Das Schiff aus Arwaroch und andere Unannehmlichkeiten

Max, das Schicksal aller Polizisten von Echo liegt in deiner Hand.«

Melifaro lächelte breit und setzte sich lässig auf meinen Schreibtisch. Dabei fielen sich selbst beschriftende Tafeln auf den Boden, und meine leere Tasse landete auf meinem Schoß, was ihn nicht mal mit der Wimper zucken ließ. Er beugte sich zu mir rüber und machte eine dramatische Geste. Allem Anschein nach brauchte er dringend Aufmerksamkeit.

»Seit Bubuta keine Zigarren mehr von dir hat, hat sich sein Zustand verschlechtert.«

»Unmöglich«, antwortete ich ruhig. »Bubutas Zustand kann sich gar nicht mehr verschlechtern - auch die Natur hat ihre Grenzen. Seine Mitarbeiter haben bloß vergessen, wie ihr Chef war, bevor er sich an der Pastete -König von Bandscha« überfraß. Der General ist einfach wieder gesund - das ist die einzig plausible Erklärung für seinen erschreckenden Zustand.«

»Und du hast wirklich keine Zigarren mehr?«, fragte Melifaro traurig und seufzte dann: »Armer Apura.«

»Im Moment nicht, aber wenn es nötig werden sollte, kann ich welche organisieren. Wer ist dieser Apura überhaupt?«

»Das weißt du auch noch nicht? Hauptmann Apura Blaki ist nach Schicholas Tod zur Stadtpolizei gekommen. Er ist sehr nett, fast so sympathisch wie der Verstorbene. Er gefällt dir bestimmt. Was für eine tolle Frau ist eigentlich neulich bei der Polizei aufgetaucht? Diese Lady Kekki Tuotli meine ich. Sie ist nicht nur klug (wenn auch nicht ganz so klug wie wir), sondern auch eine Dame, also eisig und unzugänglich. Bubuta schimpft kaum, wenn sie in der Nähe ist. Kannst du dir das vorstellen?«

»Warum nicht? Wie du dich vielleicht erinnerst, haben wir bei ihm zu Hause Ähnliches beobachtet.«

»Den Kerl jedenfalls, der Leutnant Kamschi ersetzt hat, solltest du dir ersparen. Sonst spuckst du ihn gleich tot.«

»Ist er denn so schlimm?«, fragte ich ungläubig.

»Schlimm nicht, eher dumm. Leutnant Tschekta Schach versteht nicht den kleinsten Witz - es sei denn, er macht ihn selbst, aber das passiert zum Glück selten. Er ist ein sehr ernster Mensch und obendrein muskulös, also ein echter Held, und ich vermute, solche Leute kannst du nicht ertragen.«

»Ich kann jeden ertragen - Hauptsache, ich habe nur kurz mit ihm zu tun«, meinte ich und zuckte lächelnd die Achseln. »Furchtbar: Es ist kaum ein Jahr vorbei, und doch hat sich so viel verändert.«

»Es sind immerhin achtundvierzig Tage mehr vergangen als nur ein Jahr«, korrigierte mich Melifaro. »Für jeden Tag deiner Abwesenheit haben wir eine Kerbe gemacht. Das war die ruhigste und heiterste Zeit unseres Lebens. Wenn man schon so eine herrliche Phase genießen durfte, sollte man auch genau wissen, wie lange sie gedauert hat.«

»Von mir aus kannst du noch ein paar Stunden glücklieh sein. Es ist Mittag, und ich muss erst am Abend mit der Arbeit beginnen.«

»Wo gehst du hin? Willst du dir den Bauch vollschlagen? Hast du beim Orden des Siebenzackigen Blatts nichts zu essen bekommen?«

»Wenn du wüsstest, wie geizig diese Ordensleute sind! Kannst du dir vorstellen, dass ich in der ganzen Zeit dort nie etwas zu futtern gekriegt habe?«

Das war übrigens die reine Wahrheit, denn in der Tür zwischen den Welten gibt es keine Verpflegungsmöglichkeit, und so hatte ich stark abgenommen.

»Falls du vorhast, ins Fressfass zu gehen ...«

»Wenn ich das vorgehabt hätte, hätte ich es dir gesagt«, unterbrach ich ihn. »Ich muss nach Hause. Weißt du, was bei mir los ist? In meiner Abwesenheit hat sich ein netter junger Mann bei mir eingenistet

»Ich weiß, wen du meinst - diesen dicken Journalisten. Ein lustiger Kerl ist das.«

Aus Melifaros Mund klang das beinahe wie ein Kompliment.

»Meine Katzen finden ihn auch sehr nett«, pflichtete ich ihm bei. »Die drei waren wirklich glücklich ohne mich. Leider hat er mein ganzes Haus auf den Kopf gestellt. Ich bin zwar kein Ordnungsfanatiker, aber so chaotisch bin ich auch wieder nicht. Ich muss die Wohnung renovieren lassen, denn selbst mit Magie kann ich gegen diese Verwüstung nichts ausrichten. Ich hab Spezialisten beauftragt, die Sir Schürf mir empfohlen hat - ziemlich dunkle Gestalten. Bestimmt waren sie früher Große Magister, aber na ja. Ihr Oberhaupt hat mir versichert, dass sie höchstens zwei Wochen für das ganze Haus brauchen, aber ich hab da meine Zweifel. Ich muss also zu mir nach Hause, ihnen bei der Arbeit etwas auf die Finger sehen und sie mit meinem strengen Blick ein bisschen antreiben. In einer Stunde bin ich wieder da. Wenn du willst, können wir dann ins Fressfass gehen. Was bin ich heute für ein gutmütiger Mensch! Ich staune selbst über mich.«

»Ja, du schwächeist«, meinte Melifaro lächelnd. »Gut, ich lasse dich gehen. Aber sei rechtzeitig zurück.«

»Keine Sorge«, rief ich und verließ schnell das Haus an der Brücke. Allem Anschein nach war es mir gelungen, in einem Gespräch mit ihm ausnahmsweise das letzte Wort zu behalten.

Zu Hause war alles in Ordnung - abgesehen davon, dass Ella und Armstrong beleidigt darüber waren, sich nicht überall austoben zu können, sondern mit meinem Schlafzimmer vorlieb nehmen zu müssen. Mit ihrem weichen Fell hatten sie nichts unter den Handwerkern und all dem Schutt und Schmutz zu suchen.

»Ihr bleibt hier«, sagte ich zu den beiden und schloss die Tür. »Vielleicht sollte ich auch noch euren geliebten Ande Pu zu euch sperren. Ach nein, mit dem werde ich anders fertig. Wenn ich nächstes Mal längere Zeit nicht da bin, werdet ihr bestimmt nicht mehr so viel Chaos anrichten.«

Eigentlich war mir selber klar, dass ich Unsinn redete.

Zwei Stunden später saß ich mit Melifaro im Fressfass. Ich musste unbedingt nachholen, was ich verpasst hatte.

»Wo willst du eigentlich während der Renovierung wohnen? Im Haus an der Brücke?«, fragte mich das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps.

»Keine schlechte Idee. Ich hab nämlich den Eindruck, dass es dort ziemlich drunter und drüber geht. Andererseits würdet ihr mich mit eurem ewigen Bestellen von Speis und Trank in diversen Gasthäusern nur stören. Außerdem hab ich noch meine Wohnung in der Straße der alten Münzen. Erinnerst du dich?«

»Wenn du weiter so viel in dich reinstopfst, wirst du dort bald nicht mehr reinpassen. Offen gesagt, frage ich nicht ganz grundlos nach deinem Unterschlupf, denn meine verrückte Familie möchte dich mal wieder sehen. Ich hab versucht, meinen Eltern diese Idee auszureden, aber sie sind nun mal sture Leute vom Land.«

Der Bösewicht Melifaro ließ selbst seine Eltern nicht ungeschoren!

»Ist das eine Einladung?«

»Das ist die letzte Warnung. Du hast ohnehin keine Wahl. Heute Abend fahre ich los und hoffe, meinen älteren Bruder zu treffen.«

»Den Riesen?«

»Du meinst Bachba? Nein, den anderen, Antschifa. Was kann mein älterer Bruder auf den Ozeanen schon unternehmen? Er ist Pirat, vertrimmt seefahrende Händler und ist deshalb unser Familienstolz. Vor ein paar Tagen ist er nach Hause gekommen, und seitdem wird gefeiert.«

»Mit dir könnte ich bis ans Ende der Welt reisen, aber wie du weißt, gibt es noch Sir Juffin. Er hat mich lange nicht gesehen, und ich bezweifle, dass er es schlucken würde, wenn ich gleich wieder verschwände.«

»Das hat er bereits. Er hat sich sogar gefreut, dass meine Gesellschaft dir etwas Ablenkung bringt. Er hat dich wirklich ins Herz geschlossen.«

»Tatsächlich? Ich dachte, er würde mich an meinen Sessel fesseln, damit ich die ganze Zeit arbeite.«

»Keine schlechte Idee. Das schlage ich ihm demnächst vor«, meinte Melifaro und lachte diebisch.

»Na, frönt ihr mal wieder eurer Lieblingsbeschäftigung, Jungs?«, fragte Sir Kofa, der plötzlich hinter meinem Rücken aufgetaucht war. »Ich habe Neuigkeiten - vor allem für dich, Max. Sie werden dir sicher gefallen.«

Ich hatte schon mit neuen Gerüchten über mich gerechnet, da die Bewohner von Echo meine einjährige Abwesenheit sicher unterschiedlich gedeutet und sich weitere Geschichten über mich ausgedacht hatten.

»Keine Sorge«, kicherte Kofa. »Über dich ist nichts Neues im Umlauf. Du bist in Echo zwar eine wichtige Person, aber auch ohne dich passiert mancherlei.«

»Den Magistern sei Dank! Was ist denn geschehen?«

»Vor einer halben Stunde habe ich einen Landsmann von dir im Dicken Skelett verhaftet.«

»Welchen Landsmann denn?«, rief ich. Mir stockte der Atem. Erst einmal hatte man in Echo einen echten Landsmann von mir gefasst - einen vielfachen Mörder, der durch die gleiche Tür aus meiner alten Heimat hierhergeraten war wie ich. Seinen Aufenthalt in Echo hatte er dazu genutzt, seiner Lieblingsbeschäftigung nachzugehen und weitere Menschen umzubringen. Schließlich hatte ich ihn töten müssen, und das hatte mir absolut keinen Spaß gemacht.

»Warum staunst du denn so?«, fragte Sir Kofa. »Die Grafschaft Wuk liegt zwar sehr weit von der Hauptstadt entfernt, aber es gibt Leute genug, die gern reisen.«

Ich konnte meine Erleichterung nicht verbergen. Es ging offenbar nur um Bewohner der Grafschaft Wuk und der Leeren Länder. Juffin und ich hatten einen fiktiven Lebenslauf für mich gebastelt, demzufolge diese Gegend meine Heimat war. Ich vermute, keiner meiner Kollegen hat mir diese Herkunft je abgenommen, doch alle haben taktvoll dazu geschwiegen. Ich blieb für sie, wie ich war, also geheimnisvoll.

»Was hat mein Landsmann denn angestellt?«

Ehrlich gesagt interessierten mich seine kriminellen Machenschaften nicht die Bohne. Trotzdem versuchte ich, Interesse zu heucheln.

»Ach«, meinte Sir Kofa abwinkend, »nichts Besonderes. Sein Vergehen geschah aus Unwissenheit. Er hatte einen Ring am Finger, der es ihm erlaubte, die Gedanken anderer Leute zu lesen. In der Ordensepoche war das zulässig, und viele Bewohner von Echo besaßen so einen Ring. Zu Beginn der Epoche des Gesetzbuchs wurden diese Ringe auf Anordnung von König Gurig VH. eingezogen. In ihnen steckt Weiße Magie 24. Grades, also in unzulässig hoher Konzentration. Außerdem bedeutet das Tragen so eines Rings einen Verstoß gegen Artikel 108 des Chrember-Gesetzbuchs, der jedem Bewohner des Vereinigten Königreichs den Anspruch auf Geheimnisse zusichert. Deinem Landsmann war das angeblich nicht klar, und den Ring will er vor zweihundert Jahren von einem Freund bekommen haben. Ich vermute, dieser Freund gehörte zur fortgeschrittenen Fraktion der Jüngeren Magister. Es gab Zeiten, da haben solche Leute sich massenhaft im Vereinigten Königreich herumgetrieben.«

»Und was passiert mit meinem Landsmann?«, fragte ich.

»Nichts Schlimmes. Er wird sich von seinem Besitz trennen müssen, erhält dafür aber eine Entschädigung vom König. Und er wird dahin zurückgeschickt, woher er gekommen ist. Das Cholomi-Gefängnis ist ohnehin überfüllt.«

»Soll ich ihn vielleicht besuchen? Er ist immerhin mein Landsmann.«

Offen gestanden war ich ungemein neugierig, wie Personen, die in Echo als meine Landsleute galten, aussahen. Für wen hielt man mich in Echo, da man doch glaubte, ich stammte aus den Leeren Ländern?

»Du wirst dich mit dem Fall beschäftigen müssen«, sagte Sir Kofa, »denn der Mann ist nicht allein nach Echo gekommen, sondern mit einer Gruppe. Die braven Bewohner der Hauptstadt haben den Ankömmlingen natürlich gesagt, dass im Haus an der Brücke jemand aus ihrer Gegend tätig ist. Außerdem wissen sie, dass dieser Landsmann sich sehr weit hochgearbeitet hat. Ich glaube, der Trupp ist schon unterwegs zu uns. Ahnst du, was auf dich zukommt?«

»Das dürfte interessant werden«, sagte ich.

Zuerst belustigte mich die Aussicht, viele Leute aus den Leeren Ländern kennen zu lernen, dann aber dachte ich an die möglichen Folgen dieser Begegnung: Die Geschichte meiner Herkunft lief Gefahr, als Erfindung enttarnt zu werden.

»Ich glaube, ich sollte zuerst mit Juffin reden«, meinte ich finster.

»Das denke ich auch«, sagte Sir Kofa verständnisvoll. »Und entschuldige bitte, dass du wegen mir nicht in Ruhe hast essen können.«

»Macht nichts. Du kannst dir bei mir ohnehin mehr herausnehmen als anderemeinte ich, schob auf die Schnelle die letzte Pirogge in den Mund und stand auf.

»Du scheinst wirklich besorgt«, seufzte Melifaro. »Es tut weh, dich nur anzuschauen. Lass mich aber bitte nicht im Stich. Heute Abend fahren wir los.«

»Keine Sorge - ich verpasse nie eine Gelegenheit, mir kostenlos den Bauch vollzuschlagen. Außerdem weiß ich, wie gut bei euch zu Hause gekocht wird.«

»Wie zielstrebig du bist!«, rief Melifaro begeistert. »Es gelingt dir stets, dich aufs Wesentliche zu konzentrieren. Erstaunlich, dass es sich dabei eigentlich immer um deinen Magen handelt!«

»So bin ich eben«, sagte ich stolz. »Lonely-Lokley hat mir Übungen gezeigt, die einem helfen, sich nicht in Kleinkram zu verzetteln. Wie man sieht, wirken sie wunderbar.«

Sir Juffin Halli saß in seinem Büro und versuchte, ernst zu wirken, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen.

»Und? Bist du darauf vorbereitet, deine Landsleute zu treffen?«, fragte er belustigt.

»Aber nein, das wissen Sie doch. Darauf werde ich nie vorbereitet sein. Außerdem war es Ihre Idee, mich aus den Leeren Ländern stammen zu lassen. Also müssen Sie mir helfen.«

»Keine Sorge. Wir dichten dir im Handumdrehen eine tolle Biografie an. Du bist eine Waise und kannst dich nicht an deine Eltern erinnern. Irgendein Großer Magister hat dich aufgezogen. Er hieß ..., er hat seinen Namen niemandem verraten, selbst dir nicht. Es gab Zeiten, da war so was unter Magistern völlig normal. Ihr habt zusammen in einem Häuschen gelebt, irgendwo in der Wildnis. Der alte Mann hat dir ein paar Zaubertricks beigebracht und ist dann leider gestorben. Du bist nach Echo gekommen, weil du wusstest, dass dort ein Freund deines Wohltäters lebt. Das reicht, denke ich.«

»Das ist wirklich eine wunderbar rührende Geschichte«, sagte ich begeistert. »Da kann man nicht meckern. Außerdem erklärt diese Biografie, warum ich mit meinen Landsleuten wenig am Hut habe. Und der frühe Tod des hypothetischen Großen Magisters ist eine prima Begründung dafür, warum ich so schlecht zaubern kann.«

»Siehst du! Jetzt brauchst du nur noch einen geeigneten Namen. Max passt nicht, denn so heißen die Leute dort nicht - so wenig wie die Bewohner von Echo übrigens. Und kein Mensch wird glauben, dass der Magister dir keinen Namen gegeben hat. So was tut man einfach nicht.«

»Dann denken wir uns eben einen aus«, meinte ich unbeschwert.

»Ein echter Name wäre besser. Kannst du dich wirklich an keinen erinnern? Du hast doch den dritten Band von Sir Manga Melifaros Enzyklopädie gelesen.«

»Das ist Jahre her! Aber warten Sie mal - einen Namen hab ich noch im Kopf: Fangachra aus Fangachra. Na bitte!«

»Fangachra?«, wiederholte Juffin nachdenklich. »Ja, dieser Name klingt wie aus den Leeren Ländern. Das hast du dir gut gemerkt. Und auch wenn er falsch wäre: Wir dürfen diese Provinzler nicht zu ernst nehmen. Wer sind sie denn, dass wir uns ihretwegen Gedanken machen sollten?«

»Eben. Am besten lassen wir es ganz sein und jagen sie zum Teufel!«

»Das geht nicht. Sie leben schon so weit weg, dass man sie nicht mehr zum Teufel schicken kann«, meinte Juffin lächelnd. »Außerdem müssen wir unsere Gäste gut behandeln und sogar hofieren, und zwar aus politischen Gründen, mein Junge. Weißt du, sie leben in einem umstrittenen Gebiet - auf der Grenze zwischen der Grafschaft Wuk und den Leeren Ländern. Und wie du dich erinnern dürftest, gehören die Leeren Länder weder zum Vereinigten Königreich noch zu einem anderen Staat. Ich brauche diese Gebiete nicht, aber Seine Majestät König Gurig VIII. hat eine Karte anfertigen lassen, auf der die Leeren Länder einen Teil unseres Königreichs darstellen. Es ist leicht, so eine Karte zu zeichnen, aber mit den Bewohnern der Leeren Länder um diese Kleinigkeit zu kämpfen wäre Unsinn. Deshalb ist die Verhaftung deines angeblichen Landsmanns eine Staatsaffäre. Wir werden ihn kurze Zeit bei uns behalten und dann freilassen, aber er wird in unseren Unterlagen als Bewohner des Vereinigten Königreichs auftauchen. Verstehst du, was ich meine?«

»Sie werden staunen, aber ich verstehe Sie genau. Sie wollen einen Präzedenzfall schaffen, wie man so schön sagt.«

»Donnerwetter - du bist wirklich klug!«, rief Juffin. »Vielleicht solltest du lieber am Königshof Karriere machen.«

»Wie denn? Die Leute dort wollen das nicht.«

»Du hättest Lust dazu, was?«, fragte mein Chef amüsiert. »Na schön, geh dich mit deinen Landsleuten unterhalten. Sie warten im Empfangszimmer. Danach kannst du mit Melifaro verschwinden.«

»Sie können mich nicht mehr sehen, was, Juffin?«

»Ich? Doch, auch wenn das seltsam klingt. Weißt du, warum ich bereit bin, dich fahren zu lassen? Ich möchte, dass du im Zimmer von Melifaros Großvater schläfst. Wenn du zurückkehrst, wirst du dich wie neugeboren fühlen. Und diese Erholung hast du dir verdient.«

»Ach ja, das Zimmer. Es lohnt sich wirklich, dort zu übernachten. Der Orden des Geheimen Krauts dürfte eine sehr interessante Organisation gewesen sein. Ich wäre dort gern eingetreten, bezweifle aber, dass sie mich genommen hätten. Vielen Dank für Ihre Fürsorge, Juffin.«

»Nichts zu danken. Ich habe dem Ausflug vor allem aus Eigeninteresse zugestimmt. Dich hätte man damals gewiss in den Orden aufgenommen. Die Mitglieder wären von deinem Lebenslauf begeistert gewesen - von deinem echten Lebenslauf, meine ich. Doch jetzt ab zu deinen Landsleuten. Und wenn du zurückkommst, erzählst du mir alles. Ich bin schon sehr gespannt.«

»Gut«, sagte ich und stand auf. »Ich heiße jetzt also Fangachra aus Fangachra. Was für ein schrecklicher Name!«

»Ich fürchte, dort gibt es noch viel schlimmere Namen!«, rief Juffin mir nach.

Ich ging ins Empfangszimmer.

Ich bin ein seltsamer Mensch! Bis zur letzten Sekunde vor dem Treffen hatte ich keinen Zweifel daran, dass die Bewohner der Leeren Länder den muskelbepackten Soldaten der Armee von Dschingis Khan ähneln würden und pelzbesetzte Mützen und einen Gürtel mit Köcher trügen. So hatte ich mir Nomaden seit eh und je vorgestellt.

Aber schon beim ersten Anblick unserer Besucher war mir klar, dass es sich bei diesen Leuten ebenso gut um Bewohner der Hauptstadt hätte handeln können. Sie hatten die gleichen, völlig durchschnittlichen Gesichter und wirkten teils sympathisch, teils unsympathisch.

Ihre Montur allerdings war ziemlich seltsam. Sie trugen Kopftücher, wie es in meiner eigentlichen Heimat die alten Frauen tun, und breite Hosen, die direkt unterm Knie endeten. Außerdem hatten sie gewaltige Reisetaschen dabei.

Das sieht ja gar nicht schlecht aus, dachte ich amüsiert. Vermutlich soll ich in meiner Jugend auch so was getragen haben. Daher kommt vielleicht meine zweifelhafte Reputation.

Erstaunt schüttelte ich den Kopf und bemerkte noch etwas: Es war überraschend still im Zimmer. Die Ankömmlinge schwiegen nicht nur, sondern verbreiteten eine geradezu beklemmende Lautlosigkeit. Zugleich sahen sie mich aufmerksam an.

Na so was, dachte ich. Sie fallen nicht mal vor mir auf die Knie. Aber vielleicht ist das gar nicht so schlecht.

Schließlich trat einer der Besucher vor. Er hatte graues Haar und war offenbar der Älteste.

»Wenn du einer von uns bist, musst du Dschimach helfen«, erklärte er frohgemut. »Das gebieten unsere Gesetze. Und was haben wir schon außer diesen Gesetzen?«

»Nichts. Ich werde Dschimach helfen, und es wird nicht lange dauern, bis er wieder zu euch kommt. Das verspreche ich euch. Und ich werde mich darum kümmern, dass er eine angemessene Entschädigung bekommt.«

Dann schwieg ich erleichtert. Mein Auftritt war beendet, und ich konnte wieder gehen.

»Sag uns bitte noch deinen Namen«, verlangte der Alte.

»Wir müssen unbedingt wissen, wer sich so fern der Heimat noch an unsere Gesetze hält.«

»In Echo nennt man mich Max, aber ursprünglich heiße ich Fangachra aus Fangachra. Und jetzt entschuldigt mich bitte. Ich muss los ... Was macht ihr denn da, Herrschaften? Steht bitte wieder auf!«

Die Besucher hatten sich plötzlich zu Boden geworfen und knieten rings um mich.

»Fangachra! Ihr seid zu Euren Leuten zurückgekehrt!«, rief der Alte, und seine Augen glänzten vor Begeisterung. »Wir stammen aus Eurer Gegend und begrüßen Euch herzlich!«

»Das ist doch ganz egal. Steht endlich auf«, brummte ich ungehalten. »Dass ich zu euch zurückgekehrt bin, ist nur Zufall.«

Unversehens fiel mir die Geschichte von Fangachra wieder ein. Das war doch der legendäre minderjährige König, den seine zerstreuten Untertanen in der Steppe verloren hatten. Danach verfluchten sie sich, aber da war es natürlich zu spät. Das war meine Lieblingsgeschichte aus dem dritten Band der Enzyklopädie der Welt von Sir Manga Melifaro. Warum hatte ich mich ausgerechnet an diesen Namen erinnert? Ich war jetzt ein selbsternannter König. Das hatte mir gerade noch gefehlt.

»Ihr steht jetzt auf, geht auf die Straße und beschäftigt euch mit euren Angelegenheiten, und ich kümmere mich um meine Sachen. In einigen Tagen bekommt ihr euren kostbaren Dschimach unversehrt zurück. Das war's. Auf Wiedersehen, Leute.«

Schwungvoll öffnete ich ihnen die Tür nach draußen und war aufs Neue baff: Vor dem Haus stand eine Herde von Tieren, die den Elchen meiner Heimat ähnlich sahen. Ihre Hörner allerdings waren mit Anhängseln versehen, vor allem mit Glöckchen.

»Seid mir bitte nicht böse«, sagte ich zu meinen Besuchern. »Ich will euch nicht beleidigen, aber ich bin wirklich beschäftigt. Also steht endlich wieder auf. Hier in Echo fällt man vor niemandem auf die Knie. Ihr seid ein kleiner, aber stolzer Stamm und habt so was gar nicht nötig!«

»Euer Wort ist uns Gesetz«, erklärte der grauhaarige Alte und erhob sich. »Dank Euch haben wir wieder Hoffnung.«

»Hoffnungen sind trügerisch«, sagte ich und wiederholte damit den Leitspruch von Sir Machi Ainti.

Kaum hatte ich diese Bemerkung gemacht, bedauerte ich mein altkluges Geschwätz, doch es war zu spät.

»Alles wird gut, auf Wiedersehen!«, setzte ich eilig hinzu und wies zur Tür.

Die Besucher verließen schweigend das Gebäude, schwangen sich auf ihre seltsamen Tiere und verschwanden. Kopfschüttelnd ging ich zu Juffin.

»Jetzt bin ich auch noch König«, rief ich schon auf der Schwelle. »Aber daran bin ich selber schuld. Ich habe mich an den blödesten Namen erinnert.«

Ich erzählte Juffin kurz die Geschichte meiner unfreiwilligen Thronbesteigung.

»Wenn's weiter nichts ist«, meinte mein Chef tröstend. »Es passiert nicht jedem, für einen König gehalten zu werden.«

»Ich hoffe, Sie schicken mich nicht nach Fangachra, damit ich unsere Besucher regieren kann.«

»Aber nicht doch, Max! Für wen hältst du mich? Und solltest du aus eigenem Antrieb dorthin gehen, würde ich dich verfolgen und gefangen nehmen lassen und dafür sorgen, dass du eine Woche im Cholomi-Gefängnis bei Wasser und Brot darben musst. Na gut, Hoheit, zieht jetzt bitte Euren Todesmantel an und fahrt zu Sir Manga. Er ist schließlich der Verursacher Eures Unglücks. An ihm solltet Ihr Rache nehmen.«

»Ich werde alles vernichten, was auf den Tisch kommt«, versprach ich. »Er wird noch lange bereuen, mich eingeladen zu haben.«

»Prima«, seufzte Juffin. »Bleib aber bitte nicht länger als zwei Tage. Melifaro hat etwas von drei Tagen gemurmelt, aber das hab ich nicht ernst genommen.«

»Ich bin absolut Ihrer Meinung! Wer kann sich schon länger als zwei Tage erholen?«

Mit diesen heiteren Bemerkungen verabschiedeten wir uns voneinander.

Auf dem Korridor stieß ich auf Lady Melamori. Sie lächelte mich traurig und zugleich fröhlich an. Ich versuchte, meinem Gesicht den gleichen Ausdruck zu verleihen.

»Fährst du weg?«, fragte sie.

»Höchstens für zwei Tage. Im Vergleich zur Ewigkeit ist das ein Klacks.«

»Du hast noch nicht gesehen, wie toll ich inzwischen A-Mobil fahre. Ich bin vielleicht noch nicht so gut wie du, aber ich habe Chancen, unsere Wette zu gewinnen. Irgendwann werde ich dich überholen. Das schwöre ich dir bei allen Magistern.«

»Daran hab ich keinen Zweifel. Chauffierst du mich irgendwann mal?«

»Aber gern!«, rief Melamori und nickte enthusiastisch. »Toll, dass du wieder da bist, Max.«

»Hast du an meiner Rückkehr gezweifelt?«

»Eigentlich ja. Fast die ganze Zeit sogar. Aber Sir Juffin hat mir ständig versichert, du würdest zurückkommen. Manchmal allerdings hatte ich den Eindruck, dass er selber nicht daran glaubte. Doch wie auch immer: Du bist wieder da.«

»Anders konnte es nicht sein. Ich hab dir doch gesagt, dass du mich nicht so schnell loswirst. Erinnerst du dich noch daran?«

»Natürlich. Und ich hab dir damals gesagt, dass ich nicht vorhabe, dich schnell loszuwerden. Aber ein Jahr ist eine lange Zeit, und wer so lange verschwindet, kann nicht erwarten, dass die Leute mit einer Rückkehr rechnen.«

»Wäre es nach meinem Willen gegangen ...«

»Ich weiß. Auch ich hätte es mir anders gewünscht. Wir sind schon seltsam, Max. Nichts läuft, wie wir es wollen.«

»Ja«, sagte ich nickend. »Das hab ich schon oft bereut. Und es quält mich noch immer.«

Melamori lächelte nachdenklich. »Vor unserer Fahrt in den Wald von Mahagon hab ich mir überlegt, dass wir das, was uns im Rendezvous-Viertel widerfahren ist, nicht so ernst nehmen sollten. Womöglich droht uns gar nicht der Tod! Vielleicht würden wir es überleben, uns dem Schicksal zu widersetzen. Womöglich sollten wir unserem Herzen folgen und auf alle Verbote pfeifen! Aber dann spürte ich wieder Angst und beschloss, alles zu lassen, wie es war. Ein Jahr ist eine lange Zeit, und ich habe gelernt, ohne dich und ohne Zweifel zu leben. Oder sagen wir besser: Ich habe es beinahe gelernt.«

Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Was für einen Dialog hatten wir uns da geliefert! Er passte nicht zu dem, was im Haus an der Brücke normalerweise auf dem Flur besprochen wird.

»Ich halte die Regeln, die für ein Treffen im Rendezvous-Viertel gelten, inzwischen nicht mehr für dummen Aberglauben«, sagte ich. »Und ich bin froh, dass wir am Leben sind. Das ist doch das Schönste, oder?«

Melamori nickte verlegen, und ich schwieg einen Moment.

»Das Einzige, was wir brauchen, ist Zeit«, meinte ich. »In den letzten zwei Jahren habe ich seltsame Dinge gelernt, Melamori, und vielleicht schaffe ich es sogar einmal, das Schicksal zu betrügen. Bitte halte das nicht für ein Versprechen, das ich bis zum Jahresende einlösen muss, aber ich bin sicher, dass ich es irgendwann schaffe. Hoffentlich ist es dann noch nicht zu spät.«

»Solche Dinge passieren entweder rechtzeitig oder nie«, sagte Melamori schroff. »Gut, Max, dass wir das geklärt haben. Aber sei mir nicht böse, wenn ich mich benehme, als hätte dieses Gespräch nicht stattgefunden. Ich habe keine Lust mehr, mit leerem Herzen zu leben. Mein Dasein soll fröhlicher sein. Das habe ich mir vorgenommen.«

»Und das wird dir auch gelingen«, versicherte ich ihr. »Und mir auch. Vielleicht hab ich es sogar schon geschafft.«

Melamori sah mich fragend an, schüttelte ihren kleinen, süßen Kopf und schloss die Tür hinter sich. Ich blieb noch einen Moment an die Wand gelehnt stehen. Dann stieß ich mich von der Mauer ab und verließ das Haus an der Brücke.

Melifaro saß allein im Fressfass und wartete auf mich. Er machte einen ungeduldigen Eindruck.

»Wo hast du gesteckt, Max? Haben die Dunklen Magister dich mit einem Spezialauftrag losgeschickt? Oder hast du wieder in deinem alten Beruf gearbeitet? Wie viele Leute hast du bei dieser Gelegenheit umgelegt?«

»Viele. An die genaue Zahl erinnere ich mich nicht mehr«, erklärte ich ungerührt. »Aber entschuldige, mein Freund, ich war sehr beschäftigt. Ich hatte mit einer ganzen Organisation zu tun, und das war anstrengend.«

»Wovon redest du?«, fragte Melifaro erstaunt. »Ist das der berühmte, aber schwer zu kapierende Humor der Bewohner der Leeren Länder? «

»Nein, das sind Fakten, Fakten, Fakten. Unterwegs erzähle ich dir alles. Und wer weiß - vielleicht treffen wir auf der Landstraße sogar meine Untertanen. Wie hab ich es bisher nur ohne Hofstaat ausgehalten? Unbegreiflich!«

»Du machst heute ja seltsame Witze«, brummte Melifaro. »Komm, lass uns zuerst zu mir fahren. Ich muss noch packen.«

»Meine Untertanen sind viel klüger als wir, musst du wissen. Sie haben immer alles dabei, und zwar in Taschen, die sooo groß sind.«

Ich streckte die Arme so weit aus wie möglich - aus Nationalstolz kann man mitunter ganz schön übertreiben.

Melifaros Wohnung lag in der Straße der dunklen Wolken und erwies sich als groß und gut ausgestattet, aber total verwahrlost. Ich hatte den Eindruck, der Besitzer käme nur selten und einzig zum Schlafen vorbei. Beifällig stellte ich fest, dass Melifaro keine Diener hatte - so wenig wie ich.

»Wenn du was trinken willst, schau im Bücherregal nach. Vorgestern hab ich dort was gesehen«, sagte Melifaro unsicher und betrachtete sein Wohnzimmer mit dem Blick eines zufälligen Besuchers.

»Vielen Dank, aber ich muss noch A-Mobil fahren. Weißt du, bis jetzt war ich überzeugt, meine Wohnung sei die unordentlichste der Stadt, aber nun muss ich meine Lorbeeren an dich abtreten.«

»Tja, im Vergleich zu mir fehlt dir noch einiges«, antwortete Melifaro stolz.

»In einer Sache darfst du auch mal besser sein als ich«, meinte ich giftig, als er das Zimmer verließ.

Melifaro tat, als habe er diese Bemerkung nicht gehört, und überlegte sich in der Zwischenzeit eine passende Antwort.

Als er nach einer Minute zurückkehrte, schwenkte er eine große Reisetasche.

»Lass uns gehen, Max. Ich kann diesen Schweinestall nicht mehr ertragen. Aber in zwei Tagen wird es hier anders aussehen. Ich hab mich nämlich entschieden, deinem Beispiel zu folgen, und die Handwerker zum Renovieren bestellt. Sie haben mir gesagt, ich sei kein hoffnungsloser Fall.«

»Schön wär's! Übrigens gefällt es mir hier.«

»Tja, im Vergleich zu den Zelten deiner Landsleute sieht es ganz anständig aus. Du hast mir doch versprochen, von deiner Thronbesteigung zu erzählen. Wie ist das passiert?«

»Durch ein Missverständnis. Ich hatte den netten Leuten gesagt, ich hieße Fangachra, und es stellte sich heraus, dass dieser Fangachra ihr König war, den sie als Minderjährigen in der Steppe verloren hatten. Das ist die ganze Geschichte.«

Melifaro fiel die Kinnlade runter.

»Ist das dein Ernst? Willst du wirklich in die Leeren Länder zurück und ... ?«

»Ach was!«, unterbrach ich ihn gereizt. »Ich bin eine arme Waise, die in der Dunkelheit ihrer Erinnerungen den Weg verloren hat. Was für ein König soll ich denn sein!?«

Auf dem Weg zu meinem Haus schwieg Melifaro die ganze Zeit. Das entsprach ganz und gar nicht meinen Erwartungen, doch ich vermutete, dass er die Neuigkeit erst mal verarbeiten musste. Allerdings dauerte die Fahrt zu mir auch nicht lange.

Unvorstellbar, aber wahr: In meinem Wohnzimmer faulenzten zehn hünenhafte Handwerker. Nur ihr Vorarbeiter wuselte herum, um fleißig zu erscheinen. Ärgerlich schüttelte ich den Kopf.

»Leute, fangt endlich mit der Arbeit an«, sagte ich. »Schließlich muss ich irgendwo wohnen.«

Die Handwerker verdrückten sich unauffällig, während der Vorarbeiter zu einer Rechtfertigung ansetzte. Er tat mir leid. An seiner Stelle hätte ich auch nur ungern mit einem Kunden geredet, der den Todesmantel trägt.

»Kein Grund zur Beunruhigung. Ihr braucht keine Angst vor mir zu haben«, sagte ich seufzend. »Machen wir es so: Ihr renoviert schnellstmöglich die Wohnung, sagen wir binnen zwei Tagen, und ich zahle euch das Dreifache des vereinbarten Preises, weil ihr euch so sputen müsst.«

»Das ist doch gar nicht zu schaffen«, riefen die anderen Handwerker von der Flurtür her im Chor.

»Der Mensch weiß gar nicht, wozu er in Extremsituationen fähig ist«, meinte ich nur. »Und hier handelt es sich um eine Extremsituation - das könnt ihr mir glauben!«

Nach diesem rauschenden Auftritt ging ich nach oben und packte meine Reisetasche.

»Mein holdes Nachtantlitz, du hast wirklich königliche Manieren«, spottete Melifaro per Stummer Rede, als ich auf der Treppe war.

»Stimmt«, pflichtete ich ihm stolz bei.

Ella und Armstrong dösten auf meinem Bett. Ich suchte im Schrank schnell ein paar Sachen zusammen und nahm den erstbesten Lochimantel und die erstbeste Skaba mit, die mir in die Hände fielen. Ich glaubte, das würde für die Reise reichen. Dann ging ich rasch wieder runter, denn ich wusste, dass Melifaro nichts mehr hasste als zu warten.

Doch er war bester Laune und unterhielt sich angeregt mit dem Vorarbeiter der Handwerkertruppe.

»Er tötet sofort - das kann ich beschwören«, ließ er den erschrockenen Mann gerade wissen. »Das Schlimmste ist, dass er erst zur Besinnung kommt, wenn die Leute schon tot am Boden liegen. Deshalb beschwöre ich euch: Macht alles so, wie er es euch aufgetragen hat.«

»Genau«, rief ich. »Ein ausgezeichneter Rat, Melifaro. Du bist so klug, dass ich neidisch werde. Aber jetzt lass uns fahren - sonst bekomm ich wirklich noch eine Krise, und das würden die armen Handwerker nicht überleben.«

Ich sprang auf die Straße und setzte mich ans Steuer des A-Mobils, um den Aufenthalt auf der Jahrhundertbaustelle so schnell wie möglich hinter mich zu bringen. Melifaro dagegen hatte das Gespräch mit den Handwerkern spürbar gutgetan.

Ich muss mich demnächst unbedingt mal von Lady Melamori kutschieren lassen, dachte ich. Was das Führen von A-Mobilen angeht, hat sie bestimmt gewaltige Fortschritte gemacht.

»Du fährst ja noch schneller als sonst«, meinte Melifaro und zitterte wie Espenlaub. »Jetzt weiß ich, womit du dich während deiner einjährigen Abwesenheit beschäftigt hast: Du warst bestimmt der Chauffeur von Magister Nuflin, und wir wissen ja, dass der Arme an Reizüberflutung gestorben ist.«

»Ja«, sagte ich nickend. »Und darunter hat meine Karriere sehr gelitten. Inzwischen hab ich mich aber entschieden, König zu sein.«

Melifaro erging sich in Spekulationen über meine hoheitliche Zukunft, denen ich nicht sehr aufmerksam lauschte. Mich überkam ein seltsames Gefühl, eine merkwürdige Vorahnung von etwas Unausweichlichem, aber noch Unbestimmtem. Dieses Warten auf etwas schwer zu Definierendes ist eigentlich ein sehr angenehmer Zustand.

»Wo fahren wir eigentlich hin?«, fragte Melifaro plötzlich.

»Zu deiner Familie, dachte ich. Oder hast du es dir anders überlegt?«

»Nein, nein, aber wir hätten längst abbiegen müssen.«

»Konntest du das nicht früher sagen?«, rief ich und machte kehrt.

»Ich wollte abwarten, bis auch du merkst, dass wir falsch gefahren sind. Weißt du, mein neugieriges Gehirn will stets das Unbegreifliche durchschauen, dich zum Beispiel. Aber dann hab ich begriffen, dass wir bis nach Landland kommen würden, ehe du merkst, dass du dich verfahren hast. Und ich habe einfach keine Lust, den ganzen Kurzurlaub lang über staubige Landstraßen zu irren.«

Ich dachte an mein hektisches Wendemanöver und musste kichern. Meine seltsame Vorahnung verschwand, und ich fühlte mich wie neugeboren. Oder stimmte wieder was nicht mit mir?

»Du bist heute irgendwie seltsam«, meinte Melifaro und musterte mich skeptisch. »Ist dir eine Laus über die Leber gelaufen, oder ist dein Todesmantel zu eng?«

»Deine fürsorgliche Miene steht dir nicht«, sagte ich. »Mir geht es bestens. Ich bin nur etwas müde, denn ich hatte unglaublich viel zu tun. Als ich heute ins Haus an der Brücke zurückkehrte, hatte ich den Eindruck, dass ihr die ganze Zeit nur damit beschäftigt gewesen seid, für jeden Tag meiner Abwesenheit eine Kerbe zu machen. Aber das ist nicht so schlimm. Ich übernachte im Zimmer deines Großvaters, und danach geht es mir sicher wieder besser.«

»Das hilft dir bestimmt«, sagte Melifaro. »Aber sei mal ehrlich: Geht dir deine dauernde Geheimnistuerei nicht selber auf die Nerven, Sir Nachtantlitz?«

»Ein bisschen«, bestätigte ich nickend.

Mein Bekenntnis gefiel Melifaro offenbar so gut, dass er es fertigbrachte, ein paar Minuten lang zu schweigen. Dann aber kamen wir bei ihm zu Hause an, und gleich sprudelte er wieder los, um seinen Vater zu begrüßen.

Sir Manga Melifaro erwartete uns vor der Haustür. Seit unserer letzten Begegnung hatte er sich kein bisschen geändert. Allenfalls sein dicker roter Zopf mochte ein wenig länger geworden sein. Erstaunlich, wie gut diese ungewöhnliche Frisur dem Verfasser der Enzyklopädie stand.

»Dein Bruder ist total verrückt geworden«, sagte er zu seinem Sohn und wandte sich dann an mich. »Guten Abend, Sir Max. Ich wage meinen Augen kaum zu trauen, dass Sie es geschafft haben, ein zweites Mal zu uns zu kommen.«

»Ich habe diesen Menschen drei Tage lange bekniet, unsere bescheidene Hütte zu besuchen«, mischte sich Melifaro ein. »Und das nur deinetwegen, Vater. Ich habe also etwas bei dir gut. Welcher meiner großartigen Brüder soll überhaupt verrückt geworden sein?«

»Dreimal darfst du raten«, meinte Sir Manga und schloss die Augen mit der Miene eines Märtyrers.

»Antschifa dürfte die größten Chancen haben. Schließlich ist er sehr begabt und führt ein ausgesprochen aufreibendes Leben, hab ich Recht?«

»Volltreffer!«, rief das Oberhaupt der seltsamen Familie. »Eigentlich wollte ich mich schon per Stummer Rede gemeldet haben, doch es kam immer was dazwischen, und dann sah ich dieses fliegende A-Mobil vor dem Haus halten und begriff, dass es zu spät war, mich mit dir in Verbindung zu setzen.«

»Fliegend?«, fragte ich. »Sir Manga, ich bitte Sie!«

»Mit Verlaub, Sir Max - ich bin sicher, dass die Räder Ihres Wagens den Erdboden nicht berührt haben. Mein Kompliment basiert mithin auf exakter Naturbeobachtung.«

»Was hat mein Brüderchen denn ausgefressen?«, unterbrach uns Melifaro.

»Stell dir vor: Er hat einen Gast mitgebracht. Und dann auch noch aus Isamon!«, rief Sir Manga. »Und was für einen! Du wirst gleich sehen, dass es sich dabei um ein ganz besonderes Exemplar handelt.«

»Es ist in unserer Familie doch völlig normal, Gäste mitzubringen«, sagte Melifaro und wies mit dem Kopf auf mich.

Ich stieß ihm im Scherz die Faust in die Rippen, aber er merkte es wohl nicht mal, da meine Hände sehr klein sind.

»Wenn du ihn in einer halben Stunde zu sehen bekommst, weißt du, was ich meine«, sagte Sir Manga. »Ich kann ihn nicht mal wegschicken, denn er hat meinen Sohn in der Fremde gastfreundlich aufgenommen. Hätte dein dummer Bruder Antschifa damals doch auf der Straße übernachtet! Unsere Geduld ist am Ende. Deine Mutter hat mir sogar gedroht, nur noch zu warten, bis du kommst, und dann zu ihrer Familie nach Uriuland zu verschwinden. Weißt du, bis jetzt hat mich noch keine Frau im Stich gelassen, und in meinem Alter habe ich keine Lust mehr auf Experimente. Nimm bitte unseren merkwürdigen Gast und Schönling in die Hauptstadt mit. Dort wirst du ihn sicher bald los. Echo ist schließlich eine Metropole, oder?«

»Hast du ihn wirklich so satt?«, fragte Melifaro. »Da bin ich aber in der Tat gespannt, was für ein Mensch das sein mag. Und wenn es die einzige Lösung ist, nehme ich ihn bestimmt mit. Das ist bei uns in der Familie immer so«, meinte Melifaro zu mir. »Antschifa macht Dummheiten, und ich muss sie ausbügeln. Was denkt er eigentlich über die ganze Sache?«

»Er ist sehr zufrieden. Dieser seltsame Gast ersetzt ihm eine Horde von Schiffsjungen, die er mit Schimpfkanonaden übers Deck zu treiben gewohnt ist. Na schön, geht jetzt ins Wohnzimmer. Max, verzeihen Sie bitte, dass ich Sie mit familiären Angelegenheiten gelangweilt habe. Das war alles andere als höflich von mir.«

»Dafür aber sehr interessant«, sagte ich lächelnd.

»Vater, halt die Ohren steif. Ich habe einen exzellenten Killer mitgebracht. Es wird schon wieder gut. Wir werden alles dafür tun, dass du dein Problem vergessen kannst, was, Max?«, fragte Melifaro mit Unschuldsmiene.

»Das könnte eine gute Lösung sein - aber bitte nur, wenn unser Gast heute Abend partout nicht in die Hauptstadt mitfahren möchte.«

»Sündige Magister! Mein armer Vater hat meine Bemerkung nicht mal für einen Scherz gehalten!«, flüsterte Melifaro mir zu und wirkte ehrlich erschrocken.

»Ach, das sollte ein Scherz sein?«, fragte ich mit gespielter Überraschung.

Jetzt war die Reihe an Melifaro, mir die Faust in die Seite zu stoßen. Und er hat riesige Hände.

Das Wohnzimmer war leer, und Sir Manga setzte sich zu uns an den Tisch.

»Wir haben wirklich Glück. Ich schlage vor, ihr esst erst mal eine Kleinigkeit. So eine Glückssträhne kann schnell zu Ende sein. Da heißt es zugreifen!«

»Ich höre immer auf das, was Erwachsene sagen«, meinte ich und musterte die vielen, ungemein interessanten Gerichte.

»Du scheinst gut erzogen«, spöttelte Melifaro und biss in ein lecker aussehendes Croissant.

»Kaum bist du gekommen, schon fällst du übers Essen her - sehr gut, Brüderchen! Hauptsache, die Kauwerkzeuge bleiben nicht unbenutzt!«

An der Türschwelle stand ein kleiner, aber gedrungener rothaariger Kerl. Mir war gleich klar, dass ich ein weiteres Mitglied dieser wunderbaren Familie vor mir hatte. Er gehörte allerdings zu der Sorte von Leuten, mit denen man sich besser nicht anlegte. Allem Anschein nach konnte er jeden Gegner von den Füßen holen. Er hatte einen Schal um den Kopf gewickelt, dessen Enden fast den Boden berührten. Sein schwarzer, schlichter Lochimantel reichte kaum bis an die Knie, was in der Hauptstadt gewiss Befremden ausgelöst hätte. Auch seine Skaba war kurz und ließ die Schäfte seiner Stiefel sehen, die allerdings kunstvoll verziert waren.

Gleich nach ihm erschien der groß gewachsene Bachba, den ich schon bei meinem letzten Besuch kennen gelernt hatte. Er begrüßte uns freundlich, setzte sich gemütlich auf einen Stuhl und vertiefte sich ins Essen. Allem Anschein nach war er das einzige schweigsame Mitglied dieser seltsamen Familie.

Melifaro unterhielt sich mit Antschifa und sah ihn dabei mit großem Respekt an.

»Antschifa, das ist Max«, stellte er mich seinem Bruder vor. »Er arbeitet im gleichen Laden wie ich und sorgt dafür, dass ich nachts ruhig schlafe.« Dann wandte er sich an mich: »Du weißt vermutlich schon, dass vor dir der Schrecken der Meere steht, der ewige Stolz unserer Familie und die große Hoffnung meines Vaters: Sir Antschifa Melifaro.«

»Und ich hätte wetten mögen, der da sei das Produkt deiner Besuche im Rendezvous-Viertel, Vater«, meinte Antschifa und wies mit dem Kopf auf mich. »Ist das kein Halbbruder von mir? Schade.«

»Alles ist möglich«, meinte Sir Manga achselzuckend. »Max, was sagen Sie dazu?«

»Ich fürchte, das ist etwas übertrieben. Ich würde gern zu Ihrer Familie gehören, habe aber vor kurzem erfahren, dass ich aus der königlichen Familie von Fangachra stamme.«

»Auch ein interessantes Schicksal. An Ihrer Stelle würde ich nichts daran ändern«, sagte Antschifa fröhlich und hob eine enorm große blaue Flasche.

Zwischenzeitlich hatte auch er sich zu Tisch gesetzt und schaufelte sich Gebäck auf den Teller. Langsam erschien mir Melifaro als der ruhende Pol der Familie.

»Seid ihr bekloppt, oder ist euer Gehirn vertrocknet?«, tönte es von der Tür her, und ein kleiner Mann mit dicker Nase und Glatze trat ein.

Bestürzt musterte ich seine Sachen. Er trug einen schimmernden Lochimantel und eine eng geschnittene, glänzende Hose. In meiner alten Heimat zieht man so was nur im Zirkus an. Die seltsame Kleidung betonte seinen weiblichen, reichlich großen und runden Hintern. Ich wäre nicht ich gewesen, hätte ich in diesem Moment nicht laut losgelacht. Zu meinem Erstaunen blieb Melifaro ernst.

»Was ist? Siehst du zum ersten Mal einen Menschen aus Isamon?«, fragte er erstaunt. »Dort trägt man solche Sachen.«

»Das ist ja noch lustiger«, rief ich und hielt mir den Bauch vor Lachen.

»Dein Gehirn ist eindeutig vertrocknet«, erklärte der Mann aus Isamon und setzte sich zu Tisch.

Er sprach leicht durch die Nase und rollte das R seltsam. Ich musste so lange kichern, dass er mich schließlich ansah.

»Was gibt es denn so Lustiges? Ich hab doch Recht! Die neuen Gäste werden mir nicht vorgestellt, und niemand ruft mich zu Tisch. Wer macht denn so was?«

»Ich zum Beispiel«, erklärte Sir Manga kühl.

»Was? Reden Sie bitte lauter - ich verstehe Sie nicht. Wäre bei uns in Isamon so was passiert, hätte man den Gastgeber als ältestes Mitglied der Familie ... Ach, das muss ich nicht unbedingt erzählen«, unterbrach er sich und nickte gedankenverloren. »Aber was gibt es denn nun zu lachen? Beruhigen Sie sich doch endlich.«

»In meiner Heimat ist es üblich, Unbekannte mit lautem Lachen zu begrüßen. Das drückt die Freude aus, jemanden kennen zu lernen. Ich bemühe mich nur, höflich zu sein.«

Jetzt lachten alle Mitglieder der berühmten Familie Melifaro herzlich.

»Das soll normal sein?«, fragte der Unbekannte beleidigt. »Na, wenn das so ist ... Mein Name ist Rulen Bagdasys. Das ist ein berühmter Adelsname. Sagt er Ihnen etwas?«

»Dieser nette Mann heißt Sir Max«, mischte sich Manga ein. »Wie wir gerade erfahren haben, ist das ein königlicher Name. Haben Sie das gewusst?«

»Ja, das ist mir geläufig«, sagte Rulen Bagdasys und wirkte plötzlich kleinlaut. Dann schaute er Antschifa streng an. »Spinnst du? Wer schaufelt sich denn den Teller so voll? Was sollen die Leute von dir denken?«

»Misch dich nicht in meine Angelegenheiten ein«, brummte Antschifa nur.

»Wie bitte? Sprich lauter. Du weißt doch: Ich hör nicht so gut.« Dann wandte er sich an meinen Freund Melifaro, den jüngsten Sohn von Sir Manga: »Ich habe gehört, du kannst mir die Hauptstadt zeigen. Ich muss so schnell wie möglich dorthin. Ich hab die Provinz und ihre Bewohner satt.«

»Das mach ich doch gern«, sagte mein Arbeitskollege ungewohnt höflich.

Auf Sir Mangas Miene zeigte sich große Dankbarkeit.

Wir saßen noch zwei Stunden bei Tisch und unterhielten uns. Langsam erschien mir Rulen Bagdasys nett und durchaus unterhaltsam. Seine mit Naivität und Schwerhörigkeit gewürzte Grobheit machte ihn zu einem ziemlich originellen Menschen. Würde er aber mit mir Zusammenleben, würde ich meine Meinung sicher schnell ändern.

Dann entschuldigte sich Sir Manga mit der Bemerkung, er habe noch etwas zu tun, und ging in sein Arbeitszimmer. Es war kurz vor Mitternacht, als ich - obwohl ein notorischer Nachtmensch - erstaunt merkte, wie müde ich war. Hier in Echo hatte ich die Schlaflosigkeit vergessen, die mich die ersten dreißig Jahre meines Lebens gequält hatte.

»Ich bin total erledigt«, sagte ich zu Melifaros Brüdern. »Und ich fürchte, ihr seid das inzwischen leid. Deshalb gehe ich jetzt schlafen.«

»Du? Schlafen? Es ist nicht einmal Mitternacht!«, rief Melifaro ehrlich erschrocken. »Was ist mit dir los, Max?«

»Das hast du mich heute schon mehrmals gefragt, und ich sage dir, was ich dir schon mehrfach gesagt habe: nichts Besonderes. Ich bin einfach nur müde.«

»Juffin und seine Ansprüche treiben dich noch ins Grab«, sagte Melifaro mitleidig. »Du bist zwar ein furchtbarer Killer und überhaupt ein grausamer Barbar, aber so schlecht sollte man dich wirklich nicht behandeln.«

»Zeig mir lieber mein Schlafzimmer, statt mich zu bemitleiden«, bat ich. »Euer Familiennest ist so groß, dass ich mich darin verlaufen könnte und erst in zehn Jahren völlig verwahrlost aufgefunden würde.«

»Komm, mein Unglück«, sagte Melifaro und erhob sich recht unwillig vom Tisch.

»Du ähnelst unserem Vater wirklich«, sagte Antschifa mit Nachdruck zu mir. »Vielleicht solltest du die Königinmutter mal diskret nach ihren früheren Beziehungen fragen.«

»Das tue ich sicher, falls ich sie mal im Königreich der Toten erwische. Angeblich soll das gar nicht so schwer sein. Gute Nacht, Leute.«

Das magische Schlafzimmer war ein Werk des Magisters Philo Melifaro und eine Frucht des durch viele Jahrhunderte von ihm zusammengetragenen Wissens. Es erwies sich als eine Zufluchtsstätte, wie ich sie schon lange gesucht und gebraucht hatte. Hier traf ich auf die mir seit Kindertagen bekannten Traumgestalten.

Ich schlief fest und ruhig, und vor meinen Augen entfaltete sich ein Panorama meiner Lieblingsträume. Ich sah einmal mehr das kleine, schnuckelige Städtchen in den Bergen bei Kettari mit seiner Serpentinenstraße und den hübschen kleinen Cafes. Schade, dass ich diesen von mir erträumten Ort vor kurzem an eine andere Welt abgetreten hatte.

Ich erwachte kuii nach Mittag, hatte Sir Juffins Auftrag also perfekt erfüllt. Jetzt konnte ich nicht nur erfrischt weiterleben, sondern war mir sogar sicher, noch viel Spaß zu haben.

Überglücklich ging ich nach unten. Sir Manga und seine hübsche Frau knabberten friedlich an ihrem Frühstücksgebäck.

»Die Jungs schlafen noch«, sagte Manga zu mir. »Sie haben sich bis zum Morgengrauen unterhalten. Tut es Ihnen nicht leid, das Gespräch verpasst zu haben?«

»Oh nein. Die Nacht im Schlafzimmer Ihres Vaters war die erholsamste Nacht meines Lebens. Dieser Raum ist das Werk eines Genies.«

Die ältere Generation der Familie Melifaro nickte verständnisvoll.

»Was macht Ihr ehrwürdiger Ahne jetzt eigentlich?«, wollte ich wissen.

Ich war sicher, keine taktlose Frage gestellt zu haben. Der Schöpfer eines so genialen Zimmers konnte unmöglich einfach an Altersschwäche gestorben sein.

»Vermutlich sucht er im Jenseits seinen Großen Magister. Vielleicht hat er ihn sogar gefunden. Auf alle Fälle ist er dort bestimmt glücklich, denn die Reiselust liegt uns allen im Blut.«

»Bist du schon wach, Max?«, fragte Sir Juffin mich per Stummer Rede. »Ich fürchte, ihr zwei müsst euren Urlaub abbrechen. Offen gesagt muss ich euch noch vor Sonnenuntergang sehen.«

»Ich kann Ihren besten Mitarbeiter Melifaro sofort wecken«, sagte ich mit diebischer Freude. »Möchten Sie das?«

»Ich fürchte, das wird er nicht überleben. Lass ihn besser noch eine oder anderthalb Stunden schlafen, dann wecke ich ihn. Und du, Max? Hast du dich erholt? Geht es dir gut?«

»Erholung ist ein viel zu schwaches Wort dafür. Was ist eigentlich passiert? Warum müssen wir nach Echo zurück?«

»Bis jetzt ist nichts passiert, aber heute Abend kommt ein Schiff aus Arwaroch. Das wird für uns alle sehr spaßig. Also kommt bald zurück. Ende.«

Schuldbewusst sah ich Melifaros Eltern an. »Ich fürchte, ich habe eine unangenehme Nachricht für Sie. Sie müssen sich einen Tag früher als geplant von Ihrem jüngsten Sohn trennen.«

»Na wunderbar«, meinte Lady Melifaro erleichtert. »Zu den Magistern mit ihm! Wir haben sicher noch genug Zeit, mit ihm zu plaudern. Außerdem hat er versprochen, den furchtbaren Kerl aus Isamon mitzunehmen. Stimmt's, Manga?«

»Ja, das hat er versprochen«, rief Sir Manga fröhlich.

»Ich kenne ihn zwar nicht so gut, aber gestern Abend fand ich ihn ziemlich lustig«, wandte ich vorsichtig ein.

»Die ersten zwei, drei Tage hab ich das auch so gesehen«, pflichtete mir Sir Manga bei. »Aber spätestens am vierten Tag hab ich langsam gemerkt, dass er doch nicht so nett ist, wie ich anfangs dachte. Dann hab ich erfahren, dass die Diener das Haus verlassen wollen, bis er wieder weg ist, und auch mein ältester Sohn hat gegen diesen Gast rebelliert. Und ein paar Tage später bin ich selbst mit Mordgedanken durchs Haus gelaufen. Wissen Sie, Sir Max, ich fürchte, die Gebote der Gastfreundschaft können gefährlich sein. Ich spreche jetzt nicht nur von meiner Familie, sondern von allen gut erzogenen Menschen.«

»Aber Ihr Leiden endet doch demnächst«, tröstete ich ihn. »Ihr Gast fährt bald in die Hauptstadt. Und wenn er nicht will, werde ich ihn dazu zwingen. Das verspreche ich Ihnen. Ich kenne einen extra für solche Fälle gedachten Zaubertrick.«

Das war nicht gelogen, denn ich kann tatsächlich jeden Menschen zwischen Daumen und Zeigefinger meiner linken Hand verschwinden lassen und ihn ans Ende der Welt schaffen.

Nach einer Stunde klopfte ich an Melifaros Schlafzimmertür.

»Wach auf, mein Herz! Wir müssen zum Dienst!«

»Zu welchem Dienst denn?«, fragte er müde. »Was redest du da? Du brauchst einen guten Heiler. Du bist bei mir zu Gast, und übermorgen fahren wir nach Echo zurück.«

»Juffin hat sich per Stummer Rede bei mir gemeldet und von einem Schiff aus Arwaroch gesprochen. Sagt dir das was?«

»Leider ja«, meinte Melifaro traurig. »Unser Urlaub ist also vorbei. Gut, ich komm gleich. Haben wir noch Zeit zu frühstücken?«

»Wir haben sogar noch Zeit zum Mittagessen. Hast du schon vergessen, wie schnell ich fahren kann?«

»Wenigstens dazu taugst du«, murmelte er. »Aber jetzt verschwinde, mein Freund. Ich muss mich herrichten.«

Ich tat gnädig, wie geheißen. Nach ein paar Minuten tauchte mein Kollege im Esszimmer auf. Er war zwar noch etwas nass vom Bad, sprühte aber vor Lebensfreude.

»Warum ist das Einlaufen des Schiffs aus Arwaroch eigentlich so wichtig?«, fragte ich Sir Manga und seinen Sohn, weil ich nicht wusste, wer von beiden in dieser Hinsicht der größere Experte war. »Liegt Echo etwa im Krieg mit Arwaroch? Oder wird dieses Land von Dunklen Magistern regiert, von denen wir das Schlimmste erwarten müssen?«

»Arwaroch ist zwar ein Imperium, doch ich bezweifle sehr, dass es dort Dunkle Magister gibt. Auch mit Magie kennen sich die Leute dort nicht aus, und ihr Großer Schamane wäre im Vereinigten Königreich allenfalls Prügelknabe einer Heilerin«, sagte Sir Manga achselzuckend.

Sein jüngster Sohn wollte dem unbedingt etwas hinzufügen, doch mit vollem Mund klappte das nicht.

Also setzte Sir Manga seinen Vortrag fort: »Arwaroch ist der am weitesten von Echo entfernte Kontinent und für meinen Geschmack eine recht seltsame Gegend. Die Menschen dort sind merkwürdig, haben eine eigenartige Religion und eine ganz ungewöhnliche Philosophie und Logik. Auch leben dort einzigartige Tiere und Pflanzen, und es gibt keine Metalle, doch diesen Mangel gleichen die Bewohner auf interessante Art und Weise aus. Aber das werden Sie bald mit eigenen Augen sehen. Wir liegen mit Arwaroch nicht im Krieg, und das ist auch besser für die Leute dort. Sie können sich nämlich mit dem Vereinigten Königreich ganz und gar nicht messen. Außer uns hat Arwaroch keinen ernsthaften Gegner. Darum bereitet besonders dieser Kontinent unseren Politikern immer wieder Kopfschmerzen. Würden das Vereinigte Königreich und der Orden des Siebenzackigen Blatts keine so vernünftige Politik betreiben, würden die dortigen Herrscher sich sicher von Echo unabhängig erklären. Sie haben sogar mal versucht, sich den Rest der Welt zu unterwerfen.«

»Sind diese Leute dann nicht gefährlich für uns?«, fragte ich.

Ich hatte keinerlei Lust, an einem Krieg teilzunehmen. Es wäre schrecklich, mit dem Babum durch die Gegend zu ziehen und nur ein Waschbecken mit heißem Wasser zur Verfügung zu haben.

»Aber Max, wir sind auf jeden Fall gefährlicher als sie. Niemand will, dass die Herrscher von Arwaroch ihre Macht dem Kalifat Kuman oder den Leuten in Isamon zeigen. Denn das hätte nur zur Folge, dass diese Länder eine Delegation zu uns schicken und den König um Hilfe bitten würden. Wir wären dann gezwungen, ein paar exzellente Spezialisten aus dem Orden des Siebenzackigen Blatts zu schicken, um die Leute aus Arwaroch in die Schranken zu weisen. Das würde viel Magie, viel Blutvergießen und viele Opfer bedeuten und wäre schlecht für das weltweite Gleichgewicht. Unsere Taktik ist es darum, den ewigen Rebellen von Arwaroch großen Respekt zu zeigen, ihnen aber auch zu verstehen zu geben, dass sie diesen Respekt nur genießen, solange sie ihre Kriege und Eroberungszüge auf den eigenen Kontinent beschränken. Soweit ich weiß, finanzieren wir noch immer ein paar Geheimagenten, Magister und Rebellen, um genau zu wissen, was in Arwaroch vorgeht. Außerdem lieben es die Leute dort, regelmäßig neue Nationalhelden auszurufen. Das gibt den Königen des Landes immer wieder viel zu tun. Sie führen ständig kleinere Kriege mit ihren Nachbarn, und das ist offenbar befriedigend für alle.«

»Ich verabscheue Politik«, seufzte ich. »Aber ich fürchte, niemand fragt nach meiner Meinung.«

»Das verstehe ich. Mich fragt auch niemand«, meinte Sir Manga lächelnd. Dann wandte er sich an seinen Sohn. »Vergiss bitte nicht, unseren anderen Gast mitzunehmen.«

»Wo ist er eigentlich?«, fragte Melifaro.

»In seinem Schlafzimmer. Ich glaube, er erholt sich noch. Deshalb ist es hier so ruhig.«

Es war keine leichte Aufgabe, Rulen Bagdasys zu wecken und ihm zu erklären, dass wir gleich losfahren würden. Der arme Melifaro brauchte über eine Stunde dafür und musste den Mann aus Isamon schließlich beinahe zum Frühstück herunterzerren.

»Wir dürfen einen Spross aus königlicher Familie doch nicht so lange warten lassen.«

Der arme Melifaro wies flüsternd mit dem Kopf auf mich. Erst sah ich ihn ratlos an, dann begriff ich, wovon er sprach.

»Was redest du denn da? Du bist verrückt - das sag ich doch die ganze Zeit. In Isamon stehen Aristokraten nicht vor Sonnenuntergang auf. Und ohne Frühstück reisen sie schon gar nicht«, rief Rulen Bagdasys widerspenstig.

Sir Manga erhob sich wortlos und trat auf die Veranda. Seine Frau war schon vorgegangen, als sie die ersten empörten Schreie aus dem Korridor hatte dringen hören. Ich folgte dem Hausherrn.

»Sir Manga«, flüsterte ich. »Ich brauche eine klare Antwort. Was sollen wir mit diesem Naturwunder machen? Sollen wir ihn Antschifa unversehrt zurückbringen oder ihn per Schiff nach Isamon schicken?«

»Macht, was ihr wollt, aber macht schnell. Allerdings vermute ich, dass in Isamon niemand auf ihn wartet. Und auch Antschifa hat seinen exotischen Begleiter längst satt. Dieser Mensch ist wirklich eine traurige Gestalt.«

»Wie man's nimmt«, meinte ich achselzuckend. »Vielen Dank für Ihre Gastfreundschaft, Sir Manga. Nächstes Mal werde ich mich im Esszimmer bestimmt mehr ins Zeug legen.«

»Es gibt ein schönes Sprichwort, Max. In Tulan sagt man: Ein guter Gast verlässt rechtzeitig das Haus. Dieses Tulan ist wirklich ein netter Ort - eine meiner Lieblingsstädte.«

»Und was halten Sie von Isamon?«, fragte ich amüsiert.

»Das ist schrecklichste Provinz, zutiefst langweilig. Das einzig Unterhaltsame ist die Kleidung der Bewohner.«

»O ja«, sagte ich kichernd. »Was das anlangt, haben die Leute dort tatsächlich ein Händchen.«

»Wir sollten jetzt wirklich losfahren«, sagte ich.

Ich übertrieb etwas, denn bis Sonnenuntergang waren es noch fünf Stunden, und hätte ich mich richtig anstrengen wollen, hätte ich die Strecke in fünfzehn Minuten geschafft. Die Nacht im Schlafzimmer von Sir Philo Melifaro hatte mir enorm viel Kraft gegeben, die ich einfach einsetzen musste, um nicht in die Luft zu gehen.

»Alles klar?«, fragte Melifaro den Mann aus Isamon, der mit hängendem Kopf über seinem Teller saß. »Geh nach oben und pack deine Sachen. Wenn du in einer halben Stunde nicht fertig bist, kannst du zu Fuß nach Echo reisen.«

»Was? Sprich lauter! Ich versteh dich nicht!«

Langsam verlor ich die Hoffnung, dass wir mit Rulen Bagdasys noch Erfolg haben würden. Ich seufzte vernehmlich und schaufelte mir noch eine Portion auf den Teller. Zu essen ist immerhin eine angenehme Beschäftigung.

Zwei Stunden später kam der verschlafene Antschifa ins Esszimmer.

»Ich wollte spazieren gehen«, meinte er gereizt, »und der verrückte Rulen wollte partout nicht mitkommen.«

»Du kannst doch mit Bachba losgehen«, meinte Melifaro kichernd. »Aber ich hab noch einen besseren Vorschlag: Komm mich einfach mal in Echo besuchen.«

»Was soll ich dort? Durch den Stadtteil Rendezvous laufen und nach meinem Bruder rufen?«

»Na ja, spazieren gehen und schreien ist ja nicht alles, was man dort tun kann«, meinte Melifaro trocken. »Aber wie du willst. Wenn du es dir anders überlegst: Mein Haus steht dir zur Verfügung.«

»Vielleicht überlege ich es mir wirklich noch. Im Moment bin ich leider schlaftrunken. Im Übrigen kannst du den Leuten aus Arwaroch schöne Grüße ausrichten und sie fragen, ob sie sich an unser letztes Treffen erinnern. Oder frag sie besser nichts. Sonst löst du noch einen diplomatischen Konflikt aus.«

Schließlich erschien Rulen Bagdasys. Er trug eine festliche weiße Hose zu seiner üblichen Jacke und den bekannten Schuhen, dazu aber noch eine Pelzmütze. Mitten im Sommer! Er war offenbar sehr zufrieden mit seiner Montur und stolz auf sich, denn er trug die riesige Nase sehr hoch. Seine Augen glänzten, und sein Mund stand halb offen, was ihn nicht eben intelligent wirken ließ. Offenbar waren Fellmützen für Leute aus Isamon etwas ganz Besonderes, vielleicht gar ein nationales Symbol.

»Wird dir unter der Mütze nicht zu heiß, mein Freund?«, fragte ich vorsichtig.

»Nein. Das Gehirn arbeitet besser, wenn es richtig warm ist«, meinte Rulen mit stolzgeschwellter Brust.

Melifaros Brüder lachten kurz auf. Der Mann aus Isamon sah sie streng an, sagte aber nichts.

Ich klemmte mich ans Steuer des A-Mobils. Melifaro setzte sich neben mich. Wie seine Miene vermuten ließ, wollte er endlich ins Haus an der Brücke kommen.

Rulen Bagdasys setzte sich auf die Rückbank. Als ich beschleunigte, sagte er etwas Undeutliches und versuchte, ans Lenkrad zu gelangen.

»Bleib ruhig, mein Freund!«, rief ich ihm zu. »Wenn man mich reizt, kann ich Gift spucken. Wusstest du das nicht?«

»Natürlich wusste ich das«, erklärte Rulen, »aber Sie können nicht fahren! Ich zeige Ihnen, wie man's macht.«

»Soll ich ihn kurz durchprügeln?«, fragte Melifaro versonnen.

»Von mir aus gern. Wenn er weiter um das Steuer kämpft, bauen wir womöglich einen Unfall.«

»Ich habe eine ganz andere Fahrtechnik gelernt. Woher soll ich wissen, dass es hier anders ist? Sie jedenfalls, Sir, machen alles umgekehrt!«

Ich musste lachen, denn ich hatte gedacht, mein Tempo habe ihn erschreckt. Dabei hatte er mir nur einige technische Ratschläge geben wollen.

»Jeder kann fahren, wie er will«, sagte ich freundlich zu ihm und beschleunigte noch ein bisschen.

Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich wollte den furchtbaren Kerl aus Isamon wirklich etwas erschrecken. Aber es gelang mir nicht. Er hatte keine Angst. Vielleicht, weil er nicht wusste, wie schnell wir fuhren. Nach ein paar Minuten, die mir wie eine Ewigkeit schienen, hielten wir vor Melifaros Haus im Zentrum von Echo.

»Das war auch für dich ein Rekord, Max - gib's zu«, sagte er und wischte sich den Schweiß von der Stirn. »Ich frage mich, wie es dir gelungen ist, keinen Unfall zu bauen.«

»Glückssache«, meinte ich lächelnd.

»Das glaube ich auch«, sagte Melifaro und wandte sich an den Mann aus Isamon: »Wir sind da. Ich wohne hier. Du kannst deine Sachen ausladen.«

Unser Freund hatte nicht wenig Gepäck, und der gutherzige Melifaro half ihm beim Reintragen. Ich überlegte, ob er lauter Pelzmützen und grelle Klamotten dabeihatte.

»Bleib hier und versuch, dich an die Stadt zu gewöhnen«, sagte Melifaro freundlich zu ihm. »Du kannst spazieren gehen, wenn du willst. Max, wir fahren weiter.«

Ich legte einen Kavalierstart hin.

»Es ist wirklich nett, einen disziplinierten Chauffeur wie dich zu haben«, lobte mich Melifaro. »Keine Sorge, mein Lieber - dieses Jahr werde ich dich noch nicht feuern.«

»Pass nur auf, sonst erzähle ich Lonely-Lokley, dass du Leute aus königlicher Familie beleidigst.«

»Lonely-Lokley? Dem lieber nicht. Mein Vater hat sich an drei Söhne gewöhnt, und so soll es bleiben. Hättest du hier nicht abbiegen müssen, mein Freund?«

»Wie kommst du denn auf die Idee, ich könnte mich verfahren?«, fragte ich und brauste mit Höchstgeschwindigkeit durch die Straße der Kupfermünzen, um ein Lächeln ins Gesicht meines Kollegen zu zaubern. Er sah wirklich zufrieden aus.

»Nicht schlecht, Jungs«, meinte Sir Juffin im Saal der allgemeinen Arbeit zu uns. »Als ich dir gesagt habe, Max, dass ich euch bis Sonnenuntergang sprechen will, hab ich damit gerechnet, als disziplinierte Mitarbeiter würdet ihr frühestens eine Minute vor Ablauf der Frist auftauchen. Dann aber hab ich mit mir gewettet, dass ihr früher kommt. Schön, dass ich so zwölf Kronen gewonnen habe. Und jetzt kann ich euch mitteilen, dass das Schiff aus Arwaroch heute am Admiralskai anlegt.«

»Warum ausgerechnet dort?«, fragte ich und trank etwas kalte Kamra aus der Lieblingstasse meines Chefs. Das wurde bei mir langsam zur Gewohnheit.

»Das ist ein standesgemäßer Ankerplatz für einen so prächtigen Kahn«, erklärte Juffin. »Außerdem ist es ein Kriegsschiff - das passt doch. Melifaro, hast du schon mal an einer Zollkontrolle im Hafen teilgenommen?«

»Aber natürlich. Gleich im ersten Jahr meines Dienstes. Ich weiß noch, dass ich beinahe in Ohnmacht gefallen bin, als einer dieser Barbaren all seine Titel aufgezählt hat. Aber ich hab dann doch alles tapfer ertragen.«

»Das war ja ein echter Erfolg für dich«, rief Sir Juffin. »Und heute muss er wiederholt werden. Seid ihr bereit?«

»Ich allenfalls bedingt«, seufzte Melifaro. »Aber das interessiert ja keinen. Vielleicht wäre Lonely-Lokley eine bessere Wahl für diese Aufgabe. Er lacht bestimmt nicht blöd in sich hinein.«

»Aber das geht doch nicht! Wenn Sir Schürf ein Schiff betritt, beginnt es zu sinken. Das liegt an seiner Karriere im Orden der Löcherigen Tasse. Hast du davon nie gehört?«

»Ehrlich gesagt nicht«, brummte Melifaro. »Wirklich eine interessante Neuigkeit.«

»Juffin, warum müssen wir diese Kontrolle überhaupt durchführen?«, fragte ich. »Wir sind schließlich Geheimagenten und keine Zöllner.«

»Du hast wieder mal was nicht durchschaut. Das Schiff aus Arwaroch ist etwas Spezielles. Wenn dort einfache Zollbeamte auftauchen, gilt das als Beleidigung, und die Besatzung beschwert sich beim König. Die Leute aus Arwaroch haben einen seltsamen Ehrenkodex. Zum Glück gibt es in der Bibliothek des Königs ein dickes Buch mit allen dort geltenden Benimmregeln, das genaue Vorschriften darüber enthält, wie sich die Leute aus Arwaroch und die Bewohner von Echo bei einem Besuch benehmen sollen. Anders als wir allerdings kennen unsere Gäste all diese Gebote auswendig. Aber keine Sorge, Max - wir müssen auf dem Schiff nur eine Kontrolle durchführen und ein paar freundliche Worte wechseln. Das Lustigste ist, dass es auf dem Kahn nie Schmuggelware gibt, denn in Arwaroch ist Schmuggeln streng verboten, und die Leute von dort halten sich an ihre Gesetze. Ihr müsst also tun, als würde euch die Ladung interessieren, und könnt dabei ruhig etwas übertreiben. Dann erteilt ihr der Besatzung eine offizielle Aufenthaltserlaubnis für Echo. Das war's schon. Morgen steht ein Besuch beim König an, und dann beginnt der amüsanteste Teil des Aufenthalts: Wir werden unsere ehrwürdigen Besucher auf Schritt und Tritt begleiten und aufpassen, dass niemand sie beleidigt. Ach, Jungs, wenn ihr wüsstet, wie sehr ich so langweilige Aufgaben hasse! Aber der Große Magister Nuflin meint, das sei besser für uns alle, und ich kann den alten Mann nicht enttäuschen.«

»Warum denn nicht?«, brummte Melifaro.

»Eigentlich könnte ich es schon«, räumte Sir Juffin ein. »Aber ich will es nicht. Und ihr verschwindet jetzt. Sofort. Wenn ihr eine Stunde vor Ankunft unserer fantastischen Gäste im Hafen seid, ist das der Gipfel der Diplomatie. Aber schaut mich nicht so böse an. Das heißt schließlich nicht, dass ihr keine Tasse Kamra mehr trinken könnt.« »Mit ein paar Piroggen bitte«, rief ich.

»Unser Kurusch hat einen schlechten Einfluss auf dich«, meinte Sir Juffin. »Du übernimmst seine Schwächen. Wann werden dir die ersten Federn wachsen?«

»Ich habe nichts gegen ein Gefieder. Buriwuche sind kluge Vögel. Und sie sind viel netter als so manche Mitmenschen.«

»Möglich«, pflichtete Juffin mir bei. »Aber ich frage mich, wie Federn zu deinem Gesicht passen würden.«

Er kicherte, doch das hielt ihn nicht ab, eine Pirogge von dem Tablett zu nehmen, das eben ins Büro getragen wurde.

Eine halbe Stunde vor Sonnenuntergang erreichten Melifaro und ich den Admiralskai. Wir kamen rechtzeitig und sahen das Schiff aus Arwaroch langsam auf uns zukommen. Von weitem wirkte es sehr groß, ja Furcht einflößend.

»Du solltest besser ein Dichter sein, kein König«, meinte Melifaro, als er meine beeindruckte Miene sah.

»So was Ähnliches bin ich schon gewesen«, antwortete ich frech. »Aber das ist keine interessante Beschäftigung. Und man bekommt sein Geld nur sehr unregelmäßig.«

••Was? Hast du dich wirklich mit Dichtung beschäftigt?«, fragte Melifaro baff. »Wann war das?«

»Als ich durch die endlosen Ebenen der Grafschaft Wuk und der Leeren Länder gezogen bin.«

Melifaro schüttelte den Kopf. Er hatte wohl eine andere Vorstellung vom geheimnisvollen Prozess des literarischen Schaffens.

Ein Blick auf den träge dahinströmenden Churon erinnerte mich an unsere Mission. Das Schiff war nun sehr nahe gekommen.

»Jetzt müssen wir an etwas Trauriges denken, um nicht zu lachen«, meinte Melifaro. »Ich schlage »Meine erste Liebe* vor.«

»Das hilft mir wenig. Meine erste Liebe war eines meiner angenehmsten Erlebnisse. Ich war noch nicht mal ein Jahr alt, und die erste Dame meines Herzens war beinahe achtzig. Sie war eine Freundin meiner Großmutter und nahm mich ab und an in die Arme. Das war vielleicht ein Erlebnis, sag ich dir.«

Das Schiff machte längsseits am Kai fest. Direkt vor unseren Augen hing eine Strickleiter. Ich war begeistert. Noch nie hatte ich Gelegenheit gehabt, so etwas zu benutzen. Doch was tut man nicht alles für den Zoll und die Politik des Vereinigten Königreichs. Vor Angst kletterte ich behände wie ein Affe die Leiter hinauf. Nach ein paar Sekunden schon stand ich in Schuhen, die wunderbar zu meinem Todesmantel passten, an Deck, doch meine Knie zitterten mächtig.

Kurz darauf stand Melifaro neben mir. Wir konnten uns nun entspannen und etwas umsehen. Das war nicht leicht,

denn über uns hing die Takelage. Außerdem war das Deck leer. Wer auch immer uns die Strickleiter zugeworfen hatte, war offenbar im Halbdunkel verschwunden.

»Macht nichts«, sagte Melifaro und stieß mich in die Seite. »Gleich kommt der feierliche Auftritt des Kapitäns. Also sei bereit und denk schon mal an etwas Trauriges. Ich schlage dafür >Meine zweite Liebe- vor, nachdem deine erste Liebe so glücklich war.«

Am liebsten hätte ich Melifaro mit einer ausgedachten Geschichte überrascht, aber ein leises Klirren lenkte mich ab. Sein Urheber war ein so schöner Mensch, dass mir der Atem stockte.

Ein mindestens zwei Meter großer Hüne kam auf uns zu. Seine schneeweißen Haare waren zu einem Zopf geflochten, der bis zum Gürtel reichte. Er hatte große, bernsteinfarbene Augen, und sein Gesicht war eher weich und damit untypisch für einen Soldaten - genau wie seine dünne Nase und sein kleiner, beinahe kindlicher Mund.

Auch die Kleider des Unbekannten verdienen detaillierte Beschreibung: Hemd und Hose leuchteten in allen Farben des Regenbogens. Erstaunt stellte ich fest, dass sein Hemd trotz des Windes nicht flatterte. Später erfuhr ich, dass man sehr viel Kraft braucht, um sich in Wollsachen aus Arwaroch überhaupt zu bewegen. Seine Schuhe fielen dagegen fast normal aus, obwohl ihr Leder so dünn war, dass die Zehen beinahe zu erkennen waren. Erstaunt stellte ich fest, dass er nicht fünf, sondern sechs davon hatte. Gespannt musterte ich daraufhin seine Hände, doch die wiesen keine Überraschungen auf.

Obendrein trug der Unbekannte ein seltsames Wesen huckepack. Es sah aus wie eine Spinne, doch seine Beine waren kürzer und dicker. Das Wesen musterte uns aus allen acht Augen, die so bernsteinfarben wie die seines Besitzers waren. Ich musterte es mit meinen beiden Augen zurück.

Währenddessen warf der Unbekannte eine seltsame Waffe aufs Deck, die einer Machete ähnelte und beim Aufprall ein leises, stumpfes Geräusch erzeugte, das so gar nicht nach der Schneide eines Buschmessers klang. Sir Manga hat mir doch kürzlich erst erzählt, dass es in Arwaroch keine Metalle gibt, erinnerte ich mich und hätte gern gewusst, woraus die Leute dort ihre Waffen anfertigten.

Nach der Machete landete ein obskurer Gegenstand auf Deck, der einer gigantischen Fliegenklatsche ähnelte.

Nun stand der Riese unbewaffnet auf Armeslänge vor uns. Ein paar Sekunden betrachtete er uns weder aufdringlich noch neugierig noch wenigstens nervös, wie es in so einer Situation wohl normal wäre, sondern eher wie ein Vogel: vorsichtig und doch gleichgültig. Schließlich machte er den Mund auf. »Mein Name ist Alotho Aliroch aus der Familie Eisenstein. Ich bin Herrscher von Aliurch und Tschijcho, grausamer Anführer von zweihundert Scharfzähnen und treuer und mächtiger Kämpfer von Tojla Liomurik aus dem Orden des Silbernen Tannenzapfens. So heißt der Eroberer von Arwaroch, der bis an die Grenzen Eurer Welt herrscht und dessen Geschichte in den Büchern von Charloch Sdobnik nachzulesen ist.«

»Ich sterbe gleich vor Langeweile!«

Melifaro hatte mir dies zum Glück per Stummer Rede mitgeteilt, um keinen diplomatischen Eklat auszulösen, und ich durfte über seine Bemerkung nicht lächeln, geschweige denn lachen. Mit äußerster Mühe gelang es mir, eine versteinerte Miene zu bewahren. Ich war wirklich stolz auf mich.

Endlich verstummte Alotho Aliroch. Ich vermutete, alle Bewohner von Echo hatten seinen Sermon gehört, denn sein Organ war laut genug, um ohne Verstärker ein Stadion zu beschallen.

Mein Kollege beschloss, sich nun ebenfalls zur Person zu äußern.

»Ich bin Sir Melifaro, das Tagesantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs.«

Dann verbeugte er sich so formvollendet, dass Juffin begeistert gewesen wäre, wie sehr sein Mitarbeiter den Benimmregeln Arwarochs entsprach.

Da ich den Eindruck hatte, Melifaros Auftritt sei im Vergleich zu den gravitätischen Worten unseres Gastes zu bescheiden ausgefallen, beschloss ich, die Initiative zu ergreifen und mich so pompös vorzustellen, dass unser Besucher mindestens drei Nächte von mir träumen würde. Ich atmete tief ein und öffnete den geschwätzigen Mund: »Ich bin Sir Max, der letzte König von Fangachra und Herrscher des gleichnamigen Landes. Ich bin das Nachtantlitz des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs. Außerdem trage ich den Todesmantel und küsse die Todgeweihten. Glücklich die, an denen ich achtlos vorbeigehe! Obendrein bin ich der Schrecken aller Dummköpfe, die ihre Zeit sinnlos im Wirtshaus vertun.«

Wie erwartet, zeigte Sir Alotho sich von meinem Auftritt beeindruckt. Erstaunlich freilich, dass er kein Ohr für dessen selbstironische Untertöne hatte. Offenbar besaßen die Bewohner von Arwaroch keinen Sinn für Humor.

Das war auch besser so, da mein letzter Satz eigentlich an Melifaro gerichtet war - als kleine Rache, damit auch er mit dem Lachen zu kämpfen hatte. Mit diebischer Freude stellte ich fest, dass er knallrot wurde und sich nur mit knapper Not beherrschen konnte.

»Du bist vielleicht gemein! Du hast dir den ungünstigsten Moment ausgesucht, Witze zu reißen. Irgendwann mache ich dich fertig und befreie die Welt von einem verrückten Dichter. Eigentlich schade um dich!«

Den Magistern sei Dank, dass mein Kollege einmal mehr gezwungen gewesen war, Stumme Rede zu benutzen.

»Ich werde mich bei Eurem König dafür bedanken, dass Ihr mir die Ehre Eurer Aufwartung erwiesen habt«, verkündete Alotho Aliroch dröhnend. »Euer Auftauchen auf meinem Schiff ist ein Zeichen des Schicksals. Vor mir stehen ein Tagesantlitz, das Erholung stiftet, und ein Nachtantlitz, das den Tod bringt. So ein Treffen hätte ich mir nie träumen lassen. Aber nicht umsonst wollte ich unbedingt hierherreisen. Herzlich willkommen an Bord meines Schiffes! Mein Mitarbeiter Klewa zeigt Euch alles, was Euch interessiert. Ihr dürft gern in jede Ecke schauen.«

Alotho trat einen Schritt zurück und rief mit donnernder Stimme: »Klewa, komm her!«

Ein weiterer Riese tauchte auf, diesmal mit roten Haaren. Er war sehr kräftig gebaut und trug einen langen schwarzen Mantel. Darunter befand sich ein Panzerhemd, dessen Kettenglieder im Halbdunkel funkelten.

Wieder fiel mir ein, dass es in Arwaroch kein Metall gab, und ich dachte, es handele sich sicher um eine importierte Rüstung, doch später erfuhr ich, dass die Bewohner Arwarochs weder Waffen noch Rüstungen im Ausland kaufen. Das Kettenhemd war vielmehr aus den besonders harten Panzern einer Käferart gefertigt.

»Nimm die Schlüssel, Klewa.«

Alotho überreichte seinem Untertanen einen dicken Schlüsselbund. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass es auf dem Schiff so viele abschließbare Türen gab.

»Du wirst den Herren zeigen, was immer sie sehen wollen.«

Der Rest lief wie geschmiert. Unter Aufsicht des schweigsamen Klewa machten wir einen Rundgang über und unter Deck. Dabei trafen wir ab und an riesige Männer in bügelfreien Mänteln. Sie sahen uns gleichgültig an, und wir benahmen uns wie diensteifrige Zöllner.

Nach einer Stunde reichte es uns. Mein Kollege zog eine sich selbst beschriftende Tafel des Königlichen Zollamts und ein dunkelblaues Formular aus der Kanzlei von König Gurig VIII. aus dem Mantel. Beides zusammen stellte die offizielle Aufenthaltserlaubnis für Schiff und Mannschaft dar. Mit diesen kostbaren Unterlagen in Händen gingen wir wieder zum Kapitän.

Wir fanden ihn, wo wir ihn verlassen hatten. Er saß im Schneidersitz und beobachtete gedankenverloren seine Waffen, die noch immer auf dem Deck lagen.

»Vielen Dank für den freundlichen Empfang, den Ihr uns bereitet habt, Sir Aliroch«, sagte Melifaro und verbeugte sich ehrerbietig. »Hier Eure Unterlagen. Sie sind schon ausgefüllt. Ich muss Euch allerdings noch nach dem Zweck Eurer Reise ins Vereinigte Königreich fragen.«

»Wir sind gekommen, um herauszufinden, ob sich hier ein gewisser Mudlach aufhält, der verachtenswerte letzte Herrscher eines Gebiets, das wir gerade erobert haben.«

»Na, dann schreiben wir: »Einreisezweck: Personensuche««, meinte Melifaro nickend. »Bitte nehmt die Unterlagen entgegen. Ich freue mich, Euch mitteilen zu können, dass Seine Hoheit König Gurig VIII. Euch morgen in seiner Sommerresidenz Schloss Anmokari empfängt. Die königlichen Boten werden Euch gegen Mittag abholen kommen. Gute Nacht, Sir Aliroch.«

»Die wünsche ich Euch auch. Und ich freue mich schon darauf, Euch wiederzusehen.«

Nachdem wir unsere Aufgabe erledigt hatten, verließen wir erleichtert das Schiff und betraten wieder festen Boden.

»Ich fühle mich richtig klein und hässlich«, jammerte Melifaro. »Warum hat der Schöpfer des Alls Stärken und Schwächen so ungerecht verteilt? Und warum hat er die Bewohner von Arwaroch geschaffen? Das wüsste ich wirklich gern.«

»Sie sind viel zu nett, als dass ich neidisch auf sie wäre«, seufzte ich. »Außerdem kann ich mich nicht mit ihnen vergleichen. Dazu sind sie einfach zu anders, verstehst du?«

»Vollkommen. Aber ich bin trotzdem sauer.«

Als wir das Haus an der Brücke betraten, musste uns die Begeisterung für die exotische Schönheit der Hünen aus Arwaroch noch im Gesicht gestanden haben.

»Tja, Jungs, bereut ihr jetzt, dass eure Mütter nicht rechtzeitig einen schönen Mann aus Arwaroch kennen gelernt haben?«, fragte Sir Schürf, der uns offenbar wortlos verstand. »Das solltet ihr nicht. Diese Leute haben wirklich kein sehr angenehmes Leben. Außerdem erreicht kaum einer von ihnen das hundertste Lebensjahr.«

»Warum sterben sie so jung?«, fragte ich. »Kämpfen sie zu viel?«

»Nein, sie schätzen das Leben einfach nicht sonderlich. In ihren Augen ist es voller Mängel. Ich vermute, sie sterben jung, weil sie sich nach dem Tod sehnen. Viele Leute aus Arwaroch sterben früh, die wenigsten aber im Kampf. Manchmal passiert es, dass sich ein junger, gesunder Adonis in eine Ecke setzt, sich in Gedanken vertieft und eine Weile so sitzen bleibt. Dann ruft ihn jemand zum Abendessen und stellt fest, dass er tot ist.«

»Wie kann so was passieren?«, fragte ich kopfschüttelnd.

»Alles ist möglich, Max. Natürlich gibt es in Arwaroch ein paar Alte, aber nur sehr wenige. Greise werden dort fast als Wunder angesehen. Ihr Dasein erscheint ihren Landsleuten einerseits unbegreiflich, verkörpert andererseits aber Möglichkeiten, die sie vergöttern. Aber jetzt könnt ihr euch ein bisschen erholen, Jungs. Ich bedauere wirklich, dass ihr das Haus von Sir Manga so schnell habt verlassen müssen.«

»Kein Problem. Wir werden einen längeren Besuch dort sicher nachholen«, meinte Melifaro generös. »Und vielen Dank für die ausführlichen Informationen über die Besonderheiten der Bewohner von Arwaroch, Sir. Jetzt beneide ich sie nicht mehr. Merkwürdig, dass mein Vater mir nie davon erzählt hat.«

»Dein Vater ist zwar Verfasser der Enzyklopädie, aber es gibt eine Reihe von Kulturen, deren Mitglieder ihn gebeten haben, nicht alles mitzuteilen, was er über sie weiß. Hast du das nicht gewusst?«

»Seltsamerweise nicht«, meinte Melifaro achselzuckend. »Gut, Max, lass uns gehen.«

Verlegen sah ich Juffin an. »Darf ich aufbrechen, oder soll ich über Nacht im Haus an der Brücke bleiben, Sir?«

»Heute brauche ich dich nicht. Aber komm bitte morgen Mittag - und zwar in bester Verfassung. Dich erwartet ein Treffen mit einem der bedeutendsten Verehrer deiner Erfolge.«

»Von wem sprechen Sie?«

»Wo ist deine berühmte Intuition geblieben, Max? Ich meine natürlich König Gurig VIII.«

»Alles, nur das nicht!«, rief ich und schlug die Hände über dem Kopf zusammen. »Sind Sie verrückt geworden, Sir? Ich bin für einen Besuch bei Hof komplett ungeeignet - auch weil ich schüchtern und ängstlich bin.«

»Keine Panik. Gurig ist ein sympathischer und harmloser Mensch, Ehrenwort. Außerdem muss ich ihm morgen einen Bericht über die Arbeit unserer Behörde liefern, und der König hat mich gebeten, bei dieser Gelegenheit den geheimnisvollen Sir Max mitzubringen. Das ist doch verständlich! Schließlich will er wissen, von wem er seine Katzenjungen bekommen wird.«

»Du hast keine Angst, in die Burg Jafach zu gehen, traust dich aber nicht, den König zu besuchen«, meinte Melifaro lächelnd. »Aus dir soll man klug werden! Du machst dir ganz umsonst Sorgen, Max. Bei Hof gibt es viele nette Leute, und Seine Hoheit ist ein sehr sympathischer Mensch.«

»Siehst du«, meinte Sir Juffin müde. »Wenn sogar Melifaro einen Besuch beim König billigt ... Es wird dir gefallen. Das garantiere ich dir. Und jetzt geht euch endlich erholen, ihr Opfer der Diplomatie.«

Das taten wir. Zur Unterhaltung nahmen wir unseren Schatz aus Isamon mit, der in Melifaros Haus geduldig auf uns gewartet hatte. Wir fuhren in die Neustadt und kehrten im Wirtshaus Der dicke Mann in der Kurve ein, dessen Besitzerin die Ehefrau unseres Kollegen Lukfi Penz war. Ich hatte ihm schon mehrfach versprochen, das Lokal zu besuchen, und hatte nun endlich Gelegenheit dazu.

Per Stummer Rede hatte ich mich bei Lukfi gemeldet, und er wartete am Eingang auf uns.

»Sir Max, Sir Melifaro! Sündige Magister, ich hab mich sehr über Ihre Nachricht gewundert, aber meine Frau und ich freuen uns riesig. Bitte kommen Sie rein.«

Er trat zurück, um uns den Weg freizumachen, und warf dabei einen Stuhl um. Eine Besucherin des Gasthauses schrie erschrocken auf. Lukfi wirkte untröstlich.

»Ich bin einfach furchtbar ungeschickt! Verzeihen Sie mir bitte! Warischa, komm her - schau, wer gekommen ist.«

»Ich hoffe, du hast dich nicht verletzt, mein Lieber«, sagte seine hübsche rothaarige Frau, die ihren Platz hinter der Theke verlassen hatte. Ihre violetten Augen ruhten so zärtlich auf ihrem Mann, dass Melifaro und ich nur neidisch seufzen konnten.

»Es ist nichts Schlimmes passiert. Ich bin es gewohnt, diesen Stuhl umzuwerfen. Er steht einfach zu nah am Eingang«, erklärte Lukfi.

Seine Frau war erleichtert, schenkte uns ein herzliches Lächeln und meinte, ihr Koch werde für uns etwas Besonderes zubereiten, um uns von seinen Künsten zu überzeugen. Dann ging sie wieder hinter die Theke. Sir Lukfi führte uns an einen abgelegenen Ecktisch und war sogar bereit, uns Gesellschaft zu leisten. Kurz darauf kam der Koch mit einem Tablett. Meiner Meinung nach schmeckte es in diesem Lokal mindestens so gut wie im Fressfass.

Rulen Bagdasys, dessen Anwesenheit ich beinahe vergessen hatte, war einerseits sehr scheu, setzte sich andererseits aber beim Essen stark in Szene. Er aß mit großem Appetit, machte dabei aber das Gesicht eines Menschen, der damit rechnet, vergiftet zu werden. Die erste halbe Stunde war er still, doch dann hielt er es nicht mehr aus.

»Wer bereitet denn auf diese Art Truthahn zu? Seid ihr verrückt?«

Melifaro hielt ihm mit einer raschen Bewegung die Hand vor den Mund, und Rulen hätte sich fast am unausgesprochenen Rest seiner Bemerkung verschluckt.

••Gehört dieser Mensch wirklich zu Ihnen?«, fragte Lukfi höflich.

••Zu wem sonst?«, seufzte ich. »Sir Antschifa Melifaro hat ihn von einer Weltreise mitgebracht und ihn seinem jüngeren Bruder geschenkt.«

»Geschenkt?«, fragte Lukfi erstaunt. »Im Vereinigten Königreich darf man doch keine Sklaven besitzen, nur Diener!«

»Warum flüstert ihr so? Ich verstehe nicht, was ihr redet!«, rief Rulen empört.

»Leider ist er weder ein Sklave noch ein Diener«, meinte Melifaro lächelnd, »sondern eine Katastrophe.«

»Ich dachte, er hätte sich zufällig an unseren Tisch gesetzt. Verzeihen Sie bitte - ich fürchte, ich habe ihm zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt.«

Rulen Bagdasys machte ein erstauntes Gesicht und betrachtete Melifaros Faust, die sich gefährlich nah an seinem Mund befand. Dann war er still, und die Atmosphäre verbesserte sich merklich.

Melifaro und Lukfi hechelten die neuesten Gerüchte über die Mitarbeiter der Stadtpolizei durch. Sie sprachen über Leutnant Apura Blaki und Lady Kekki Tuotli und erinnerten sich auch an Leutnant Tschekta Schach, dessen Eigenschaften ihm nie ermöglichen würden, auf unser internes Verzeichnis der besten Mitarbeiter der Stadtpolizei zu geraten. Wie ich den Worten meiner Kollegen nun entnehmen konnte, übertraf aber wenigstens seine Muskulatur alle Erwartungen. Ich hörte ihnen zu und bedauerte, diese neuen Helden der Stadtpolizei noch nicht kennen gelernt zu haben.

»Das Problem ist nicht, dass du keine freie Minute hast«, kicherte Melifaro. »Auch sie könnten bei dir vorbeisehen, um dich kennen zu lernen. Aber ich glaube, sie scheuen davor zurück, weil sie dich fürchten. Weißt du, liebes Nachtantlitz, ich glaube, du hast den kürzesten Weg zum Ruhm genommen: Erst hast du großen Erfolg gehabt, dann bist du ein gutes Jahr verschwunden, und jetzt bist du eine Legende. Gib's zu: Das war dein Ziel, als du abgetaucht bist.«

»Natürlich«, nickte ich, »was sonst? Seit Kindertagen will ich berühmt sein - am besten zu Lebzeiten. Aber sag mal: Was ist mit eurem Familienschatz los? Was macht er gerade?«

Rulen Bagdasys war nicht am Tisch sitzen geblieben. Er hatte unsere Gespräche offenbar satt und wollte sich umsehen.

»Hoppla«, meinte Melifaro, »der sitzt ja gar nicht mehr bei uns. Aber wenn er verschwindet, ist das nicht schlimm. Ich werde von ihm eine Sammlung von hundert hübschen Hosen erben. Der hat Klamotten, kann ich euch sagen! Aber ich fürchte, er ist noch in der Nähe. Gibt es da hinten in der Ecke nicht eine Prügelei?«, fragte Melifaro und zeigte durch den Raum.

»Eine Prügelei?«, fragte Lukfi erstaunt. »Unmöglich. Unser Wirtshaus ist ein anständiges und ruhiges Lokal.«

»Das war so«, meinte Melifaro lächelnd. »Bis zum heutigen Abend. Sie haben uns immer wieder eingeladen, und jetzt sind wir gekommen, um den Ruf Ihres Wirtshauses zu ruinieren. Sehen Sie mal, dort prügeln sich tatsächlich Leute.«

»Ban!«, rief Lukfi erschrocken. »Marischa, wo ist unser Ban? Da hinten gibt's eine Schlägerei!«

»Das weiß ich, mein Lieber«, antwortete seine wunderbare Frau, die noch immer hinter der Theke stand. »Ban ist schon zur Stelle, um Ordnung zu schaffen. Andere Besucher haben sich ein wenig mit dem lustigen Mann gestritten, der mit deinen Kollegen gekommen ist. Hast du das jetzt erst bemerkt? Sie zanken sich schon seit einiger Zeit.«

»Gehört dieser Herr tatsächlich zu Ihnen?«

Ein nicht eben groß gewachsener, aber kräftig gebauter Mann mittleren Alters musterte skeptisch meinen Todesmantel. Er hatte den Besucher aus Isamon, der nun ziemlich erschrocken wirkte, am Kragen gepackt. Unter dem linken Auge hatte Rulen einen blauen Fleck.

»Leider«, sagte Melifaro. »Was ist passiert?«

Der muskelbepackte Mann sah seinen Chef fragend an.

»Keine Sorge, Ban - du hast alles richtig gemacht«, beruhigte ihn Lukfi. »Erzähl uns bitte, was passiert ist.«

»Dieser Herr hat zwei Damen kennen lernen wollen. Sie waren sehr erstaunt, antworteten ihm aber höflich, sie seien zum Essen gekommen, nicht, um einen Mann zu finden. Er blieb hartnäckig und setzte sich schließlich zu ihnen. Die Damen waren empört. Andere Gäste wurden darauf aufmerksam und haben Ihrem Bekannten erklären wollen, dass das hier nicht geht, aber er hat auf niemanden gehört. Lady Warischa hat mich gerufen, und ich habe Gewalt anwenden müssen. Wenn Sie gehört hätten, was er den Damen an den Kopf geworfen hat, würde Sie das nicht wundern. Ich bin im Hafenviertel aufgewachsen, und dort passiert einiges, aber so was hab ich selten gehört.«

»Was hat er denn gesagt?«, fragte Lukfi interessiert.

Offen gestanden war auch ich darauf neugierig, und Melifaro kicherte bereits.

»Verzeihen Sie, aber diese Grobheiten will ich nicht wiederholen. Das soll er Ihnen selbst sagen.«

»Gut, setz dich, mein Lieber«, sagte Lukfi und wandte sich verlegen an uns. »Das war wohl ein Missverständnis.«

»Diese Missgeburt hat mich beleidigt«, rief Rulen empört.

»Das sind ja tolle Neuigkeiten«, brummte Melifaro. »Freu dich, dass ich nicht dabei war. Lukfi, wir gehen jetzt. Nächstes Mal kommen wir ohne diesen Verehrer unbekannter Frauen.«

»Wenn Sie sich langweilen, sollten Sie vielleicht den Stadtteil Rendezvous besuchen«, riet uns Lukfi Penz.

»Den Stadtteil Rendezvous? Was ist das?«

Ich stellte mir vor, wie das Schicksal den schrecklichen Rulen einer unglücklichen Frau für eine Nacht zuteilte. Das war zwar lustig, verschlechterte meine Laune aber noch weiter. Manchmal nehmen mich die Probleme anderer Leute einfach zu sehr mit.

Eine Viertelstunde später verließen wir das Wirtshaus von Lukfi und seiner Frau. Rulen Bagdasys wollte unbedingt noch in den Stadtteil Rendezvous.

»Mit blauen Flecken darfst du da nicht hin«, log Melifaro knallhart. »Da musst du dich schon noch gedulden.«

Der Mann aus Isamon wirkte sehr finster. Nach ein paar Minuten setzte ich Melifaro und seinen Gast in der Straße der dunklen Wolken ab.

»Willst du vielleicht bei mir übernachten?«, schlug Melifaro mir großzügig vor. »Wer weiß, was gerade bei dir zu Hause los ist.«

»Vielen Dank, mein Freund, aber wenn ich schon in Echo bin, will ich endlich wieder meine Katzen sehen.«

»Du bist eben ein echtes Familientier«, meinte Melifaro lächelnd. »Richte dem König schöne Grüße aus.«

»Den hatte ich zum Glück ganz vergessen. Warum hast du mich bloß wieder daran erinnert?«

Als ich wegfuhr, hörte ich Rulen noch laut fragen, wer dieser komische Gurig sei, über den alle so blöd reden.

Ich staunte, doch in meinem Haus herrschten Ordnung und Sauberkeit. Die Handwerker waren verschwunden,

hatten aber eine saftige Rechnung hinterlassen, doch dieses Geld hatten sie redlich verdient.

Ella und Armstrong waren über die Veränderungen im Haus sichtlich erschrocken und hockten reglos vor ihren Näpfen. Ich setzte mich auf den weichen Teppich aus Kettari und kämmte ihnen behutsam das dichte Fell. Sie schnurrten vor Vergnügen. Das Leben war wunderbar.

Wie versprochen, kam ich gegen Mittag ins Haus an der Brücke. Sir Juffin hatte zwar keine Angst vor der Audienz beim König, dafür aber einen Respekt heischenden Gesichtsausdruck.

»Oh!«, rief ich begeistert. »Sind etwa Sie der König, nicht dieser Gurig? Sie wirken ungemein Ehrfurcht einflößend!«

»Hab ich mir etwa ein übertrieben würdiges Auftreten verpasst?«

»Bleiben Sie ruhig, wie Sie sind. Ihr Aussehen tötet auf der Stelle.«

Juffin lief in den Flur, wo ein Spiegel hing, und kehrte zufrieden zurück.

»Du trägst wirklich ständig zu dick auf, Max«, sagte er. »Ich sehe doch völlig normal aus.« Dann wandte er sich an den Buriwuch. »Bist du bereit, mein Lieber?«

»Es gibt nichts, worauf ich mich vorzubereiten hätte«, erklärte Kurusch kühl.

»Stimmt, mein Kluger«, sagte Juffin, streichelte den Vogel und setzte ihn sich auf die Schulter. »Also los, Max.«

»Gern. In dieser Gesellschaft kann ich bis ans Ende der Welt gehen.«

Unsere lustige Behörde residiert nicht umsonst im »Haus an der Brücke«. Diese Brücke verbindet das linke und das rechte Ufer des Churon mit der Insel Rulch. Begeistert betrachtete ich die alten Mauern der Königsresidenz auf der Insel. Es roch angenehm nach alten, längst vergessenen Geheimnissen.

Heute aber führte uns der Weg nicht dorthin, sondern auf eine zweite Insel, auf der die Sommerresidenz des Königs lag. Schloss Anmokari ähnelt eher einer großzügigen Vorstadtvilla als einem Regierungssitz.

»Nicht schlecht!«, rief ich begeistert. »Aber Schloss Rulch ist von ganz anderem Kaliber.«

»Snob!«, murmelte Juffin. »Mir gefällt die Sommerresidenz viel besser als das eigentliche Schloss. Hier riecht es nicht nach vergangenen Sünden und alten Flüchen. Das spürst du doch, oder?«

Ich nickte. »Offen gesagt glaube ich, dass mich das Hauptschloss behext hat.«

»Wirklich? Deine Intuition ist offenbar wieder da. Eine Nacht im Schlafzimmer des alten Philo hat dafür gereicht. Wer hätte das gedacht! Vor ein paar Tagen hattest du noch von Geheimnissen aller Art die Nase voll.«

Ich sah meinen Chef fragend an. Davon hatte ich ihm nichts erzählt. Ich rede ja überhaupt wenig. Das ist einfach nicht meine Art.

Sekunden später erinnerte ich mich an das Gespräch, das ich mit Melifaro auf dem Weg zu seinen Eltern geführt hatte. »Geht dir deine dauernde Geheimnistuerei nicht selber auf die Nerven?«, hatte er mich gefragt, und ich hatte geantwortet: »Ein bisschen.«

»Juffin, belauschen Sie mich eigentlich immer?«

»Keine Sorge, ich hab Besseres zu tun. Ich weiß nun mal stets, was mit dir los ist. Betrachte das als eines meiner Talente.«

»Gern. Und da ich selbst längst nicht immer weiß, was mit mir los ist, können Sie es mir sicher dann und wann erklären.«

»Das mach ich doch schon die ganze Zeit.«

Wir stiegen aus dem A-Mobil und betraten Schloss Anmokari. Juffin bewegte sich vorsichtig, um den schlafenden Kurusch nicht zu wecken.

Der beinahe leere Flur schien mir unendlich. Ich machte einen Schritt nach vorn, und vor meinen Augen drehte sich alles, denn überall waren Spiegel angebracht, deren trübe Reflexion einen gespenstischen Eindruck vermittelte.

»Wenn man das nicht gewöhnt ist, verliert man leicht das Gleichgewicht. Pass also auf«, ermahnte mich mein Chef. »Zugegeben, die Einrichtung ist etwas seltsam, aber dem König gefällt es.«

Wir gingen durch den endlos anmutenden Flur, bis wir plötzlich an eine Tür kamen. Nun befanden wir uns in einem vergleichsweise kleinen, aber angenehmen Korridor.

»Sei froh, dass unser Besuch geschäftlichen und nicht privaten Charakter hat«, sagte Juffin augenzwinkernd. »Erinnerst du dich noch an den Besuch bei Sir Makluk?«

»Natürlich. Im Vergleich zu dem, was uns hier erwartet, dürfte sich der Besuch bei unserem Nachbarn wie ein Scherz ausnehmen.«

»Ja, hier wird es noch unterhaltsam. Das kannst du mir glauben.«

Ein paar königliche Diener in langer, bestickter Livree sammelten sich um uns. Sie verbeugten sich höflich und musterten uns dabei neugierig. Erstaunt merkte ich, dass mein Todesmantel bei ihnen auf Zustimmung stieß und keine Angst auslöste, wie es sonst meist geschah. Am Hof arbeiteten offenbar intelligente Menschen, die keine Vorurteile hatten. Schließlich kamen die Sänften. Inzwischen war ich ein echter Salonlöwe und setzte mich ohne Scheu in eine prächtige Sänfte, während Sir Juffin graziös die zweite bestieg. Die Träger brachten uns in einen großen Saal, der sich bescheiden Kleines königliches Arbeitszimmer nannte. Dort war die Einrichtung nicht so karg, wie es in Echo Sitte ist. In der Hauptstadt des Vereinigten Königreichs neigt man nämlich nicht dazu, die Raumwirkung durch übertriebene Möblierung zu beeinträchtigen, und das ist auch gut so.

Die Träger verschwanden mit den Sänften, und wir blieben im Arbeitszimmer zurück.

»Das verlangt die Etikette«, erklärte Juffin. »Seine Hoheit erwartet uns zwar ungeduldig, aber die Konvention erlaubt ihm nicht, uns sofort zu empfangen. Allerdings hält er es selten länger als eine Minute aus.« Mein Chef strich sanft über den befiederten Nacken des Buriwuchs. »Wach auf, mein Lieber. Es gibt was zu tun.«

Kurusch plusterte sich unzufrieden auf, denn er wurde nur ungern geweckt. Als Mensch verstand ich ihn sehr gut.

Seine Hoheit König Gurig VIII. schaffte es nicht mal, uns eine volle Minute warten zu lassen. Eine kleine Tür öffnete sich, und vor uns stand ein junger Adonis, der große Ähnlichkeit mit Alain Delon hatte. Er trug einen purpurnen, üppig bestickten Lochimantel und statt des Turbans -

des typischen Ausdrucks urbaner Eleganz - eine schlichte Mütze. Später erfuhr ich, diese königliche Kopfbedeckung sei Ausdruck jahrhundertealter Tradition. Auch Mjenin hatte vor mehr als einem Jahrtausend so eine Mütze getragen, und Mjenin war einer der bedeutendsten Herrscher des Vereinigten Königreichs.

»Ihr seid es wirklich!«, rief der König, schirmte die Augen mit der Hand ab und wandte sich an mich.

Ich lächelte. Schon lange hatte ich diese Formel nicht mehr gehört, die man in Echo Menschen gegenüber benutzt, die man gerade erst kennen lernt. In letzter Zeit hatte ich offenbar nur mit Leuten zu tun, die sich nicht an solche Formalitäten hielten. Den Magistern sei Dank: Ich hatte genug Erfahrung, dem König die richtige Antwort zu geben.

»Sie besuchen mich nur, wenn Ihnen keine Ausrede einfällt abzusagen«, erklärte der König und schüttelte den Kopf. »Ich hatte Sie schon vor hundert Tagen erwartet -nicht zu einem Rapport wie heute, sondern als Gast. Sie hatten damals eine Einladung bekommen.«

»Stimmt«, antwortete Juffin seufzend. »Aber Ihr wisst doch, was diesen Frühling im Haus an der Brücke los war. Wir mussten ohne Sir Max auskommen - wie in den guten alten Zeiten. Darum hatte ich keine Zeit, bei Euch vorbeizuschauen, sondern musste in der ganzen Stadt nach dem entlaufenen Magister Bankori Jonli suchen. Unter uns gesagt, hätte dieser Mann beinahe unseren Melifaro umgebracht. Seitdem läuft mein Tagesantlitz mit einer kleinen Narbe im Gesicht herum. Ich vermute, dass er zu wenig Kachar-Balsam auf die Wunde gegossen hat, um wie ein echter Held auszusehen.«

»Was? Der Sohn von Sir Manga war in Lebensgefahr? Es wäre schade um ihn gewesen! Wer ist eigentlich dieser Jonli? Ich erinnere mich nicht an ihn«, meinte der König finster.

»Bankori Jonli ist der Große Magister vom Orden des Klirrenden Huts. Erinnert Ihr Euch noch an die geheimnisvolle Sekte der Anhänger von König Mjenin? Er hat Echo noch zu Lebzeiten Eures Vaters verlassen. Im Vorfrühling ist er zurückgekommen, um mit dem Großen Magister Nuflin abzurechnen. Ich verstehe nur nicht, was es da abzurechnen gab. Unser Nuflin Monimach ist dafür bekannt, nie einer Fliege etwas zuleide getan zu haben.«

Seine Hoheit erlaubte sich ein kurzes Lachen. Auch ich konnte mich nicht beherrschen, obwohl ich ziemliche Hemmungen verspürte. In Gesellschaft eines mir kaum bekannten Menschen fühle ich mich immer ein wenig befangen und brauche etwas Zeit, um Sicherheit zu gewinnen. Und weil ich bisher nicht allzu viele Könige kennen gelernt hatte, waren meine Hemmungen ausgeprägter als sonst.

Aber auch König Gurig VIII. war nicht gerade locker, und ich erkannte in ihm eine verwandte Seele. Ich hätte nie gedacht, dass auch Monarchen sich mit solchen Problemen herumschlagen müssen, und empfand tiefe Sympathie für ihn. Es war nett zu wissen, dass wir ein Problem gemeinsam hatten.

»Setzen Sie sich, meine Herren«, sagte der König und wies auf zwei weich gepolsterte Sessel am halb geöffneten Fenster. »Speis und Trank für Kurusch habe ich schon kommen lassen - Sie können also anfangen, Herr Buriwuch.«

Mir gefiel es, dass Gurig den Vogel siezte, und ich bedauerte, es selbst nie getan zu haben.

Auf dem Tisch stand ein Teller Nüsse und Trockenobst. Kurusch flatterte von Sir Juffins Schulter und begann, davon zu naschen.

»Die Etikette macht mich fertig«, murmelte der König. »Meine Höflinge behaupten, man solle in einem Arbeitszimmer nur arbeiten, in einem Esszimmer nur essen. Schlimm, was? Und wenn ich nun diese Genüsse verbinden möchte - so wie Sie es zu tun pflegen, Sir Juffin? Sir Max, was meinen Sie dazu?«

Erschrocken stellte ich fest, dass Seine Hoheit an meiner Meinung interessiert war.

»Natürlich bin ich absolut Eurer Meinung. Im Haus an der Brücke ließe sich anders gar nicht arbeiten.«

Ich musste mich zwingen, normal zu reden, weil ich am liebsten nur gemurmelt und dabei auf den Boden gesehen hätte.

»Das freut mich. Es gibt offenbar noch Menschen, die ein normales Leben führen«, sagte Gurig und sah gleich fröhlicher drein. »Heute Morgen hab ich meinem Zeremonienmeister erklären müssen, dass er kündigen könne, wenn er sich weiter weigert, mir im Arbeitszimmer Kamra zu servieren. Schließlich hat er zähneknirschend nachgegeben. Endlich muss ich mich nicht mehr als der geizigste Gastgeber von Echo fühlen. Sir Kurusch, könnten Sie uns jetzt etwas erzählen?«

Der kluge Vogel verließ den Teller mit Nüssen und begann, die Erfolge meiner Kollegen zu schildern. Ich hörte ihm so aufmerksam zu wie der König, denn ich bekam erst jetzt Gelegenheit zu erfahren, was sich in meiner Abwesenheit alles im Haus an der Brücke zugetragen hatte. Der Alltag dort erwies sich als viel spannender als meine einsamen Abenteuer, und ich stellte irritiert fest, wie sehr ich es bedauerte, ein ganzes Jahr nicht im Dienst gewesen zu sein.

Kurusch redete vier Stunden lang und schaffte es, derweil einen zweiten Teller Nüsse zu verspachteln.

Auch Juffin und ich brauchten weder Hunger noch Durst zu leiden, doch es stellte sich heraus, dass man am Hof eine schlechtere Kamra kochte als im Fressfass. Ich beschloss daher, mir die Karriere als König endgültig abzuschminken.

Als Kurusch endlich schwieg, schüttelte Gurig begeistert den Kopf.

»Sie sind die Einzigen im Vereinigten Königreich, für die die Romantik der alten Zeit kein Fremdwort ist. Ehrlich gesagt beneide ich Sie.«

»Ach, ich glaube, wir sind nicht die Einzigen«, sagte Juffin lächelnd. »Unsere Kunden haben ein viel romantischeres Leben.«

»Stimmt, aber sie müssen einen hohen Preis dafür zahlen«, bemerkte der König.

»Manchmal ja«, pflichtete Juffin ihm bei.

»Aber zu hoch ist der Preis nicht - schließlich haben sie die Ehre, mit Ihnen zu tun zu haben. Ihre Gesellschaft hat mir viel Freude gemacht, meine Herren. Kann ich beim offiziellen Besuch der Kämpfer aus Arwaroch auf Ihre Anwesenheit zählen?«

»Um wie viel Uhr erwartet Ihr sie denn?«, fragte Juffin.

»Bald«, sagte Seine Hoheit und blickte aus dem Fenster. »Wenn mich der Sonnenstand nicht trügt, dürften sie gleich im Kleinen Empfangssaal auftauchen. Ich würde mir sehr wünschen, dass Sie bleiben. Ich glaube, auch die Herren aus Arwaroch hoffen auf Ihre Unterstützung.«

»Sir Max und ich sind glücklich, Eure Wünsche erfüllen zu dürfen, Hoheit.«

»Prima«, sagte der König und lachte plötzlich. »Ich könnte um hundert Kronen wetten, dass ich noch viele Wünsche in petto habe, die Sie längst nicht so gern erfüllen würden.«

Juffin überlegte kurz und sagte dann leise: »Diese Wette möchte ich lieber nicht riskieren.«

»Eben!«, sagte der König und zwinkerte ihm zu.

Ich wurde allmählich zum echten Monarchisten, denn das Oberhaupt des Vereinigten Königreichs gefiel mir von Minute zu Minute besser. Schade, dass wir beide so beschäftigte Leute sind, dachte ich. Wir üben auch ganz verschiedene Berufe aus, aber unter anderen Umständen würde ich mich mit diesem Mann sicher rasch befreunden. Offensichtlich hatte ich bereits vergessen, dass ich als Fangachra aus Fangachra von ebenso königlichem Blut war wie Gurig.

»Dieser Herr schläft bereits«, sagte der König und zeigte auf Kurusch.

»Ich glaube, das ist sein Naturzustand«, meinte Juffin und nahm den Vogel vorsichtig unter die Fittiche seines Mantels. »Habt Ihr etwas dagegen, wenn er während des Empfangs weiterschläft?«

»Sir Kurusch kann in meinem Schloss machen, was er will.«

Gurig VIII. betrachtete den schlafenden Buriwuch mit der Begeisterung eines jungen Naturfreunds.

Der Kleine Empfangssaal erwies sich als so groß, dass die Gesichter der Höflinge an der dem Eingang gegenüber liegenden Stirnwand kaum zu erkennen waren. Der prächtige Alotho Aliroch blieb in der Mitte des Raums stehen. Diesmal war er ohne sein spinnenartiges Haustier unterwegs. Offenbar wusste er nicht, dass der König ein Naturfreund war.

Zu Füßen des Mannes aus Arwaroch lagen seine Waffen, und hinter ihm stand sein Gefolge: ein volles Hundert hünenhafter Soldaten in bügelfreiem Mantel und weißen Lederschuhen. Alle hatten die gleichen blonden Haare und bernsteinfarbenen Augen und sahen so gut aus wie ihr Anführer. Die Höflinge musterten die Ankömmlinge aus Arwaroch mit zurückhaltender Neugier.

Sir Juffin winkte mich herbei. Wir stellten uns links hinter dem Thron auf, wie es die Etikette verlangte. Rechts vom Thron war es eng, denn dort drängten sich viele Magnaten. Neben uns stand nur ein Herr mittleren Alters im weißblauen Mantel, der ihn als Mitglied des Ordens des Siebenzackigen Blatts auswies. Er nickte uns knapp zu. Ein Gespräch ließ die höfische Etikette in dieser Situation nicht zu.

Schließlich betrat der König den Saal, schritt die festlich geschmückten Treppenstufen zu seinem Thron hoch und setzte sich ein paar Meter über dem Fußboden nieder, nachdem er Juffin und mir kurz zugelächelt hatte. Sein Gesicht war zu einer Maske erstarrt, die ihren Träger erhaben und gelangweilt wirken ließ.

»Seid gegrüßt, Fremder!«, sprach der König leise. »Verratet uns bitte, was Euch an meinen Hof geführt hat.«

Der Mann senkte den Kopf und antwortete ebenso leise: »Mein Name ist Alotho Aliroch aus der Familie Eisenstein. Ich bin Herrscher von Aliurch und Tschijcho, grausamer Anführer von zweihundert Scharfzähnen und treuer und mächtiger Kämpfer von Tojla Liomurik aus dem Orden des Silbernen Tannenzapfens. So heißt der Eroberer von Arwaroch, der bis an die Grenzen Eurer Welt herrscht. Ich bin Gießer der königlichen Gewürzpflanze und Pfleger der Teppiche im Speisesaal, und ich reiche meinem Herrscher bei Neumond die dritte Tasse. Ich bin Erster Steuermann der königlichen Fregatte, bin berechtigt, hauchdünne Lederschuhe zu tragen, bin Träger des königlichen Schlüsselbunds und oberster Strafverfolger, was die rebellischen Völker angeht. Ich trage das neunte und das zwölfte Lied beim Sommerfest des Königs vor, bin Oberster Herdanzünder und spreche die Sprache der Morinen.«

»Das ist ja eine ungemein wichtige Person«, meldete Juffin sich per Stummer Rede bei mir, weil er Alothos Sermon nicht länger ertragen konnte. »Solche Großtaten werden wir nie vollbringen, mein armer Max.«

»Gestern Abend hat er sich bescheidener vorgestellt«, sagte ich. »Bestimmt hat er die ganze Nacht gegrübelt, welche Titel er besitzt, und sie brav auswendig gelernt.«

»Er hat nichts auswendig lernen müssen, sondern Melifaro und dich einfach für zu unwichtig gehalten, um die ganze Liste vorzutragen. Dem König dagegen präsentiert er die Palette seiner Titel. Wenn er vor seinen grausamen Toten Gott tritt, den die Leute aus Arwaroch tief verehren, wird er mindestens eine Woche pausenlos über sich reden, weil er dann erstmals Gelegenheit hat, alles über sich zu erzählen.«

Kurusch, der die ganze Zeit friedlich geschlafen hatte, wachte auf und wollte sich aus Juffins Mantel befreien.

»Ich will diese Leute auch sehen«, sagte der kluge Vogel ohne Umschweife.

»Kein Problem, Süßer. Sei aber bitte still«, flüsterte Juffin ihm zu und setzte ihn sich auf die Schulter.

Dann geschah etwas Unglaubliches.

Alotho Aliroch, der sich eben noch als grausamer Anführer von zweihundert Scharfzähnen vorgestellt hatte, fiel wortlos auf die Knie und presste die Stirn auf den Teppich. Sein Gefolge tat es ihm nach.

»Großer Buriwuch!«, rief Alotho mit zitternder Stimme.

Ich kam zu dem Schluss, unser ehrwürdiger Gast müsse verrückt geworden sein.

Im Kleinen Empfangssaal herrschte großes Durcheinander. Selbst der maskenhafte Gesichtsausdruck von König Gurig war verschwunden, und er blickte so erstaunt drein wie seine Höflinge.

»Die Bewohner von Arwaroch neigen dazu, unsere Macht zu überschätzen«, stellte Kurusch ungerührt fest. »Menschen haben allgemein einen Hang zur Übertreibung.«

»Da hast du Recht«, sagte Juffin lächelnd. »Aber darüber werden wir unseren ehrwürdigen Gast nicht aufklären. Soll er ruhig bei seinem Irrtum bleiben. Das kommt uns gelegen. Hab ich Recht, Hoheit?«

»Ich bin ganz mit Ihnen einverstanden«, flüsterte ihm der König zu. »Schade, dass wir das nicht früher gewusst haben.«

Alotho beruhigte sich langsam, erhob sich wieder und betrachtete Kurusch mit glühender Begeisterung.

»Ihr erweist mir eine gewaltige Ehre, oh Buriwuch! Wie kann ich Euch meine Dankbarkeit zeigen?«

»Ich bin hier auf Wunsch von König Gurig VIII. und des Ehrwürdigen Leiters des Kleinen Geheimen Suchtrupps. Denen kannst du deine Dankbarkeit zeigen. Und jetzt steht bitte wieder auf, Leute«, erklärte Kurusch kühl.

Juffin und ich tauschten einen erstaunten Blick. Der Buriwuch benahm sich so majestätisch, dass ich ihm den Thron überlassen hätte, wenn ich König gewesen wäre.

Endlich erhoben sich Alotho und sein Gefolge, und der Adonis aus Arwaroch sah den König dankbar an.

»Ich hätte nie gedacht, so eine Begegnung zu erleben. Der Herrscher, in dessen Auftrag ich unterwegs bin, wird Euch nie vergessen, welche Ehre Ihr mir mit diesem Treffen erwiesen habt. Mein König wird aus Anlass dieses Ereignisses sicher einen Liederzyklus in Auftrag geben, und ich werde mindestens zwei Liederkränze komponieren.«

Unser König, dem es unterdessen glücklich gelungen war, wieder seine so erhabene wie gelangweilte Maske aufzusetzen, lächelte gönnerhaft.

»Wir erweisen Euch diese Ehre, weil wir nach wie vor an einem freundschaftlichen Verhältnis zu Tojla Liomurik, dem Herrscher von Arwaroch, interessiert sind. Außerdem sind wir gern bereit, Euch zu helfen, und ich würde mich freuen, wenn Ihr mein Angebot nutzen würdet.«

Der letzte Satz war zwar nett formuliert, klang aber wie ein Befehl.

»Ich werde tun, was Ihr wünscht, Hoheit«, sagte Alotho gehorsam.

»Das freut mich«, sagte der König lächelnd. »Sir Juffin Halli, der heute zugegen ist, erwartet Euch morgen im Haus an der Brücke. Ich habe keinen Zweifel daran, dass er und seine Mitarbeiter alles unternehmen werden, um Eurem Wunsch nach Auslieferung des Übeltäters Genüge zu tun. Aber jetzt auf Wiedersehen, meine Herrschaften. Die Begegnung mit Euch allen hat mir wirklich viel Freude gemacht.«

Ich hatte keinen Zweifel daran, dass der König die Wahrheit gesagt hatte. Vor allem aber Kurusch hatte seinen Spaß gehabt.

Wir kehrten ins Haus an der Brücke zurück. Unterwegs benahm sich der Buriwuch wie ein frisch gekrönter Herrscher.

Juffin und ich setzten uns ins Büro und betrachteten den Vogel erwartungsvoll. Kurusch putzte sein Gefieder, als sei nichts geschehen.

»Findest du nicht, mein Lieber, du solltest uns erklären, was in die Schönlinge aus Arwaroch gefahren ist, als sie dich sahen?«

»Nichts Besonderes. Die Bewohner von Arwaroch halten uns für Götter, und das nicht ohne Grund. Wo viele von uns leben, sieht die Welt aus, wie wir es uns wünschen, und Arwaroch ist das einzige Land, in dem wir zahlreich sind. Wir Buriwuche mögen hübsche Leute. Deshalb sind die Bewohner von Arwaroch so hübsch. Sie haben die gleiche Augenfarbe wie wir, weil diese Farbe uns gefällt. Sie sind schweigsam, weil wir kein Interesse daran haben, uns lange Gespräche anzuhören. Sie sind fleißig, damit uns nie der Gesprächsstoff ausgeht. Wir Buriwuche leben in den Tag hinein, doch wenn wir spüren, dass wir sterben müssen, fliegen wir nach Arwaroch, denn dort wird uns die Verehrung entgegengebracht, die wir uns wünschen. Die Leute aus Arwaroch sind fasziniert vom Tod, weil sie glauben, als Buriwuch wiedergeboren zu werden. Das ist zwar Aberglaube, aber ich vermute, manchem ist das schon gelungen. In Arwaroch werden wir wie Götter verehrt«, sagte Kurusch und machte sich alsdann über eine Nuss her.

»Das weiß ich doch alles«, sagte Juffin. »Aber ich hätte nicht gedacht, dass die Leute aus Arwaroch wissen, wie mächtig ihr seid.«

»Das tun sie auch nicht, aber sie spüren es irgendwie. Die Leute dort wissen wenig, haben aber eine hoch entwickelte Intuition.«

»Gut zu wissen. Nachdem sie uns mit dir zusammen gesehen haben, werden sie uns sicher gehorchen.«

»Nein, sie werden nur auf mich hören«, protestierte Kurusch. »Aber würde ich von ihnen etwas verlangen, das gegen ihre Gesetze verstößt, würden sie sich auf der Stelle töten. In Arwaroch hält man den Tod für die beste Lösung in jeder schwierigen Situation.«

»Das sind ja wahre Samurai«, meinte ich kichernd.

»Wie hast du sie genannt?«, fragte Juffin interessiert.

»Samurai. Stellen Sie sich vor: In der Welt, aus der ich komme, gibt es auch solche Leute. Ihr Leben ist aber nicht so angenehm, denn sie haben keine Buriwuche.«

»Pech gehabt«, pflichtete Juffin mir bei. »Mit Buriwuchen geht alles leichter, stimmt's?«, fragte er und strich Kurusch übers Gefieder. »Was meint ihr, wie Alotho reagiert, wenn wir ihn ins Große Archiv einladen und er sich hundert Buriwuchen gegenübersieht?«

»Machen wir das denn?«, fragte ich erstaunt.

»Vielleicht. Als Belohnung, wenn er sich gut benimmt.

Oder als Strafe, wenn er frech wird. Aber ich fürchte, sein tapferes Herz würde diese Aufregung nicht überstehen. Also besser keine Experimente.«

Juffin stand auf und lächelte Unheil verkündend.

»Das war's. Ich geh mich jetzt erholen, und ihr bleibt hier und schuftet. So ein grausamer Chef bin ich! Freust du dich auf die Arbeit, Max?«

»Ich kenne Sie ja schon einige Zeit und bin darum immer auf so etwas gefasst. Ich hoffe, der Kachar-Balsam ist in der üblichen Schublade.«

»Wo sonst? Außer dir ist niemand süchtig danach.«

»Ich werde eine halbe Flasche davon trinken und dann Radau machen. Heute Abend wird es vermutlich kaum etwas zu tun geben. Der Ernst des Lebens beginnt erst morgen, oder?«

»Stimmt. Wenn du Lust hast, spazieren zu gehen, mach das ruhig. Ich hab nichts dagegen. Die nächsten Tage werden wir vollauf beschäftigt sein.«

Nachdem ich mich eine halbe Stunde gelangweilt hatte, meldete ich mich per Stummer Rede bei Melifaro.

»Was macht dein exotischer Gast?«

»Tagsüber spaziert er durch Echo. Leider hat er sich bis jetzt nicht verlaufen. Ansonsten hat er einen zweiten blauen Fleck bekommen, diesmal unterm rechten Auge. Hättest du nicht Lust, ihn ein paar Tage bei dir wohnen zu lassen? Ich bin ihn langsam wirklich leid. Aber nur, wenn du dich langweilst.«

»Vielen Dank. Ich komme auch ohne ihn ganz gut zurecht.«

»Tja, das hatte ich schon vermutet. Für heute Abend habe ich große Pläne. Ich will ihm nämlich den Stadtteil Rendezvous zeigen. Magst du mitkommen?«

»Als Zuschauer? Sehr gern.«

»Wie sonst? Willst du seine Auserwählte sein? Dafür rasierst du dich zu selten.«

»Wie kommst du denn darauf? Außerdem habe ich Hunger.«

»Den hast du immer. Gut, dann geh ins Glückliche Skelett. Es liegt zwischen meinem Haus und dem Stadtteil Rendezvous.«

»Fein, dann sehen wir uns dort.«

Ich wollte schon gehen, als mir meine Reisetasche auffiel. Ich packte sie aus und zog mich rasch um. Ohne Todesmantel würde ich mich sicher besser amüsieren.

»Genieße deine Einsamkeit, großer Buriwuch«, sagte ich feierlich und verbeugte mich zum Abschied vor Kurusch.

»Vergiss nicht, Piroggen mitzubringen«, mahnte der Vogel.

Das war schon Tradition zwischen uns: Wenn ich mich aus dem Büro stahl, bekam Kurusch zur Entschädigung eine Pirogge. Aber auch wenn ich die ganze Nacht fleißig im Büro arbeitete, bekam er eine, denn eigentlich teile ich die Meinung, die die Leute aus Arwaroch über die Buriwuche haben.

Als ich ins Glückliche Skelett kam, war Melifaro noch nicht da. Das fand ich seltsam, weil ich den flinken Mann schon beim Nachtisch erwartet hatte. Ich musterte noch mal die Gäste, entdeckte ihn aber nicht. Also setzte ich mich an einen freien Tisch und behielt die Tür im Auge.

Nach einer halben Stunde erschien mein Kollege in Begleitung von Rulen Bagdasys, der diesmal eine orangefarbene Hose und eine überdimensionierte Mütze trug. Unter einer dicken Puderschicht waren zwei blaue Flecke zu erkennen. Ich war erleichtert, die beiden zu sehen, und winkte ihnen zu.

»Ich hätte nicht gedacht, dass du dich verspätest«, sagte ich gönnerhaft. »Du machst wirklich Fortschritte.«

»Ich hatte einen kompetenten Helfer«, meinte Melifaro sarkastisch. »Rulen musste erst die passende Hose aussuchen und an seinem Gesicht arbeiten. Hast du schon gegessen?«

»Ja, aber ich kann problemlos noch was verdrücken.«

Wir studierten die Speisekarte. Rulen Bagdasys murmelte etwas Unverständliches. Ich vermutete, Melifaro hatte ihn vor dem Verlassen des Hauses dazu vergattert, gewisse Benimmregeln einzuhalten. Ich traute mich nicht, ihn nach dem zweiten blauen Fleck zu fragen. Womöglich hatte er ihn meinem Kollegen zu verdanken.

»Und? Worauf hast du Lust, mein Armer?«, fragte ich ihn.

»Was habt ihr hier bloß für ein schreckliches Publikum«, murmelte der Mann aus Isamon. »Ich sehe hier nur eklige Herren in noch ekelhafterer Damenbegleitung. Bei uns hätten solche Frauen nie eine Chance, unter die Haube zu kommen.«

»Schweig besser, mein Adonis«, sagte Melifaro lächelnd und wandte sich an mich: »Es ist immer das Gleiche mit ihm. Er hat sich mit ehrwürdigen Leuten unterhalten und gedacht, sie würden sich freuen, wenn er ihre Frauen anmacht. Sie haben natürlich die ihnen erwiesene Ehre nicht zu schätzen gewusst.«

»Du bist wirklich nicht zu bremsen, was?«, fragte ich Rulen erstaunt. »Habt ihr in Isamon etwa zu wenige Frauen?«

»Bist du noch bei Trost?«, rief Rulen. »Ich bin dort der heißeste Schürzenjäger!«

Ich erzählte Melifaro von unserem Besuch bei Hof und dem unerwarteten Erfolg von Kurusch, und er lachte wie verrückt. Auch Rulen Bagdasys vergaß kurzzeitig seine sexuellen Probleme und lauschte mit geöffnetem Mund. Als er die Worte König, Hof und Höflinge hörte, schwand seine Sprachlosigkeit schnell. Er war so aufgeregt, dass er mit dem Dschubatinischen Säufer etwas übertrieb. Ich vermutete schon, dass wir den Besuch im Stadtteil Rendezvous auf ein anderes Mal würden verschieben müssen. Rulen saß müde über seinen Teller gebeugt, doch als die Rechnung kam, wurde er wieder munter.

»Und jetzt ran an die Weiber!«, schrie er so laut, dass andere Gäste interessiert zu uns herübersahen. Melifaro verzog angewidert das Gesicht.

»Du bist nicht in Form, mein Freund. Ich glaube, Schlaf würde dir jetzt guttun.«

»Was soll das denn heißen? Du hast mir schon lange versprochen, mit mir in den Stadtteil Rendezvous zu gehen. Jetzt mach das gefälligst endlich!«

Ich sah meinen Kollegen an und fragte: »Was meinst du? Was sollen wir tun?«

»Ziehen wir los. Es wird bestimmt spaßig.«

Der Weg in den Stadtteil Rendezvous dauerte zehn Minuten. Melifaro flüsterte Rulen die ganze Zeit etwas ins Ohr, aber ich mischte mich nicht ein.

Wir blieben vor einem Haus für suchende Männer stehen. Irgendwie konnte ich mir Rulen Bagdasys in dieser Rolle nicht vorstellen.

»Na los«, sagte Melifaro und schubste ihn ein wenig. »Oder weißt du nicht mehr, was du dort zu tun hast?«

»Was? Ich vergesse nie, was man mir gesagt hat«, rief der Mann aus Isamon. »Heute gehören alle Frauen mir! Kommt ihr denn nicht mit?«

»Leider müssen wir ausgerechnet heute noch arbeiten«, sagte Melifaro.

»Ich wusste ja, dass ihr total verrückt seid. Was kann man um diese Zeit noch arbeiten?«, fragte er, winkte aber im nächsten Moment ab. Offenbar wollte er seine kostbare Zeit nicht verlieren. Stattdessen rückte er die Mütze zurecht und trat abenteuerlustig ins Haus.

»Komm, lass uns um die Ecke gehen«, schlug Melifaro vor. »Wir werden gleich Zeugen eines der größten Skandale in der Geschichte des Vereinigten Königreichs.«

»Ganz deiner Meinung«, kicherte ich. »Was hast du ihm überhaupt erzählt?«

»Eigentlich nur die Wahrheit. Ich hab ihm gesagt, er soll ins Haus gehen und eine Nummer ziehen. Aber ich hab ihm erzählt, die gezogene Zahl bestimme, mit wie vielen Frauen er die Nacht verbringen müsse. Stell dir vor, er zieht die 78!«

»Und wenn er eine Niete zieht?«, fragte ich grinsend.

»Dann tobt er sicher so laut, dass die ganze Stadt aufwacht.«

»Stimmt. Aber findest du nicht, dass du ihm einen schlechten Dienst erwiesen hast?«

»Ich bitte dich!«, rief Melifaro empört. »Seit wann bist du so gefühlsduselig? Und wie soll man jemanden behandeln, der ständig das Wort Weiber benutzt und sich obendrein gezwungen fühlt, laufend Frauen anzubaggern?«

»Ich fürchte, ich muss dich gleich verhaften - als Anstifter zu einer öffentlichen Ruhestörung«, sagte ich versonnen. Dann musste ich lachen, weil wir gerade die ersten empörten Schreie hörten.

»Es geht los«, flüsterte Melifaro begeistert. »Sündige Magister, es geht los!«

»Auf jeden Fall wird keine Frau sich entschließen, eine Nacht mit ihm zu verbringen.«

In diesem Moment ging die Tür des Hauses für suchende Männer auf, und ein empörter Gast aus Isamon flog auf die Straße. Seine orangefarbene Hose schimmerte im Licht der Straßenlaterne, und seine Mütze saß erstaunlicherweise so tadellos wie angeklebt.

»Du Missgeburt! Ich komm zurück und zeig's dir!«, rief er empört. »Ich zeig's euch allen! Ich hab Beziehungen zum Hof!«

»Seine Beziehung zum Hof bist du«, meinte Melifaro und zwinkerte mir zu. »Du bist jetzt seine ganze Hoffnung.«

»Wenn du dich nicht gleich beruhigst, alarmiere ich die Polizei«, hörten wir eine Stimme, die offenbar dem Wirt des Etablissements gehörte. »Sei den Dunklen Magistern dankbar, dass du hier fremd bist. Sonst hätte ich dir nicht erlaubt, nach dem, was du hier angerichtet hast, nach Hause zu gehen.«

»Komm, gehen wir, Nachtantlitz«, flüsterte mir Melifaro zu. »Aber leise. Ich hab diesen Mann restlos satt. Kann ich vielleicht bei dir übernachten?«

»Natürlich.«

»Weißt du«, seufzte Melifaro, »er weckt mich nachts und erzählt mir unsinnige Geschichten aus seiner Jugend, schmatzt beim Frühstück und überhaupt ... Dann fahre ich jetzt also zu dir? Du musst sowieso ins Haus an der Brücke.«

»Was? Willst du nicht nur mein Bett, sondern auch mein A-Mobil mit Beschlag belegen?«

»Als Hellseher taugst du wirklich nicht. Ich nehme den Dienstwagen. Schließlich muss ich meine Privilegien nutzen.«

Als wir das Haus an der Brücke erreichten, warf Melifaro sich auf die Rückbank seines Dienstwagens. Der verschlafene Fahrer versuchte, einen munteren Gesichtsausdruck zu machen.

»Füttere bitte meine Katzen!«, rief ich Melifaro nach.

»Ich kämme sie obendrein!«, rief er amüsiert zurück. »Keine Sorge, ich bin ein echter Junge vom Dorf und habe keine Scheu vor Tieren.«

Ich sah im Fressfass vorbei, um Piroggen für den wunderbaren Buriwuch zu erstehen, und ging ins Haus an der Brücke, wo ich noch ein wenig in meinem Sessel dösen wollte.

Überraschenderweise schlief dort schon Sir Kofa, unser Meister des Verhörs. Das war ziemlich seltsam, da er um diese Zeit üblicherweise durch die Wirtshäuser von Echo zog.

»Ach!«, rief ich begeistert. »Haben wir die Rollen getauscht? Zieh ich jetzt in der Stadt herum, und du langweilst dich im Haus an der Brücke?«

»Ich bin eigentlich gekommen, um mit unserem klugen Vogel über die Leute aus Arwaroch zu sprechen«, sagte Kofa und gähnte. »Alle reden nur darüber, und das interessiert mich. Außerdem nehme ich an, dass wir den entlaufenen Mudlach suchen müssen. Es ist also besser, sich rechtzeitig zu informieren.«

»Möchtest du etwas Kachar-Balsam?«, schlug ich vor. »Ich hab dich noch nie so müde gesehen. Dabei war es in den letzten Tagen ziemlich ruhig.«

»Stimmt«, meinte Sir Kofa. »Das sind nur meine familiären Probleme. Mach dir nichts draus. Aber Kachar-Balsam würde ich tatsächlich gern trinken.«

»Kann ich dir vielleicht helfen?«, fragte ich und suchte dabei im Schreibtisch nach dem Wundermittel. Ich hatte gedacht, nur ich hätte persönliche Probleme.

»Du?«, fragte Sir Kofa lachend. »Nein, du kannst mir nicht helfen. Vergiss den ganzen Quatsch am besten.«

»Warum hast du eigentlich gerade diesen grässlichen Kerl erwähnt?«

»Du meinst Mudlach?«, fragte Sir Kofa. »Ich glaube, wir müssen den tapferen, aber nicht immer aufrichtigen Schönlingen bei der Suche helfen.«

»Das wird sicher leicht. Soweit ich weiß, unterscheiden sich die Leute aus Arwaroch deutlich von den Bewohnern des Vereinigten Königreichs.«

»Da hast du natürlich Recht. Aber du weißt doch, dass ich mein Äußeres und das meiner Mitmenschen ändern kann. In Echo gibt es noch andere Spezialisten, die diese Kunst beherrschen. Mudlach hat bestimmt bei einem von ihnen Hilfe gesucht. Außerdem leben hier viele Flüchtlinge aus Arwaroch.«

»Wirklich?«, fragte ich erstaunt. »Ich hab noch keinen gesehen.«

»Das hast du bestimmt, doch sie riskieren es natürlich nicht, mit ihrem früheren Aussehen durch die Straßen zu ziehen. Glaub mir aber: Ich bin nicht der Einzige in Echo, der die Kunst der Verwandlung beherrscht.«

»Kann man eigentlich herausfinden, ob das Gesicht eines Menschen echt ist oder nicht?«

»Vielleicht«, sagte Sir Kofa. »Aber niemand weiß, wie. Nach dem Gespräch mit Kurusch ist mir klar, dass wir einen anderen Weg gehen müssen. Jeder Buriwuch kann die Bewohner von Arwaroch hundertprozentig erkennen -egal, wie sie aussehen.«

»Toll«, meinte ich, erinnerte mich der Piroggen und legte sie dem dösenden Kurusch hin. Besser spät als nie.

»Ich dachte schon, du hättest sie vergessen«, murmelte der Vogel. »Die Menschen haben die Neigung, ihre Versprechen zu vergessen.«

»So was ist mir hier noch nie passiert.«

»Doch, doch - am achten Tag des 116. Jahres. Aber wie ich zugeben muss, war das bisher das einzige Mal.«

Sir Kofa hörte uns begeistert zu und sagte dann: »Na gut, ich mach jetzt einen Spaziergang durchs nächtliche Echo. Dank euch beiden bin ich wieder topfit. Und du, Max, solltest dir einen Vorrat dieses wunderbaren Balsams zulegen. Uns steht einiges bevor.«

»Ihr erschreckt mich alle«, meinte ich lächelnd. »Zuerst hat Juffin mir geraten, mich noch etwas zu erholen, bevor es ernst wird, und nun sagst du, ich soll Kachar-Balsam bunkern.«

»Na ja, immer wenn ich das Wort Arwaroch höre, will sich mir der Magen umdrehen. Und wenn diese Schönlinge zu uns kommen, ist das Leben in Echo um einiges turbulenter.«

Nach dieser erschreckenden Prophezeiung schlief ich in meinem Sessel ein. Ich zog nicht mal den Todesmantel aus. Vielleicht würde ich ihn ja bald brauchen.

Sir Juffin weckte mich. Seine Morgenfrische erschien mir abstoßend. Ich wollte die Schublade mit dem Kachar-Balsam öffnen, doch Juffin lachte nur und hielt meine Hand fest.

»Geh nach Hause und schlaf ein bisschen. Du kannst gegen Mittag zurückkommen. Im Moment gibt es ohnehin wenig zu tun. Die Leute aus Arwaroch kommen erst am späten Nachmittag. Du hast also Glück.«

Zu Hause stieß ich auf Melifaro, der so verschlafen und mies gelaunt war wie ich. Es ging ihm noch schlechter als mir, weil er zum Dienst musste. Wir hatten nicht mal die Kraft, uns guten Tag zu sagen.

Wortlos ging ich ins Schlafzimmer hinauf.

Kurz vor zwölf wurde ich langsam wach und brummelte im Halbschlaf vor mich hin: »Jetzt sieht die Welt wieder ganz anders aus.« Ich finde, man sollte möglichst lange und tief schlafen und so spät wie möglich aufstehen. Wieder spürte ich Sympathie für die Leute aus Arwaroch, die auch in dieser Hinsicht meine Meinung teilten.

Zeitgleich mit dem ehrwürdigen Alotho erreichte ich das Haus an der Brücke und betrat den Saal der allgemeinen Arbeit ein paar Sekunden vor ihm, da ich den Geheimeingang benutzt hatte. All unsere Mitarbeiter waren schon versammelt. Sogar Sir Lukfi Penz hatte sein Großes Archiv verlassen. Offenbar brannte auch er vor Neugier.

»Ich verstehe nicht, wie man wegen eines Traums so lange im Bett bleiben kann«, begrüßte mich Juffin freundlich. »Du hast dir nicht mal die Zeit genommen zu frühstücken.«

»Stimmt. Das hab ich nicht geschafft. Und leider war mein Traum nur durchschnittlich.«

Die Tür öffnete sich, und Alotho Aliroch erschien. Auf dem Rücken trug er das spinnenartige Wesen. Begeistert musterte er den Buriwuch und fiel dann vor ihm auf die Knie.

Meine Kollegen waren baff. Sogar der so unerschütterliche Lonely-Lokely sah sich das Ganze mit Interesse an, obwohl ich ihm am Vortag davon erzählt hatte. Bestimmt hatte er gedacht, ich würde scherzen.

»Steh auf, mein Sohn«, sagte Kurusch. »Ich befreie dich hiermit von der Pflicht, ständig vor mir auf die Knie zu fallen. Eine herzliche Begrüßung reicht mir schon.«

»Vielen Dank für dieses Privileg, o Buriwuch!«, sagte Alotho. »Ich werde es meinen Titeln hinzufügen.«

Dann musterte der Mann aus Arwaroch unsere Truppe. Als er Lady Melamori entdeckte, schienen seine Augen verdächtig interessiert. Ich dachte schon, er würde erneut auf die Knie fallen, doch er zwinkerte unserer Verfolgungsmeisterin nur zu, was er bisher noch nie getan hatte.

Dann stellte sich der Mann aus Arwaroch auf seine wie üblich zeitraubende Weise vor.

»Jetzt müssen wir uns etwas stärken«, sagte Juffin, als diese Nummer überstanden war.

Gleich erschien ein Bote aus dem Fressfass mit den ersten Krügen Kamra. Die Leute, die Tabletts mit Gebäck ins Zimmer trugen, musterten unseren auffälligen Gast verstohlen, doch der merkte nichts, weil er erst Kurusch, dann Lady Melamori ansah.

»Du hast dich positiv verändert«, flüsterte mir Lonely-Lokley zu. »Du bist umgänglicher geworden.«

»Und wie! Seitdem ich König bin, lebe ich viel einfacher und sorgloser.«

»König? Du?«, fragte Schürf. »Soll das ein Witz sein?«

»Es ist die Wahrheit, aber das bereden wir ein andermal«, sagte ich und wandte mich wieder Juffin zu. »Wann wollen Sie eigentlich meinen Untertanen Dschimach wieder freilassen?«

»Ach, den hab ich ganz vergessen. Entschuldige bitte«, sagte mein Chef verlegen. »Das mach ich heute. Keine Sorge.«

»Gut. Sonst müsste ich dem Vereinigten Königreich den Krieg erklären.«

»Seltsamerweise spricht in der Stadt kein Mensch über deine Karriere als König«, sagte Sir Kofa und musterte mich skeptisch.

»Tja, meine Landsleute können eben ein Geheimnis bewahren.«

Während wir uns unterhielten, aß Alotho Aliroch. Er war so ins Kauen vertieft, dass alles andere für ihn keine Rolle spielte. Später erfuhr ich, dass es typisch für die Leute aus Arwaroch ist, sich nur auf eine Sache zu konzentrieren.

Als Alotho mit dem Essen fertig war, strich er die Krümel zusammen und gab sie seinem spinnenartigen Freund.

»Ihr wollt uns also helfen, Mudlach zu suchen?«, fragte Alotho plötzlich Sir Juffin. »Euer König hat uns gesagt, wir sollen Euch um Hilfe bitten. Ich weiß allerdings nicht, warum, denn das können wir auch allein schaffen.«

»Natürlich könnt Ihr das, aber Ihr kennt Euch in Echo kaum aus, und die Sitten und Tricks der Hauptstadtbewohner sind Euch auch nicht geläufig. Wenn Ihr auf eigene Faust handelt, verliert Ihr viel Zeit. Würdet Ihr den Entlaufenen eigentlich erkennen, wenn er sein Aussehen verändert hätte?«

»Ich verstehe nicht, was Ihr meint«, antwortete Alotho trocken.

»Sir Kofa, zeigen Sie es ihm bitte«, meinte Juffin.

Kofa Joch fuhr sich mit den Händen übers Gesicht, und schon sahen wir einen Jungen mit Stupsnase und Segelohren. Er hatte wohl mit Absicht ein hässliches Gesicht gewählt, um möglichst klar zu veranschaulichen, worum es Sir Juffin ging.

Der Mann aus Arwaroch musterte das neue Gesicht von Sir Kofa schockiert.

»Ihr seid ein großer Künstler«, flüsterte er schließlich. »Mudlach kann das bestimmt nicht.«

»Mudlach vielleicht nicht, aber andere. Passt gut auf!«, meinte Kofa, wandte sich Lady Melamori zu, die neben ihm saß, und ging auch ihr mit den Händen durchs Gesicht. Nun saß eine ältere Lady mit großer Nase und Knopfaugen vor uns.

Alle lachten. Melamori zog einen Spiegel aus dem Lochimantel und betrachtete sich. Dann drohte sie Sir Kofa mit ihrer kleinen Faust.

»Jetzt versteht Ihr vermutlich, dass der entlaufene Mudlach nur den Richtigen finden muss, um sich in einen anderen zu verwandeln. Und von solchen Verwandlungskünstlern gibt es in Echo genug.«

»Wenn Ihr so ein Genie seid, gebt der Frau ihr früheres Gesicht zurück. Es war viel schöner«, erklärte Alotho.

»Ihr bringt alles durcheinander«, sagte Melifaro. »Das hier ist ihr echtes Gesicht. Der Kopf, den sie früher hatte, war nur für den Dienstgebrauch.«

»Wirklich?«, fragte Alotho und schien sehr erschrocken.

»Er lügt«, bemerkte Lady Melamori lakonisch. »Sir Kofa, Schluss mit den Fisimatenten.«

»Und wenn ich Ihre Verwandlung nicht rückgängig mache?«, fragte Kofa listig. »Na, Verfolgungsmeisterin? Erschrocken?«

»Überhaupt nicht. Es ist nur viel leichter, jung und schön zu sein als alt und hässlich, finden Sie nicht?« Dann wandte sie sich an Alotho: »Melifaro lügt immer. Glaubt nie, was er sagt.«

Der Mann aus Arwaroch schaute sich verwirrt um.

Kurusch flatterte von Sir Juffins Stuhllehne, auf der er die ganze Zeit gesessen hatte, und flog auf Alothos Lehne.

»Hier in Echo lügen die Leute häufig. Daran wirst du dich noch gewöhnen«, sagte der Vogel. »Manchmal tun sie es, um ein wenig zu lachen, mitunter aber einfach nur, weil ihnen danach ist. Du solltest dem keine Aufmerksamkeit schenken. Niemand hier hat dich oder Lady Melamori beleidigen wollen.«

Kurusch flog wieder zu Sir Juffin zurück, und der Mann aus Arwaroch nickte.

»Sir Aliroch«, begann Juffin, »sagt mir bitte, vor wie vielen Jahren der Grässliche Mudlach Arwaroch verlassen hat. Ich wüsste gern, seit wann er sich in Echo aufhalten könnte.«

»Vor siebzehneinhalb Jahren ist er abgereist«, antwortete der Gast. »Die Fahrt übers Meer dauert etwa ein halbes Jahr. Er könnte also vor etwa siebzehn Jahren hier angekommen sein. Tut mir leid, aber eine genauere Antwort kann ich Euch nicht geben.«

»Das reicht mir vollkommen«, beruhigte ihn Juffin.

»Und Ihr habt so lange gewartet hierherzukommen und ihn zu suchen?«, fragte Lady Melamori erstaunt.

»Ja«, antwortete Alotho. »Ich habe auf einen Tag warten müssen, der sich besonders gut dazu eignet, meine Reise zu beginnen. Anders als ich musste Mudlach unser Land überstürzt verlassen und hatte keine Zeit mehr, einen Schamanen nach seiner Zukunft zu befragen. Deshalb nehme ich an, dass wir ihn schnell finden. Eine so unglückliche Reise kann nicht gut enden.«

»Schön«, sagte Juffin. »Kommen wir endlich zur Sache. Wie es aussieht, sind Eure Erfolgsaussichten nicht gerade groß. In dieser Situation sollten wir als Kleiner Geheimer Suchtrupp aus eigener Initiative handeln. Seht Ihr das auch so?«

»Ja«, sagte Alotho seufzend. »Ich kann nicht die ganze Zeit in der Ecke sitzen und darauf warten, dass wir zufällig auf Mudlach stoßen. Lieber würde ich mich umbringen.«

»Das lasst mal hübsch bleiben«, meinte Juffin kopfschüttelnd. »Ordnet lieber an, dass Eure Soldaten an den Stadttoren Position beziehen und sich alle Passanten ansehen. Mudlach hat sein Äußeres bestimmt verändert, aber Eure Leute werden schon etwas Verdächtiges bemerken.

Sir Kofa zeigt Euch den Weg. Wir vom Kleinen Geheimen Suchtrupp erarbeiten unterdessen einen Plan.«

»Hör immer schön auf deinen Begleiter«, meinte Kurusch zu Alotho. »Das ist wirklich ein kluger Mensch.«

»Vielen Dank, mein Lieber«, sagte Sir Kofa lächelnd und streichelte den Buriwuch.

Dann strich er sich durchs Gesicht und verwandelte sich in einen jungen Adonis mit bernsteinfarbenen Augen. Als Alotho Aliroch das sah, fiel ihm die Kinnlade runter.

Kaum hatte sich die Tür hinter Kofa und Alotho geschlossen, begann Juffin, Befehle zu erteilen.

»Melifaro, wir brauchen die Unterstützung der besten Leute von der Stadtpolizei. Geh also in deren Trakt rüber und hol die Favoriten, die auf unserer internen Liste stehen. Und du, Max, gehst mit, nimmst dir aber Bubuta Boch vor. Der General ist neidisch auf mich und könnte sich querstellen, weil wir noch keine schriftliche Anweisung des Königs bekommen haben. Es wäre kein Wunder, wenn er ein paar Denunziationen abschicken würde, in denen er unserer Behörde Schlamperei nachsagt. Der Kampf gegen Bubuta ist sehr amüsant, aber wir haben jetzt keine Zeit dafür. Und da er dich sehr mag, bist du der geeignete Mann, ihm ein Stillhalten abzuhandeln.«

»Ja, der General und ich sind verwandte Seelen. Außerdem erwartet er bestimmt das von mir versprochene Geschenk.«

»Meinst du deine Zigarren?«, fragte Melifaro angeregt.

»Ja«, seufzte ich. »Ich schau mal, was sich in dieser Hinsicht machen lässt.«

Ich schob die Hände unter den Tisch und versuchte, die Ritze zwischen den Welten zu finden, die eine unerschöpfliche Quelle von exotischen Leckereien und überflüssigem Krimskrams war. Gleich spürte ich etwas in der Hand, hatte meinen Trick also noch nicht verlernt.

Nach ein paar Sekunden zog ich vorsichtig einen kleinen Regenschirm unterm Tisch hervor. Warum nur zog ich aus der Ritze zwischen den Welten vor allem Regenschirme!? Meine Kollegen starrten mich gebannt an. Auch in Sir Juffins Augen stand ein gewisses Interesse. Ich stöhnte und versuchte es aufs Neue.

Diesmal arbeitete ich wirklich konzentriert. Ich dachte an Zigarren und ihre Raucher: an Männer mittleren Alters mit grauen Schläfen, die sich bequem in einem Ledersessel räkeln und die Welt von der unerreichbaren Höhe ihres Kontostands herablassend betrachten.

Dann wandte ich mich vom klassischen Bild des Zigarrenrauchers ab und dachte an die Mitglieder des Aufsichtsrats jener Firma, in der ich noch vor ein paar Jahren gearbeitet hatte. Sofort hatte ich diese glatt rasierten, ungemein unsympathischen Typen vor Augen, die fast in meinem Alter waren. Sie saßen in ihren teuren Anzügen da, rauchten nach einem Geschäftsessen Zigarren und schauten zu, wie ein Mitarbeiter ihres Hauses Kaffee und Cognac servierte. Auf vielen Gesichtern bemerkte ich Pickel, und diese Entdeckung freute mich sehr.

»Max, übertreib bitte nicht! Wo hast du das alles gefunden?«, fragte mich Sir Juffin und rüttelte mich an der Schulter.

Er sah zwar zufrieden aus, aber auch verblüfft.

Ich sah mich verwirrt um. Dann zog ich meine Hände unter dem Tisch hervor. Eine prall gefüllte Zigarrenkiste fiel auf den Boden.

»Das ist ja verrückt«, sagte ich, lächelte diebisch und musterte die Kiste. »Ich hab ja geahnt, dass diese Bürohengste bei echten Havannas schlappmachen.«

Ehrfürchtig sah ich Juffin an. »Ich hab Glück! Ich wollte unbedingt an Zigarren kommen, nicht an Regenschirme.«

»Ja, du machst Fortschritte. Sir Maba wird begeistert sein. Er hat damit gerechnet, dass du mindestens zehn Jahre brauchst, um diesen Trick zu beherrschen.«

Alle sahen mich an wie ein exotisches Tier im Zoo: mit vorsichtiger Neugier und dem Hintergedanken, ob ich sie anfauchen würde oder mich füttern ließe.

»Woher kommen all die seltsamen Gegenstände unter dem Tisch?«, fragte Lukfi Penz. »Arbeitet unsere Putzkolonne wirklich so schlampig?«

Wie besprochen, gingen Melifaro und ich zur Stadtpolizei rüber. Durch Bubutas Tür hörte ich Gesprächsfetzen dringen. Ich klopfte.

»Du plauderst nun mit einem Seelenverwandten«, meinte Melifaro giftig, »und ich spreche mit intelligenten Menschen. Jedem Tierchen sein Pläsierchen.«

Er lächelte noch ein paar Sekunden und verschwand den Flur hinunter, um nach geeigneten Gesprächspartnern Ausschau zu halten.

Ich öffnete die Tür zu Bubutas Zimmer. Erstaunt stellte ich fest, dass er ganz allein in seinem Büro saß. Ich hatte gedacht, er würde jemanden mit seinem Gerede quälen.

»Verflixt, wer stiehlt sich da in mein Zimmer?«, rief er verärgert. Dann sah er mich und schlug erschrocken die Hand vor den Mund.

»Alles in Ordnung, Sir. Ich bin nur gekommen, um Ihre Laune zu bessern.«

»Sie, Sir Max? Glauben Sie wirklich, das schaffen Sie?«, fragte er erstaunt.

»Mal sehen«, meinte ich lächelnd und legte ihm die Zigarrenkiste auf den Schreibtisch. »Ich hab heute eine neue Lieferung aus dem Kalifat Kuman bekommen, von meiner Familie. Soweit ich mich erinnern kann, haben Ihnen diese Dinger ganz gut geschmeckt.«

»Und wie!«

Bubuta strahlte vor Dankbarkeit übers ganze Gesicht, nahm sofort eine Zigarre und drehte sie aufgeregt zwischen den Fingern.

»Sie haben mir schon wieder das Leben gerettet, Sir Max. Wie kann ich mich Ihnen nur erkenntlich erweisen?«

»Das dürfte kein Problem sein«, meinte ich. »Wir brauchen die Unterstützung Ihrer Mitarbeiter, und zwar schnell. Natürlich sind wir schon dabei, alle dazu erforderlichen Unterlagen zusammenzubekommen, doch das dauert mindestens zwei Tage, und so viel Zeit haben wir nicht. Wäre es möglich, dass Ihre Mitarbeiter schon ab heute mit uns kooperieren, und die Unterlagen werden nachgereicht?«

»Ach, vergessen Sie diesen bürokratischen Kram doch!«, rief Bubuta. »Welche Formalitäten könnte es zwischen Freunden geben, Sir Max? Sie können all meine Leute haben.«

»So viele brauchen wir auch wieder nicht. Und die Unterlagen bekommen Sie selbstverständlich demnächst. Sie haben also nichts dagegen?«

»Wie sollte ich die Bitte eines Menschen ablehnen, der mir gerade ein so wunderbares Geschenk gemacht hat und ...« Bubuta stockte und schwieg.

... und obendrein den Todesmantel trägt und bei jeder Gelegenheit giftig um sich spuckt, dachte ich belustigt.

Stattdessen sagte ich: »Vielen Dank, Sir!«, und verbeugte mich tief.

»Sir Max, mit Ihrem Geschenk haben Sie ein großes Loch in meinem Leben gestopft«, versuchte Bubuta seinen Seelenzustand zu beschreiben.

Gar keine schlechte Metapher, dachte ich belustigt.

Melifaro war noch nicht wieder im Büro, und Lukfi Penz war wieder ins Große Archiv gegangen, wohin er ohnehin gehörte. Lonely-Lokley betrachtete gedankenverloren die Runen auf seinen Handschuhen, und Lady Melamori tuschelte mit Juffin.

»Und was hat General Bubuta gesagt? Hat er Widerstand geleistet?«, fragte mein Chef gespannt.

»Ich glaube, er hätte selbst dann keinen Widerstand geleistet, wenn ich ihm eins auf die Zwölf gegeben hätte.«

»Von allem, was du so wundersam schnell gelernt hast, ist die Zähmung von General Bubuta das Unbegreiflichste. Du hast mich übertroffen, Max. Das hätte ich nie gedacht.«

Melamori lächelte verlegen, schaute an mir vorbei, stand auf und verließ das Büro. Ich wusste nicht, ob sie eine Aufgabe bekommen hatte oder einfach nur spazieren gehen wollte. Bei ihr konnte man nie wissen.

Als Sir Melifaro in Begleitung von zwölf Polizisten in den Saal der allgemeinen Arbeit gesprungen kam, schimmerte sein smaragdgrüner Lochimantel in der Sommersonne. Ich kannte einige Polizisten, doch andere Gesichter waren mir fremd.

»Leute, ich stelle euch jetzt mal vor. Das hier ist unser Hauptwunder«, sagte Melifaro ehrfürchtig und wies mit dem Zeigefinger auf mich. »Sir Juffin, das ist unser Polizeiteam, das unter der Leitung von Sir Tschekta Schach steht, dem großen Star in Bubutas Behörde.«

Ein nicht besonders großer, aber kräftig gebauter Mann sah Melifaro finster an, sagte aber nichts.

»Machen Sie sich nichts daraus, Tschekta. Sie arbeiten schließlich nicht das erste Mal mit Sir Melifaro zusammen und hatten genug Zeit, sich an seinen Ton zu gewöhnen«, meldete sich eine kühle Frauenstimme zu Wort.

Ich musterte die Besitzerin dieser Stimme, eine sympathische, hoch gewachsene Frau mit grauen Augen, die dem Schönheitsideal der griechischen Antike entsprach. Eigentlich hatte sie sogar mehr Eleganz als eine der Göttinnen von damals. Als sie mich sah, legte sie die Hand über die Augen und rief: »Sie sind es wirklich! Ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Mein Name ist Kekki Tuotli.«

Diese Frau besaß offenbar mehr Glamour als selbst König Gurig. Ich begrüßte sie nach allen Regeln der Kunst. Irgendwer musste ja versuchen, das schlechte Benehmen von Sir Melifaro wettzumachen.

Lady Kekki hörte mir geduldig zu, als ich mich ihr vorstellte, lachte dann freundlich und wandte sich ab. So ein Biest, dachte ich, begriff dann aber, dass sie sich schämte. Manche Leute schotten sich umso aggressiver ab, je mehr sie sich schämen. Ich fand das interessant und meldete mich per Stummer Rede bei ihr.

"Keine Sorge, ich fühle mich auch immer unwohl, wenn ich jemanden kennen lerne. Und nehmen Sie Melifaro nicht gleich alles übel. Ohne Leute wie ihn wäre die Welt langweilig.«

Lady Kekki sah mich erstaunt an und lächelte dann fast unmerklich. Ich fühlte mich erleichtert. Es macht einfach keinen Spaß, in gespannter Atmosphäre zu arbeiten.

»Auch ich freue mich, Sie kennen zu lernen. Mein Name ist Leutnant Apura Blaki«, sagte ein auffälliger Mann mittleren Alters in hellem, dandyhaftem Lochimantel. Er sah mich mit kaum verhohlener Neugier an und fuhr fort: »Lady Tuotli und ich wollten schon längst bei Ihnen vorbeigeschaut haben, um Ihre Bekanntschaft zu machen, aber ...«

»Sie hatte viel zu tun, ich weiß«, sagte ich taktvoll.

»Ja, sehr viel sogar«, rief der Leutnant begeistert und sah mich erfreut an.

»Also, Leute, damit ist der allgemeine Teil des Treffens beendet. Und jetzt ran an den Speck!«, mischte sich Juffin ein. »Melifaro, warum bist du eigentlich nicht im Zollamt?«

»Ich?«, fragte Melifaro baff. »Was soll ich denn da?«

»Kommst du nicht selbst darauf? Dieser Grässliche Mudlach ist vor siebzehn Jahren nach Echo gekommen, und ich bin mir sicher, dass die Jungs vom Zoll sich noch gut an ihn erinnern. Wenn dem wirklich so sein sollte, sag Melamori Bescheid, damit sie Mudlach auf die Spur tritt. Das ist besser, als planlos in der Gegend herumzusuchen.«

»Alles klar«, sagte Melifaro. »Ich gehe gleich zum Zoll und melde mich von unterwegs bei unserer Lady.«

»Na fein. Solange Melifaro mit dem Zöllner Nuli Karif und dem Gespenst des alten Tjuwin ein Glas Dschubatinischen Säufer trinkt, können wir in Ruhe an diesem Fall arbeiten.«

Nachdem sie von uns ausführliche Hinweise bekommen hatten, gingen die Polizisten ins Große Archiv und kehrten kurz darauf - ihren persönlichen Buriwuch auf der Schulter - zurück. Die Vögel waren etwas verwirrt: Einerseits brannten sie vor Neugier, andererseits aber gefiel es ihnen nicht, sich auf die neue Umgebung einzustellen, denn die meisten Buriwuche hatten seit über hundert Jahren das Archiv nicht verlassen.

»Bitte denken Sie daran, alle Tiere bis Sonnenuntergang zurückzubringen«, ermahnte Sir Lukfi Penz die Männer der Stadtpolizei. »Sonst bekommen Sie morgen mit uns Ärger.«

»Sie haben also nicht viel Zeit, meine Herren. Genießen Sie Ihren Vogelspaziergang darum in vollen Zügen. Und wer auf einen verwandelten Bewohner von Arwaroch stößt, bringt ihn bitte sofort her.«

»Ich kann mir schon vorstellen, welche Gerüchte jetzt in der Stadt umlaufen«, sagte ich seufzend. »Was meinen Sie? Schnappen wir diesen Mudlach oder nicht?«

»Natürlich schnappen wir ihn. Wir müssen die ganze Sache aber so einrichten, dass er sich furchtbar erschrickt und all die Leute aus Arwaroch mitnimmt, die sich im Laufe der Jahre bei uns eingeschlichen haben. Ich bezweifle zwar, dass uns das gelingen wird, aber vielleicht helfen uns auch diesmal die Dunklen Magister.«

»Gut, ich verstehe«, sagte ich nickend. »Und welche Rolle spiele ich in diesem Plan?«

»Du kannst jetzt etwas Geistvolles tun, zum Beispiel essen gehen.«

»Oha, das ist ein kniffliger Auftrag. Wenn ich da mal nicht versage!«

Nach vier Stunden tauchte Melifaro wieder auf. Er wirkte müde und ernst. In seiner Abwesenheit hatten Lonely-Lokley und ich genug Zeit gehabt, einen großen Krug Kamra zu leeren und über diverse philosophische Probleme zu reden, die sich im Laufe der Zeit angesammelt hatten. Sir Schürf meinte, das sollten wir endlich tun, doch ich fühlte mich wie ein Schmarotzer und Deserteur.

»Sieh mal an, da hocken die echten Profis!«, warf Melifaro uns giftig zu. »Die Herren Killer warten geduldig, bis ich ihnen ein neues Opfer zuführe. Ihr habt es hier wirklich idyllisch.«

»Tja, wir geben uns eben nicht mit Kleinigkeiten ab«, antwortete ich.

Lonely-Lokley schenkte Melifaro keinerlei Aufmerksamkeit, sondern genoss den Sonnenuntergang.

»Ich gehe jetzt zu Juffin. Soll er mir doch den Kopf abreißen! Ich hab die Nase voll!«, rief Melifaro theatralisch. »Ich weiß nicht, wie es den anderen ergangen ist, aber ich habe auf ganzer Linie versagt. Nuli Karif vom Zoll hat sich zwar vage an jemanden erinnert, hatte aber keine Einzelheiten mehr im Kopf. Und Melamori hat natürlich auch nichts gefunden. Kein Wunder - schließlich sind siebzehn Jahre vergangen. Aber sie hat wenigstens Glück und spaziert jetzt mit diesem Adonis und seiner Spinne durchs abendliche Echo. Und das ist auch gut so. Irgendwer muss schließlich auch mal glücklich sein.«

Melifaros Stimme klang erstaunlich verärgert. Selbst Sir Juffin steckte die Nase aus seinem Büro, um nach uns zu sehen.

»Nimm das alles nicht so ernst«, sagte er mitfühlend. »Ich hab sowieso nicht damit gerechnet, dass du gute Nachrichten bringst. Auch unsere braven Polizisten haben nichts ausrichten können. Von Alotho und seinen Mannen abgesehen, haben die Buriwuche in Echo niemanden gefunden, der aus Arwaroch stammt. Morgen müssen sie die Suche von neuem beginnen. Hat vielleicht jemand eine Idee, wo wir sonst noch suchen können?«

»Das dürfte am ehesten Sir Kofa wissen«, sagte ich. »Außerdem kennt er alle Fachleute für Gesichtsumwandlungen. Vielleicht sollten wir dort mit der Suche beginnen.«

»Daran habe ich bereits gedacht«, sagte Juffin. »Sir Kofa beschäftigt sich schon damit. Ich hoffe, er kommt bald mit guten Nachrichten zu uns. Wer hätte gedacht, dass es so schwierig wäre, in Echo jemanden aus Arwaroch aufzutreiben!«

Schließlich gingen alle schlafen. Nur Kurusch und ich blieben im Haus an der Brücke. Melifaro hatte mich ein weiteres Mal gebeten, bei mir übernachten zu dürfen, da er noch immer nicht imstande war, die Gesellschaft von Rulen Bagdasys zu ertragen.

»Ich verprügele ihn irgendwann«, meinte Melifaro müde. »Wenn ich im Beruf Probleme habe, verliere ich meinen Humor.«

In der Nacht hatte ich irgendwann keine Lust mehr, im Sessel zu sitzen, und ging spazieren. Ich lief einige Zeit ziellos vor mich hin. Die bunten Mosaikgehsteige schimmerten in der Dunkelheit, und die Gesichter der wenigen Passanten wirkten im orangefarbenen Licht der Straßenlaternen wie mit einer Aura von Geheimnis umgeben. Ein kühler Wind wehte vom Churon her durch die Gassen der Altstadt. Erstaunlicherweise hatten er und ich den gleichen Weg.

An diesem Abend fühlte ich mich in Echo sehr wohl. Im Gegensatz zum armen Melifaro war meine Stimmung so blendend, dass es mich geradezu beunruhigte.

Ich gelangte auf den Platz der Siege von König Gurig VII. Eigentlich wollte ich schon umdrehen, sah dann aber in einem Straßencafe eine hoch gewachsene Gestalt sitzen, die mir bekannt vorkam. Ich ging ein paar Schritte näher. Kein Zweifel - dort saß Alotho Aliroch. Ich wollte mich ihm eigentlich noch weiter nähern, weil Juffin uns am Vortag darum gebeten hatte, den Besuchern aus Arwaroch besonderen Schutz angedeihen zu lassen, doch dann stellte ich fest, dass Alotho schon einen Beschützer hatte: Lady Melamori hing weiterhin an diesem Cafe. Das war mir unbegreiflich.

Ich lächelte in mich hinein und kehrte zum Haus an der Brücke zurück. Unterwegs versuchte ich mich zu ärgern oder wenigstens zu staunen - vergeblich. Von Anfang an war mir klar gewesen, dass Melamori einen Adonis wie Alotho nur zu sehen brauchte, um seine Gesellschaft zu suchen.

Ich versuchte mir vorzustellen, als Frau geboren worden zu sein. Dann wäre dieser Alotho eine echte Sahneschnitte für mich. Mal sehen, wie weit sich das noch entwickelte.

Ehrlich gesagt, erkannte ich mich kaum wieder. Ich hätte toben und auf die ganze Welt schimpfen sollen, wie ich es in solchen Situationen bisher immer getan hatte. Aber in letzter Zeit hatte ich viele seltsame Dinge erlebt und mich verändert.

In bester Laune kam ich ins Haus an der Brücke. Kurusch bekam drei Piroggen und staunte über meine Großzügigkeit. Na ja, eigentlich lassen sich dem Gesicht eines Buriwuchs keine Gefühle entnehmen.

Am nächsten Morgen kam Juffin wieder ins Büro und erlaubte mir generös, nach Hause zu gehen, um mich zu erholen.

Bei Sonnenuntergang kehrte ich ins Haus an der Brücke zurück und traf im Saal der allgemeinen Arbeit nur einen einzigen Kollegen, Lonely-Lokley nämlich. Wir waren unbeschäftigt, denn auch ohne uns gab es im Kleinen Geheimen Suchtrupp Killer genug. Obendrein warteten hundert Scharfzähne nur darauf, Mudlach zu erwischen, der allerdings nicht nur grässlich, sondern vor allem unauffindbar war.

»Lady Tuotli und der Buriwuch, der sie begleitet, haben jemanden gefunden, der aus Arwaroch entlaufen ist. Sie kommen gleich mit ihrer Beute.«

»Toll«, sagte ich lächelnd. »Endlich kommt Bewegung in diesen dümpelnden Fall. Diese Lady Tuotli ist offenbar nicht nur begabt, sondern obendrein ein Glückspilz, was?«

»Schätzungsweise ja«, meinte Lonely-Lokley. »Findest du sie nicht seltsam?«

»Ich weiß nicht. Ich kenne sie erst seit gestern. Anfangs fand ich sie schrecklich, aber dann hab ich festgestellt, dass sie sich einfach schämt. Lustig, oder?«

»Die und sich schämen? Wie kommst du denn darauf?«

»Das hab ich irgendwie gespürt. Ich finde, es ist kaum zu übersehen.«

»Na ja, solltest du Recht haben, wäre alles halb so schlimm.«

»Halb so schlimm? Wie meinst du das?« Nun war ich mit dem Staunen an der Reihe.

»Ich meine ihre Schrecklichkeit, von der du eben selbst gesprochen hast. Treffender lässt sich das kaum bezeichnen.«

»Hat sie dich etwa beleidigt? Dann könnte ich deine Antipathie besser verstehen.«

»Beleidigt hat sie mich eigentlich nicht, obwohl ... Ach, Max, mich hat seit langem niemand mehr beleidigt. Deshalb war ich zunächst verwirrt.«

»Du und verwirrt? Das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Versuch es trotzdem.«

»Ist Sir Juffin in seinem Büro?«, fragte unsere grauäugige Amazone und kam forschen Schrittes in den Saal der allgemeinen Arbeit. Ihr folgte ein gesund aussehender älterer Mann. Nur seine Größe und sein athletischer Körperbau ließen vermuten, dass er aus Arwaroch entlaufen war. Sein Gesicht war völlig durchschnittlich. Einen wie ihn konnte man in jedem Wirtshaus von Echo treffen. Der Unbekannte blieb angenehm unbeeindruckt.

»Natürlich ist er in seinem Büro. Er wartet schon gespannt auf Sie«, sagte ich freundlich.

Die strenge Lady lächelte nur mit den Mundwinkeln. Allem Anschein nach hatte sie jede Herzlichkeit vergessen.

Juffin meldete sich per Stummer Rede bei mir und beendete so unseren Austausch von Höflichkeiten.

»Gut, dass du endlich wieder da bist, Max. Ich dachte schon, du würdest wieder ein ganzes Jahr schlafen. Komm sofort mit Lady Kekki und ihrem Fang zu mir.«

Schuldbewusst wandte ich mich an Schürf und zuckte verlegen die Achseln, um ihm zu zeigen, dass ich ihn nicht aus eigenem Antrieb verließ. Doch das war überflüssig: Schürf hatte sich bereits in ein Buch vertieft. Ich sah mir das Cover an. Sündige Magister! Er las einen Wälzer mit dem Titel »Pendler der Unsterblichkeit«. Erstaunt schüttelte ich den Kopf, hatte aber keine Zeit, mir Gedanken zu machen, woher dieser eigenartige Titel kommen mochte und ob er einer seltsamen poetischen Vorliebe des Autors zu verdanken war. Der hiesigen Literatur war alles zuzutrauen, und es hatte keinen Sinn, sich darüber den Kopf zu zerbrechen.

Ich folgte Lady Tuotli und ihrem Fang in Juffins Büro und vernahm den üblichen Ausruf »Großer Buriwuch!« und den dumpfen Schlag, mit dem eine Stirn den Boden berührt. Als ich das Büro betrat, stand der Mann aus Arwaroch allerdings schon wieder.

Lady Tuotli wandte sich zum Gehen. Juffin war offenbar der Ansicht, ihre Mission sei beendet. Sie bemühte sich, Desinteresse am Geschehen zu heucheln, und ich hatte Mitleid mit ihr. Es ist toll, sich zu entspannen, wenn man gute Arbeit geleistet hat, aber mitten in einem Fall fortgeschickt zu werden ist furchtbar.

»Ich bin Naltich Ajimirik«, stellte sich der alte Mann vor, »und habe in meinem Leben nichts Besonderes geleistet.«

Ich war begeistert. Über die eigene Nichtigkeit so lässig zu reden ist eine Kunst.

»Warum haben Sie Arwaroch verlassen?«, fragte Juffin interessiert.

»Ich habe keine Lust, über meine Vergangenheit zu reden«, antwortete der alte Mann ruhig. »Aber ich gebe Ihnen mein Ehrenwort: Ich bin nicht der, den Sie suchen. Mich sucht niemand, weil es kein Verdienst wäre, einen machtlosen Menschen zu besiegen.«

»Daran zweifle ich nicht«, sagte Juffin ebenso ruhig. »Zu den Magistern mit Ihrer Vergangenheit. Erzählen Sie mir lieber, ob Sie den alten Mudlach gekannt haben.«

»Ich war vor vielen Jahren sein Schamane, aber irgendwann hat mich das magische Vermögen verlassen.«

»Das kann passieren«, sagte Kurusch kennerisch. »So was geschieht sogar oft, doch die Leute aus Arwaroch halten das für ein großes Unglück. Ein Schamane, der seine Kraft verloren hat, muss auswandern, damit sein Unglück nicht in Arwaroch bleibt - je weiter, desto besser. So lautet das Gesetz.«

»Traurige Sache«, meinte Juffin nickend. »Aber mich interessiert noch etwas anderes. Sagen Sie, Naltich Ajimirik, sind Sie Mudlach in Echo begegnet?«

»Ja, ihm und seinen Leuten. Sie sind vor siebzehn Jahren hierhergekommen. Damals hab ich im Zollamt von Echo gearbeitet und gut verdient. Also brauchte ich mich um keine weitere Stelle zu kümmern.«

»Sehr gut«, sagte Juffin und schien zufrieden. »Wissen Sie vielleicht, wo Mudlach sich jetzt aufhält?«

»Nein. Er hat sich ein neues Gesicht zugelegt - genau wie ich. Er will nicht gefunden werden und hat sich deshalb von mir verabschiedet, ehe er sein Äußeres hat verändern lassen.«

»Das verstehe ich. Wissen Sie, wer Mudlach zu seinem neuen Gesicht verholfen hat?«

»Ja, aber ich habe ihm mein Ehrenwort gegeben, es niemandem zu verraten. Tut mir leid, Sir.«

Juffin sah Kurusch an: »Jetzt kannst du übernehmen, mein Lieber.«

»Ist das wirklich notwendig?«, fragte der Buriwuch.

»Ja.«

Kurusch blinzelte mit seinen bernsteinfarbenen Augen, flatterte zu dem Mann aus Arwaroch und setzte sich auf seine Schulter. Der Alte wurde beinahe verrückt vor Glück.

»Du musst dein Ehrenwort brechen«, sagte der kluge Vogel. »Das ist ein Befehl.«

»Ich tue, was du willst«, rief Natlich Ajimirik verzückt. »Das schulde ich dem großen Vogel Buriwuch. Ich habe Mudlach und seine Leute selbst zu Warich Ariam in die Posaunenstraße geführt. Das ist ein sehr erfahrener Heiler, der auch mein Gesicht verändert hat. Vor seiner Praxis haben wir uns verabschiedet, und ich habe Mudlach nie wieder gesehen.«

»Nicht schlecht«, meinte Juffin und pfiff durch die Zähne. »Sir Warich Ariam ist der ehemalige Ältere Magister des Ordens der Kupfernadel. Manche Leute haben interessante Methoden, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Aber was machen Sie denn da?«

Juffins schriller Schrei ließ mich zusammenzucken. Ich schaute unseren Gast an und erstarrte. Der alte Mann hatte seinen Hals gepackt und war dabei, sich zu erwürgen. Das hätte ich nie für möglich gehalten. Aber es gab keinen Zweifel daran, dass er bis zum bitteren Ende weitermachen würde.

»Stört ihn nicht dabei«, riet uns Kurusch. »Er muss das tun. Wenn ihr ihn aufhaltet, wird er es bei nächster Gelegenheit wiederholen. Ein Mensch aus Arwaroch, der sein Ehrenwort gebrochen hat, muss sterben. Daran lässt sich nichts ändern.«

»Das ist wirklich ein seltsamer Brauch«, meinte Juffin und wandte sich zum Fenster. »Schockiert dich das nicht, Max?«

»Eigentlich nicht«, flüsterte ich mit beinahe gelähmten Lippen.

»Mich auch nicht, stell dir vor. Ist der Alte schon tot?«

»Ja«, sagte Kurusch zu unserer Beruhigung. »Die Leute aus Arwaroch beherrschen die Kunst, schnell zu sterben. Keine Sorge - das ist dort an der Tagesordnung. Außerdem ist er glücklich gestorben. Er ist mir begegnet, hat meine Bitte erfüllt und ist in den Tod gegangen, wie es sich für einen tapferen Mann aus Arwaroch gehört. Das ist für ihn viel wichtiger als ein langes Leben.«

»Das verstehe ich«, sagte Juffin. »Auch wenn ihr es mir nicht glaubt: So was hab ich zum ersten Mal gesehen. Wie auch immer - wir haben eine wichtige Information erhalten. Komm, Max, gehen wir ins Wirtshaus. Wir haben uns eine Tasse Kamra verdient. Ich hab mich schon per Stummer Rede bei Skalduar van Dufunbuch, unserem Obersten Todesbegleiter, gemeldet. Wie sollen wir Natlich Ajimirik eigentlich begraben?«

»Das spielt für Leute aus Arwaroch keine Rolle«, sagte der Buriwuch. »Was nach dem Tod geschieht, interessiert sie nicht.«

»Vernünftig«, meinte Juffin und nickte respektvoll.

Wir gingen in den Saal der allgemeinen Arbeit, während Skalduar van Dufunbuch - ein runder, sympathischer Mann, der im Haus an der Brücke als Leichenexperte galt -begeistert in unser Büro strebte.

Sir Schürf hob den Blick, schätzte rasch die Situation ein, nickte verständnisvoll und las weiter. Ich nahm mir eine Tasse Kamra und trank sie geistesabwesend. Aus Erfahrung wusste ich, dass eine Plauderei mit den Kollegen die beste Methode war, mein seelisches Gleichgewicht wiederzuerlangen. Jedenfalls war es besser, als tragisch zu schweigen und auf einen Punkt an der Wand zu starren. Außerdem hatte ich eine Menge Fragen.

»Wenn den Bewohnern von Arwaroch der Tod wirklich so gleichgültig ist, warum versucht Mudlach dann die ganze Zeit, seinen Verfolgern zu entkommen? Warum ist er überhaupt weggelaufen? Er hätte sich doch umbringen können! Schon Alotho Aliroch hat doch gesagt, nichts sei einfacher, als zu sterben.«

Zu meiner Überraschung gab mir mein Chef auf diese Frage keine Antwort. Dafür legte Sir Schürf sein Buch beiseite: »Gute Frage. Aber es geht Mudlach nicht darum, sein Leben zu retten. Kein Bewohner von Arwaroch würde sich abstrampeln, um am Leben zu bleiben. Es geht um die Ehre. In einer gewonnenen Schlacht zu sterben ist heldenhaft - als Besiegter zu fallen dagegen eine Schmach. Man darf dem Sieger nicht erlauben, einem das Leben zu nehmen. Das muss man selber tun, denn das ist die einzige Freiheit, die man noch hat.«

»Stimmt«, pflichtete Kurusch ihm bei.

Unser kluger Vogel genoss die Rolle eines Experten für die Psyche der Bewohner von Arwaroch sichtlich.

»Schürf, du hast dich ja tiefschürfend mit der Psychologie der Leute aus Arwaroch beschäftigt«, meinte Juffin lächelnd. »Willst du vielleicht dorthin auswandern?«

»Ich interessiere mich nicht besonders für Arwaroch, sondern setze mich nur mit bekannten Fakten auseinander. In manchen Büchern stehen wirklich interessante Dinge.«

»Meine Herren, es ist etwas Unglaubliches passiert!«, rief Sir Lukfi Penz schon von weitem, kam angelaufen und stolperte direkt vor uns über seinen Lochimantel. »Das sehe ich zum ersten Mal. Ich dachte immer, das ist unmöglich!«

»Was denn?«, fragte Juffin.

»Bei unseren Buriwuchen im Großen Archiv ist ein Küken geschlüpft. Das Merkwürdigste daran ist, dass ich nie ein Ei bemerkt habe. Ob die Vögel es vor mir versteckt haben?«

»Nein, aber die Menschen entdecken Gelege nur selten. Sie bemerken das Ei erst, wenn das Küken geschlüpft ist«, erklärte Kurusch und fügte nachdenklich hinzu: »Hab ich euch schon erzählt, dass es manchen Leuten aus Arwaroch gelingt, sich ihren Traum zu erfüllen und sich nach dem Tod in einen Buriwuch zu verwandeln? Ich weiß allerdings nicht, wie sie das machen.«

»Das könnte des Rätsels Lösung sein«, meinte ich und wandte mich an Kurusch: »Ob ich mir das Küken ansehen darf?«

»Aber bitte nicht lange. Junges Gemüse wird von fremden Blicken schnell schlapp.«

Mit Kuruschs Erlaubnis ging ich ins Große Archiv. Lukfi Penz begleitete mich auf Schritt und Tritt.

»Was für ein Ereignis!«, rief er entzückt. »Das Schlüpfen eines Buriwuchs ist eine große Rarität. Diese Vögel brauchen eine lange Phase der Einsamkeit, um erwachsen zu werden. Bei den Buriwuchen gibt es nur ein Ei pro Gelege, und auch das nur alle Jubeljahre. Ich hätte nicht gedacht, dass es im Haus an der Brücke mal Nachwuchs gibt.«

Lukfi Penz öffnete die Tür zum Großen Archiv. »Könnten Sie hier warten? Ich frage kurz nach, ob Sie hinein dürfen.«

»Natürlich. Ich mache nur, was die Buriwuche wünschen.«

Ein paar Sekunden später tauchte Lukfi Penz wieder auf. »Sie haben nichts dagegen. Bitte kommen Sie rein.«

Ich strahlte, betrat das Große Archiv, begrüßte die Vögel und sah mich um.

»Das Küken ist hier in der Ecke«, sagte Lukfi. »Kommen Sie ruhig näher.«

In einem weichen Nest lag ein flaumiges Etwas. Im Gegensatz zu den erwachsenen Vögeln war sein Gefieder weiß, seine Füße rosig. Die großen Augen hingegen hatten das gleiche Bernsteingelb wie die seiner Artgenossen.

Das Küken schaute mich kurz an, blinzelte und sah weg. Ich hatte Glück gehabt, denn es hatte mich angeschaut, als seien wir einander vertraut. In seinem Blick hatte keine starke Emotion gelegen, doch es hatte mir zugenickt, ehe es sich abgewandt hatte. Das war auch kein Wunder, denn es handelte sich bei dem Tier schließlich um die Reinkarnation von Natlich Ajimirik, dem ehemaligen Schamanen des flüchtigen Mudlach.

Mir stockte der Atem, denn mir war bewusst, dass eine solche Reinkarnation, deren Zeuge ich geworden war, nur extrem selten geschieht. Im Vergleich dazu mochte meine Reise zwischen den Welten wie ein Spaziergang erscheinen.

Als Lukfi mir sanft auf die Schulter klopfte, nickte ich nur, stand auf und verließ auf Zehenspitzen das Archiv.

»Und?«, fragte mich Juffin ungeduldig.

»Das Küken ist tatsächlich die Reinkarnation von Natlich Ajimirik.«

Ich versuchte, meine Eindrücke aus dem Großen Archiv zu beschreiben, doch mir fehlten die Worte. Juffin nickte verständnisvoll und sah gedankenverloren in seine Tasse. Auch er musste die sensationelle Nachricht erst mal verarbeiten.

»Zu sterben und gleich darauf wiedergeboren zu werden klingt für mich seltsam«, sagte Lonely-Lokley.

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