlichen wie unauffindbaren Mudlach - schnell aus dem Lokal.
»Schichola war lustiger«, seufzte Melifaro. »Schade, dass er kein Gespenst geworden ist. Es wäre nett, ihn mitunter zu treffen.«
»Ja, das wäre hübsch. Sein Tod war eine dumme Sache«, sagte ich.
»Der Tod ist nie dumm. Er kommt stets zur rechten Zeit«, widersprach Lady Techi.
»Es ist genau umgekehrt. Das können Sie einem Experten wie mir ruhig glauben«, entgegnete ich.
»Wir haben beide Recht«, meinte sie vermittelnd. »In diesem Bereich gibt es keine absolute Wahrheit.«
»Ihr philosophiert euch ganz schön was zusammen. Da kann man ja vom Zuhören verrückt werden«, sagte Melifaro lächelnd. »Techi, der Krug ist leer. Darf ich um Nachschub bitten?«
»Ich hätte nie gedacht, dass du so ein Faible für Heißgetränke hast«, bemerkte ich erstaunt.
»Stell dir vor: Das wusste ich auch noch nicht. Aber dieses Asch ist wirklich ein ganz wunderbares Gesöff.« Ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, griff er nach dem zweiten Krug, den Lady Techi ihm hinhielt. »Zum Teufel mit der Stadt Arwaroch und allen, die von dort gekommen sind. Warum muss ausgerechnet ich auf diesen Adonis aufpassen? Vielleicht sollte ich den königlichen Dienst quittieren und zu Antschifa gehen. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, sind er und seine Piraten für diese glotzäugigen Schönlinge gefährlich.«
»Alotho verschwindet sicher irgendwann«, sagte ich beschwichtigend. »Früher oder später jedenfalls.«
»Eben, früher oder später«, wiederholte Melifaro gereizt, trank sein Glas auf einen Zug leer und stellte es so unvorsichtig auf den Tisch, dass es umkippte und auf dem Boden zerschellte. Lady Techi lächelte.
»Du bist ja ein richtiger Rowdy, Melifaro. Ich hab noch nie ein Glas in so viele Stücke zerspringen sehen.«
»Wenn du willst, bring ich dir bei, wie das geht«, meinte er großzügig und nahm mein volles Glas.
Erstaunt beobachtete ich meinen Freund. Das Leben steckt voller Überraschungen.
»Willst du noch nicht schlafen gehen?«, fragte ich dann. »Es ist höchste Zeit für dich.«
»Eigentlich schon«, sagte er ehrlich. »Manchmal möchte ich meine Umgebung zum Lachen bringen, schlafe aber stattdessen ein - peinlich, peinlich.«
»Na ja, so weit ist es ja noch nicht«, tröstete ich ihn. »Komm, ich fahr dich zu mir nach Hause. Ich glaube, die Gesellschaft von Rulen Bagdasys wäre jetzt Gift für dich.«
»Kommt gar nicht in Frage. Ich will in mein Bett«, rief Melifaro hartnäckig. »Rulen kann ja wieder in den Stadtteil Rendezvous gehen und dort ein paar blaue Flecke kassieren.«
»Also gut, fahren wir zu dir«, sagte ich gelassen.
Wenn Melifaro unbedingt bei sich schlafen wollte, würde ich ihn sicher nicht daran hindern. Ich sah Lady Techi an, doch sie stopfte nur gedankenverloren ihre Pfeife. Ihre Miene schien weniger freudig, als man es bei einer Wirtin hätte erwarten können, die einen schwierigen Gast loswurde.
»Wollen Sie Ihr Lokal schon schließen?«, fragte ich unverbindlich.
»Ich weiß noch nicht. Warum?«
»Es gefällt mir bei Ihnen, und Ihre Getränke schmecken mir ausgezeichnet. Vielleicht bringe ich diesen Helden nach Hause und komme dann zurück. Darf ich?«
»Natürlich. Machen Sie das nur«, sagte sie lächelnd. »Ich könnte Ihnen auch bei der Konkurrenz ein Abendbrot bestellen.«
»Tolle Idee! In einem Wirtshaus zu sitzen und das Essen aus einem anderen Wirtshaus kommen zu lassen, hab ich noch nie gemacht.«
Diesmal beeilte ich mich wirklich, ignorierte jeden Begriff von Höchstgeschwindigkeit und wünschte mir so ein Höllentempo, dass wir tatsächlich binnen vier Minuten in der Straße der dunklen Wolken waren.
Melifaro schlief wie ein Stein auf der Rückbank meines Wagens. Ich versuchte vergeblich, ihn wachzurütteln, und seufzte tief. Tragen konnte ich unseren hoch gewachsenen Helden unmöglich. Das Schleppen schwerer Gegenstände gehört ganz und gar nicht zu meinen Stärken. Ohne Zeit zu verlieren, wiederholte ich einen Zaubertrick, den ich schon mehrfach angewandt hatte, und nach einer Sekunde befand sich Melifaro zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand. »Da wartet eine so nette Lady auf mich, und ich muss mich mit dir quälen«, meinte ich genervt, nahm aber stark an, dass Melifaro meine Worte nicht hörte.
Im Wohnzimmer erwartete mich erneut ein seltsamer Anblick. Außer Rulen Bagdasys saßen dort drei Herren. Weil sie die gleiche Mütze trugen wie Rulen, nahm ich stark an, dass auch sie aus Isamon stammten.
Im Zimmer herrschte heillose Unordnung, und auf dem Tisch lagen alle möglichen Essensreste. Ich hatte immer gedacht, man brauche eine ganze Partygesellschaft, um so ein Chaos zu veranstalten.
»Na, erholt ihr euch schön?«, fragte ich gereizt.
Die Männer sahen mich ungerührt an. Mein Todesmantel beeindruckte sie nicht besonders - vermutlich, weil ich keine schicke Mütze trug.
»Habt ihr euer Hirn aufgefressen?«, pöbelte Rulen seine Gäste an. »Dieser Mann stammt aus adliger Familie und steht dem Königshof nahe.«
»Ich rate euch dringend, hier aufzuräumen und nach Hause zu gehen«, sagte ich und versuchte, möglichst grausam und streng zu klingen, doch das gelang mir nicht recht. »Der Hausherr schläft noch, aber er kann jeden Moment erwachen. Er ist nicht besonders gut gelaunt und empfängt selten Gäste - also ...«
»Du kapierst wohl auch nicht, wen du vor dir hast?«, pöbelte Rulen nun mich an. »Das sind die Herren Zizerinek, Machlasufis und Michusiris. Na, fällt der Groschen noch immer nicht? Das sind die Titanen!«
»Für so was hab ich keine Zeit«, antwortete ich kühl und ging zur Treppe. »Aber denk daran: Wenn Melifaro aufwacht und es hier noch immer so aussieht, wird es böse enden. Ich glaube nicht, dass eure Mützen das überleben.«
Ich war der Auseinandersetzung mit der Plebs aus Isamon herzlich müde und ging ins Schlafzimmer. Dort beugte ich mich über Melifaros Bett, schüttelte ihn aus meiner Hand und legte ihn in die Federn.
»Du darfst mich nicht auf den Boden werfen«, rief er ärgerlich im Schlaf.
»Ich pass schon auf. Schlaf schön, mein Held.«
Er hatte mich wohl nicht gehört, denn er rollte sich zusammen und schlummerte weiter. Ich breitete eine Wolldecke über ihn, schüttelte den Kopf und ging wieder nach unten.
Im Wohnzimmer thronten weiterhin die Männer aus Isamon und sahen mich so ängstlich wie aufdringlich an. Erst wollte ich sie darüber belehren, wie wichtig es ist, fremde Tische sauber zu halten, winkte dann aber ab. Melifaro ist kein Kind mehr - soll er sich doch mit ihnen auseinandersetzen, dachte ich. Schließlich hab ich Wichtigeres und Angenehmeres zu tun.
Ich jagte mit dem A-Mobil durchs nächtliche Echo und staunte über mich selbst. Wer war diese unglaubliche, dunkeläugige Lady mit den kurzen hellen Locken eigentlich? Was für eine seltsame Haarfarbe sie hatte! Und eine aristokratische Nase und angenehm sanft geschwungene Lippen. Mir war fast, als hätte ich mir diese Frau als ideale Verkörperung meines Geschmacks ausgedacht.
Das Leben ist immer für Überraschungen gut. Lady Melamori schwärmte den Adonis aus Arwaroch an, und ich raste durch die Stadt, um mich mit einer Frau zu treffen, die ich womöglich nur halluziniert hatte. Wir waren beide verrückt. Nur Melifaro blieb vernünftig: Zuerst hatte er sich ausgetobt, und jetzt schlummerte er friedlich.
Aber Lady Techi war natürlich keine Halluzination. Sie saß vor einem vollen Tablett aus dem Gefräßigen Truthahn und drehte nervös ihre Pfeife in den Händen. Sie wartete auf mich. Auf mich! Wahnsinn!
»Freuen Sie sich, mich wiederzusehen?«, fragte ich.
»Aber ja. Und jetzt müssen Sie unbedingt etwas essen. Ich hab keinen Hunger, wenn ich im Stress bin. Der ganze Abend liegt noch vor uns.«
Sie plapperte los, als würden wir uns seit Jahren kennen, doch ihr Blick sprach eine andere Sprache. Er war vorsichtig, aufmerksam und eigenartig traurig.
Ich hatte große Lust, ihre Hand zu halten, hielt mich aber zuerst ans Essen. Verflixt! Immer wenn ich das Gefühl hatte, mich von meiner Schüchternheit befreit zu haben, tauchte sie verstärkt wieder auf.
»Warum sind Sie eigentlich zurückgekehrt?«, fragte Lady Techi mich plötzlich. »Gefällt es Ihnen bei mir so gut?«
••Gefallen ist ein viel zu schwaches Wort. Schade nur, dass die Polizisten die Leichen fortgeschafft haben. Die gaben dem Lokal so einen angenehmen Gruseleffekt.«
Lady Techi lächelte schief, strich ihren Pony zurecht, beugte sich vor und senkte den Kopf. Ich war sicher, dass sie meine Gesellschaft schätzte, doch sie saß wie auf glühenden Kohlen. Vorsichtig suchte ich nach einem Gesprächsthema.
»Erzählen Sie mir etwas über Ihre Familie. Sie haben doch sicher nicht gescherzt, als Sie sagten, dass Ihre toten Brüder als Gespenster umgehen.«
»Ganz und gar nicht. Sie leben wirklich nicht mehr und sind eines gewaltsamen Todes gestorben. Sie existieren aber noch immer, haben allerdings keinen Körper. Mitunter treffe ich sie im Schloss unserer Familie. Eigentlich würde ich gern dorthin ziehen, aber ich kann meine Brüder nicht längere Zeit ertragen. Menschen sollen unter Menschen leben, stimmt's? Mir gefällt das Dasein meiner Brüder. Sie sind so leicht und frei. Davon können wir Normalbürger nur träumen. Sie ziehen so problemlos durch verschiedene Welten wie Sie und ich durch die Straßen von Echo. Das ist nur ein kleiner Teil dessen, womit sie sich unterhalten. Der Rest übersteigt meinen Verstand.«
Lady Techi beschrieb die Vorteile des Lebens nach dem Tode so begeistert, dass ich am liebsten selbst ein Gespenst geworden wäre, doch ich bemühte mich, diesen Gedanken im Keim zu ersticken, denn Sir Machi Ainti - der ehemalige Sheriff von Kettari - hatte mal gesagt, all meine Wünsche würden sich erfüllen, manche allerdings später als andere. Ich hatte genug Zeit gehabt, um festzustellen, dass er Recht hatte.
Während ich noch grübelte, stand Lady Techi auf, ging zur Theke und kehrte mit zwei Gläsern zurück.
»Wir sollten uns endlich duzen«, schlug sie vor. »Dieses Siezen reicht Ihnen doch sicher auch allmählich, oder?«
»Stimmt.«
Ich hatte zwar keine große Lust, noch was zu trinken, wollte sie aber gerne duzen und mich nicht blamieren.
»Ihre Abneigung gegen Konventionen gefällt mir«, sagte Lady Techi lächelnd und hob ihr Glas. »Auf dich, Max.«
»Auf dich, Techi«, gab ich fröhlich zurück.
»Du musst alles austrinken. Es schmeckt gut und ist nicht stark - Ehrenwort.«
Ich tat, wie geheißen. Der Drink roch nach exotischen Blumen und Waldgräsern und war wirklich nicht stark. Mein Puls verdoppelte sich, und ich vergaß zu atmen. Kein Wunder, denn mir gegenüber saß die herrlichste Frau des Universums, und ich Dummkopf war noch immer nicht vor ihr auf die Knie gesunken.
Ich stellte mein leeres Glas auf den Tisch. Mein Kopf brummte, und der Körper von Lady Techi schien mir so groß wie die Welt. Mein Herz hörte auf zu schlagen, und ich spürte einen süßen Schmerz in der Brust.
Ringsum herrschte Dunkelheit. Das musste der Tod sein, vor dem ich mich immer gefürchtet hatte. Doch ich hatte keine Angst vor ihm, sondern spürte nur den Schmerz. Es war eine unbeschreibliche Qual - als ob mich jemand in viele Teile zerlegen und mein Herz durch den Fleischwolf drehen würde.
Im letzten Moment kam ich wieder zu Bewusstsein. Ich wollte auf keinen Fall sterben. Ich hatte so wunderbare Pläne für den Abend, die nächsten Tage und überhaupt die Zukunft.
Neben mir kniete die erschrockene und panische Techi. Ich wusste, dass Menschen in Stresssituationen verkrampfen und oft ratlos sind. Für mich war jetzt jede Sekunde kostbar.
»Ruf sofort Sir Juffin«, flüsterte ich. »Sag ihm, ich sei tot. Er ...«
Erneut stürzten Dunkelheit und Schmerz auf mich ein, und ich leistete keinen Widerstand. Ich weiß nicht mehr, was dann geschah, und das ist auch besser so.
Endlich kam ich wieder zu Bewusstsein, war aber so erstaunt, dass ich fast erneut ohnmächtig wurde. Die Auferstehung ist per se ein seltsames Ereignis. Obendrein mit einer fast fremden Frau im Bett zu landen macht die Sache nicht leichter.
»Du lebst«, flüsterte Lady Techi und wirkte deutlich entspannter als zuvor.
»Ist das schlimm?«, fragte ich. »Magst du keine lebenden Männer? Weißt du, manchmal rede ich im Schlaf, aber ich hätte nie gedacht, dass ich auch beim Sterben reden würde. Ich war doch tot, oder?«
Sie lachte unter Tränen.
»Jetzt jedenfalls bist du zum Glück alles andere als tot. Sir Juffin ist auf der Suche nach deinem zweiten Herzen, weil... Ach, Erklärungen spielen jetzt sowieso keine Rolle.«
So war es tatsächlich, denn nun beugte sie ihr hübsches Gesicht wieder über mich.
»Jetzt wirst du sicher nicht sterben«, flüsterte sie mir nach ein paar Minuten zu.
Zum Glück ging sie nicht weg, sondern blieb neben mir liegen und kuschelte sich an meine Schulter.
Ich sah mich ein wenig um und merkte erschrocken, dass im Sessel am Fenster Sir Juffin saß. Das orangefarbene Licht der Straßenlaterne beleuchtete sanft sein Gesicht. Ich hatte den Eindruck, dass er uns aufmerksam betrachtete, und zog die Bettdecke bis zum Kinn hoch. Ein paar Sekunden blieb ich wie erstarrt liegen, doch dann schwanden meine Hemmungen.
»Wir sind zwar wirklich gut befreundet und haben keine Geheimnisse voreinander, aber das geht wirklich zu weit. Warum starren Sie mich denn so an? Verhalte ich mich seltsam?»
Juffin reagierte gar nicht auf meine Tirade, und ich wusste überhaupt nicht mehr, was los war.
»Er schläft, Max«, erklärte mir Techi. Sie hatte noch immer Tränen auf den Wangen, lächelte aber sanft. »Er schläft mit offenen Augen. Das passiert manchmal. Er sucht nach deinem zweiten Herzen.«
»Kannst du mir sagen, was eigentlich los war?«, fragte ich. »Mögen die Magister wissen, wo Juffin sich herumtreibt. Ich verstehe absolut nicht, worum es geht.«
Techi musste sich schwer zusammenreißen, um ihr Lachen zu unterdrücken.
»Du stellst vielleicht Fragen! Du bist weiß wie eine Kalkwand geworden und auf den Boden gestürzt und hast mir befohlen, Sir Juffin zu rufen. Aber ehe ich ihn per Stummer Rede erreicht hatte, war er schon da - ich weiß nicht, wie. Er hat dich in den Arm und mich an die Hand genommen und uns hierher ins Schlafzimmer geführt. Max, ich erinnere mich nicht gut daran, was passiert ist. Ich wäre fast verrückt geworden, als ich dich bleich auf dem Boden liegen sah. Und dann dieser Juffin: Unter seinem Blick wäre ich fast selbst gestorben.«
Lady Techi rümpfte die Nase ein wenig, und ich strich ihr durchs Haar.
»Aber jetzt ist alles in Ordnung, stimmt's, meine Liebe? Erzähl weiter.«
»Juffin hat gesagt, er geht deinen Schatten suchen, um ein zweites Herz für dich zu besorgen. Dann hat er mir eingeschärft, auf dich aufzupassen, hat sich in den Sessel gesetzt und ist erstarrt. Den Schatten kann man nur im Schlaf finden, und das versucht er gerade. Er hat mir ausdrücklich befohlen zu beenden, was ich mit dir begonnen habe.«
»Was hat er damit gemeint? Ich versteh das nicht.«
»Das wird er dir selbst erzählen«, meinte Techi mürrisch.
Mir gefiel das ganz und gar nicht. Dennoch streichelte ich ihre Schulter und sagte: »Wer weiß - vielleicht muss ich dich noch vor Juffin schützen.«
Techi schlang die Arme um die Knie und sagte, ohne mich anzusehen: »Ich habe dich vergiftet.«
»Findest du mich so widerlich? Oder war es aus Rache?«
»Aber nein, Max, es war ein Versehen! Ich wusste nicht, dass dieses Getränk so auf dich wirkt.«
»Welches Getränk denn?«, rief ich und verlor langsam die Beherrschung. »Sag mir endlich alles, sonst sterbe ich vor Neugier, und nichts kann mir helfen.«
»Na ja«, meinte Techi und sah mich finster an. »Ich wollte dich einfach behexen.«
"Aber warum? Ich hab den ganzen Abend sowieso nur an dich gedacht. Willst du behaupten, du hättest das nicht gemerkt? Das wäre sicher gelogen. Meine Kollegen sagen, meine Gefühle stünden mir ins Gesicht geschrieben.«
»Wirklich?«, fragte Techi baff. »Du hast zwar durchaus wie jemand gewirkt, der begeistert von mir ist, aber ich wäre nie darauf gekommen, dass du dich ernsthaft um mich bemühen würdest. Um jemanden mit meinem Gesicht!«
»Ich finde dein Gesicht wunderbar.«
Lady Techi wirkte verlegen und suchte nach ihrer Skaba.
Nun lachte ich, doch das war für meinen Körper offenbar zu viel, denn gleich ging es mir wieder schlechter, und ich konnte keinen Laut mehr hervorbringen. Wieder griff die Dunkelheit nach mir, und ich spürte erneut den süßen Schmerz in der Brust. Ich schloss die Augen und wusste, dass ich keinen Widerstand leisten sollte.
Dann hatte ich das Gefühl, jemand habe in meinem Körper den Schalter umgelegt und meine Kraft kehre zurück. Ich öffnete die Augen, stützte mich auf den Ellbogen und sah mich um. Ich wusste, dass die Welt sich verändert hatte, konnte aber nicht sagen, inwiefern.
Techi saß neben mir und hielt meine Hand. Wahrscheinlich war sie drauf und dran, meinen Tod zu beweinen. Ich musste sie unbedingt beruhigen.
»Es geht mir prima, meine Liebe, glaub mir.«
»Erst hast du eine schutzlose Frau und einen erfahrenen Zauberer erschreckt, und nun sagst du so was. Dabei hast du inzwischen sogar ein zweites Herz. Mir war zwar klar, dass du gierig sein kannst, aber das ist wirklich übertrieben«, meldete sich mein Chef zu Wort.
»Juffin, können Sie mir vielleicht erklären, was mit mir los war? Was hat es mit diesem zweiten Herzen auf sich, das Sie von meinem Schatten bekommen haben?«
»Du bist gestorben, Max - das war los. Und ich hab bei deinem Schatten dein zweites Herz besorgt. Keine Sorge: Er wird auch ohne Herz gut funktionieren. Ich hoffe, diese Frau hat dir inzwischen all ihre Sünden brav gebeichtet.«
Ich nickte, lächelte breit und wandte mich an Techi. Sie wirkte zwar nervös, doch Juffins Worte hatten sie sichtlich entspannt. Sanft nahm ich ihre Hand und hoffte, das würde ihr helfen.
»Du bist ja stolz wie ein Truthahn auf dem Bauernmarkt. Wie ich sehe, bist du nun ein Held, Liebhaber und Eroberer der Herzen. Außerdem hat sich gezeigt, dass dieses Getränk auf dich wie Gift wirkt.«
»Na ja, zum Glück bin ich kein Casanova wie Melifaro. Der würde in jedem Wirtshaus doppelt so viel Asch bekommen wie ich.«
»Alles halb so schlimm. So viel Aufmerksamkeit droht dir bei deinem Beruf jedenfalls nicht«, meinte Juffin. »Nur die Tochter von Lojso Pondochwa konnte die Augen vor dem Todesmantel verschließen.«
»Was? Ist sie wirklich die Tochter von Lojso, dem Großen Magister des Ordens der Wasserkrähe, von dem ich schon so viel gehört habe?«, fragte ich und sah Lady Techi verwirrt an. »Das ist offenbar einer der interessantesten Tage meines Lebens.«
Dann erinnerte ich mich an etwas, zog ein finsteres Gesicht und fragte vorsichtig: »Juffin, Techi - seid ihr nicht Erbfeinde? Haben Sie nicht Techis Vater umgebracht, Juffin?«
»Mein Vater war ein Abenteurer, aber ich habe ihn zum Glück nur ein paar Mal im Leben gesehen«, warf Techi gereizt ein. »Außerdem hat mir Juffin in der Traurigen Zeit das Leben gerettet, denn er hat den Befehl des ängstlichen Nuflin ignoriert, auf alle Kinder Lojso Pondochwas Jagd zu machen.«
»Ich hielt das einfach nicht für zweckmäßig«, pflichtete Juffin ihr bei. »Außerdem hatte ich wichtigere Dinge zu tun, als unschuldige Mädchen zu jagen. Und ein paar Tage später hat Seine Hoheit Gurig VII. ein Gesetz erlassen, das alle Mitglieder der Familie Pondochwa für unantastbar erklärte. Nuflin war darüber zwar empört, konnte aber schlecht gegen den König vorgehen. Deshalb ist unser Verhältnis tadellos, nicht wahr, Lady Scheck?«
Sie nickte traurig.
»Bist du nun zufrieden, mein Herz?«, fragte mich Juffin. »Oder sollen wir uns vor deinen Augen noch ein Bussi geben, damit du uns glaubst?«
»Das lieber nicht«, sagte ich finster. »Sündige Magister, ihr habt wirklich alle eine ungemein dunkle Vergangenheit.«
»Kann schon sein«, meinte Juffin leichthin. »Sag mir lieber, was wir mit dieser Lady anfangen sollen. Wir könnten sie ins Cholomi-Gefängnis werfen. Schließlich hätte sie fast einen königlichen Beamten getötet, wie sie gerade zugegeben hat. Ich hätte euch eigentlich ungestört lassen können, denn sie hat dich auch ohne meine Hilfe wunderbar belebt.«
»Wie hat sie das geschafft?«
»Das wüsste ich selber gern. Ich hab mal gehört, einem Vergifteten könne nichts Besseres passieren, als in den Armen dessen zu landen, der ihn vergiftet hat. Diese Arme sind gewissermaßen das beste Antidot. Diese Regel bezieht sich auf Pflanzen und ist natürlich nur im übertragenen Sinne gemeint, aber heute hab ich festgestellt, dass sie wirklich gültig ist, denn bei der Rückkehr von deinem Schatten hab ich gesehen, dass du wohlauf bist. Allerdings hatte ich da schon dein zweites Herz besorgt und konnte es nicht mehr zurückgeben. Darum hast du jetzt gewissermaßen ein Doppelherz.«
»Was ist das für ein Schatten? Wo haben Sie ihn her?«
»Wie soll ich sagen ... Ich hab ihn quasi im Traum gefunden ... Doch eigentlich glaube ich nicht, dass das die richtige Beschreibung ist. Eigentlich weiß niemand genau, worum es sich bei diesem Schatten handelt, aber eins ist gewiss: Jeder Mensch hat seinen Schatten, und deiner hat sich prima versteckt. Ich hatte Mühe, ihn aufzutreiben. Dieser Schatten hat alles, was sein Besitzer hat, also auch ein Herz. Anders als wir kommt der Schatten aber auch ohne seine Körperteile über die Runden. Verstehst du meine Erklärungen überhaupt, oder mühe ich mich hier ganz vergeblich?«
»Ich verstehe zwar kein Wort von dem, was Sie sagen, aber vergeblich bemühen Sie sich nicht. Ihre Stimme wirkt ungemein beruhigend. Doch wie soll ich mit den beiden Herzen leben?«
»Wie bisher, nur etwas besser«, sagte Juffin lächelnd. »Du wirst schon irgendwann merken, wie viel Glück du hast.«
»Ich bin eben ein Glückspilz und du nicht«, sagte ich und wandte mich an Techi.
»Warum das denn?«, fragte sie erschrocken.
«Ich schimpfe im Schlaf, spucke Gift, arbeite nachts und esse Unmengen. Außerdem bin ich der König eines seltsamen Landes. Merkst du jetzt, mit wem du es zu tun hast?«
Techi lächelte. »Meine Mutter hat immer gesagt, ich würde böse enden. Warte mal, Max - woher weißt du eigentlich, dass ich mich so für dich interessiere?«
»Na ja, du hast mich vergiftet, und jetzt musst du die Konsequenzen tragen. Ich erwarte mindestens sechshundert Jahre Intensivpflege. Stimmt's, Sir Juffin?«
»Wenn du es sagst, wird es schon stimmen«, gähnte mein Chef. »Und jetzt reiß dich zusammen - ich erwarte dich morgen Mittag.«
»Ich komme bei Sonnenuntergang«, erklärte ich fest. »Mein Tod ist ein guter Grund, mich etwas zu verspäten.«
Ich pochte mir zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze. Diese klassische Geste aus Kettari besagt: Zwei vernünftige Menschen können sich immer verständigen.
Juffin war nun butterweich: »Du bist ja ein Faulpelz! Na gut, komm bei Sonnenuntergang. Und jetzt genieß dein Leben - es ist bekanntlich kurz. Ich gehe schlafen, denn ich kann mich bei niemandem entschuldigen, wenn ich zu spät komme.«
»Doch, sagen Sie es mir. Ich hab jede Menge Verständnis.«
»Gut«, sagte Juffin, sah gereizt zur Decke und wandte sich an Lady Techi. »Ich hoffe, Sie bald unter günstigeren Umständen wiederzusehen. Und verzeihen Sie, wenn ich Sie erschreckt haben sollte.«
»Eigentlich hat er mich mehr erschreckt als Sie«, sagte Lady Techi und wies mit dem Kopf auf mich. »Den Rest vergesse ich ohnehin schnell.«
»Das ist gut«, seufzte Juffin. »Ich vermute, heute Abend habe ich mich nicht an alle Benimmregeln gehalten. Denken Sie daran, diesem Mann eine Flasche Kachar-Balsam zu kaufen, falls Sie wirklich Vorhaben, ihn längere Zeit in Ihrem Schlafzimmer zu dulden.«
»Die kann er sich ja wohl selbst besorgen.«
»Wohl kaum. Er ist nämlich sehr geizig.«
Als wir wieder unter uns waren, sah Techi mich aufmerksam an.
»Willst du wirklich hier bleiben, Max?«
»Ja«, erklärte ich fröhlich.
»Und warum?«
»Weil du hier bist - das ist doch logisch.«
»Ist das eine Liebeserklärung?«, fragte sie verlegen.
»Viel mehr als das!«
»Weißt du denn, wer ich bin? Die Kinder von Lojso Pondochwa haben keinen guten Ruf in Echo.«
»Wie viele Kinder hatte dein Vater denn?«
»Ich habe sechzehn Brüder, und alle haben eine andere Mutter. Wir sind sehr unterschiedlich.«
»Und sind deine Brüder alle Gespenster geworden? Das wäre toll, weil auch ich etwas seltsam bin. Ich bin nämlich - unter uns gesagt - aus einer Gegend hierhergeraten, die allenfalls die Magister kennen.«
»Das hab ich mir schon gedacht. Deine Augenfarbe ändert sich jede Minute. Da kannst du unmöglich von hier sein.«
»Ich trau mich kaum, es zu sagen, aber ich habe schon wieder Hunger. Hast du vielleicht etwas zu essen da?«
»Schon wieder? Du hast doch eben erst alles aufgegessen!«
»Sündige Magister. Ich hab im Leben wirklich kein Glück«, seufzte ich. »Da lerne ich mal eine Wirtin kennen, und dann führt sie ausgerechnet das einzige Lokal in ganz Echo, in dem es nichts zu essen gibt.«
Diszipliniert, wie ich bin, erschien ich eine volle Stunde vor Sonnenuntergang im Haus an der Brücke. Leider hatte ich weder geschafft, mich zu erholen, noch etwas Vernünftiges zu essen.
»Du siehst aber schlecht aus«, sagte Juffin, nachdem er mich von oben bis unten gemustert hatte. »Ich hoffe, du hast noch Kraft genug, ins Fressfass zu gehen und etwas zu dir zu nehmen. Mach das bitte sofort. Man kann dich ja kaum ansehen.«
»Das schafft er nicht. Ist doch unübersehbar. Aber ich könnte ihn hintragen«, frotzelte Melifaro.
»Das wäre immerhin eine Wiedergutmachung für gestern Abend«, rief ich.
»War ich wirklich so schlimm?«, fragte Melifaro.
»Und wie! Du bist im Auto eingeschlafen, und ich musste dich ins Haus tragen. Das hat mich so erschöpft, dass ich krank geworden bin und geheilt werden musste.«
»Ach, damit hab ich mir den gestrigen Abend um die Ohren geschlagen? Interessant, was man so alles erfährt. Gut, Jungs. Jetzt beeilt euch. Sonst habt ihr keine Zeit mehr, etwas zu essen.«
»Du siehst verdächtig glücklich aus«, meinte Melifaro und setzte sich mir gegenüber. Wir waren an unserem Lieblingstisch im Fressfass gelandet.
»Das bin ich auch.«
Am liebsten hätte ich mich per Stummer Rede bei Techi gemeldet und sie gefragt, was sie gerade mache, doch ich beherrschte mich tapfer, um nicht den Eindruck zu erwecken, sie sei mit einem Verrückten zusammen. Oder ist es nicht unsinnig, jemanden zu fragen, wie es ihm geht, wenn man sich erst eine halbe Stunde zuvor von ihm verabschiedet hat?
Stattdessen beschäftigte ich mich mit einer vorderhand sehr wichtigen Sache, mit dem Essen nämlich. Ein paar Minuten war ich nicht eben kommunikativ. Dann seufzte ich zufrieden und sah meinen Kollegen wieder an.
»War es nett bei dir heute Morgen?«
Melifaro machte ein schreckliches Gesicht. »Warum hast du die vier Männer aus Isamon nicht umgebracht, Max, oder sie wenigstens mitgenommen?«
»Erstens hatte ich gehofft, sie würden meinem Rat folgen und das Chaos beseitigen, und zweitens dachte ich mir, es würde dir viel Spaß machen, sie selbst zu erledigen.«
»Das war einer der schlimmsten Vormittage meines Lebens«, sagte Melifaro mit Grabesstimme. »Ich bin mit schwerem Kopf und einem Stein auf der Brust erwacht. Außerdem hatte ich keine Ahnung, wie ich in meinem Haus gelandet war und wie der Abend zu Ende gegangen ist. Wie war es denn bei Lady Techi?«
»Ganz normal. Du hast nur ein Glas kaputt gemacht.«
»Wirklich? War ich so betrunken?«
»Ach, das war nicht so schlimm. Erzähl mir lieber, wie es heute Morgen bei dir ausgesehen hat.«
»Da gibt es nicht viel zu erzählen. Ich bin die Treppe runtergekommen und hab diese vier Männer gesehen. Zuerst hab ich sie wirklich umbringen wollen, aber dazu fehlt mir dein giftiges Talent! Dann hab ich festgestellt, dass alle vier selenruhig in ihren Sesseln schliefen. Kannst du dir das vorstellen? Dann hab ich ihre Mützen aus dem Fenster geworfen, aber auch davon sind sie nicht aufgewacht. Also bin ich mich waschen gegangen. Als ich wieder ins Wohnzimmer kam, hab ich diese Verehrer des Elchfleischs wachgerüttelt und ihnen befohlen zu verschwinden. Sie aber haben nur unverständliches Zeug gemurmelt, bei dem es offenbar um mein Gehirn ging.«
»Das machen sie immer. Ich fürchte, das ist eine Frage der Mentalität.«
»Na ja, kurz gesagt habe ich zwei von ihnen aus dem Fenster geworfen, und der Dritte ist geflohen.«
»Und was hast du mit Rulen Bagdasys angestellt?«
»Das ist eine besondere Geschichte. Zuerst hab ich ihm einfach die Tür weisen wollen. Immerhin möchte ich meine eigenen Gäste haben, nicht die von anderen. Dann war ich sogar bereit, ihm Geld zu geben, wenn er nur endlich verschwände, doch Rulen hat mir - wie immer - die Schuld an allem gegeben. Ich habe den Eindruck, er hört nie, was man ihm sagt, sondern nur seine eigenen Worte, und von denen längst nicht alle.«
»Und wie ist die ganze Sache ausgegangen?«
Ich erwartete ein Mordgeständnis und war bereit, meinem Freund bei der Beseitigung der Leiche zu helfen. Eigentlich hielt ich mich schon beinahe für einen Mittäter.
Doch Melifaro lächelte nur und griff in die Manteltasche.
»Er ist jetzt hier!«, rief er und zeigte mir einen Ring mit einem großen, durchsichtigen Stein.
»Halt ihn mal gegen das Sonnenlicht«, sagte er.
Ich folgte seinem Rat und staunte: Im hellgrünen Kristall war ein kleiner Rulen Bagdasys zu sehen.
»Ich glaube, du musst jetzt ins Cholomi-Gefängnis, mein armer Freund«, seufzte ich. »Interessante Frage, wie viele Jahre Haft sie dir dafür aufbrummen werden.«
»Das möchtest du wohl? Das ist höchsten Schwarze Magie siebten Grades, also nur ein harmloser Verstoß gegen das Chrember-Gesetzbuch. Aber ich bin bereit, dafür zu büßen.«
»Lebt er überhaupt noch?«
»Natürlich. Ich hab den gleichen Trick angewandt, den du so wunderbar beherrschst. Ich hab ihn nur nicht in meine Hand gezaubert. Ihn im Kristall unterzubringen war zwar etwas schwieriger, aber dafür ist der Effekt stärker. Ich kann ihn jederzeit rauslassen, aber das hab ich natürlich nicht vor. Das Leben ohne Rulen ist wirklich angenehm.«
»Dieser Kristall ist ein hübsches Souvenir. Du könntest ihn deinem Bruder schenken. Der würde sich bestimmt freuen. Außerdem hab ich den Eindruck, er hat den Mann aus Isamon wirklich ins Herz geschlossen.«
»Ich hab eine bessere Idee. Ich hab schon einen Kandidaten für diesen Schatz.«
»Wen denn?«
»Alles zu seiner Zeit«, sagte mein Kollege geheimnisvoll. »Du wirst schon sehen.«
»Hauptsache, ich bin nicht der Auserwählte. Außerdem wüsste ich gern, wie sich die Geschichte des unauffindbaren Mudlach entwickelt.«
»Das interessiert dich also?«, seufzte Melifaro. »Du tauchst zwar nicht mehr im Haus an der Brücke auf, bist aber trotzdem neugierig, was die lieben Kollegen so treiben, was? Gestern, als wir uns so wunderbar amüsiert haben, hat sich Sir Juffin mit dem Verwandlungsmeister Warich Ariam unterhalten, diesem gewichtigen Überbleibsel der Ordensepoche. Soweit ich weiß, hat er Warich danach entlassen und war sehr zufrieden. Wir wissen jetzt nicht nur, wie Mudlach gegenwärtig aussieht, sondern kennen auch seine Adresse. Dorthin bin ich heute Morgen gegangen, aber erwartungsgemäß ist er seit drei Tagen spurlos verschwunden, seit der Ankunft des Schiffes aus Arwaroch also. Offenbar hat er seine Landsleute gespürt. Ich muss offen gestehen, dass mir die Gespräche mit den Nachbarn des mächtigen Flüchtlings sehr gefallen haben. All diese Leute haben von ihrem interessanten Leben in der Nähe einer unbekannten Größe berichtet. Leider hatte ich immer noch Kopfweh und konnte ihre Monologe deshalb nicht recht genießen. Außerdem haben die Buriwuche in der gleichen Straße noch weitere acht Flüchtlinge aus Arwaroch gefunden. Juffin hat sich mit jedem von ihnen ausführlich unterhalten, aber sie haben natürlich nichts gewusst, weil sie seit Jahren stark verfeindet sind. Ich wüsste wirklich gern, wo sich der Grässliche Mudlach herumtreibt.«
»An seiner Stelle würde ich versuchen, ins Cholomi-Gefängnis zu kommen. Das wäre der beste Unterschlupf.«
»Genial. Warum hast du das bisher verschwiegen?«
»Ich hab nichts verschwiegen. Das war nur ein Scherz.«
»Wie auch immer - wir sollten diese Idee prüfen. Komm, gehen wir ins Haus an der Brücke.«
»Mach das bitte allein. Ich hab noch einen vollen Teller vor mir stehen.«
»Ich will dir ja nicht zu nahe treten, doch das ist schon der dritte. Aber gut, ich gehe.«
»Wenn dir so viel an meiner Gesellschaft liegt, musst du wohl noch drei Minuten warten.«
Sir Juffin empfing einmal mehr Alotho Aliroch, den Adonis aus Arwaroch, der mir langsam vorkam wie eine Mischung aus neuem Mitarbeiter und entferntem Verwandten.
»Gut, dass ihr gekommen seid, Jungs«, sagte unser Chef. »Alotho will uns gerade erzählen, wo er den flüchtigen Mudlach vermutet. Ich meine natürlich den Grässlichen Mudlach, Herr Alotho - Ihr braucht mich gar nicht so streng anzusehen. Also bitte, berichtet uns!«
»Ich habe meinem Schamanen Thota befohlen, unseren Gott zu fragen, wo sich der Grässliche Mudlach aufhält. Thota hat mir eine Antwort gegeben, die ich nicht verstanden habe. Das liegt vermutlich daran, dass ich Eure Stadt nicht gut kenne. Er hat gesagt, Mudlach befinde sich im Zentrum des großen Wassers, in das man leicht geraten könne, aus dem man sich aber kaum zu befreien vermöge. Wisst Ihr, wo das sein könnte?«
»Natürlich«, mischte sich Melifaro ein. »Juffin, stellen Sie sich vor: Wir haben die gleiche Nachricht für Sie wie dieser Thota. Der Gesuchte befindet sich im Cholomi-Gefängnis - sonnenklare Sache.«
»Seid ihr auch Schamanen?«, fragte Juffin maliziös.
»So könnte man sagen«, meinte Melifaro lächelnd. »Max hat sich total überfressen und ist zum Bauchredner geworden.«
»Na ja, eigentlich hab ich nur einen Witz machen wollen«, erklärte ich.
»Redet ihr etwa auch beim Essen über eure Arbeit? So viel Pflichtgefühl hätte ich euch gar nicht zugetraut«, sagte unser Chef und sah Alotho dann mitfühlend an: »Wir werden das gleich prüfen. Wenn Euer Schamane Recht hat, werdet Ihr ziemlich lange auf Vergeltung warten müssen, denn Ihr dürft das königliche Gefängnis nicht betreten. So will es das Gesetz.«
»Ich kann warten«, meinte Alotho gelassen. »Ich möchte nur wissen, wo sich der Grässliche Mudlach befindet. Auf ihn zu warten ist nicht das Schlimmste, was einem passieren kann.«
»Wirklich nicht?«, rief Juffin erstaunt. »Das erleichtert die Sache ja kolossal. Wenn wir was Handfestes erfahren, melde ich mich per Stummer Rede bei Euch. Moment mal, Ihr beherrscht diese Art der Kommunikation doch gar nicht, oder?«
»Aber natürlich. Lady Melamori hat es mir gestern beigebracht. Die Stumme Rede ist nicht weiter kompliziert.«
»Ihr seid wirklich begabt«, seufzte ich neidisch. »Mir fällt sie nach wie vor sehr schwer.«
»Du hast eben noch immer nicht gelernt, dich ganz auf das zu konzentrieren, was du gerade tust«, bemerkte Juffin. »Für Leute aus Arwaroch hingegen ist das normal.« Dann wandte er sich an Alotho: »Ich melde mich also bei Euch, sobald ich etwas Näheres weiß.«
»Danke sehr«, erklärte der Mann aus Arwaroch und senkte feierlich das Haupt. »Jetzt würde ich gerne gehen, falls Ihr nichts dagegen habt.«
»Warum sollte ich?«, fragte Juffin erstaunt. »Soweit ich weiß, kann nur Euer König Eure Entscheidungen kassieren.«
»Aber in Echo habe ich erfahren, dass man sein Handeln mit den Wünschen anderer abstimmen soll. Das heißt hier Höflichkeit.«
»Das habt Ihr ganz richtig erfasst. Dennoch habe ich nichts gegen Eure Entscheidung.«
»Vielen Dank noch mal. Euch allen gute Nacht!«, sagte Alotho, verbeugte sich erneut und verließ das Haus an der Brücke.
»Unsere Melamori ist offenbar ein enormes pädagogisches Talent«, schwärmte Juffin. »Wer hätte das gedacht! Melifaro, was hast du von Kamschi erfahren?«
Wie sich herausstellte, hatte Melifaro sich per Stummer Rede bei Kamschi gemeldet, während wir uns mit Alotho Aliroch unterhalten hatten. Der ehemalige Mitarbeiter von General Bubuta war neuer Leiter des Cholomi-Gefängnisses und daher für uns eine wichtige Informationsquelle. Aber das Gespräch mit Kamschi hatte Melifaros Laune offenbar nicht verbessert.
»Das erzähle ich euch gleich. Max, darf ich eine deiner Zigaretten probieren?«, fragte er und setzte sich auf die Fensterbank. »Den Tabak von Echo hab ich noch nie leiden können, und ab und zu hab ich Lust, eine zu rauchen.«
»Bitte«, meinte ich und gab ihm eine Zigarette. »Die Zahl meiner Kunden wächst rasant. Zuerst hab ich Bubuta verführt, jetzt kommst du dran. Vielleicht sollte ich den Dienst beim Suchtrupp quittieren und einen Tabakladen eröffnen. Um Konkurrenz brauche ich mir keine Gedanken zu machen. Gefährlich wäre allenfalls Sir Maba Kaloch, aber dem würde das Zigarettengeschäft sicher bald langweilig.«
»So ist Maba, das stimmt«, pflichtete Juffin mir bei. Dann sah er Melifaro an. »Schieß los. Spann uns nicht länger auf die Folter.«
»Max, dieser Tabak schmeckt wirklich fantastisch!«, rief das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters begeistert. »Sir Juffin, Sie sind kein Schlangenbeschwörer! Also starren Sie mich nicht so an! Kamschi hat mir erzählt, dass in den letzten Tagen keine neuen Häftlinge ins Gefängnis eingeliefert worden sind. Erst heute Morgen kurz vor Sonnenaufgang ist wieder ein Häftling eingetroffen. Er heißt Baka Saal. Sein Aussehen entspricht zwar ganz und gar nicht der Beschreibung, die wir von Mudlach haben, aber das ist egal. Wissen Sie, warum er im Cholomi-Gefängnis gelandet ist? Wegen Mordes an Sir Warich Ariam. Und das ist ...«
»Ich weiß sehr gut, wer das ist«, unterbrach Juffin ihn gereizt. »Warum wurden wir eigentlich von diesem Mord nicht verständigt? Warum hat das niemand an uns weitergeleitet?«
»Die Stadtpolizei hat das offenbar nicht für so wichtig gehalten. Der Mörder war selbst Mitarbeiter der Justiz und hat seine Tat per Stummer Rede gestanden. Die Polizisten sind an den Tatort gekommen, haben die Spuren gesichert und den Täter ins Cholomi-Gefängnis gebracht. Sir Baguda Maldachan schätzt bei seinen Mitarbeitern vor allem Schnelligkeit, aber das wissen Sie ja. Nun muss Mudlach zweihundert Jahre im Cholomi-Gefängnis sitzen, und unser glotzäugiger Adonis kann warten, bis er schwarz wird, wenn er partout Rache nehmen will.«
»Zweihundert Jahre?«, fragte Juffin erstaunt. »Das ist aber lange. Soweit ich weiß, wird Mord mit fünfzig, höchstens sechzig Jahren Haft bestraft. Und wenn man sich der Polizei gestellt hat, fällt die Strafe niedriger aus.«
»Aber bei diesem Mord hat der Täter Weiße Magie 117. Grades benutzt. Das hätte sogar lebenslange Haft bedeuten können«, wandte Melifaro ein.
»Weiße Magie wievielten Grades?«, rief Juffin erstaunt. »Dann sieht die Sache natürlich anders aus. Melifaro, nimm Kurusch und fahr sofort ins Cholomi-Gefängnis. Ihr beide müsst euch hundertprozentig sicher sein, dass der Gefangene wirklich der Grässliche Mudlach ist. Wenn ja, melde dich sofort per Stummer Rede bei mir. Und denk daran: Bei Leuten aus Arwaroch muss man vorsichtig sein. Und du, Max, steh auf. Wir müssen los.«
»Wohin?«
»An den Tatort natürlich. Besser spät als nie. Ich glaube, wir brauchen auch die Hilfe von Lady Melamori. Wir müssen den wahren Täter finden - je schneller, desto besser.«
»Den wahren Täter?«, fragte ich erstaunt. »Ich dachte, Mudlach hat Warich Ariam umgebracht.«
»Der hätte sein Opfer doch mit der Fliegenklatsche erledigen können«, meinte Juffin lächelnd. »Denk doch mal mit! Warum sollte er sich als Ausländer mit Verbotener Magie auskennen - noch dazu mit Magie 117. Grades? Es würde mich wundern, wenn er überhaupt Erlaubte Magie beherrscht. Und den 117. Grad kann nur ein äußerst erfahrener Zauberer anwenden. Nein, ich vermute, in Warichs Haus hat sich ein alter, ausgebuffter Zauberer ausgetobt, der früher in einem Orden tätig war. Ja, so muss es sein.«
»Aber wie konnte man bei Mudlachs Festnahme und der Sicherung des Tatorts übersehen, dass nur ein erfahrener Zauberer diese Tat hat begehen können?«
»So was kann passieren. Komplizierte Ermittlungen sind unsere Aufgabe. Normalerweise landen solche Fälle zuerst bei uns, aber diesmal war es umgekehrt. Warum sitzen wir noch nicht im A-Mobil?«
»Weil ich Ihnen zuhöre und Sie noch immer in Ihrem Zimmer sind, Sir«, erklärte ich und öffnete die Tür zum Flur.
Juffin folgte mir auf dem Fuße.
»Endlich scheint die Geschichte des Grässlichen Mudlach doch noch interessant zu werden«, sagte mein Chef begeistert und suchte in den Taschen seines Lochimantels nach seiner Pfeife. »Darauf habe ich lange gewartet.«
Das Haus des ermordeten Warich Ariam, des Verwandlungsmeisters und Älteren Magisters vom Orden der Kupfernadel, war leer.
»Ich wüsste gern, wo sich sein Sohn aufhält«, sagte ich.
»Gute Frage«, brummte Juffin. »Ich schätze, wir bekommen demnächst Antwort auf zahlreiche Fragen, auch auf diese: Wo bleibt denn Melamori? Sie hätte längst hier sein sollen.«
»Da bin ich«, sagte sie und tauchte plötzlich in der Tür auf. »Diese Wohnung liegt am Ende der Welt. Ich hätte nicht gedacht, dass ich dieses Jahr noch mal hierherkommen müsste. Ihr könnt wirklich froh sein, dass ich so gerast bin.«
»Das sind wir natürlich«, erklärte Juffin und lächelte freundlich. »Meine Liebe, gehen Sie etwas durchs Haus. Hier irgendwo muss sich die Spur eines mächtigen Zauberers befinden. Können Sie sie von anderen Spuren unterscheiden?«
»Nichts leichter als das«, sagte Melamori. »Max, warum legst du die Hände in den Schoß? Ist so eine Aufgabe für dich etwa eine Nummer zu groß? Sag mir nicht, dass ich für euch unersetzlich bin - das glaube ich nämlich ganz und gar nicht.«
»Du weißt doch, dass ich von Natur aus faul bin«, meinte ich achselzuckend.
»Als Verfolgungsmeister ist Max eine tödliche Gefahr für alle Verdächtigen, und ich brauche unsere Kunden lebend«, erklärte Juffin. »Schließlich bin ich auf Informationen aus erster Hand angewiesen. Wenn wir Glück haben, finden wir am Ende der Spur den Schädel eines weiteren Opfers des Gesuchten. Außerdem hat Max noch zu wenig Erfahrung darin, wichtige von unwichtigen Spuren zu unterscheiden. Sie sind also wirklich unersetzlich, meine Liebe.«
»Wenn das so ist«, meinte Melamori und lächelte stolz, »dann helfe ich euch gern.«
Sie zog die Schuhe aus und spazierte durchs Gästezimmer.
»Wir haben hier die Spur eines Toten, des unglücklichen Sir Warich Ariam nämlich. Außerdem gibt es eine Spur von Schürf und mir, denn wir waren gestern schon hier. Und dann gibt es weitere Spuren, aber die sind ziemlich unwichtig und stammen vermutlich von den Mitarbeitern der Stadtpolizei. Das hier ist sicher die Spur des Grässliehen Mudlach. Ich hab Ihnen ja schon erzählt, dass die Leute aus Arwaroch eine andere Spur haben als wir ... Hier war noch jemand, aber bestimmt nicht der gesuchte Mörder. Ich hab den Eindruck, diese Person ist schwer krank, aber ich kann mich irren.«
»Das war sicher der Sohn von Warich Ariam.«
»Bestimmt«, pflichtete Juffin mir bei. »Mit dem werden wir uns später noch beschäftigen. Ich hab ihn gesehen. Er ist kein mächtiger Zauberer - das kann ich beschwören.«
»Irgendwie denke ich ständig an ihn - warum nur?«, fragte ich. »Vielleicht steckt er in Schwierigkeiten? Immerhin sagt Melamori, dass er krank ist. Wir sollten uns wohl doch näher mit ihm beschäftigen.«
»Meinst du?«, fragte mein Chef skeptisch. »Na gut, dann nehmen wir ihn gleich aufs Korn und schieben das nicht weiter auf. Aber wer soll sich darum kümmern? Wenn du es tust, verschlechtert sich sein Gesundheitszustand vermutlich noch mehr. Und Melamori ist ausgelastet. Womöglich sollte ich mich seiner annehmen. So eine Gelegenheit hab ich schon lange nicht mehr gehabt!«
»Berauben Sie mich nicht meines Lebensunterhalts!«, rief Lady Melamori lächelnd. »Ich hab noch einen Toten gefunden. Das ist eine seltsame Spur. Sind Sie sicher, Juffin, dass es hier nur eine Leiche gab?«
»Wir sind absolut nicht sicher«, sagte mein Chef und zuckte die Achseln. »Aber ich hab eine Idee. Melamori, treten Sie bitte mal kurz auf die Spur von Max.«
»Warum das denn?«
»Um mir einen Gefallen zu tun.«
»Na gut«, sagte sie, kam zu mir, blieb hinter meinem Rücken stehen und seufzte leise. Ich drehte mich zu ihr um: So erschrocken hatte ich sie schon lange nicht mehr gesehen.
»Das ist wirklich deine Spur, Max«, flüsterte sie. »Wann hast du es geschafft zu sterben?«
»Gestern Abend«, erklärte Juffin. »Keine Sorge, Melamori, Max ist inzwischen wieder lebendiger als Sie und ich zusammen - glauben Sie mir.«
»Ich bin der Lebendigste aller Lebenden!«, rief ich. »Ehrenwort, Melamori - ich bin keine Leiche.«
»Ach nein?«, fragte sie kühl. »Ihr zwei seid wirklich Komiker.«
»Aber warum hab ich die Spur eines Toten?«, fragte ich Juffin erschrocken. »Bin ich vielleicht ein Zombie?«
»Mit dir ist alles in Ordnung«, beruhigte mich mein Chef. »Jeder Körper hat ein Gedächtnis, und auch dieses Gedächtnis ist Teil der Spur, die Melamori zu lesen vermag. Und dass dein Körper sich an seinen Tod erinnert, ist wahrlich kein Wunder. Daher das Missverständnis. So eine Spur ist die perfekte Tarnung. Sie ist dir bestimmt noch nützlich - glaub mir.«
»Vor wem sollte ich mich denn verstecken?«, fragte ich großspurig. »Doch wohl nicht vor Lady Melamori?«
»Wenn du erst einige Jahre im Kleinen Geheimen Suchtrupp gearbeitet hast, wirst du dir ein paar mächtige Feinde gemacht haben«, sagte mein Chef nüchtern und wandte sich an Melamori: »Seien Sie mir bitte nicht böse, Lady. Ich habe Sie nicht erschrecken wollen, aber eine Verfolgungsmeisterin sollte immer neue Erfahrungen sammeln. Oder sehen Sie das anders? Nun wissen Sie, dass die Spur eines Toten nicht bedeuten muss, dass es eine Leiche gibt.«
»Ich bin Ihnen nicht böse«, sagte Melamori leise, »aber Sie haben mich wirklich erschreckt. Na gut, ich suche weiter nach der Spur dieses mächtigen Zauberers. Aber ehrlich gesagt habe ich den Eindruck, dass es hier keine solche Spur gibt, denn eigentlich hab ich schon überall gesucht.«
»Sind Sie sicher?«, fragte Juffin finster. »Die Leiche wurde immerhin im Wohnzimmer gefunden.«
»Als ob es so schwer wäre, eine Leiche von einem Zimmer ins andere zu tragen«, meinte ich achselzuckend.
Ich hatte aus der Lektüre der vielen Krimis geschöpft, die ich in meiner alten Heimat gelesen hatte, und war erstaunt darüber, wie Juffin auf meine Frage reagierte.
»Das ist eine seltsame und eigentlich ganz abwegige Idee, Max, aber denkbar ist das natürlich schon. Da bleibt uns wohl nichts anderes übrig, als das ganze Haus abzusuchen. Wo fangen wir an?«
»Vielleicht im Schlafzimmer?«, schlug ich vor. »Oder nein, in der Werkstatt. Denn hier im Wohnzimmer hat Warich das Äußere seiner Kunden sicher nicht geändert.«
»Gut«, pflichtete Juffin mir bei. »Und Sie, Melamori, treten bitte dem Grässlichen Mudlach auf die Spur. Melifaro hat sich gerade per Stummer Rede bei mir gemeldet und gesagt, der neue Gefangene im Cholomi-Gefängnis sei hundertprozentig Mudlach. Daran hatte ich keinen Zweifel. Übrigens entspricht sein Gesicht nicht der Beschreibung, die ich gestern von Warich bekommen habe. Also ist Mudlach danach noch mal hier gewesen, um sein Äußeres erneut ändern zu lassen. Daher dürfte seine Spur in Warichs Werkstatt führen.«
Melamori drehte sich im Wohnzimmer ein paar Mal um die eigene Achse und nahm dann die Treppe nach unten.
Wir kamen in einen kleinen Raum, der als Vorratskammer diente. Wieder drehte Melamori sich um sich selbst, grübelte etwas und zuckte dann die Achseln.
»Hier muss irgendwo eine Geheimtür sein«, stellte sie fest. »Die Spur verschwindet mitten in der Wand.«
»Das wird ja immer interessanter!«, rief Juffin. »Aber eine Geheimtür ist kein Problem für mich.«
Er klopfte mit der Hand gegen die Wand, und ein schwaches weißes Licht beleuchtete die Umrisse einer Tapetentür, die sich quietschend öffnete.
»Irgendwas gefällt mir hier nicht«, bemerkte unser Chef Unheil verkündend, verbeugte sich vor Melamori und sagte: »Bitte nach Ihnen.«
Melamori musste sich etwas bücken, um durch die Tür zu kommen, und Juffin und ich mussten fast auf alle viere runter.
»Je kleiner die Tür, desto besser lässt sie sich unsichtbar machen«, stellte Juffin fest. »Gut, dass wir kein Mäuseloch suchen. Na, Verfolgungsmeisterin, haben Sie was Interessantes entdeckt?«
»Und wie«, seufzte Melamori. »Eine ausgezeichnete Spur. Selbst Max kann ohne Probleme darauf treten, denn ihr Besitzer hat eine enorme Lebenskraft.«
»Ach?«, fragte Juffin. »Sind wir auf einen so starken Mann gestoßen? Na gut, dann soll Max es probieren.«
Ich ging zu Melamori. »Woher weißt du, dass er solche Kraft hat? Ich spüre hier nichts Besonderes. Die Schwester von Atwa Kurajsa war eine starke Person. Erinnerst du dich noch an sie?«
»Du spürst nichts, weil du so bodenlos egoistisch bist«, sagte mein Chef. »Wie jede Verfolgungsmeisterin kann Melamori die Kraft des Gegners objektiv einschätzen, während du nur siehst, inwieweit der Gegner für dich gefährlich ist. Lady Kurajsa hätte dich beinahe fertiggemacht. Das hast du gespürt, und deshalb warst du ihr gegenüber von Anfang an scheu. Dieser Mann hier bedeutet für dich dagegen offenbar keine Gefahr. Womöglich ist dein Egoismus also besonders gut dafür geeignet, mit Spuren klarzukommen. Schließlich geht es nur darum, am Leben zu bleiben. Verfolge deine Spuren also ruhig auf deine Art. Je schneller du den fängst, dem diese Spur gehört, desto besser für uns alle. Es hängt zwar nicht allein von dir ab, aber versuch mal, diesen Mann nicht umzubringen, einverstanden? Ich muss mit ihm reden. Und Sie, Melamori? Worauf warten Sie noch? Gehen Sie zurück ins Wohnzimmer und treten Sie auf die Spur von Warichs Sohn. Mit dem müssen wir uns intensiv beschäftigen, wenn selbst Max Vorahnungen hat, was seine Person anlangt.«
Ich spürte, dass ich nicht stillstehen konnte. Ich musste einen Fuß vor den anderen setzen, immer schneller. Ich wollte wieder nach oben, stellte aber zu meinem Erstaunen fest, dass die Spur nicht die Treppe hinaufführte, sondern direkt in die nächste Wand. Ich blieb dort stehen, wo sich die Spur verlor.
»Juffin«, rief ich verlegen. »Hier ist schon wieder eine Geheimtür. Bitte helfen Sie mir.«
Mein Chef kam sofort, untersuchte die Wand und schüttelte den Kopf.
»Hier ist keine Geheimtür. Der Mann hat das Treppenhaus auf dem Dunklen Weg verlassen. Das ist für erfahrene Verfolgungsmeister eigentlich ein Klacks, aber wenn du das nicht schaffst, erledigt Melamori das für dich.«
»Aber Sie haben doch gesagt, dieser Mann sei für mich nicht gefährlich. Wie er auf Melamori wirkt, wissen wir dagegen nicht. Ich probiere es allein. Sagen Sie mir bitte, was ich tun soll.«
»Ganz einfach: Bleib stehen und warte, bis die Spur sich wieder meldet. Du musst dich auf deine Sinneswahrnehmungen konzentrieren. Alles klar?«
»Natürlich nicht«, antwortete ich lächelnd. »Aber ich versuch es trotzdem.«
Das war wirklich eine leichte Aufgabe! Ich spürte ein solches Kribbeln in den Beinen, dass ich mich auf nichts anderes mehr konzentrieren konnte.
Nach ein paar Minuten spürte ich einen kalten Wind im Gesicht, öffnete die Augen und sah mich um.
Ich befand mich auf einer Brücke, die nach dem Helden Kulug Menontsch benannt war, und sah auf die Burg Jafach hinüber, die Hauptresidenz des Ordens des Siebenzackigen Blatts. Aber die Spur trieb mich weiter.
Zu meiner Überraschung endete sie vor der Geheimtür in die Burg. Und wie ich schon erzählt habe, können nur Mitglieder des Ordens diese Tür öffnen.
Das darf doch nicht wahr sein, dachte ich verwirrt. Der Mörder gehört also zur näheren Umgebung des Großen Magisters Nuflin Monimach oder bekleidet ein wichtiges Staatsamt. Und ich kleines Nachtantlitz verfolge so ein hohes Tier! Na ja, eigentlich verfolge ich niemanden, weil ich nicht durch diese Tür komme.
Da hatte ich eine Erleuchtung: Ich konnte mich doch an Lady Sotowa wenden, eine der mächtigsten Frauen des Ordens und eine alte Freundin von Sir Juffin, die obendrein ein Faible für mich hatte! Ich meldete mich per Stummer Rede bei ihr.
»Lady Sotowa, hier spricht Max. Wären Sie so lieb, mich einzulassen? Ich stehe gerade vor der Geheimtür in die Burg.«
»Junge, was gibt's? Was ist in dich gefahren, dass du hier auf tauchst?«
»Ich hab ein Problem.«
Die runde alte Dame stand nun lächelnd vor mir. Wie sie es geschafft haben mochte, binnen Sekundenbruchteilen vor mir auf zu tauchen, mögen die Magister wissen. Sie umarmte mich zur Begrüßung, und ich staunte: Ihre Herzlichkeit übertraf all meine Erwartungen.
Sie nahm mich an die Hand, befahl mir, die Augen zu schließen, und führte mich. Nach ein paar Sekunden roch ich den Duft der Schottbäume und öffnete die Lider. Wir standen im Obstgarten der Ordensresidenz.
»Was hast du die letzten anderthalb Jahre gemacht? Seit deiner Rückkehr aus Kettari hast du nicht mal für eine Sekunde vorbeigeschaut.«
»Stimmt«, sagte ich beschämt. »Ich hatte es zwar vor, aber
»Ich weiß, du hast über ein Jahr geschlafen. Und was ist jetzt mit dir los? Erzähl mal.«
»Warten Sie kurz. Ich muss mich erst etwas beruhigen. Ich verfolge gerade eine merkwürdige Spur und kann jetzt nicht alles erklären.«
»Oh doch, das kannst du - keine Sorge. Du verfolgst weiter deine Spur, aber bitte nicht so schnell, und ich leiste dir Gesellschaft. Unterwegs erzählst du mir alles. Warum bist du eigentlich einem Mitglied unseres Ordens auf die Spur getreten?«
Ich berichtete Lady Sotowa in aller Kürze, was am Abend geschehen war. Sie wirkte nun sehr ernst und sagte: »Das ist ja ein starkes Stück! Gut, dass du so klug warst, dich bei mir zu melden. Weißt du, ich bin mir sicher, dass niemand von uns den Mord an Warich Ariam auf dem Gewissen hat. Warum sollte ein Mitglied unseres Ordens versuchen, seine Spur durch das Benutzen von Geheimtüren zum Verschwinden zu bringen?«
»Wir sind fast da. Das spür ich«, sagte ich. »Wissen Sie, wie sich ein Verfolgungsmeister kurz vor dem Ziel fühlt?«
»Keine Ahnung. Muss ich das wissen?«, fragte Lady Sotowa. »Aber was immer du sagst: Ich glaube dir.«
»Er sitzt hier irgendwo«, flüsterte ich und zeigte auf ein dichtes Gebüsch.
»Wirklich?«, fragte Lady Sotowa. »Was kann ein normaler Mensch dort in der Nacht treiben? Schauen wir doch mal nach ... Sündige Magister - da hockt ja der Alte Magister Jorinmuk Wanzifis, der neue Liebling unseres Nuflin Monimach. Nach meinem Eindruck ist er ein talentloser Schmeichler, aber Nuflin gefällt so was natürlich. Schläft er?«
»Ich glaube, es steht schlimmer um ihn, als Sie denken. Ich fürchte, Lady Melamori hat seine Kraft überschätzt, und ich hab ihn aus Versehen getötet. Juffin hat mich gebeten, ihn lebendig ins Haus an der Brücke zu bringen, und wenn er das erfährt, wird er mich lynchen.«
»Keine Sorge - der döst nur«, meinte Lady Sotowa und rüttelte den Schlafenden, der den weißblauen Lochimantel seines Ordens trug, wach. »Das ist ja gar nicht Jorinmuk! Der sieht ihm nur täuschend ähnlich! Wo treibt sich wohl der echte Jorinmuk herum? Das ist ja ein starkes Stück!«
»Sehen Sie!«, sagte ich. »Wenn wir den Fall erst gelöst haben, melde ich mich per Stummer Rede bei Ihnen und erzähle Ihnen alles.«
»Ich hab eine bessere Idee. Wenn du nächstes Mal vor der Geheimtür stehst und um Einlass bittest, trinken wir zusammen eine Tasse Kamra - einverstanden?«
»Vielen Dank für die Einladung, Lady Sotowa.«
»Jetzt nimm deinen Schatz und geh mit ihm zu Juffin. Der Alte wird sich sicher freuen.«
Das unglückliche Opfer meiner Verfolgung landete - wie schon so mancher vor ihm - zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand. Lady Sotowa führte mich am Ellbogen einen Pfad entlang, der in der Dunkelheit unsichtbar war. Vor der Mauer blieb sie kurz stehen und musterte mich.
»Wie gefällt dir dein zweites Herz, Junge?«
»Ich hab noch kaum einen Unterschied bemerkt.«
»Du wirst mit deinem Doppelherzen noch die interessantesten Dinge erleben - das weiß ich. Die Tochter von Lojso Pondochwa hat dir wirklich einen großen Dienst erwiesen. Sie gefällt dir, stimmt's?«
Ich nickte verlegen.
»Lustig«, sagte Lady Sotowa und lächelte, was süße Grübchen auf ihr Gesicht zauberte. »Wer hätte geglaubt, dass ihr zwei zusammenkommt! Aber das Schicksal weiß, was es tut - egal, was die Leute sich gedacht haben mögen.
Vergiss nicht, dass die Kinder von Lojso ganz anders sind als andere Menschen - auch wenn dir das nicht gleich auffallen sollte.«
»Aber auch ich unterscheide mich von anderen, stimmt's?«
»Ja, aber dir kann nichts passieren, womit du nicht fertig wirst. Na schön, geh jetzt zu Juffin. Er sehnt sich bestimmt schon nach dir. Und vergiss nicht, mich ab und an zu besuchen.«
»Bestimmt nicht. Wenn ich lange nicht auf kreuzen sollte, heißt das nur, dass ich Scheu vor Ihnen habe. So was passiert mir gelegentlich.«
»Vor mir? Da könntest du dir wirklich Schlimmere aussuchen. Aber jetzt gute Nacht!«
Sie berührte mich leicht an der Schulter, und ehe ich mich versah, stand ich wieder vor der Burg Jafach auf der Straße. Sofort meldete ich mich per Stummer Rede bei Juffin.
»Unser Kunde ist schon verpackt«, sagte ich lakonisch. »Könnten Sie mir vielleicht ein A-Mobil schicken? Ich stehe vor der Burg Jafach.«
»Und was machst du da?«, fragte mein Chef.
»Ich hatte ein Tete a`-Tete mit Lady Sotowa«, gab ich zu. »Aber sie hat mich wieder auf die Straße geschickt.«
»Gut, ich will dich nicht weiter mit Stummer Rede quälen. Erzähl mir alles im Haus an der Brücke. Das A-Mobil holt dich in einer Viertelstunde ab.«
»Ich hab Ihnen schon lange sagen wollen, dass die Fahrer geschult werden müssen. Sie sind einfach viel zu langsam. In einer Viertelstunde könnte ich zu Fuß bei Ihnen sein!«
Ich blieb auf der nach Kulug Menontsch benannten Brücke stehen und rauchte eine Zigarette. Nach kurzem Überlegen meldete ich mich per Stummer Rede bei Lady Techi. Ich fürchtete, sie sei schon schlafen gegangen, hoffte aber, sie würde sich dennoch gern mit mir unterhalten.
»Was machst du? Schläfst du schon?«
»Ach was. Um diese Zeit kommen immer viele Gäste ins Lokal. Ich denke, sie spekulieren darauf, dass du auftauchst. Sie schauen mich streng an, und ich kann mir schon vorstellen, welche Gerüchte gerade in Echo umlaufen.«
»Wie schnappen die Leute bloß all den Blödsinn auf? Na, zu den Magistern mit ihnen. Ich hoffe nur, dass dich niemand nervt. Leider hast du das Pech, dich mit einem unberechenbaren Menschen eingelassen zu haben. Deshalb komme ich vielleicht morgen bei Sonnenuntergang oder etwas früher zu dir. Oder ein wenig später ... Findest du es schlimm, dass ich dir nicht auf die Minute genau sagen kann, wann ich auf tauche?«
»Ich werde es überleben.«
»Das wollte ich hören. Und jetzt kannst du langsam deine Kunden verjagen und schlafen gehen. Das ist mein guter Rat für dich. Ende.«
»Ende? Wie meinst du das?«
»Das bedeutet nur, dass wir die Stumme Rede beenden. Dieses Wort gehört zu meinen dümmsten Erfindungen.«
»Alles klar«, rief Techi erfreut. »Also Ende!«
Schließlich tauchten am anderen Ende der Brücke Scheinwerfer auf. Kurz darauf bremste ein Dienstwagen vor mir.
»Lassen Sie mich ans Steuer«, befahl ich.
Der Fahrer tat, wie geheißen, und nach drei Minuten hielten wir vor dem Haus an der Brücke.
Im Saal der allgemeinen Arbeit traf ich Melamori. Fürsorglich flößte sie einem jungen Mann, der einen Verband um den Kopf trug, Kamra ein, die sie im Fressfass bestellt hatte.
»Ah, der Sohn von Sir Warich Ariam«, begrüßte ich ihn freundlich. »Wie geht es Ihnen?«
»Noch vor kurzem hat es schlecht um ihn gestanden«, sagte Melamori. »Gut, dass du unbedingt getrennt von mir die Verfolgung aufnehmen wolltest, Max. Als ich ihn gefunden habe, war er beinahe tot. Aber wofür, wenn nicht für Wunder, haben wir Sir Juffin?!«
Der junge Mann nickte traurig, und Melamori fuhr fort: »Dieser Held aus Arwaroch - ich meine den Grässlichen Mudlach - hat Sir Warichs Sohn auf der Straße getroffen, ihm ohne Vorwarnung auf den Kopf geschlagen und ihn ins Gebüsch geworfen. Wahrscheinlich war er nervös oder wollte nicht, dass ihn irgendwer in Echo erkennt.«
»Sie haben Glück gehabt, Sir«, sagte ich. »Mudlachs Schlag hat Sie davor bewahrt, einen viel mächtigeren Kunden Ihres Vaters zu treffen. So gesehen ist es glimpflich für Sie ausgegangen.«
»Aber mein Vater tut mir leid«, seufzte der junge Mann. »Wir haben uns so gut verstanden. Ich möchte nur wissen, warum man ihn umgebracht hat.«
»Ihr Vater hatte einen gefährlichen Beruf«, sagte ich streng. »Nur selten wollen Menschen ihr Äußeres ändern, weil sie mit ihrem Kinn oder ihrer Nase unzufrieden sind. Gut, trinken Sie in Ruhe Ihre Kamra aus und erholen Sie sich dann zu Hause. Melamori, ich gehe zu Juffin. Ich hab was Besonderes für ihn«, sagte ich und hielt ihr meine Linke unter die Nase.
»Ist er da drin?«, fragte Melamori. »Toll. Juffin hat mir übrigens erlaubt, nach Hause zu gehen, Max. Ich mache mich jetzt auf den Weg. Gute Nacht!«
Bei Sir Juffin saß eine kleine, aber interessante Gesellschaft zusammen. Sir Kofa hockte in meinem Lieblingssessel. Melifaro schwang sich auf den Tisch und landete gefährlich nah bei dem Tablett, das ein Bote eben aus dem Fressfass gebracht hatte. Ich hatte den Eindruck, Melifaro würde mit offenen Augen schlafen, denn ich hatte ihn noch nie so schweigsam erlebt.
Ich goss mir eine Tasse Kamra ein und machte es mir auf der Fensterbank bequem.
»Was hast du denn bei Lady Sotowa gemacht?«, fragte Juffin ungeduldig.
»Nichts, was ich nicht auch der Presse erzählen könnte«, sagte ich lächelnd. Dann berichtete ich meinen Kollegen kurz von meiner Jagd nach dem Unbekannten.
»Ihr habt ihn also bewusstlos und ohne Turban im Gebüsch gefunden?«, fragte Juffin überrascht. »So ein Glück! Und jetzt zeig uns deinen Schatz.«
»Bitte schön!«
Ich schüttelte meine Linke, und der Mann landete zu Füßen von Sir Kofa, kam aber nicht zu Bewusstsein.
»Der sieht ja genauso aus wie Jorinmuk Wanzifis! Ich bin mir nicht sicher, ob Nuflin den Unterschied bemerken würde«, sagte Juffin verzückt. »Kofa, gib ihm bitte sein eigentliches Gesicht zurück. Das ist wirklich interessant.«
»Da haben Sie mir eine Nuss zu knacken gegeben«, murmelte Kofa. »Warich Ariam war einer der besten Verwandlungsmeister.«
»Du bist genauso gut. Keine falsche Bescheidenheit. Aber sorg dafür, dass er weiterschläft und uns keine Probleme macht. Wir sitzen hier so nett, trinken Kamra und knabbern Gebäck, und ich würde uns gern ein Abendessen bestellen. Dabei würde er nur stören.«
»Abendessen? Das ist eine gute Idee!«, sagte ich erfreut.
»Bitte Ruhe!«, rief Sir Kofa und beugte sich über den Unbekannten. Melifaro zuckte die Achseln und nahm in dem von Kofa geräumten Sessel Platz. Ich hatte den Eindruck, er sei gerade erst aufgewacht.
»Wo ist Sir Schürf?«, fragte Melifaro plötzlich.
»Vor einer halben Stunde nach Hause gegangen«, sagte Juffin. »Das solltest du auch tun. Du schläfst ja schon im Sitzen und im Stehen.«
»Ich hab geschlafen, und jetzt bin ich wach. Was soll ich zu Hause, wenn es hier gleich Abendessen gibt?«
»Dann bleib. Je mehr Leute sich mit einem spannenden Fall beschäftigen, desto glücklichere Erinnerungen habe ich.«
»Seht euch dieses Gesicht an!«, rief Sir Kofa und präsentierte uns stolz den Mann zu seinen Füßen. »Sir Juffin, den erkennen Sie doch, oder?«
»Das ist Hechta Bonbon, der ehemalige Große Magister vom Orden des flachen Bergs«, rief Juffin frappiert und musterte die hohlen Wangen und buschigen Augenbrauen des Mannes. »Das ist eine Sensation. Ich dachte, er hätte irgendwo in Uriuland eine Obstplantage und wüsste schon nicht mehr, dass es eine Hauptstadt namens Echo gibt. Ich bitte um Verzeihung, aber Sir Bonbon und ich müssen euch gleich verlassen. Das Abendessen schafft ihr sicher auch ohne uns. Ich muss unbedingt wissen, wie Hechta es geschafft hat, sich in die Burg zu schleichen.«
»Aber das erzählen Sie uns dann doch, oder?«, fragte ich hoffnungsvoll.
»Natürlich. Außerdem hast du ihn gefangen und sollst deshalb auch alles über ihn erfahren. Gut, ihr habt jetzt Zeit, das Leben zu genießen. Ich an eurer Stelle würde noch Lady Tuotli und Sir Blaki von der Stadtpolizei einladen. Die beiden haben in letzter Zeit viel für uns getan und langweilen sich bestimmt bei ihrem Bereitschaftsdienst.«
»Ich geh die beiden holen«, meinte Melifaro.
Ich wandte mich zu ihm um, sah aber nur noch seinen Mantel durch die Tür verschwinden.
Juffin zog den Großen Magister Hechta Bonbon behutsam vom Boden hoch und führte ihn wie ein betrunkenes Familienmitglied zum Ausgang.
»Gehen Sie mit ihm runter?«, fragte Sir Kofa.
»Wohin sonst!? Ihr denkt doch wohl nicht, dass Hechta uns seine Geheimnisse bei einer netten Tasse Kamra anvertraut? Ohne Magie bekommen wir nichts aus ihm heraus.«
Ich wusste, wovon er sprach: Im Keller des Hauses an der Brücke befindet sich ein kleines, ungemütliches Zimmer, das völlig isoliert ist. Dafür haben die Zaubersprüche von Sir Juffin und Nuflin Monimach gesorgt. In diesem Zimmer kann man sogar Magie höchsten Grades anwenden, ohne dass dadurch das Gleichgewicht der Welt bedroht wäre. Ich war nur einmal dort gewesen, als ich einen Kurs zur Anwendung Verbotener Magie besuchte, und hatte mich dort nicht gerade wohl gefühlt. Unser Büro reichte mir für meine Zwecke vollständig.
Kaum hatte der verschlafene Bote aus dem Fressfass uns ein üppig beladenes Tablett auf den Tisch gestellt, kehrte Melifaro in Gesellschaft des sympathischen Leutnants Apura Blaki zurück.
»Wo ist Lady Tuotli?«, fragte ich erstaunt.
»Sie hat uns einen kurzen, aber aufschlussreichen Vortrag darüber gehalten, wie unnötig Partys während der Arbeitszeit sind«, murmelte Melifaro beleidigt. »Soll die geheime Königin der Stadtpolizei doch zu den Dunklen Magistern gehen!«
»Keine Ahnung, was mit ihr los ist«, seufzte Apura Blaki. »Kekki ist nett und freut sich eigentlich, wenn sie eingeladen wird. Vielleicht ist sie krank.«
»Sie hat wohl mal wieder eine menschenscheue Phase. Es ist erschreckend, wie diese Scheu sie bremsen kann.«
Ich sprang von der Fensterbank. »Ich geh mal zu ihr. Melifaro, Bruderherz, wenn es mir gelingt, sie herzubringen, halt bitte den Mund, ja? Und wenn du etwas Böses sagen willst, sag es bitte mir. Ich kann viel ertragen. Strapaziere diese empfindliche Frau bitte nicht.«
»Seit wann bist du der Beschützer der Damenwelt?«, rief Melifaro erstaunt. »Ist das eine dauerhafte Metamorphose?«
»Das wird sich zeigen. Und vergreift euch ja nicht an meiner Portion!«
»Das werde ich verhindern, Max«, sagte Kofa, der offenbar auf meiner Seite stand.
Ich ging rüber zur Stadtpolizei. Auf Zehenspitzen schlich ich zu dem Büro, in dem früher der nette Hauptmann Schichola gearbeitet hatte, und lauschte ein wenig. Hinter der Tür war ein Schniefen zu hören. Ich beschloss, das Zimmer nicht zu betreten und mich stattdessen per Stummer Rede zu melden. Schließlich möchte niemand beim Weinen überrascht werden.
»Lady Kekki«, begann ich vorsichtig. »Verzeihen Sie meine Aufdringlichkeit, aber Partys während der Arbeitszeit sind bei uns ganz normal - das können Sie mir glauben. Unter anderem deshalb mache ich weiter diesen verrückten Dienst.«
Ich spürte, dass meine unsichtbare Gesprächspartnerin lächelte.
»Sir Max, Sie klingen wirklich lustig, jedenfalls per Stummer Rede.«
»Ich bin sowieso ein lustiger Typ«, gab ich schlagfertig zurück. »Und was die Stumme Rede anlangt, hab ich damit so meine Probleme. Darf ich reinkommen?«
Lady Kekki schwieg einen Moment, öffnete dann die Tür und sah mich mit ihren wunderbaren grauen Augen keck und doch hilflos an.
»Sind Sie den blöden Melifaro leid?«, fragte ich. »Er ist wirklich ein sehr netter Kerl, aber alle Mitarbeiter unseres Suchtrupps klopfen starke Sprüche. Sein Benehmen mag manchmal schockierend wirken, aber man sollte darüber hinwegsehen.«
»Wie kommen Sie ausgerechnet auf Sir Melifaro?«, fragte Kekki erstaunt. »Er ist zwar nicht der besterzogene Mann auf dieser Seite des Churon, aber im Vergleich zu General Bubuta ist er ein Klacks.«
Genüsslich malte ich mir aus, wie Melifaro reagieren würde, wenn ich ihm diesen Vergleich unter die Nase rieb.
»Umso besser - dann können wir doch zusammen ...«
»Sir Max, Sie sind ein netter Mensch«, sagte Lady Kekki freundlich. »Sie können zwischen den Zeilen lesen - und das sogar, wenn es keine Zeilen gibt. Richten Sie Sir Melifaro bitte aus, dass ich mein Fernbleiben bedauere. Ich möchte Sie alle um Entschuldigung bitten, doch ich glaube, ich bleibe besser hier.«
»Wie Sie wollen«, seufzte ich. »Ich finde zwar, dass das keine glückliche Lösung ist, aber tun Sie, was Sie für richtig halten.«
Ich wollte gerade gehen, da meldete sich mein zweites Herz. Es pochte leicht, und ich bekam eine Vorahnung. Fast hätte ich den Kopf verloren, doch auch diesmal wirkten die Atemübungen von Sir Schürf wahre Wunder - und das, obwohl ich letzthin so selten dafür Zeit gefunden hatte.
»Ich bitte um Verzeihung, Lady Kekki«, murmelte ich. »Ich möchte nicht indiskret sein, aber warum haben Sie solche Angst vor Sir Kofa? Er ist ein ungemein netter Mensch.«
»Was? Können Sie Gedanken lesen?«
»Aber nein, ich hatte nur kurz Einblick in Ihre Gefühle. Nehmen Sie das nicht zu ernst - ich kenne Ihr Gefühlsleben eigentlich so gut wie gar nicht. Wissen Sie, manchmal ist es für mich schwer, mich zu kontrollieren.«
»Das ist nicht so schlimm«, flüsterte Lady Kekki. »Meine Gefühle sind kein großes Geheimnis.«
Plötzlich heulte sie los wie ein kleines Mädchen, und ich stand an der Tür und fühlte mich wie eine Kinderfrau, die ihren Sonnenschein zum Weinen gebracht hat.
»Sollen wir ein bisschen zusammen weinen?«, fragte ich schließlich. »Das kann ich auch.«
»Vielen Dank, ich schaff das schon allein«, sagte Kekki, hob ihr verheultes Gesicht und lächelte schwach. »Wirklich nett, dass Sie mir Ihre Gesellschaft angeboten haben. Aber Sie haben mich missverstanden: Ich habe keine Angst vor Sir Kofa. Im Gegenteil - ich träume seit meiner Kindheit davon, ihn kennen zu lernen«, sagte sie und schniefte energisch. »Meine Eltern haben alte Zeitungen aufbewahrt - die ersten Nummern der Königlichen Stimme. Dort gab es eine Serie über die Geschichte unserer Stadt. Ich hab alles verschlungen, was es da über die Erfolge von Sir Kofa zu lesen gab.«
»Das verstehe ich gut«, flüsterte ich.
»Sie verstehen noch gar nichts«, gab sie zurück. »Ich hab auf eine Karriere am Hof verzichtet und mich mit der ganzen Familie überworfen, weil ich unbedingt zur Stadtpolizei wollte, deren Chef Sir Kofa damals war. Den Alltag bei der Polizei hatte ich mir ganz anders vorgestellt. Wissen Sie, ich bin sehr scheu und sage manchmal etwas unpassende Dinge. Außerdem heißt unser Chef nun leider Bubuta, und seinetwegen sehen uns alle Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps an wie Schießbudenfiguren. Und was Sir Kofa über mich denkt, kann ich mir gut vorstellen.«
»Er denkt nicht schlecht über Sie, im Gegenteil. Schon wie er Sie anschaut!«
Einen Moment war ich überzeugt, die Wahrheit zu sagen. Was tut man nicht alles, damit jemand aufhört zu weinen!
»Meinen Sie das ernst, Sir Max?«
Sie hörte auf zu heulen und wirkte erleichtert. Ich hätte mir am liebsten die lügnerische Zunge abgebissen. Aber Sir Kofa hatte sich doch wirklich verdächtig gefreut, als ich gesagt hatte, ich würde Lady Kekki holen, oder?
»Haben Sie es sich jetzt vielleicht doch anders überlegt, was unsere Party drüben angeht?«, fragte ich. »Wir werden dort erwartet. Außerdem sind wir nette Leute, mit denen man sich prima unterhalten kann.«
»Gut, ich versuche es«, flüsterte Lady Kekki. »Aber nur, wenn Sie mich davor bewahren, etwas Unpassendes zu sagen.«
»Ich hab eine bessere Idee: Ich sage einfach was Dummes. Dann fällt es gar nicht auf, wenn Sie einen kleinen Schnitzer machen.«
Lady Kekki lächelte und fuhr sich vorsichtig mit den Händen durchs Gesicht, das daraufhin längst nicht mehr so verheult aussah.
»Ich kann zwar meine Gesichtszüge nicht so gut verändern wie Sir Kofa, doch ich kann mich aufbrezeln, ohne auf Kosmetik zurückgreifen zu müssen«, erklärte sie kokett.
»Toll! Können Sie mir das beibringen?«
»Soll das ein Witz sein?«
»Aber nein. Ich kann mich einfach nicht herausputzen -weder mit noch ohne Kosmetik.«
So wechselten wir in den Teil des Hauses an der Brücke, in dem der Kleine Geheime Suchtrupp untergebracht ist. Lady Kekki hielt sich an meinem Lochimantel fest wie eine Erstklässlerin am Einschulungstag an der Hand eines älteren Bruders. Ich fand das ziemlich rührend.
»Na endlich«, begrüßte uns Sir Kofa. »Ich hab eure Portion verteidigt wie ein Held aus der guten alten Zeit.«
»Das glaub ich dir«, meinte ich lächelnd und geleitete Lady Kekki zum leeren Stuhl von Sir Juffin. Dann wandte ich mich an Melifaro. »Wie ich sehe, hat man dir nicht erlaubt, das Tablett leerzufressen.«
»Dafür hab ich genug zu trinken bekommen«, sagte er und lächelte beschwipst. »Und ich sage euch: Wenn das Schiff aus Arwaroch nicht bald in seine Heimat segelt, werde ich mich sinnlos betrinken.«
»Verständlich«, nickte Kofa mitfühlend. »Du hast die Schönlinge wirklich satt, was?«
»Und wie! Schenk mir bitte nach. Und du, Max, sieh mich nicht an wie ein Ausbund an Nüchternheit.«
»Mir liegt nur mein Wohl am Herzen. Ich hab nämlich keine Lust, dich am Abend wieder ausziehen zu müssen, weil du eingeschlafen und nicht mehr wachzurütteln bist.«
Melifaro wollte schon protestieren, winkte dann aber kichernd ab. Auch Sir Kofa und Leutnant Apura Blaki lachten laut, und selbst Lady Kekki lächelte freundlich.
Nanu, ich hab doch gar nichts Lustiges gesagt, dachte ich erstaunt und biss genüsslich in eine noch warme Pirogge. Dabei warf ich Kekki einen Seitenblick zu, doch sie hatte offenbar keinen Appetit. Manche Leute sollten einfach ein, zwei Glas trinken, damit sie ihre Hemmungen verlieren.
»Kofa, gieß Lady Kekki und mir bitte ein Gläschen ein«, bat ich. »Wir müssen unbedingt Brüderschaft trinken.«
»Wie Sie meinen«, sagte Lady Kekki schicksalsergeben. In ihrer Stimme lag inzwischen eine angenehme Leichtigkeit, die sie langsam zu einer guten Gesprächspartnerin machte.
Wie oft habe ich mir schon vorgenommen, mich nicht in die Angelegenheiten anderer einzumischen - umsonst! Manchmal stürzen sich Freunde auf mich, und ich bin gleich bereit, ihnen zu helfen, ihr verpfuschtes Leben zu verbessern. Bisher haben solche Aktionen aber stets ins Fiasko geführt.
An diesem Abend nun trank ich nur mit Lady Kekki eine ganze Flasche Dschubatinischen Säufer. Das Getränk hatte auf sie eine wunderbare Wirkung. Sie lächelte entspannt und aß sogar etwas. Ich beobachtete sie kurz und meldete mich dann per Stummer Rede bei Sir Kofa.
»Auch wenn du mir nicht glaubst: Lady Kekki ist verrückt nach dir. Aber bewahre bitte die Ruhe, denn sie soll nicht merken, dass ich dir das verraten habe. Als Kind hat sie von deinen Abenteuern gelesen, und seither träumt sie davon, dich kennen zu lernen. Kein Wunder, dass sie etwas Angst vor dir hat. Also behandele sie rücksichtsvoll.«
»Vielen Dank für die nette Nachricht«, gab Kofa per Stummer Rede zurück und wandte sich dann laut an Melifaro: »Mein Süßer, was hast du da gefunden?«
»Das hier!«, rief Melifaro und zeigte allen sein Glas, in dem eine grüne Raupe kroch. »Wie ist die nur hierhergeraten?«
»Durch die Luft«, erklärte ich mit einer Stimme, die keinen Widerspruch duldete. »Vermutlich will sie was trinken.«
Melifaro besah sich sein Glas. »Na ja, ein paar Tropfen sind noch drin. Die dürften reichen.«
Sekunden später allerdings beförderte er die Raupe aus seinem Glas und murmelte: »Schluss jetzt.« Leutnant Apura Blaki schlug gleich vor, sie zu füttern. Eigentlich wollte ich die weitere Entwicklung der Dinge abwarten, aber Sir Juffin meldete sich per Stummer Rede bei mir.
»Komm her, Max. Das dürfte dich interessieren.«
Ich sprang von der Fensterbank, zog die Flasche mit Kachar-Balsam aus dem Schreibtischversteck und nahm einen kräftigen Schluck. Die Schläfrigkeit, die mich nach einer halben Flasche Dschubatinischem Säufer befallen hatte, war wie weggeblasen. Ich nickte zufrieden, schob die Flasche ins Versteck zurück und ging zur Tür.
»Wo willst du hin?«, fragte Sir Kofa finster.
»Zu Juffin, wohin sonst? Er hat mich eben gerufen«, sagte ich und hob schuldbewusst die Arme. »Mästet mir die Raupe nicht zu sehr - sie muss noch ein Schmetterling werden.«
»Meinst du, dafür ist sie zu dick?«, fragte Melifaro erschrocken.
»Das kann ich noch nicht sagen, aber bleibt hübsch brav.«
Im Keller erwartete mich Juffin. Er stand neben dem Eingang zur Isolationskammer und sah müde und besorgt aus.
»Geh lieber nicht rein«, meinte er und wies mit dem Kopf auf die Tür. »Dort drin war es so nett! Wie kann ich ohne dieses Zimmer arbeiten?«
»Zaubern Sie sich doch eine neue Kammer. Hier im Keller ist Platz genug. Was ist da drin überhaupt passiert?«
»Na ja, nachdem ich mich beim Zaubern etwas angestrengt und Hechta Bonbon wieder zum Bewusstsein gebracht hatte, hat er meine Fragen ausführlich beantwortet. Dann aber hat er plötzlich gemerkt, dass er nichts zu verlieren hat, und mit mir zu kämpfen begonnen. Sehr romantisch.«
»Und vor allem sehr unvorsichtig«, murmelte ich.
»Na ja, er hat mich überrumpelt. Einige Zeit sah es sogar aus, als könnte er mich besiegen, aber am Ende war ich ihm doch über. Eigentlich hab ich dich gerufen, um dir zu zeigen, wie ein Zimmer nach der Anwendung Offenkundiger Magie 234. Grades aussieht.«
»Ist das der höchste Grad?«, fragte ich.
»Eigentlich ja ... Es gibt zwar Indizien dafür, dass Lojso Pondochwa Magie 235. Grades benutzt hat, aber Lojso ist eine Legende, und man sollte nicht alles glauben, was über ihn erzählt wird. Na schön, jetzt schau dir das Zimmer mal an.«
Juffin führte mich zur Tür und machte sie einen Spalt weit auf. Erwartungsvoll steckte ich die Nase in die schmale Öffnung, doch bis auf grelles Licht gab es nichts zu sehen. Das Licht kam mir lebendig und irgendwie böse vor.
»Oh«, seufzte ich und drehte mich zu Juffin um. »Kein übles Feuerwerk. Wird das so bleiben?«
»Kommt Zeit, kommt Rat, aber ich fürchte, es wird noch einige Zeit dauern.«
»Und was passiert, wenn ich da reingehe?«
»Das lässt sich ganz und gar nicht sagen. Ich kann dir nur raten, es zu lassen. Ein normaler Mensch verschwindet einfach darin - genau wie der verrückte Hechta. Offen gesagt habe ich diesen Trick heute zum ersten Mal angewandt, Max.«
»Wahnsinn!«, rief ich. »Ich hätte nie gedacht, dass es noch Dinge gibt, die Sie zum ersten Mal tun.«
»So kann man sich täuschen«, meinte Juffin und lächelte müde. »Na schön, fahr mich jetzt bitte nach Hause. Unterwegs erzähle ich dir Details aus dem Verhör. Oder kannst du dir schon denken, wie alles gelaufen ist?«
»Einigermaßen. Ich vermute, Magister Hechta Bonbon wollte in die Burg Jafach, um alte Rechnungen mit Sir Nuflin Monimach zu begleichen - hab ich Recht?«
»Nicht schlecht. Weiter.«
Während des Gesprächs waren wir aus dem Keller gestiegen und traten nun auf die Straße.
»Ich hoffe, Kimpa verübelt mir nicht, dass ich seine Pflichten übernehme«, sagte ich und setzte mich ans Steuer von Sir Juffins Dienstwagen. »Immerhin ist es sein Privileg, Sie nach Hause kutschieren zu dürfen.«
»Kimpa ist in Landland, um die Hochzeit seines Enkels zu feiern. Das wird er sicher ausgedehnt tun. Ich hab lange gebraucht, ihn davon zu überzeugen, dass ich seine Abwesenheit verkraften kann. Aber jetzt rede weiter, Max. Deine Version der Geschehnisse interessiert mich, denn sie kommt dem sehr nahe, was tatsächlich passiert ist.«
Ich fuhr schnell los und erzählte weiter: »Hechta hat offenbar Kontakt zur näheren Umgebung von Sir Nuflin Monimach gesucht. Das ist ihm mit Hilfe von Warich Ariam auch gelungen. Und den armen Jorinmuk, dessen Gesicht er übernommen hat, hat er irgendwann später umgebracht, stimmt's?«
»Nicht erst später, Max - gleich am Anfang! Wo bleibt deine Logik? Unser Verbrecher konnte doch nicht von Anfang an wissen, an wen aus der Umgebung von Nuflin Monimach er sich würde heranmachen können.«
»Verstehe. Hechta Bonbon hat Jurinmuk also umgebracht, aber was hat er mit der Leiche getan?«
»Für einen Großen Magister stellt eine Leiche keine große Herausforderung dar.«
»Auch das verstehe ich. Doch warum hat Hechta Bonbon, wenn er so ein erfahrener Zauberer war, ständig die Hilfe von Warich Ariam gebraucht?«
»Um einen Menschen äußerlich zu verwandeln, braucht man nicht nur Zaubermacht, sondern auch viel Erfahrung. Genialität reicht dafür nicht aus.«
»Verstehe. Warich Ariam musste also auch deshalb sterben, weil er ein unbequemer Zeuge war.«
»Genau. Weiter.«
»Ich hab nicht mehr zu sagen. Ich möchte nur noch einige Fragen stellen - auch wenn Sie an meinem Verstand zweifeln mögen. Warum konnte Hechta eigentlich in der Burg Jafach kein Unheil anrichten? Er hatte doch vierundzwanzig Stunden Zeit dafür. Was hat er die ganze Zeit da drin gemacht?«
»Glaubst du, es ist für einen Außenstehenden leicht, die Geheimtür in die Burg zu benutzen? Dafür braucht man den passenden Zauberspruch, und der ist anstrengend. Es ist ihm zwar gelungen, in die Burg zu gelangen, doch dann bist du auf seine Spur getreten, und von da an ging es ihm schlecht. Es war wirklich Glück, dass Lady Melamori dich diese Spur hat verfolgen lassen. Hast du noch weitere Fragen?«
»Jede Menge! Ich verstehe zum Beispiel nicht, was der Grässliche Mudlach in der ganzen Geschichte zu suchen hat und wie es ihm gelingen konnte, am Leben zu bleiben. Wie mag er es geschafft haben, im Cholomi-Gefängnis zu landen, um dort die Verbrechen eines anderen abzusitzen? Wissen die Leute dort nicht, wen sie inhaftieren?«
»Tja, Max, deine Fragen sind berechtigt, aber du hattest offenbar noch nie mit einem so begabten Magier wie Hechta Bonbon zu tun. Er ist nämlich imstande, seine Schuld auf jemand anderen zu übertragen, und niemand erkennt diese Täuschung. Und was deine anderen Fragen angeht: Ich glaube, da hat eher der Zufall entschieden. Mudlach hat Warich Ariam einfach im unpassenden Moment überrascht. Ich glaube, er war in Panik, als seine Anhänger es nicht schafften, Alotho umzubringen, und beschloss, sein Äußeres ein weiteres Mal zu ändern. Aber in diesem Moment war gerade unser Held Hechta Bonbon bei Warich Ariam. Die Arbeit an Hechtas Gesicht war fast beendet. Hechta hatte Warich erlaubt, einen neuen Kunden zu behandeln, sich im Zimmer nebenan versteckt, gelauscht und mitbekommen, dass auch Mudlach untertauchen wollte. Für Hechta war das ein günstiger Zufall. Er wollte Warich Ariam ohnehin nicht am Leben lassen und konnte ihn nun umbringen und die Schuld auf einen anderen übertragen. Du weißt ja, Max, wozu Menschen in aussichtsloser Lage fähig sind. Auf alle Fälle hat Warich Ariam sich erbittert verteidigt und sogar den 117. Grad der Offenkundigen Magie angewandt. Nach dem Tod von Warich hat Hechta Mudlach davon überzeugen können, dass das Cholomi-Gefängnis für ihn die beste Lösung ist. Oh, wir sind schon da. Vielen Dank fürs Bringen. Ich muss jetzt unbedingt schlafen. Deshalb lade ich dich nicht ein, noch mit hereinzukommen.«
»Ich bin auch fix und fertig«, sagte ich und unterdrückte mühsam ein Gähnen. »Aber als Nachtantlitz muss ich heute Abend im Haus an der Brücke bleiben, stimmt's?«
»Das ist zwar nicht obligatorisch, aber an deiner Stelle würde ich es tun. Du kannst dort auch schlafen, denn mit Kachar-Balsam solltest du dich nicht ewig über Wasser halten. Aber jetzt Gute Nacht.«
»Warten Sie, ich habe noch eine allerletzte Frage. Warum hat Mudlach nicht auch den Sohn von Warich Ariam umgebracht?«
»Das musst du Mudlach selber fragen«, meinte Juffin nur und ging ins Haus.
Das abendliche Treffen in unserer Abteilung war längst beendet, und das Haus an der Brücke war fast leer.
»Hast du eine Pirogge bekommen?«, fragte ich den schläfrigen Kurusch und strich ihm übers Gefieder.
»Sogar vier. Lass mich bitte schlafen.«
»Natürlich. Ich werde jetzt auch pennen«, sagte ich, rückte meinen Stuhl vor den Sessel von Sir Juffin und machte es mir auf seinem Platz bequem.
»Warum kannst du nicht bei dir zu Hause pennen?«, fragte Sir Kofa und riss mich aus allen Träumen.
»Ist es schon Morgen?«, fragte ich verschlafen.
»Beinahe. Wir haben hier gestern wirklich ziemliche Unordnung hinterlassen«, sagte er und stellte einen Rest Kamra auf den Herd, um sie anzuwärmen.
»Kofa, pennst du eigentlich auch manchmal?«, fragte ich müde und griff nach dem Kachar-Balsam, dem einzigen Mittel, das mich wach werden ließ.
»Natürlich, aber ich komme zum Glück mit zwei, drei Stunden Schlaf pro Nacht aus.«
»Das würde ich auch gern.«
»Ich glaube, Juffin wäre darüber nicht froh. Er meint, zu schlafen sei ebenso wichtig wie wach zu sein. Und er ist überzeugt, dass wir aus unseren Träumen Kraft schöpfen, die uns den Alltag bewältigen hilft. Aber jetzt geh nach Hause und leg dich hin.«
»Gerne. Aber erst trinken wir noch eine Tasse Kamra.«
Weißt du eigentlich, dass ich in deiner Schuld stehe? Was du mir über Lady Kekki erzählt hast, war wirklich nett. Dass eine so sympathische Frau sich für mich interessiert, hat mir sehr gefallen.«
»Gut, ich verschwinde dann mal, wie Ande Pu - der Hüter meiner Katzen - zu sagen pflegt. Den hab ich übrigens schon seit einer halben Ewigkeit nicht gesehen. Weißt du zufällig, wie es ihm geht?«
»Ganz gut. Er verdient in der Redaktion der Königlichen Stimme viel Geld, und doch kann man ihn jeden Abend in einem anderen Wirtshaus treffen, wo er sich über sein hartes Schicksal beklagt.«
»O je! Na dann, gute Nacht, Sir Kofa!«
In meinem Kopf herrschte ein heilloses Durcheinander, weil ich vor meinem Treffen mit Lady Techi furchtbar aufgeregt war.
Ich setzte mich in mein nagelneues A-Mobil, das zwischen den Dienstwagen des Hauses an der Brücke geparkt war.
Mein Wagen sah aus wie ein Wunder. Ich hatte ihn ein paar Tage zuvor von einem Mechaniker gekauft, der ihn monatelang nicht losgeworden war, weil er allen Kunden zu modern war. Was Mechanik angeht, sind die Einwohner von Echo sehr konservativ. Ich hingegen war mit meinem avantgardistischen A-Mobil sehr zufrieden, denn es erinnerte mich an die Wagen meiner Heimat.
Genüsslich öffnete ich die grün schillernde Fahrertür und setzte mich ans Steuer. Ich wollte schon losfahren, da spürte ich einen dicken Kloß im Hals. Mir wurde schwarz vor Augen, und erstaunt stellte ich fest, dass sich der Tod schon wieder für mich interessierte.
Jetzt reicht's!, dachte ich genervt. Dann hörte ich auf zu denken - zum Glück nicht für immer.
Natürlich war ich nicht tot. Als ich erwachte, war ich an Händen und Füßen gefesselt und hatte als Paket Probleme, das Leben zu genießen. Dann stellte ich fest, dass ich in einen Teppich gewickelt war. Weil er hin und her ruckelte, musste er in einem A-Mobil liegen.
»Was ist hier los?«, rief ich.
»Fangachra, nehmt es uns bitte nicht übel, aber Ihr müsst zu Eurem Stamm zurückkehren!«
Mit Schrecken erkannte ich die Stimme. Sie gehörte dem alten Mann, der im Namen seiner Landsleute mit mir verhandelt hatte. Ich wollte weinen, doch plötzlich überkam mich der Zorn, und ich schimpfte los. Ich hätte nicht gedacht, so viele Schimpfworte zu kennen.
Meine Entführer reagierten allerdings gar nicht auf meine Tirade, und ich hörte irgendwann damit auf. Ich musste unbedingt etwas unternehmen. Meine Kräfte würden sicher reichen, den Wagen in tausend Teile zerspringen zu lassen, aber dafür musste ich die Hände frei haben. Ansonsten konnte ich nur Gift spucken. Das allerdings hatten meine Landsleute offenbar gewusst und mich deshalb in den Teppich gepackt.
Vorsichtig bewegte ich die Finger der linken Hand und versuchte zu schnippen. Erstaunlicherweise klappte das.
Zum Glück kannten meine Entführer diesen Trick nicht. Sonst hätten sie mir sicher auch die Finger verschnürt.
So konnte ich endlich zur Sache kommen. Der Teppich würde den tödlichen Blitzen sicher keinen Widerstand entgegensetzen.
Aber das war eigentlich eine Schnapsidee, denn ich wollte nicht als jemand gelten, der an seinen angeblichen Landsleuten ein Massaker verübt hatte. Ich sehnte mich eigentlich nur in ein kleines, gemütliches Zimmer über dem Wirtshaus Armstrong und Ella.
Also machte ich den Versuch, meine Landsleute durch ein Gespräch davon zu überzeugen, mich freizugeben.
»Leute, was denkt ihr euch eigentlich? Ihr fahrt mich also nach Hause, ja? Und dann? Wollt ihr mich an den Thron ketten? Soll ich mit gefesselten Händen und Füßen über euch regieren? Wenn ihr mich nicht festsetzt, fahre ich bei erstbester Gelegenheit nach Echo zurück, und das wisst ihr.«
»Eure Füße sollen endlich Heimaterde berühren, Fangachra - das wird Euch helfen, für immer dort zu bleiben«, sagte der widerspenstige Alte überzeugt. »In Echo gibt es schreckliche Zauberer aus Uguland, die Euch verhext haben. Deshalb habt Ihr Euch von Eurem Stamm abgewandt. Wenn Ihr aber wieder in Euer Heimatland kommt, wird Euer Herz erwachen.«
»Wenn ihr mich nicht sofort freigebt, wird es euch übel ergehen. Ich hoffe, ihr lasst es nicht darauf ankommen.«
»Könnt Ihr Euch etwa aus unseren Fesseln befreien?«, fragte der alte Mann ungläubig.
»Na gut«, sagte ich verärgert. »Ich hatte euch gewarnt.«
Ich konzentrierte mich. Eigentlich wollte ich diese lustigen Leute, die mich für ihren König hielten, nicht töten. Sie gehörten zu einem kleinen, aber durchaus sympathischen Stamm, und ihr hartnäckiger Wunsch, mich zu ihrem Herrscher zu machen, ging mir zwar auf die Nerven, schmeichelte aber auch meiner Eigenliebe.
Also entspannte ich mich, um meinen Zorn loszuwerden. Wenn es hart auf hart kam, blieben mir als letzte Waffe noch immer die tödlichen Blitze. Es musste mir nur gelingen, meine Wünsche zu zähmen. Hoffentlich besaß ich dafür Disziplin genug. Dazu allerdings musste ich diese hartnäckigen Menschen zwingen, nach meiner Pfeife zu tanzen - und zwar sofort, denn eine Reise bis an die Grenze des Vereinigten Königreichs harmonierte schlecht mit meinen abendlichen Plänen.
Nach ein paar Minuten spürte ich, dass ich mit meiner Befreiung beginnen konnte. Vorsichtig schnippte ich mit der linken Hand, und grüne Kugelblitze drangen durch den Teppich nach draußen. Mir blieb nur zu hoffen, dass sie ihr Ziel erreichten.
Etwas später merkte ich, dass ich Erfolg gehabt hatte, denn eine Stimme sagte: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr.«
Ausgerechnet der hartnäckige Alte war mein erstes Opfer geworden.
»Ich stehe Euch zu Diensten, Herr«, hörte ich alsdann verschiedene Stimmen sagen.
»Prima«, meinte ich. »Und jetzt lasst mich bitte frei.«
Meine Landsleute wickelten mich aus dem Teppich, schauten mich begeistert an und schnitten mit zitternden Händen die Schnüre durch, mit denen sie mich an Händen und Füßen gefesselt hatten.
Ich bewegte meine eingeschlafenen Arme und Beine und sah mich um. Wir saßen in einem großen Leiterwagen und standen mitten in einem seltsamen Wäldchen. Ringsum spazierten Elche und schauten uns gleichgültig an.
Mühsam kletterte ich vom Wagen. Dann warf ich meinen Landsleuten einen bitterbösen Blick zu und rief: »Wehe, ihr behandelt mich noch mal auf diese Art und Weise! Wie habt ihr mich überhaupt fangen können? Na los, erzählt!«
»Wir haben die Leute in Echo nach Eurem Wagen gefragt und uns unterm Sitz versteckt. Dann haben wir Euch von hinten überwältigt und gefesselt. Euer Leben war nie in Gefahr.«
»Gut, Leute, fahrt nach Hause. Na los, schiebt ab. Viele Stämme kommen gut ohne König aus. Ihr solltet das auch mal probieren. Das ist kein Befehl, sondern nur ein freundlicher Rat. Außerdem solltet ihr aufhören, diese merkwürdigen Sachen zu tragen. Die stehen euch wirklich nicht. Ein Turban würde euch besser kleiden. Darf ich?«, fragte ich und griff nach einem Stück Stoff, das einer meiner Landsleute in der Hand hielt. Leider gelang es mir nicht, es zu einem Turban zu binden, doch ich bekam wenigstens ein Piratentuch hin.
Offenbar war Antschifa Melifaros Einfluss auf mich stärker als vermutet.
»Ihr könntet eure Tücher zum Beispiel so tragen«, meinte ich. »Habt ihr das kapiert?«
»Wir tun, was Ihr befehlt, Fangachra«, versprach mir der Alte.
Die Bewohner der Grenzgebiete waren nun fleißig damit beschäftigt, ihre Kopfbedeckung zu revolutionieren. Nach ein paar Minuten sahen sie aus, als wären sie dem Fluch der Karibik entsprungen. Nur Johnny Depp war nirgendwo zu sehen.
»Toll«, rief ich begeistert. »Und jetzt, meine Adler, hab ich eine neue Aufgabe für euch. Ihr legt euch auf den Boden, schließt die Augen, konzentriert euch und ... befreit euch von der Macht, die ich über euch habe.«
Meine Landsleute taten, wie ihnen geheißen. Als sie sich nach ein paar Minuten wieder erhoben, wirkten sie erschrocken und verlegen, waren aber wenigstens wieder zurechnungsfähig.
»Was habt Ihr mit uns getan, Fangachra?«, fragte der Alte. »Kein Mensch kann so was mit anderen anstellen. Vielleicht seid Ihr ein Gott!«
»Das wird ja immer schlimmer mit euch. Vorhin war ich noch euer König, jetzt bin ich schon euer Gott. Für mich ist dieses Gespräch beendet. Lebt wohl, meine Herren. Ich wünsche euch eine schöne Heimreise.«
»Ihr kommt also nicht mit?«, fragte der Alte hartnäckig. »Dabei hatte ich so darauf gehofft.«
»Hoffnungen sind trügerisch. Das hab ich euch schon mal gesagt. Es wird euch auch ohne mich gut gehen.«
Ich sah meinen angeblichen Landsleuten nach, bis sie um die nächste Biegung verschwunden waren. Dann schüttelte ich erleichtert den Kopf und meldete mich per Stummer Rede bei Sir Juffin. Mein Chef überraschte mich mit einem langen Monolog:
»Prima, dass du dich endlich bei mir meldest, Max. Ich wollte dich gerade fragen, ob dir klar ist, dass du ab und an im Haus an der Brücke auftauchen solltest. Dein A-Mobil steht zwar vor der Tür, doch von dir ist weit und breit nichts zu sehen. Ich wüsste gern, wie du gestern nach Hause gekommen bist. Was ist überhaupt mit dir los?«
»Sie vermuten mich offenbar in Echo«, gab ich zurück.
»Wo solltest du sonst sein, Max?«
»Das weiß ich selbst nicht. Jedenfalls bin ich nicht in Echo. Man hat mich entführt.«
»Wer?«
»Meine so genannten Untertanen. Und ich dachte, die ganze Stadt würde fieberhaft nach mir suchen.«
»Davon hab ich nichts mitbekommen«, seufzte mein Chef. »Tut mir wirklich leid.«
»Nachdem Sie Magie 234. Grades anwenden mussten, haben Sie sicher tief geschlafen«, meinte ich verständnisvoll. »Außerdem war es halb so wild. Meine angeblichen Landsleute wollten mir nichts tun. Ich hab mich ziemlich leicht befreien können und bin wohlauf.«
»Gut, mein Held. Willst du wieder nach Hause?«
»Unbedingt. Schicken Sie bitte Lady Melamori. Sie soll auf meine Spur treten und mich aus dieser Einöde retten.«
»Alles klar, Max. Ende.«
Nach diesem Gespräch meldete ich mich kurz bei Lady Techi. Wir waren verabredet, und sie hätte gute Gründe gehabt, mir Vorwürfe zu machen, klang aber sehr nett.
»Wohin haben die Dunklen Magister dich verschleppt?«, fragte sie besorgt.
Ich erzählte ihr kurz von meinem neuesten Abenteuer.
»Ich hoffe, so was passiert mir nicht so bald wieder«, setzte ich abschließend hinzu.
Eine halbe Stunde später spürte ich, wie müde ich war. Stumme Rede erschöpft mich ungemein. Also verabschiedete ich mich von Techi, legte mich ins Gras und betrachtete den wolkenlosen Himmel. Ich war vollkommen glücklich, und das passiert mir selten. Gleich darauf schlief ich ein.
Das Fauchen eines A-Mobils weckte mich. Ich träumte gerade, ich würde vor zwölf Ärzten im weißen Kittel fliehen, die ständig riefen, sie wollten mir doch nur ein wenig bei meinem zweiten Herzen helfen. Ich wollte mich allerdings nicht von meinem doppelten Organ trennen. Na ja - ein ganz normaler Albtraum eben. Ich erwachte zwar in kaltem Schweiß gebadet, war aber herzlich froh, diese Szene nicht wirklich erlebt zu haben.
»Was ist passiert?«, fragte Melamori erschrocken. »Geht's dir nicht gut?«
»Keine Sorge, ich hab nur schlecht geträumt.«
»Das ist auch nicht angenehm«, meinte sie und lächelte. »Ich hab deinen Wagen genommen, weil ich mir dachte, du würdest dich darauf freuen. Auf der Rückbank liegt übrigens dein Turban. Setz ihn bitte auf, denn du siehst wahnsinnig zerzaust aus. Ich hab schnell hergefunden, was? Es ist noch nicht mal dunkel.«
»Stimmt«, meinte ich und sah in ihr glückliches Gesicht. »Du machst gewaltige Fortschritte und hast durchaus Chancen, unseren Wettbewerb irgendwann zu gewinnen.«
»Langsam beginne ich, an mich zu glauben - besonders nach der heutigen Fahrt. Deine Untertanen haben eine ganz hübsche Strecke mit dir zurückgelegt.«
»Lass uns fahren. Und diesmal setze ich mich ans Steuer. Du musst mir nur den Weg weisen.«
Ich fuhr höchstens eine Stunde und erreichte dabei eine atemberaubende Geschwindigkeit. Meine angeblichen Untertanen aus Fangachra hatten es wirklich geschafft, mich fast bis ans Ende der Welt zu kutschieren. Ihre Transportelche waren offenbar sehr effizient. Unterwegs erzählte ich Melamori die kurze Geschichte meiner Befreiung, und sie lachte.
»Gibt's bei euch was Neues?«, fragte ich.
»So einiges. Mudlach muss im Cholomi-Gefängnis bleiben, hat aber nur zwei Jahre Haft wegen Lügens bekommen. Juffin wollte, dass er schneller entlassen wird, doch Kamschi ist stur geblieben. Gesetz ist Gesetz, hat er gesagt.«
»Das ist nichts Neues«, meinte ich. »Kamschi hat sich immer penibel an die Gesetze gehalten. Nur hatte er früher keine Gelegenheit, Juffin seine Dickköpfigkeit zu demonstrieren. Aber diese Eigenschaft ist für einen Gefängnisdirektor gar nicht schlecht.«
»Das sag ich ja auch gar nicht. Außerdem hat Alotho seine Kämpfer um das Gefängnis herum Position beziehen lassen. Dort müssen sie zwei Jahre aushalten, da unser Adonis befürchtet, der Grässliche Mudlach könnte entkommen. Toll, was?«
Wir passierten ein Stadttor und fuhren durch die riesigen Obstplantagen am linken Ufer des Churon.
»Du bist wahnsinnig schnell gewesen«, meinte Melamori neidisch. »Tolle Zeit! Es wird lange dauern, bis ich dir das Wasser reichen kann.«
»Irgendwann wird es dir gelingen. Wart's ab. Und die Schönlinge aus Arwaroch wollen wirklich noch zwei Jahre bei uns gastieren?«
»Eigentlich nicht. Eine Hälfte der Soldaten bleibt beim Gefängnis, die andere Hälfte kehrt mit Alotho nach Arwaroch zurück. Er hat seinem Herrscher versprochen, spätestens zum Jahreswechsel wieder da zu sein, und weil es in Arwaroch keine Stumme Rede gibt, kann unser Adonis seinem König nicht ausrichten, dass sich die Sache verzögert. Du weißt doch, dass diese seltsamen Leute sich sklavisch an ihr Wort halten. Aber er kommt in zwei Jahren wieder, um den Grässlichen Mudlach persönlich zu empfangen. Ist das nicht romantisch?«
»Ziemlich«, meinte ich und sah Melamori mitleidig an. »Ist es sehr schlimm für dich, dass Alotho wegfährt?«
»Ich weiß nicht«, sagte sie seufzend. »Vielleicht, aber nicht unbedingt. Außerdem will ich nicht darüber reden. Ach, sind wir schon da?«
»Was dachtest du denn?«, meinte ich stolz und hielt vor dem Haus an der Brücke.
»Gute Nacht, Max«, sagte Melamori lächelnd. »Ich muss nicht zum Dienst und gehe nach Hause.«
»Gute Idee. Ich will nur unserem Chef mein leidendes Gesicht zeigen, damit er mir erlaubt, in seinem Sessel zu schlafen.«
»Du klopfst Sprüche wie eh und je«, stöhnte Melamori. »Dabei seht Ihr gar nicht so fertig aus, Hoheit.«
»Ich bin noch nie beraubt worden«, rief Juffin und sah mich mitleidig an. »Und jetzt hat man mir gleich mein Nachtantlitz gestohlen! Aber ich glaube, du hast die Ehre des Kleinen Geheimen Suchtrupps verteidigt.«
»Sie reden schon wie ein gebürtiger Arwarocher«, sagte ich und setzte mich in meinen Lieblingssessel.
»Mit Alotho werde ich mich nicht so bald messen können. Hast du Hunger? Du siehst ganz schön mitgenommen aus.«
»Das kann ich mir vorstellen. Melamori war allerdings der Meinung, ich wirke nicht besonders fertig.«
»Sie ist in letzter Zeit ein tapferes Mädchen geworden«, erklärte Juffin, »und kann inzwischen einiges vertragen.«
Ich erzählte erneut mein exotisches Abenteuer und aß dabei eine so leckere wie riesige Pirogge aus der Produktion von Madame Zizinda, denn Sir Juffin hatte behauptet, das sei das Einzige, was mein müdes Gesicht entspannen könne.
»Und jetzt geh nach Haus und erhol dich, Max. Du kannst bis übermorgen faulenzen. Nach so einer Thronbesteigung braucht man Zeit, um sich zu erholen.«
»Sind Sie sicher?«, fragte ich und wollte meinen Ohren nicht trauen. »Haben Sie eigentlich schon gemerkt, dass immer ich das Opfer bin, wenn etwas Unangenehmes passiert? Ich werde sicher als Erster erfahren, dass in Echo schon wieder ein Verbrechen geschehen ist.«
»Soweit ich weiß, widerfahren dir nicht nur unangenehme Dinge. Aber jetzt husch, husch.«
Ich ging nervös zu meinem Wagen. Vielleicht hatten sich meine angeblichen Untertanen ja noch was Besonderes für mich ausgedacht?
Einmal mehr bestätigten sich meine Vorahnungen: Auf der Rückbank saß jemand. Ich näherte mich meinem Wagen und wollte mich mit meiner giftigen Spucke verteidigen.
»Großer König! Darf ich vor dir auf die Knie fallen, um dich zu begrüßen?«
Jetzt erkannte ich das zufriedene Gesicht von Melifaro.
Ich sprang vor Überraschung in die Luft und legte dann die Hand auf meine beiden Herzen.
»Das war ganz schön riskant von dir, mein Freund, denn meine Nerven sind so gut wie am Ende«, kicherte ich.
»Aber offenbar ist es dir gelungen, dich zu beherrschen. Wollen wir eine Tasse Kamra trinken?«
»Du hast wirklich Glück. Ich wollte gerade ins Wirtshaus Armstrong und Ella fahren.«
»Max, ich freue mich, nicht nur dich, sondern auch deinen Kollegen Melifaro zu sehen«, sagte Lady Techi und lächelte uns freundlich über den Tresen an. »Heute haben sich zwei Krüge verhakt. Melifaro, würdest du sie bitte kaputt machen? Das kannst du doch so gut.«
»Ich bin zwar nicht in Form, aber ich schau mal, was sich machen lässt«, sagte Melifaro mit der Stimme eines Salonlöwen. »Ich muss deine Bitte erfüllen, weil ich große Angst vor dem Tyrannen habe, mit dem ich gekommen bin. In dieser Stadt gibt es nicht viele Orte, an denen man wirklich Spaß haben kann, doch dein Bistro gehört auf jeden Fall dazu.«
Techi lächelte und stellte uns zwei Tassen von ihrer Kamra hin, die als eine der besten der Stadt galt.
Die Eingangstür quietschte, und Ande Pu stand vor uns.
»Max, das gibt's ja nicht, dass ich Sie endlich treffe. Und ausgerechnet hier! Warum haben Sie es abgelehnt, König von Fangachra zu werden? Sie glauben ja nicht, wie sehr ich Ihre süßen Kätzchen vermisse!«
Als Melifaro diesen Sermon hörte, musste er so lachen, dass er beinahe vom Stuhl fiel.
»Arbeitet dieser Junge etwa auch für euren Suchtrupp?«, fragte Techi neugierig.
Der nächste Tag war einer der glücklichsten meines Lebens. Die ganze Zeit herrschte dichter Nebel, der sich erst gegen Abend zugunsten eines grandiosen Sonnenuntergangs lichtete. Während ich die sinkende Sonne bewunderte, drang ein merkwürdiger Dialog an mein Ohr:
»Morgen reise ich ab«, flüsterte Alotho Aliroch, doch seine Stentorstimme klang sogar geflüstert ziemlich laut. Dann setzte er hinzu: »Dabei möchte ich Echo gar nicht verlassen.«
»Doch du musst fahren, stimmt's?«, fragte Melamori.
»Ja.«
»Aber bald kehrst du zurück. Schließlich musst du den Grässlichen Mudlach persönlich erledigen. Diese zwei Jahre gehen sicher schnell vorbei.«
»Zwei Jahre sind eine halbe Ewigkeit«, seufzte Alotho. »Ich will nicht fahren und darf nicht bleiben, und du möchtest nicht mit mir nach Arwaroch gehen. Was für ein Drama!«
»Am besten, du verschwindest schnellstens und lässt uns alle in Ruhe«, brummte ich und wandte mich an Kurusch.
»He, süßer Vogel, hörst du, was da draußen los ist?«
»Nein, was denn?«, fragte der Buriwuch und öffnete seine Bernsteinaugen.
»Dieser Adonis aus Arwaroch will unsere Lady Melamori unter Druck setzen. Und er gefällt ihr. Das macht die Sache gefährlich. Kurusch, kluger Vogel - dieser Alotho vergöttert dich. Misch dich also bitte in das Gespräch der beiden ein.«
»Wenn du so weitermachst, gehe ich mit Alotho nach Arwaroch«, drohte Kurusch mir. »Dort wird mich kein Mensch mit solchen Kleinigkeiten behelligen.«
»Glaubst du etwa, dort gibt es so leckere Piroggen wie hier?«, fragte ich listig.
»Nur wegen der Piroggen lasse ich diesen Worten keine Taten folgen. Gut, wenn du wirklich meinst, ich sollte mich in das Gespräch der beiden einmischen, dann mach ich das eben.«
Kurusch flog durch die halb offene Tür in den Saal der allgemeinen Arbeit, während ich mein Büro durchs Fenster verließ, damit die beiden Turteltäubchen nicht auf die Idee kämen, ich hätte ihnen Kurusch auf den Hals geschickt.
Nach einer halben Stunde kehrte ich ins Haus an der Brücke zurück. Natürlich hatte ich nicht vergessen, Kurusch Piroggen mitzubringen. Die hatte er sich redlich verdient. Diesmal betrat ich das Haus durch die Geheimtür und lief gleich Alotho über den Weg. Sein Gesicht war verzückt - ein untrügliches Zeichen dafür, dass er mit dem Buriwuch gesprochen hatte. Das spinnenartige Wesen schlief ruhig auf seinem Rücken.
»Wo hast du dich rumgetrieben?«, fragte Melamori.
»Ich war zum Mittagessen im Gesättigten Skelett und kann dir nur empfehlen, es mir nachzutun. Das Essen dort ist heute ausgezeichnet.«
Alotho sah mich erstaunt an.
Diese Helden aus Arwaroch spüren es bestimmt, wenn man sie übers Ohr hauen will, dachte ich. Und er versucht jetzt sicher, meine Absichten herauszufinden.
Zum Glück beschäftigte sich Alotho nicht lange mit mir, und ich verschwand schnell in mein Arbeitszimmer. Kurusch döste unschuldig auf seiner Sessellehne. Ich weckte ihn nicht, sondern legte ihm nur das Päckchen mit Piroggen hin.
Am nächsten Tag musste ich schon mittags zum Dienst. Alotho und die Hälfte seiner Mannschaft segelten nach Arwaroch zurück, und wir Mitarbeiter des Kleinen Geheimen Suchtrupps mussten sie feierlich verabschieden.
Melifaro schien der glücklichste Mensch des Vereinigten Königreichs. Er setzte sich auf den Tisch, schlenkerte mit den Beinen und machte ein verträumtes Gesicht.
»Die Abwesenheit von Rulen Bagdasys tut dir gut«, meinte ich beiläufig. »Was sollen wir eigentlich mit ihm machen?«
»Das weiß ich schon lange. Aber warte kurz, Nachtantlitz. Du wirst bald sehen, was ich mit ihm vorhabe.«
»Das sehe ich bestimmt irgendwann«, meinte ich, gähnte breit und griff nach der Flasche mit dem Kachar-Balsam.
Eine halbe Stunde später waren alle in Juffins Büro. Melamori kam als Letzte. Auf ihrem Rücken saß das Spinnenwesen von Alotho und wirkte sichtlich erschrocken.
»Du hast heute aber eine schöne Brosche!«, rief Melifaro begeistert. »Ein Geschenk des Königs, vermute ich.«
»Das ist Leleo. Er ist Beschützer aller Seelen von Arwaroch. Hat man dir schon einen Seelenbeschützer geschenkt, Melifaro?«
»Einen Seelenbeschützer? Der hat mir noch gefehlt!«
»Nicht frech werden!«, rief Melamori herrisch.
»Das ist eiserne Logik«, rief Sir Kofa belustigt. »Darf ich deinen Leleo kennen lernen?«
»Warum nicht.«
Von der Straße hörte ich die monotonen Schritte der hundert Soldaten, mit denen Alotho Echo verlassen wollte.
»Keine Sorge, die bleiben draußen«, erklärte Melamori. »Alotho sieht seine Soldaten vor allem als Schmuckstücke, und wenn er ein wichtiges Treffen hat, lässt er sich von ihnen eskortieren.«
»Und als ihr beide euch getroffen habt? Waren sie da auch dabei?«, fragte Melifaro listig.
»Zum Glück nicht. Vielleicht ist das Treffen mit einer Dame für ihn kein so wichtiges Ereignis.«
Alotho Aliroch kam in Gesellschaft nur eines Soldaten zu uns. Er war sehr jung, aber ebenso hübsch wie seine Kameraden und so groß wie ich, also gar nicht klein, doch im Vergleich zu seinen Genossen natürlich winzig.
»Das ist Thota, mein Schamane«, sagte Alotho feierlich und wirkte dabei sehr aufgeregt. »Er ist einer der besten Vermittler zwischen mir und unseren Göttern.«
»Wir freuen uns sehr auf dieses ungewöhnliche Treffen«, sagte Sir Juffin, und seine blauen Augen blinzelten neugierig.
»Die Götter haben uns erlaubt, euch unsere Waffen zu schenken«, sagte der Schamane. »Unser erstes Geschenk ist für Euch, Sir«, sagte er und verbeugte sich vor Juffin.
Alotho nahm seine große Machete vom Gürtel und schenkte sie meinem Chef. Der wirkte sehr zufrieden.
»Das zweite Geschenk ist für den, dem wir es zu verdanken haben, dass wir nicht auf unseren Anführer verzichten müssen«, sagte der Schamane und sah Melifaro an. Mein Kollege bekam die große Fliegenklatsche und wirkte ebenfalls sehr zufrieden.
Dann wandte sich der Schamane an Lonely-Lokley. »Unser Gott bedankt sich auch bei Euch, Sir, sagt aber nicht, wofür.«
»Schade«, antwortete Schürf ernst. »Ich wüsste gern, womit ich diese unerwartete Sympathiebekundung verdient habe.«
»Ihr bekommt keine Waffe, da Eure Handschuhe bereits sehr effektive Waffen sind. Doch ich habe eigens für Euch diesen Fisch gefangen«, sagte er und überreichte ihn meinem Kollegen.
»Das ist ja ein wunderbares Geschenk«, sagte Lonely-Lokley sichtlich gerührt.
Der Schamane verbeugte sich nun vor Sir Kofa und überreichte ihm ein Etui.
»Diese Reitpeitsche ist eine sehr gefährliche Waffe. Aber Ihr seid klug und wisst sicher, wie Ihr sie einsetzen müsst.«
»Vielen Dank«, sagte Kofa lächelnd. »Eine Reitpeitsche hab ich noch nie bekommen.«
»Und Ihr, gnädige Frau, bekommt etwas ganz Besonderes«, fuhr der Schamane fort. »Unser Gott hat uns wissen lassen, dass Ihr die Seelen der Arwarocher zu schützen vermögt. Ihr habt schon Leleo von uns bekommen. Er muss sich noch an Euch gewöhnen. Wenn er mit Euch zufrieden ist, wird er singen.«
»Und wann wird das sein?«, fragte Melamori. »Noch weint er die ganze Zeit und jammert nach Alotho.«
»Wenn ich nicht da bin, wird er singen«, versprach Alotho ihr. »Leleo macht immer alles zur rechten Zeit.«
»Das sagst du immer, aber ich hab den Eindruck, er möchte zu dir zurück.«
Der Schamane verbeugte sich nun vor Lukfi Penz. So respektvoll wie mit ihm hatte er nicht mal mit Sir Juffin gesprochen.
»Sir, Ihr seid es, der mit den Buriwuchen spricht. Seid Ihr bereit, unser Geschenk zu empfangen?«
»Sehr nett von Ihnen, meine Herren. Ich bin gespannt.«
»Kurz vor meiner Abreise nach Echo kam unser Herrscher zu mir und hat mir diesen Mantel gegeben«, sagte Alotho. »Er wird glücklich sein, wenn er erfährt, dass ihn jemand trägt, der mit den Buriwuchen spricht.«
Dann wandte sich der Schamane an mich.
»Unser Gott kennt Euch gut. Er hat mir viel von Euch erzählt, doch ich habe kaum etwas davon verstanden. Er sagte, Ihr habt alles und braucht kein Geschenk von uns.«
»Ihr seid aber nett zu meinem Kollegen«, unterbrach Melifaros amüsierte Stimme die feierliche Stille.
»Ich würde Euch gern einen meiner Schätze anvertrauen, Sir Max«, sagte Alotho feierlich. »Aber ich darf mich dem Willen unserer Götter nicht widersetzen.«
»Ihr habt mir schon einen Eurer Schätze gegeben - ich erinnere mich sehr gut an das Lied, das Ihr gesungen habt.«
»Wie schön, dass Ihr Euch an solche Details erinnert«, sagte Alotho, der meine Worte für ein Lob gehalten hatte.
Während wir Komplimente drechselten, wandte sich Melifaro an den Schamanen.
»Haben Eure Götter etwas dagegen, wenn ich Alotho ein Geschenk mache?«
»Ihr könnt tun, was Euch beliebt. Ihr habt die Ehre unseres Anführers gerettet - und die Ehre unseres Landes.«
Melifaro nickte zufrieden, griff in die Manteltasche und zog den Ring mit dem winzigen Rulen Bagdasys hervor. Jetzt wusste ich, was er vorhatte. Dieser wunderbare Mensch wollte die beiden Ursachen seiner Depression zusammenbringen und sehen, was passierte.
Juffin merkte, dass ich mich vor Lachen kaum beherrschen konnte, und meldete sich per Stummer Rede.
»Was ist los, Max?«
»Das soll Ihnen Melifaro erzählen. Jedenfalls besteht keine Gefahr für Alotho - Ehrenwort.«
»Ich wüsste gern, was für den eine Gefahr bedeuten würde«, bemerkte Juffin seufzend.
Melifaro hob zu einer feierlichen Erklärung an: »Das ist ein tolles Geschenk, Alotho. Ihr könnt den Ring in der Tasche oder am Finger tragen - das spielt keine Rolle. Und wenn Ihr mal sehr traurig seid, werft ihn auf den Boden und wartet ab, was passiert. Der Anblick wird Euch sicher erfreuen.«
»Vielen Dank. Ich hoffe, ich werde Euer Geschenk im richtigen Moment benutzen.«
Alotho steckte sich den Ring an die Rechte. Der kleine Rulen Bagdasys passte sehr gut zu seinem übrigen Schmuck.
»Ich muss jetzt gehen, meine Herren«, sagte Alotho dann und senkte den Kopf. »Je früher ich Eure Stadt verlasse, desto eher kehre ich zurück.«
»Ich begleite dich«, sagte Melamori.
»Nein, es ist kein gutes Zeichen, wenn ein Schiff die Anker lichtet und jemand am Ufer zurückbleibt.«
Als Alotho und seine Leute endlich abzogen, machte ich ein trauriges Gesicht.
»Ich hab als Einziger kein Geschenk bekommen«, meinte ich kapriziös. »Darunter leide ich wirklich sehr.«
»Dafür haben sie dir ein Kompliment gemacht, das ich nie bekommen habe«, meinte Juffin. Als er meinen erstaunten Blick bemerkte, fügte er hinzu: »Sie haben gesagt, du hast alles, was du brauchst.
»Ja und? Was soll das bedeuten?«
»Im Heiligen Buch von Arwaroch steht: >Menschen bleiben Menschen, solange ihnen etwas fehlt««, erklärte Lonely-Lokley.
»Sie haben dich also als Gott eingestuft«, sagte Juffin und lachte.
»Hoffentlich kommt der Schamane nicht jede Nacht zu mir, um Rat zu suchen«, meinte ich. »Woher kennst du eigentlich das Heilige Buch von Arwaroch, Schürf?«
»Meine große Bibliothek enthält auch ein paar seltene Ausgaben. Unter anderem besitze ich eins von etwa fünfzehn erhaltenen Exemplaren dieses Buchs.«
Melifaro erzählte Juffin unterdessen alles über Rulen Bagdasys.
»Zuerst war ich auf die beiden stinksauer: auf den Mann aus Isamon und den aus Arwaroch. Dann hab ich mich an sie gewöhnt und sie sogar gemocht. Irgendwann wollte ich Rulen befreien, aber schließlich hab ich mich entschieden, Alotho den Ring zu schenken. Wer könnte seine Stimmung besser heben als Rulen mit seinen dummen Witzen.«
Sir Juffin sah nun wirklich glücklich aus.
»Max«, begann er belustigt, »da du König und Gott bist, sollte ich dich vielleicht fragen, ob ich nach Hause gehen darf. Ich möchte mich erholen - schlafen und lesen und so.«
Ich schwieg, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte.
»Na, meine Herren, vergesst bitte nicht, Sir Max jeden Abend kurz anzubeten. Und überhaupt: Tut alles, was er euch sagt. Ich gehe jetzt schlafen.«
»Verrückt«, meinte Sir Kofa, als Juffin verschwunden war. »Dieser Mann aus Kettari geht vor Sonnenuntergang schlafen. Er nimmt sogar Urlaub. Ich kenne ihn länger als ihr alle, und glaubt mir: Das ist noch nie passiert.«
»Ich kann nur sagen, dass das Abendessen im Fressfass auf die Minute pünktlich auf dem Tisch steht.«
»Vielen Dank, Max. Du bist ein netter König und Gott«, meinte Sir Kofa lächelnd. »Du hast doch nichts dagegen, wenn ich ein paar Leute von der Stadtpolizei mitnehme, oder?«
»Lady Kekki Tuotli kannst du gern mitbringen. Aber komm ja nicht auf die Idee, General Bubuta anzuschleppen.«
Wir aßen lange und ausgiebig, doch Lady Melamori tauchte nicht auf. Ich verstand, dass ihr der Sinn jetzt nicht gerade nach unserer Gesellschaft stand.
Melamori erschien um Mitternacht im Haus an der Brücke. Sie war allein und stand reglos auf der Schwelle zu meinem Büro. Mein zweites Herz spürte ihren Schmerz und blieb aus Mitleid kurz stehen.
»Ich glaube, ich hab schon wieder eine Dummheit begangen, Max«, gab sie traurig zu.
»Wir Menschen machen ab und zu Dummheiten, wie die Buriwuche zu sagen pflegen. Was hast du denn angestellt?«
»Ich hatte Angst und bin deshalb nicht mit Alotho nach Arwaroch gesegelt.«
»Das kann ich gut verstehen«, sagte ich.
»Du? Angst wäre für dich bestimmt kein Hindernis gewesen, so eine Reise anzutreten.«
Sie setzte sich zu mir, und wir plauderten bis zum Sonnenaufgang über alles Mögliche. Irgendwann unterbrach uns Leleo, der mit dünner Stimme leise ein Lied summte.
»Siehst du«, meinte ich, »er kann tatsächlich singen Das ist ein gutes Zeichen.«
»Das ist wirklich toll. Entschuldige, aber ich muss jetzt nach Hause. Ich bin zwar todmüde, aber auch erleichtert.«
Ein paar Minuten später kam Sir Kofa. Er wirkte wie immer froh und munter. Jetzt durfte auch ich endlich nach Hause. Ich schaffte es, rechtzeitig bei Techi zu erscheinen.
»Max, du kannst ruhig ab und zu bei dir schlafen«, meinte sie, als sie mir die Tür öffnete. »Das meine ich ehrlich Du hast doch ein Zuhause, oder?«
»Ich hab sogar zwei Wohnungen - genau wie ich zwei Herzen habe.«
Schließlich kam ich zur Ruhe und schlief bis Sonnenuntergang. Dann stand ich auf, wusch mich und ging runter. Ich konnte doch von Techi nicht verlangen, dass sie mir Kamra ans Bett brachte.
Unten im Wirtshaus erlebte ich einen Schock. An der Theke stand Sir Schürf und unterhielt sich mit Techi, die ihm fürsorglich Kamra nachschenkte.
»Du hast ganz schön lange geschlafen«, bemerkte Lonely-Lokley beiläufig.
Das klang, als hätte er mir das Ausschlafen beigebracht und wäre nun mit dem Ergebnis zufrieden.
»Ich hab dich gesucht«, fuhr er fort, »und wollte mich per Stummer Rede bei dir melden, hab dich aber nicht stören wollen. Ich hab dir das seltene alte Buch mitgebracht, über das wir gestern gesprochen haben. Eigentlich verleihe ich solche Raritäten nicht. Wenn du etwas von mir lesen willst, komm vorbei - kein Problem. Aber heute Nacht hab ich geträumt, dieses Buch will zu dir. Also nimm es«, sagte Schürf und gab mir den kleinen, dicken Band.
Ich öffnete das Buch vorsichtig. Es schien mir anfangs warm, bald aber heiß. Plötzlich verschwand es einfach.
»Hast du das gesehen?«, fragte er leise. »Ich hab keine Ahnung, wie das passieren konnte. Nun verstehe ich, warum das Buch unbedingt zu dir wollte. Du hast es von dem Zwang befreit, in unserer Welt zu sein. Jetzt ist es nicht mehr im Vereinigten Königreich. Ich kann das nicht gut erklären, aber du weißt doch, dass du immer für ein Wunder gut bist.«
Lonely-Lokley sah mich an, und in seinen Augen lag weder Mitleid noch Kritik. Ich hatte immer Probleme, seine Blicke zu deuten.
»Du kannst mit guten Dingen eben einfach nicht umgehen«, unterbrach uns Techi und schob mir eine Tasse Kamra vor die Nase.