Die Stadtpolizei ließ mich nicht im Stich und schoss aus mehreren Babum auf den Angreifer. Eine Kugel traf ihn an der Nase und ließ ihn ziemlich bluten. Ich spuckte ihn an, ohne zu überlegen. Hätte er noch gelebt, wäre seine Attacke spätestens jetzt zu Ende gewesen. So aber ätzte meine Spucke nur ein Loch in sein Gesicht. Es war klar: Mein Angreifer war tot.
Dann passierte etwas Unfassbares: Das tote Wesen sah mich mit trüben Augen an und rief: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr!«
Überrascht spuckte ich ihn ein zweites Mal an, aber das machte ihm nichts aus. Die nervösen Polizisten beschossen ihn, doch auch dies beeindruckte ihn nicht. Stattdessen rief er erneut: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr!«
Ich fühlte mich nicht gerade wohl. Wenn man mich an die Wand drückt, reagiere ich manchmal sehr grob.
»Keine Panik, Leute«, sagte ich zu den Polizisten. »Ich kann machen, was ich will - er ist und bleibt mein Knecht. Also schießt nicht auf die Räuber. Wir müssen sie uns erst genau ansehen.«
Erneut schnippte ich mit den Fingern. Wieder landete ein Kugelblitz in der Senke, und wieder hörte ich eine Stimme »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr!« rufen.
Ich zuckte zusammen, gewann aber rasch die Beherrschung zurück. Je mehr Knechte ich zur Verfügung hatte, desto besser. Egal, ob sie tot oder lebendig waren und wie der ganze Wirrwarr endete. Also sagte ich ruhig: »Gut, mein Lieber, bleib, wo du bist. Schütz mich und gib Bescheid, wenn einer von deinen Freunden auftaucht. Und sag mir, wie viele von euch da unten hocken.«
»Sechsunddreißig Mann«, sagte mein Vasall.
»Das klingt schon besser«, meinte ich zu den Polizisten. »Nur sechsunddreißig Tote - man kann sagen, wir haben Glück.«
»Wir sind unsterblich«, entgegnete der Tote.
»Schon gut«, meinte ich nur. »Kannst du den anderen sagen, sie sollen mir gehorchen?«
»Sie gehorchen Dschifa. Und er hat uns befohlen, Sie zu bekämpfen. Mein Herr, da kommen Leute.«
»Vielen Dank!«, rief ich und ließ wieder einen Blitz los. Wie erwartet, hörte ich einmal mehr den Ruf: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr!«
»Bleibt, wo ihr seid, und schützt uns vor den anderen!«,
rief ich. Erstaunlicherweise lernte ich schnell, Befehle zu geben. »Tja, Leute, jetzt organisiere ich eine neue Bande und verschwinde im Wald. Mit diesen tapferen Kerlen brauche ich keine Angst vor den Dunklen Magistern zu haben.«
»Max, frag sie nach ihrem Anführer«, sagte Melamori und brachte mich damit wieder auf den Teppich. »Diese Leute haben keine Spur und keine Ahnung. Ich hab hier die Spur von jemand anderem gefunden und glaube, es wird nicht so leicht, ihn zu besiegen. Ich hab ihn gerufen, aber er kommt nicht, und ich weiß nicht, warum.«
»Du hast Recht, Melamori. Du bist sehr klug.« Dann wandte ich mich den Toten zu. »Wo ist Dschifa?«
»Unten«, sagten sie. »Man hat ihn gerufen, aber er will nicht kommen. Er hat uns geschickt, damit wir Ordnung machen.«
Die ganze Zeit erschienen neue Tote, denn ich schickte Kugelblitz für Kugelblitz in die Höhle. Die Ankömmlinge waren wirklich bewundernswert flink.
»Max«, hörte ich Melamori wieder. »Der Chef der Bande kommt gleich. Das höre ich. Er ist viel stärker als alle anderen. Sei bitte vorsichtig!«
»Keine Sorge, ich bin stets auf der Hut«, gab ich zurück.
»Was? Wollen Sie behaupten, dass Sie immer Obacht geben?«, hörte ich Leutnant Kamschi hinter mir fragen. Dann kicherte er nervös.
Mit großen, funkelnden Augen verfolgte er jede meiner Bewegungen.
»Meine Adler«, wandte ich mich an meine toten Beschützer. »Ihr müsst Dschifa unbedingt von mir fernhalten.«
»Wir stehen Euch zu Diensten, Herr«, hörte ich die Soldaten meines Totenheers enthusiastisch rufen.
Ich seufzte. Offenbar war ich doch bei einem Picknick gelandet. Es geht eben nichts über nette Gesellschaft.
»Es sind wieder neue Leute gekommen, aber Dschifa ist noch immer nicht darunter«, hörte ich die Toten fleißig rufen.
Ich schnippte erneut mit den Fingern, und meine Armee wuchs wiederum. Wenn die Armen gewusst hätten, wie stockübel mir bei ihrem Geflüster wurde!
Ein paar Minuten vergingen. Schließlich spürte ich, dass sich wieder etwas änderte. Traurige Erleichterung machte sich in mir breit. Endlich würde etwas Neues passieren.
»Steht ihr auf meiner Seite, Engel des Hades?«, fragte ich die Toten.
»Wir stehen Euch zu Diensten, Herr!«, bekräftigten sie.
»Fangt Dschifa und bringt ihn her. Ich muss ihn sehen. Und vergesst bitte nicht, dass ihr nun auf mich hört, nicht mehr auf ihn.«
»Alles klar, Herr.«
Ich hörte Kampfgeräusche, stumpfe Schläge und ab und an Schimpfworte. Plötzlich tauchte ein prächtiges Gesicht zu meinen Füßen auf. Vor langer Zeit musste dieser Mensch ein Adonis gewesen sein, doch weder die Jahrhunderte noch die tiefen Falten oder die auffällige Narbe hatten seine Schönheit ganz vernichten können. So einen Mann wollte man eher fotografieren als gefangen nehmen. Seine hübschen blonden Locken wehten im Wind, und seine blauen Augen musterten mich verwegen.
All seine ehemaligen toten Freunde hatten ihn nun im Griff, aber ich war mir nicht sicher, wie viel Kraft sie noch hatten. Schnell schnippte ich mit den Fingern meiner Linken, und ein Kugelblitz traf Dschifa an der Nasenwurzel, dort also, wo seine Narbe ansetzte. Doch mein Blitz zerstob in tausend Funken, und Dschifa blieb völlig unbehelligt. Ich wollte keine Zeit mit Staunen verlieren und spuckte ihm sofort ins Gesicht. Wiederum passierte nichts - als wäre mein Todesmantel nur ein Theaterkostüm. Hätte ich früher keine Erfolge gehabt, hätte ich mich jetzt komplett unfähig gefühlt.
Der Rothaarige lächelte böse.
»Du bist ein lausiger Magier, Fremdling«, sagte er mit unerwartet heller, fast jungenhafter Stimme. »Vielleicht bist du etwas besser als ich, aber mich schützt der Zauberspruch eines großen Meisters.«
»Er hat Recht«, sagte Melamori. »Er kann selber nicht zaubern, genießt aber den Schutz einer sehr angesehenen Persönlichkeit. Ihm kann nichts etwas anhaben, und ich weiß jetzt, warum es so schwer war, auf seine Spur zu treten.«
»Was soll man in so einem Fall tun, Unvergessliche?«, fragte ich erschöpft. »Soll ich meine toten Untertanen bitten, ihn weiter festzuhalten, und zu Juffin rasen? Immerhin wäre ich mit dem A-Mobil rasch wieder da. Oder hast du einen anderen Vorschlag?«
»Natürlich«, sagte Melamori. »Deine treuen Knechte sollten sich mit unseren Polizisten zusammentun und Dschifa fesseln. Gegen ein solides Seil hilft kein magischer Schutz. So bringen wir ihn nach Echo, wo Juffin sich um ihn kümmern kann.«
»Meine Herren«, wandte ich mich an die Polizisten, »wir brauchen ein solides Seil. Habt ihr so was dabei?«
»Wir haben Gurte«, sagte Hauptmann Schichola und zog seinen Waffengurt ab. »Macht es wie ich, Leute«, befahl er dann. »Wir wickeln Dschifa wie ein Baby.«
»Braucht ihr Hilfe?«, fragte ich meine toten Verehrer.
»Ja, Herr«, sagten sie traurig. »Dringend. Wir können Dschifa zwar halten, aber Eure Leute müssen ihn fesseln. Wir sind dazu zu schwach.«
»Ihr seid tote Puppen«, kommentierte Dschifa verächtlich und schaute mich eher leidend als grausam an. »Fremdling, nimm nie Tote als Freunde. Schlechten Zauberern wie uns beiden nutzen sie gar nichts.«
Ich wandte den Blick von Dschifa ab und fragte die Polizisten: »Was stiert ihr so? Meine Jungs brauchen Hilfe. Habt ihr nicht gehört? Das ist keine leichte Zusammenarbeit, ich weiß, aber wenn sich ihr Oberhaupt befreit, wird es noch schwieriger. Du brauchst das Gesicht nicht zu verziehen, Melamori, du hast deinen Anteil geleistet. Aber der Rest soll jetzt bitte endlich loslegen.«
»Vielen Dank, Max«, lächelte Melamori bitter. »Nett von dir. Und schön, wie souverän du hier die Kommandos gibst. Leider sind deine bleichen Schönlinge nicht zum Ansehen.«
Die Polizisten teilten offenbar diese Meinung, denn sie wollten nicht in die Senke springen.
»Habt ihr euch überanstrengt?«, fragte jemand.
Sündige Magister, das war ja mein Chronist. Den hatte ich total vergessen. Inzwischen stand er ganz vorne.
»Max, ich helfe unseren tollen Polizisten. Ich bin noch nicht müde.«
»Mach das, aber rasch.« Ich hatte weder Zeit noch Kraft, Ande zu sagen, wie tapfer er war, hoffte aber, es stünde in meinem Gesicht geschrieben.
Der rundliche Journalist sammelte die Gurte der Polizisten ein und sprang dann unerwartet Grazie in die Senke. Nach ein paar Sekunden kommandierte er meine toten Helfer schon tapfer. Dschifa knirschte mit den Zähnen und schimpfte so großartig, dass ich vor Neid grün wurde. Dann wandte ich mich erwartungsvoll an die Polizisten. Leutnant Kamschi nahm auch ein paar Gurte und sprang zu Ande Pu hinunter. Schichola folgte seinem Beispiel, und dann schlossen sich auch ein paar andere an.
»Vergesst nicht, ihn zu knebeln. Diese Schimpfworte solltet ihr besser nicht hören.«
Keine fünf Minuten später war Dschifa geknebelt und in einen echten Lederkokon verpackt. Den Magistern sei Dank: Nun war er endlich still. Mit vereinten Kräften zogen die Polizisten und meine toten Helfer den Räuberhauptmann aus der Senke und legten ihn zu meinen Füßen. Die Toten tummelten sich in meiner Nähe, und Ande Pu, der so stolz wirkte wie ein Denkmal Gurigs VII., musterte sie aus den Augenwinkeln.
»Dein Piratenopa wäre jetzt stolz auf dich, mein Freund«, sagte ich zu ihm und wandte mich an die Polizisten, die sich die Hände im Gras säuberten. »Das war's schon, Leute. Wir haben alle Füchse aus Mahagon gefangen. Ihr könnt mit ihnen machen, was ihr wollt. Ich hab keine Kraft mehr.«
Genüsslich warf ich mich ins Gras, schaute in den hellen Morgenhimmel und sah einen einzelnen Vogel über den Baumkronen fliegen. Ich hatte den Eindruck, ihn so sehr zu lieben wie noch niemanden auf der Welt.
Plötzlich vernahm ich Geräusche. Ich wandte den Kopf, um zu sehen, was los war, hatte aber nur bunte Flecke vor den Augen. Ringsum standen Polizisten und klatschten, wie man einen Piloten nach gefährlichem Manöver bejubelt.
»Ja«, flüsterte ich. »Stimmt. Ich bin ein tapferer Kerl. Und ich hatte irgendwo eine Flasche Kachar-Balsam. Weiß jemand, wo sie ist?«
»In deiner Manteltasche, Max«, sagte Melamori. »Brauchst du eine Stärkung?«
»Ja«, meinte ich, zog die Flasche heraus und nahm einen großen Schluck. Weil mir das zu wenig war, nahm ich noch einen. Die bunten Flecke vor den Augen verschwanden langsam, und die Welt ringsum sah wieder aus wie sonst.
»Sollen wir nach Hause fahren?«, fragte ich. »Oder wollt ihr jetzt eure Butterbrote auspacken? Hat jemand Lust auf ein Picknick im Grünen? Vermutlich nicht.«
»Max, was sollen wir mit denen machen?«, fragte Schichola erschrocken und wies mit dem Kopf auf die Toten.
»Nichts«, sagte ich achselzuckend. »Ich kann sie nicht umbringen. Das habt ihr doch gesehen. Aber sie werden uns nützlich sein. Sie müssen ihren Chef Dschifa hochstemmen und uns folgen.«
»Zu Fuß? Wir haben doch nur ein A-Mobil«, sagte Leutnant Kamschi verwirrt. »Und in den Dörfern Transportmittel zu suchen, dauert ewig.«
»Natürlich folgen sie uns zu Fuß. Besser gesagt: Sie laufen uns nach. Am besten setzen Sie sich ans Steuer, Kamschi, dann schaffen sie es leichter.« Ich wandte mich an die Toten: »Meine Adler, wollt ihr mir folgen? Und könnt ihr schnell laufen?«
»Wir folgen Euch überallhin, Herr«, riefen diese idealen Untertanen demütig im Chor.
»Prima. Meine Herren, steigen wir ein, ich bin todmüde.«
»Du siehst furchtbar aus, Max«, sagte Melamori leise. »Diese Kugelblitze haben dich bestimmt viel Kraft gekostet.«
»Bestimmt. Aber es ist sehr leicht, sie zu fabrizieren.«
»Das ist immer so. Für alles, was man leicht bekommt, muss man teuer bezahlen«, sagte Melamori nickend.
Wir gingen zu der Lichtung, auf der unser A-Mobil stand. Meine Helfer marschierten mir nach und schleppten unverdrossen das schwere Gewicht ihres ehemaligen Anführers.
Ande Pu ging neben mir her und warf den Toten ab und an einen hochmütigen Blick zu.
»Wir könnten ihn ins A-Mobil legen«, grübelte Leutnant Kamschi laut. Lady Melamori und Sie könnten mit dem Wagen nach Echo fahren, und der Rest von uns geht in die Dörfer.«
»Warum?«, fragte ich achselzuckend. »Wir kehren zurück, wie wir gekommen sind. Machen Sie es bitte so, wie ich gesagt habe. Setzen Sie sich ans Steuer, und fahren Sie nicht so schnell, damit meine toten Freunde nicht außer Atem kommen. Die können ihn gut bis Echo tragen.«
»Sie sind grausam, Sir Max«, sagte Kamschi leise.
»Ich?«, fragte ich erstaunt. »Das hätte ich nie gedacht. Aber egal, ob ich unbarmherzig bin oder nicht: Was soll ich tun? Diese Leute sind schon seit vielen Jahren tot. Woher wollen Sie wissen, was für sie gut oder schlecht ist? Sie werden hinter unserem A-Mobil herlaufen und dabei glücklich sein. Das können Sie mir glauben. Und was Sir Dschifa anlangt, ist er auch seit Jahren tot. Der Körper macht, was er will, obwohl der Besitzer des Körpers schon lange ausgeflogen ist.«
Kamschi schüttelte den Kopf und ging zum Wagen. Schichola warf ihm einen bedeutungsvollen Blick nach und sah mich dann schuldbewusst an. Schließlich zuckte er die Achseln und ging, um seinen toten Schützlingen letzte Befehle zu geben. Der Weg in die Hauptstadt war noch ziemlich lang.
Melamori klopfte mir vorsichtig auf die Schulter. »Mach dir nichts draus, Max. Kamschi ist ein seltsamer Junge und war immer so. Aber du hast Recht.«
Ob ich Recht habe oder nicht, ist eigentlich egal, dachte ich lächelnd. »Vielen Dank, Unvergessliche«, sagte ich. »Du hast meine Laune sehr verbessert.«
»Du bist müde. Deshalb ist deine Laune so schlecht. Du solltest versuchen, unterwegs zu schlafen.«
»Das werde ich tun«, sagte ich mit Nachdruck. »Kannst du unterwegs mit Juffin reden? Ich hab keine Kraft mehr, mich bei ihm per Stummer Rede zu melden. Und frag ihn, ob ich nicht vielleicht doch übertreibe.«
»Alles klar«, sagte Melamori, setzte sich ins Gras und blickte gedankenverloren ins Irgendwo. Nach einer Minute zwinkerte sie mir zu. »Hattest du wirklich noch Zweifel, Max? Unser Chef ist von deiner Idee rundweg begeistert. Er sagt, so einen Anblick hat die Hauptstadt noch nie gesehen. Eine Menge Tote, die hinter einem A-Mobil hermarschiert und am Haus an der Brücke landet! Da kann der gutmütige Kamschi den Leuchtpilz seines Chefs aufessen!«
Kamschi saß schon am Steuer, schaute uns an und fragte kaltblütig: »Können wir dann?«
»Ja«, sagte ich nickend. »Ande, mein Freund, setz dich bitte nach vorn. Sei nicht böse, aber du brauchst nun mal viel Platz.«
»Ich weiß, ich bin nicht dünn. Aber das ist nicht schlimm, und beleidigt bin ich auch nicht. Nur dumme Leute können über Tatsachen beleidigt sein.«
»Siehst du, Max«, meinte Melamori augenzwinkernd.
Hauptmann Schichola zögerte ein paar Sekunden und lachte dann. Ande sah ihn mit hochmütigem Staunen an, und auch ich musste lächeln. Dafür reichten meine Kräfte noch.
Dann machte ich es mir auf der Rückbank bequem und legte den Kopf auf den Schoß von Lady Melamori. Meine Beine landeten zwar an der Hüfte von Hauptmann Schichola, und ich wusste, dass das nicht gerade höflich war, doch ich konnte nichts daran ändern und war binnen Sekunden eingeschlafen. Nach einer Portion Kachar-Balsam träumte ich etwas Süßes, und unterm Ohr hatte ich das bezaubernde Knie von Lady Melamori.
Erstmals seit meiner Rückkehr aus Kettari traute ich mich, ohne mein Amulett einzuschlafen. Sir Juffin hatte mir das mehrfach ausdrücklich verboten, und ich hatte ihn nie fragen wollen, was passieren würde, wenn ich mal ohne Amulett einschliefe. Aber nun war ich so müde, dass ich daran nicht einmal mehr dachte.
Ich hatte keine Ahnung, was ich geträumt hatte, erwachte aber ziemlich zerschlagen. Seltsam - nach so einer großen Portion Kachar-Balsam ...
»Wir sind schon fast in Echo, Max«, sagte Lady Melamori und strich mir unerwartet über die Nase. Dann setzte sie hinzu: »Dein Kopf wiegt übrigens mindestens eine Tonne.«
»Natürlich. Da drin sind schließlich alle klugen Gedanken versammelt«, sagte ich stolz und massierte mir den Nacken. »Wie lange habe ich eigentlich geschlafen?«
»Fünf Stunden, wenn nicht mehr. Kamschi ist nicht gefahren, sondern wie eine Schnecke über die Landstraße gekrochen. Ich glaube, er wollte deine Knechte schonen. Stimmt's, Kamschi?«
»Ich wollte nur nicht, dass sie Zurückbleiben«, sagte der Leutnant etwas gereizt. »Lady Melamori hat mich die ganze Zeit mit Bemerkungen gequält, Sir Max. Sagen Sie ihr bitte, dass es unmöglich war, schneller zu fahren.«
»Halten Sie mich etwa für einen Experten in puncto Leichentransporte? Denken Sie, so was passiert mir alle zwei Wochen?«, murmelte ich undeutlich, weil ich noch recht verschlafen war. Dann fand ich in der Tasche meines Mantels die bekannte Flasche und sah mir die Prozession an, die uns folgte. »Ist jemand zurückgeblieben? Wenn ja, sollte man ihn auflesen.«
»Es sind alle Mann da. Ich hab das die ganze Zeit beobachtet«, beruhigte mich Schichola.
»Die ganze Zeit? Sie Armer!«, meinte ich mitleidig. »Ich stehe in Ihrer Schuld.«
»Na ja, mitunter hab ich auch mal woanders hingesehen«, gab der Hauptmann zu.
»Daran haben Sie gut getan. Sonst wären Sie womöglich verrückt geworden. Und wie geht es dir, meine Schreibwaffe?«, fragte ich und legte die Hand auf die rundliche Schulter meines heroischen Chronisten.
»Der Artikel ist schon fertig. Alle dürfen gespannt sein«, meinte Ande belustigt. »Wollen Sie ihn lesen, Sir Max? Er wird Sie begeistern - das weiß ich.«
»Und wie!«, mischte sich Melamori ein. »Nach diesem Artikel wird man uns beiden Denkmäler errichten. Deines allerdings wird größer sein. Das größte Denkmal aber bekommt Sir Ande, und man wird das Denkmal von König Gurig VII. seinetwegen umsetzen müssen. Stimmt's, Sir Ande?«
»Auch dieses Mädchen wirft mit unglaublichen Sprüchen um sich«, sagte Ande und schien begeistert.
Eigentlich wandte er sich an niemanden von uns, sondern an seinen besten Gesprächspartner, also an sich selbst.
»Und wie ist der Artikel?«, fragte ich Melamori. »Kann man ihn veröffentlichen?«
»Das sollte man unbedingt. Warum fragst du? Sir Rogro muss nur ein paar Absätze streichen, die vom Unwillen der Polizisten berichten, in die Senke zu springen. Das ist zwar die Wahrheit, aber ich kann die Leute sehr gut verstehen. Sie sind schließlich alle freiwillig in den Wald gegangen, und das allein war schon sehr mutig. Sir Ande, Sie müssen den Menschen gegenüber einfach großzügiger sein. Wir alle sind schwache Geschöpfe.«
Ande murmelte etwas Unverständliches in sich hinein. Leutnant Kamschi sah ihn missbilligend an, schwieg aber dazu.
»Großmut ist eine wichtige Sache«, stellte ich fest, »denn sie ist Zeichen eines glücklichen Lebens. Wenn Melamori mit dem Artikel zufrieden ist, brauche ich ihn jetzt nicht zu lesen. Ich kaufe mir die Zeitung - das ist viel angenehmer.«
»Sie können ihn ruhig lesen. Es steht wirklich nichts Schlimmes drin«, meinte Ande gereizt. Dann setzte er begeistert hinzu: »Sir Max, Sie haben sich da im Wald eine tolle Nummer geleistet. Alle Helden der Vergangenheit können neidisch auf Sie sein.«
»Schon gut, Ande«, sagte ich und winkte lächelnd ab.
Ich drehte mich zum Fenster und merkte, dass die Straßen der Hauptstadt voller Schaulustiger waren. Die Leute sahen sich mit schweigender Neugier die Prozession an, die aus dem Wald von Mahagon kam.
»Wer hätte gedacht, dass es in Echo so viele Faulenzer gibt.«
»Ich kann die Leute gut verstehen. Dieser Anblick ist es wert, alles stehen und liegen zu lassen«, meinte Schichola. »Ich hätte dasselbe getan.«
»Darf ich hier aussteigen, Max?«, fragte Ande. »Zur Redaktion der Königlichen Stimme sind es von hier aus nur ein paar Schritte, und vielleicht schaffe ich es ja, meinen Artikel noch in der Abendausgabe unterzubringen.«
»Natürlich. Warum fragst du? Du bist - den Magistern sei Dank! - ein freier Mensch.«
Kamschi hielt kurz an. Ande sprang erstaunlich flink aus dem Wagen, wünschte uns noch einen guten Tag und verschwand in der Menge.
»Wie findest du ihn?«, fragte ich Melamori.
»Toll«, sagte sie. »Die erste halbe Stunde der Rückreise hat er seinen Artikel geschrieben, und dann hat er mir Geschichten aus dem Studium und von seiner Arbeit am Hof erzählt. Obendrein lispelt er so süß. Sonst wäre ich vor Langeweile fast gestorben: Du hast geschlafen, Schichola hat deine Knechte beobachtet, und Kamschi hat getan, als würde er sich nur auf den Weg konzentrieren. Dabei könnte das A-Mobil bei dieser Geschwindigkeit allein fahren.«
Leutnant Kamschi schwieg und zuckte nur müde die Achseln. Unsere Diskussion hatte ihn zweifelsohne getroffen.
Keine Ahnung, wie meine Begleiter es sahen - ich jedenfalls freute mich, wieder ins Haus an der Brücke zu kommen. Ich besah mir die alten Mauern und stellte fest, wie angenehm und ruhig es bei uns war. Hier herrschte Sir Juffin, der mich gleich von meinen toten Knechten befreien würde. Von meinem Erfolg wurde mir ganz mulmig.
Mein Chef kam uns entgegen, warf uns einen verschlagenen Blick zu, kicherte, schüttelte den Kopf und gab ein paar Befehle, die mich sehr erleichterten.
»Melamori, ab nach Hause. Erhol dich. Dieses Monster im Todesmantel hat dich beinahe bis aufs Blut gequält. Wenn ich dich brauche, sag ich Bescheid. Max, hör endlich auf, so ein furchtbares Gesicht zu machen. Wenn du nicht gleich lächelst, rufe ich die Heiler. Und verfrachte deinen Schatz bitte in die Abstellkammer neben unserem Büro. Ich meine natürlich Dschifa, nicht Lady Melamori. Dann musst du zu deinen neuen Lieblingen zurückkehreri und Sir Schürf helfen, das Problem der toten Knechte zu lösen. Und ihr, meine lieben Polizisten, könnt noch ein paar Minuten hierbleiben und euch an eurer Beute weiden. Wer von euch ist eigentlich auf die Idee gekommen, Max zu diesem Picknick einzuladen? Das würde mich sehr interessieren. Waren Sie das etwa, Kamschi?«
»Nein, die Idee kam von Hauptmann Schichola. Ich wollte unbedingt allein arbeiten, weil die Beschäftigung mit den Füchsen von Mahagon nie zum Aufgabenkreis Ihrer Behörde gehört hat. Außerdem hatte ich unsere Strategie so lange vorbereitet, dass ich die Füchse mit unseren Leuten hätte zur Strecke bringen können und keine andere Behörde einschalten wollte.«
»Sehr gute Arbeit, Hauptmann Schichola. Ihre Intuition ist Gold wert. Und du, Max? Worauf wartest du noch? Du sollst Dschifa doch dahin bringen, wo er hingehört. Wälz mir bitte diesen Stein vom Herzen.«
»Du und du«, sagte ich und zeigte auf meine toten Helfer, die den verschnürten Dschifa schleppten, »folgt mir. Alle anderen bleiben hier und warten, bis ich wieder da bin. Verstanden?«
»Alles klar, Herr«, ertönte es gehorsam im Chor.
»Toll«, sagte Juffin begeistert. »Du bist der geborene Potentat, Max. Ein echter Prinz, Ehrenwort. Und du hast behauptet, du gibst ungern Befehle
»Ich hasse es sogar, andere herumzukommandieren«, sagte ich erbittert.
»Dafür kannst du es aber ganz gut. Diese Eigenschaft solltest du pflegen. Vielleicht brauchst du sie noch mal.«
»Hoffentlich nicht. Dann ist es schon besser, andere umzubringen.«
Ich sah Kamschi finster an und erinnerte mich daran, dass er mir Grausamkeit vorgeworfen hatte. Es war dumm, mich davon so erschüttern zu lassen. Grausamkeit wird in Echo nicht ungern gesehen. Ich musste sie allerdings noch verfeinern.
Mit meinen beiden toten Helfern brachte ich Dschifa in eine kleine, enge Kammer, die neben Juffins und meinem Büro lag und auch von dort zugänglich war. Bei dieser Kammer handelte es sich um eine Miniaturausgabe des Cholomi-Gefängnisses, denn man konnte sie weder verlassen noch darin zaubern, und per Stummer Rede konnte man sich von dort aus auch nicht verständigen. Es war eine isolierte Verhörzelle für besonders schwere Fälle. Soweit ich wusste, wurde sie eigentlich nie benutzt. Was Dschifa anlangte, gab es aber gute Gründe, die berüchtigten Verhörmethoden aus der Anfangszeit der Epoche des Gesetzbuchs neu zu beleben. Damals war diese Zelle nicht einen Tag leer gewesen.
»Legt ihn auf den Boden«, befahl ich meinen gehorsamen Untertanen. »Den Knebel könnt ihr ihm aus dem Mund nehmen. Hier kann er schimpfen, was das Zeug hält. Ich möchte die Freiheit der Meinungsäußerung nicht beschränken, auch wenn es zu Fluchtiraden kommt. Aber anhören will ich mir das nicht.«
Meine Helfer taten, wie ihnen befohlen. Dschifa nutzte die Gelegenheit, uns mit saftigen Worten zu verabschieden.
Die übrigen Toten drängten sich im Flur. Juffin verschwand, und meine braven Kollegen von der Polizei mussten eine wirre Rede ihres Vorgesetzten Fuflos über sich ergehen lassen.
Es war unfassbar: Fuflos beschimpfte seine heldenhaften Mitarbeiter, weil sie keine Waffengurte trugen! Ich wollte meinen Ohren nicht trauen. Zwar hatte ich immer gewusst, dass Fuflos so beschränkt wie Bubuta war, aber nicht gedacht, dass er sich als ein solcher Dummkopf erweisen könnte.
»Sie sollten den Mund halten und ins Gasthaus gehen,
Kapitän«, sagte ich freundlich zu ihm. »Was die Gurte Ihrer Mitarbeiter anlangt, dienen sie dazu, einen berüchtigten Verbrecher in Schach zu halten. Und Ihre Offiziere haben diesen Mann vor ein paar Stunden verhaftet. Ich könnte Ihnen ein paar Details von seiner Festnahme erzählen, aber ich fürchte, Sie würden kaum begreifen, wovon ich rede. Und eine Bitte habe ich noch: Stören Sie Ihre Mitmenschen nicht länger bei der Arbeit.«
Fuflos sah mich schockiert an. Ich vermutete, er hatte nicht viel von dem verstanden, was ich gesagt hatte. Eines aber war ihm klar: Er war beleidigt worden. Er konnte nichts dagegen unternehmen, weil ich - der grausame Sir Max - sein Beleidiger war. Also entschied er sich, noch etwas um seine Ehre zu kämpfen.
»Sir Max«, begann diese Seele von Mensch, »Sie sollten solche Reden nicht in Gegenwart meiner Mitarbeiter führen. Das untergräbt meine Autorität.«
»Ihre Autorität?«, wiederholte ich. »Na ja. Ich sag's noch mal: Gehen Sie ins Wirtshaus, Fuflos. Dort ärgern Sie weder die Dunklen Magister noch mich.«
Der Arme starrte mich angestrengt an und murmelte etwas in sich hinein. Dann zog er die Stirn in Falten, arbeitete also ausnahmsweise mal mit dem Kopf. Schließlich zuckte er die Achseln und verließ den Flur, ohne ein Wort zu sagen.
»Vielen Dank, Sir Max«, sagte Leutnant Kamschi. »Gut, dass Sie diesen peinlichen Auftritt beendet haben.«
»Das musste ich doch. Ihr seid so tapfere Kerle, und der da ... Wenn noch mal so was passiert, sagt mir bitte Bescheid. Ich werde dann mit ihm unter vier Augen sprechen.«
••Ich freue mich, dich zu sehen, Max.«
Eine hoch gewachsene, schneeweiße Silhouette erschien am Ende des Flurs: Sir Schürf persönlich! Erfreut drehte ich mich zu ihm um.
»Ich habe dir Gäste mitgebracht, mein Freund«, sagte ich und wies schuldbewusst auf all die putzmunteren Toten.
»Können wir jetzt gehen?«, fragte Kamschi.
»Natürlich. Vielen Dank für das nette Abenteuer. Ich werde Sie auf dem Laufenden halten.«
»Aber Sie werden nicht viel ausrichten können«, meinte Kamschi. »Diese Sache hat etwas mit einem der alten Orden zu tun, wenn ich die Lage richtig einschätze.«
»Kommt Zeit, kommt Rat«, meinte ich. »Wir stellen beim Kleinen Geheimen Suchtrupp leider immer wieder fest, dass fast alles mit allem verbunden ist.«
Die Polizisten verschwanden. Schürf und ich blieben allein zurück - wenn man die Toten nicht mitzählte.
»Anscheinend funktionieren meine grünen Kugelblitze. Gefällt dir, was ich damit bewirkt habe? Mir nicht gerade«, meinte ich und sah Lonely-Lokley finster an. »Sei ein guter Freund, Schürf, und hilf mir.«
»Das sieht sehr interessant aus.«
Er musterte die toten Räuber, die ihrerseits mich anstierten. Er ging sogar ein paar Schritte auf sie zu und kehrte dann zu mir zurück.
»Max, deine tödlichen Kugelblitze sind in Ordnung. Sie sind genauso gefährlich wie meine, aber ... Weißt du, alles hängt von deinen Wünschen ab. An denen musst du noch arbeiten. Du hättest die Räuber leicht umbringen können, wenn du gewollt hättest.«
»Ich soll das nicht gewollt haben? Hältst du mich für ein Weichei? Ich hab einfach nicht darüber nachgedacht. Mir ging es nur darum, am Leben zu bleiben.«
»Das glaub ich dir gern. Weißt du, Max, du bist noch immer der Überzeugung, dass es nicht gut ist, Menschen umzubringen. Das ist für dich eine Art Verbrechen. Darum hast du die Räuber im tiefsten Innern deiner Seele nicht umbringen wollen, sondern dir gewünscht, sie sollen harmlos werden und dir nützlich sein. Und genau das ist geschehen. Du bist wirklich ein praktisch veranlagter Mensch.«
»Da hast du vermutlich Recht. Was soll ich jetzt tun? Auf die Straße gehen und ein paar Passanten umbringen, um mich daran zu gewöhnen?«
»Du wirst dich langsam daran gewöhnen müssen. Mit solchen Sachen sollte man sich aber nicht beeilen. Bist du eigentlich nicht auf die Idee gekommen, dass du all diese hübschen Räuber gar nicht hättest mitbringen müssen?«
»Was hätte ich sonst tun sollen? Ihnen befehlen, im Wald spazieren zu gehen?«
»Hast du immer noch nicht kapiert? Sie befolgen all deine Befehle, Max!«
»Und?«
»Du hättest ihnen einfach befehlen können, im Wald zu sterben. Dadurch hättest du dir und uns die Räuberparade durch Echo erspart. An diesen Umzug werden sich die Bewohner der Stadt noch lange erinnern. Ich verstehe bloß nicht, warum Sir Juffin deine Entscheidung gebilligt hat. Vielleicht sollte das ja ein schrecklicher Witz sein. So was würde zu ihm passen.«
»Moment mal«, sagte ich verwirrt. »Du meinst also,
wenn ich ihnen sage, dass sie sterben sollen, tun sie es auch?«
»Natürlich«, sagte Lonely-Lokley kaltblütig und zuckte die Achseln. »Und je schneller du es tust, desto besser für dich. Ich glaube, es ist nicht richtig, dass diese Toten sich im Flur des Hauses an der Brücke drängeln. Es ist geradezu unmoralisch.«
»Unmoralisch?«, wiederholte ich gereizt. »Du haust ja ganz schön auf die Pauke.«
»Na los, Max«, sagte Lonely-Lokley beharrlich. »Gib deinem Herzen einen Stoß. Es gibt Dinge, die man hinter sich bringen muss.«
»Gut«, sagte ich und wandte mich an die Toten. »Ich befehle euch, euch hinzulegen, zu sterben und zu Staub zu zerfallen. Wiederauferstehung ist strengstens verboten.«
Ich war sicher, dass mein Befehl ohne Reaktion verpuffen würde, doch die Toten legten sich tatsächlich hin und waren Minuten später nur noch Staub. Im Flur war es schmutzig wie nie. Der Boden war von einer dicken Staubschicht bedeckt. Das sah alles andere als gut aus.
I Ich hatte das dringende Bedürfnis, die Linke von Lonely-Lokley zu nehmen. Zum Glück trug er gerade Handschuhe. Das Berühren seiner Hände kommt an sich einem Selbstmord gleich. Auf diesen blöden Gedanken hatte wieder nur ich kommen können.
»Sie sind weg«, sagte ich und kicherte nervös.
»Natürlich. Du hast es ihnen ja befohlen. Hattest du wirklich Zweifel daran, dass es so kommen würde?«
»Zweifel? Ich war sicher, dass ich es nicht schaffe.«
»Seltsam. Hab ich dich je belogen?«
»Nein, aber ... Weißt du, Schürf, was gerade geschehen ist, stimmt einfach nicht mit den Vorstellungen überein, die ich von meinen Fähigkeiten habe.«
»Das ist Unsinn. Wer schätzt seine Fähigkeiten schon richtig ein? Allenfalls Magier, vor allem die großen. Keine Sorge, du schaffst noch ganz andere Dinge.«
»Da wir gerade über meine Fähigkeiten reden: Ich bin heute Morgen aus Versehen auf die Spur von Lady Melamori getreten, und ihr ging es daraufhin schlecht. Dabei hatte ich gar nicht vor, ihr zu nahe zu kommen.«
»Lass uns in mein Büro gehen, Max«, schlug Lonely-Lokley vor. »Es wäre wohl besser, sich dort zu unterhalten und nicht im Korridor. Außerdem kommen gleich Leute zum Saubermachen.«
»Vielleicht können wir zu mir gehen. Das ist näher.«
»Lieber nicht. Weißt du, Sir Juffin betrachtet dein Büro als sein eigenes. Ich würde mich nicht wundern, wenn er dort gerade sitzt.«
Lonely-Lokley schloss die Tür hinter sich und setzte sich auf seinen unbequemen Bürostuhl. Ich hockte mich auf den Boden und lehnte mich an den Tisch.
»Du siehst müde aus, Max. Wie viele tödliche Kugelblitze hast du eigentlich fabrizieren müssen?«
»Mehr als dreißig bestimmt. Ich hab nicht mitgezählt.«
Lonely-Lokley musterte mich.
»Nicht schlecht. Viel mehr als ich dachte. Wie kannst du da überhaupt noch auf den Beinen stehen?«
Ich winkte müde ab.
»Meine Genialität raubt mir den letzten Nerv, Schürf. Ich sehne mich danach, ein paar Tage auszuspannen.«
»Geht's dir nicht gut?«, fragte Lonely-Lokley mitfühlend. »Das ist sicher nichts Ernstes. Das liegt nur daran, dass du dich so angestrengt hast. Morgen geht's dir sicher schon besser, und übermorgen wirst du dich nicht mehr daran erinnern. Glaub mir, du kannst demnächst deine Macht genießen. Aber jetzt erzähl mal, wie du Lady Melamori auf die Spur getreten bist. Hat es sofort geklappt? Hat Sir Juffin es sich anders überlegt und dir einiges beigebracht?«
»Das ist es ja! Gar nichts hat er mir gezeigt!«, rief ich und erzählte Schürf in aller Kürze von meinem unbeabsichtigten Fehltritt.
»Klingt ziemlich ernst«, meinte Lonely-Lokley besorgt. »Bei so ungeheuren Fähigkeiten muss man lernen, sich zu beherrschen. Sonst wird man gemeingefährlich.«
»Was soll ich tun?«, fragte ich zum x-ten Male traurig.
»Was du tun sollst? Zum Beispiel die Atemübungen machen, die ich dir gezeigt habe - allerdings öfter.«
»Das war's schon?«, fragte ich verwirrt.
»Für den Anfang wäre es jedenfalls nicht schlecht. Du denkst doch alle paar Tage an deine Übungen, oder?«
»Na ja, ich denke manchmal öfter, manchmal weniger oft daran«, meinte ich und zuckte schuldbewusst die Achseln.
»Du musst dich zusammenreißen«, sagte Schürf streng. »Es gibt nichts Schlimmeres als Leute, die Macht haben, aber keine Selbstdisziplin. Entschuldige, aber jemand muss dir mitunter eine langweilige Predigt halten. Du musst an dir arbeiten.«
»Du hast ja Recht, Schürf«, seufzte ich. »Es wäre gut, wenn du mir das mehrmals täglich sagtest. Ich glaube, nur so kann man erfolgreich mit mir Zusammenarbeiten.«
»Meinst du wirklich, das würde dir helfen? Kein Problem - das lässt sich machen.«
»Ich habe keinen Zweifel daran«, sagte ich lächelnd. »Wenn ich zwölfmal täglich von dir höre, ich müsse mich aufraffen, reicht das vollauf - Ehrenwort.«
»Abgemacht«, sagte Lonely-Lokley ruhig.
Ich kicherte in mich hinein. Wahrscheinlich stand mir nun ein ausgesprochen lustiger Lebensabschnitt bevor.
»Und jetzt lass uns mittagessen gehen«, sagte Schürf und stand ungerührt auf. »Sir Juffin erwartet uns im Fressfass, wie er mir gerade per Stummer Rede mitgeteilt hat. Und er hat mich gebeten - ich zitiere! -, das mitzubringen, was von Sir Max noch übrig ist.«
»Ich hab seinen unverwechselbaren Stil sofort erkannt«, brummte ich. Dann gingen wir ins Fressfass.
»Sündige Magister, siehst du finster aus - wie ein hungriger Vampir!«, bemerkte Juffin, als er kurz von seinem Teller aufblickte. »Warum vergeudest du deine Kräfte an Tragödien? Das ist nichts für dich, glaub mir.«
»Bei Max sind ein paar echte Probleme aufgetaucht«, mischte sich Lonely-Lokley ein.
»Probleme? Seine Sorgen möchte ich haben!«, meinte Juffin nur und winkte ab. »Es ist doch alles wunschgemäß gelaufen, wenn nicht besser. Seit wann bist du Pessimist, Schürf? So kenn ich dich gar nicht.«
»Ich hab so meine Ahnungen«, sagte Lonely-Lokley lakonisch.
»Ach ja? Ich gar nicht. Seltsam - dabei stimmt unser Vorgefühl normalerweise überein.«
Ich sah meine Kollegen verwirrt an und fühlte mich wie ein ernstlich Erkrankter, der bei mehreren Ärzten Rat sucht und feststellen muss, dass die Diagnosen der Spezialisten ganz unterschiedlich sind.
»Keine Panik, Max. Alles wird gut«, sagte Schürf und sah mich plötzlich sehr mitfühlend an. »Mach die berühmten Atemübungen weiter. Irgendwer in Echo muss das ja tun. Und keine Sorge - alles kommt wieder ins Lot, solange man die Ruhe behält. Das ist ein Naturgesetz ... Sündige Magister, welcher Dummkopf benutzt in meiner Nähe Verbotene Magie? Kommt, das schauen wir uns an. Das riecht ja gar nicht gut.«
Juffin sprang zum Ausgang, und auch Lonely-Lokley landete dort mit einem Satz. Sein schneeweißer Lochimantel flatterte dabei wie ein Segel. Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Straße gekommen bin. Mein Chef sah sich verwirrt um.
»Was ist das bloß? Ich glaube, es kommt vom Haus an der Brücke. Nichts wie hin!«
Wir hetzten los.
»Das war's«, schnaufte Juffin im Laufen. »Es muss was richtig Großes gewesen sein, weil ich es sehr intensiv gespürt habe.«
»Merken Sie ohne Ihre Tabakspfeife mit Magieanzeiger den Einsatz von Zauberei überhaupt?«
»Natürlich«, sagte Juffin knapp. »Du bist nicht der Einzige, der Probleme mit seinen vielen Talenten hat. Das kommt manchmal sehr unpassend, vor allem nachts.«
Sir Juffin hetzte schnurstracks zu unserem Büro, blieb kurz an der Türschwelle stehen und schimpfte dann wie ein Rohrspatz. Solche Töne hatte ich von ihm noch nie gehört.
»Verdammter Mist!«, rief er zum Abschluss seiner Tirade, deren sprachlose Zeugen wir geworden waren.
Unsere Abstellkammer für von den Toten auferstandene Verbrecher stand sperrangelweit offen. Auf dem Boden lag Hauptmann Schichola. Seine Hände waren verkohlt, und sein Gesicht hatte einen schwärmerischen Ausdruck. Ich beugte mich hinunter und rüttelte vorsichtig an seiner Schulter, wusste aber schon, dass er tot war.
Erschrocken sah ich Juffin an. »War das Dschifa?«, fragte ich leise.
»Nicht allein«, sagte mein Chef und trat schnüffelnd in die Kammer. »Jemand hat ihm geholfen. So viel ist klar.«
»Wer denn?«
»Na wer wohl? Der Gleiche, der ihm geholfen hat, aus dem Reich der Toten in den Wald von Mahagon zurückzukehren. Wer sonst? So ein Mist!«
Juffin kauerte neben Schichola und kreuzte ihm vorsichtig die Hände überm Bauch. Einige Sekunden später stand er mit bitterem Seufzer auf und öffnete das kleine Fenster der Kammer.
»Mit diesem Fall haben wir kein Glück. Der arme Hauptmann war offenbar ein gutes Medium. Wie konnte ich das nur übersehen! Es gibt nicht viele solche Menschen in unserer Welt.«
Juffin lief in unser Büro hinüber und warf sich auf den Schreibtischstuhl. Lonely-Lokley nickte gedankenverloren, ging unserem Chef nach und blieb neben ihm stehen.
»Dschifa hat den Dunklen Weg genommen«, sagte Schürf kühl zu Juffin. »Einen Toten kann man höchstens fünf, sechs Meilen weit tragen.«
»Ja«, nickte mein Chef, grübelte kurz und fragte dann: »Richtung Süden, stimmt's?«
Lonely-Lokley zuckte die Achseln. »Sie wissen doch, dass ich die Himmelsrichtung nie spüre.«
Juffin verzog das Gesicht ein wenig und schnupperte kurz. »Er ist mit Sicherheit nach Süden gegangen.«
Verwirrt und verständnislos sah ich meine Kollegen an. Ihr Dialog war ein weiteres Rätsel, das mir der Tag aufgab. Ich blieb kurz auf der Türschwelle stehen und ging dann in die Abstellkammer.
»Da darfst du nicht rein«, rief Juffin. »Vielleicht trittst du Dschifa zufällig auf die Spur, und das wäre alles andere als angenehm für dich.«
Ich kehrte gehorsam ins Büro zurück und setzte mich auf die Fensterbank. Ich hätte am liebsten geweint - nicht vor Ärger oder Hilflosigkeit, sondern weil der Tod des sympathischen Hauptmanns Schichola so gar nicht zu meinen Vorstellungen vom Leben in Echo passte. Aber natürlich weinte ich nicht, sondern fixierte stattdessen einen Punkt an der Wand. Zwischen mir und dem Rest der Welt existierte plötzlich eine seltsame Barriere. Sie war durchsichtig, aber undurchdringlich. Und auch die Stimme meines Chefs erreichte mich wie durch eine Wand.
»Dschifa wurde von einem echten Meister wiederbelebt«, sagte Sir Juffin gedankenverloren. »Nur du, Schürf, könntest ihn aufs Neue töten. Oder ich. Niemand sonst ist dazu in der Lage. Ich wollte Dschifa zum Orden des Siebenzackigen Blatts bringen. Dort gibt es einige alte Spezialisten, die sich gern mit ihm unterhalten hätten ... Melifaro, mein Lieber, vielen Dank, dass du so schnell gekommen bist. Ich brauche alle Informationen über folgende Herren:
Pefuta Jongo, Bubula Dschola Gjoche, Atwa Kurajsa und Jofle Kumbaj. Außerdem will ich wissen, ob einer von denen, die vor über dreißig Jahren an der königlichen Jagd auf die Füchse im Wald von Mahagon teilgenommen haben, mit den jüngsten Vorfällen dort zu tun hat.«
»Pefuta kann nichts damit zu tun haben«, sagte Lonely-Lokley. »Ich sehe ihn ab und zu. Alle paar Jahre treffen wir uns im Dicken Skelett - das hat bei uns Tradition. Ich kann schwören, dass er nicht dahintersteckt. Er hat seine Macht verloren. Stattdessen hat er eine große Familie und ist, was Magie anlangt, völlig aus der Übung. Das verstehen Sie doch, oder? Ich glaube, es geht ihm gut, und er ist glücklich.«
»Wirklich? Gut, Melifaro, dann finde über die anderen drei heraus, was immer du in Erfahrung bringen kannst. Und bitte schneller als sonst.«
»Natürlich.«
Ich hob den Blick, um Melifaro zu begrüßen, doch er war schon wieder gegangen. Ich sah nur noch seinen Mantel im Flur verschwinden und schaute Juffin verwirrt an.
»Mensch, Max, reiß dich zusammen!«, rief er. »Wir haben jede Menge zu tun. Wenn deine Trübsal Schichola helfen könnte, würde ich dir gern für längere Zeit die Laune verderben. Aber leider nützt uns deine Schwermut überhaupt nichts.«
»Denk an die Übungen, Max«, ermahnte mich Lonely-Lokley. »In solchen Situationen sind sie am hilfreichsten.«
»Natürlich. Bitte entschuldigt mich ein paar Minuten.«
Ich versuchte, mich zusammenzureißen. Eines musste man der Gymnastik von Sir Lonely-Lokley lassen: Kaum war eine Minute vergangen, verschwand die Barriere schon, die mich von meiner Umwelt trennte. Und ein paar Minuten später war ich wieder völlig in Ordnung. Na ja, meine Stimmung war vielleicht nicht allzu prächtig, aber es ging.
»Ob der Mann, der eine Leiche hat auf erstehen lassen, persönlich im Haus an der Brücke gewesen ist? «, fragte ich. »Wenn ja, wäre es kein Problem, ihn zu finden, denn da er lebt, hat er eine Spur hinterlassen.«
»Ich glaube kaum, dass er sich ins Haus an der Brücke getraut hat«, brummte Juffin. »Weißt du, wenn es unbedingt sein muss, kann ein guter Magier einen Menschen als Medium benutzen. Und wie du weißt, ist genau das hier passiert. Schichola hat also die Tür zu unserer Abstellkammer öffnen und Dschifa befreien müssen. Natürlich muss jeder Außenstehende, der diese Geheimtür aufmacht, sterben, aber das war dem Magier offenbar egal.«
»Klar«, seufzte ich. »Die arme Melamori. Sie wird heute nicht lange schlafen können.«
»Melamori?«, fragte Juffin finster. »Du hast Recht, Max. Außer ihr kann niemand Dschifas Spur verfolgen. Aber ich glaube, sie wird von dieser Aufgabe begeistert sein. Es ist besser für sie, diesen Herrn zu verfolgen, als ... mit dir A-Mobil zu fahren.«
»Vielleicht ist die Lösung noch einfacher«, spekulierte ich ungestüm. »Ich schätze, Dschifa mag seine Höhle. Womöglich ist er direkt in den Wald von Mahagon zurückgekehrt.«
»Vielleicht, vielleicht auch nicht ... Lass uns auf Melifaro warten. Ich hoffe sehr ...«
»Leider vergeblich«, unterbrach ihn Melifaro finster und fegte wie der Wind in Juffins Büro.
Wer hätte gedacht, dass Melifaro so düster wirken konnte!
»Warum vergeblich?«, fragte Juffin.
»Die Buriwuche im Großen Archiv haben mir gesagt, dass Bubula Dschola Gjoch, Atwa Kurajsa und Jofla Kumbaj tot sind. Sie sind nicht gleichzeitig gestorben, aber immerhin innerhalb der letzten zwei Jahre. Dann habe ich nach Sir Petufa Jongo gefragt, nur so für alle Fälle. Auch er ist tot, und zwar seit kaum zwölf Tagen.«
»Das überprüfen wir sofort. Sir Schürf, melde dich per Stummer Rede bei deinem alten Freund«, befahl Juffin.
»Er weilt tatsächlich nicht mehr unter den Lebenden«, bestätigte Lonely-Lokley kurz darauf. »Soll ich mit der Witwe reden? Die könnte uns einiges erklären.«
»Ja, mach das.«
Mein Chef stützte die Linke auf die Lehne seines Bürostuhls. Plötzlich knackte es, denn das Holz hielt dem Druck seiner Hand nicht stand. Juffin sah sich das Holzstück, das er da in der Hand hielt, verärgert an und warf es dann in die Ecke.
»Für alle Fälle hab ich auch nach den übrigen Männern gefragt, die vor dreißig Jahren an der Jagd auf Dschifa im Wald von Mahagon beteiligt waren«, sagte Melifaro und sah seinen Chef vorsichtig an, als wollte er einen Sicherheitsabstand zu ihm halten.
»Sind sie alle tot?«, fragte Juffin ungerührt.
Melifaro nickte. »Vermuten Sie das Gleiche wie ich?«
»Natürlich. Kennst du die Todesursachen?«
»Nein, aber ich glaube, sie sind alle eines natürlichen Todes gestorben. Es hat sich nämlich niemand an uns gewandt.«
»An uns nicht, aber vielleicht an die Stadtpolizei.«
»So was Blödes!«, rief Melifaro und fasste sich an den Kopf. »Bin gleich zurück!« Mit diesen Worten verschwand er im Flur.
»Schürf, hast du schon herausgefunden, was deinem ehemaligen Kollegen zugestoßen ist?«, fragte Juffin und klopfte nervös mit den Fingern auf die Tischplatte.
Lonely-Lokley hob die Hand, um anzuzeigen, dass er sich noch per Stummer Rede unterhielt. Mein Chef zuckte gereizt die Achseln, doch nach ein paar Sekunden wurde seine Neugier befriedigt.
»Die Frau von Petufa sagt, es sei ein Unglücksfall gewesen«, meinte Lonely-Lokley. »Mein Freund hat bei einem Familienfest zu viel getrunken, ist die Treppe runtergestürzt und hat sich das Genick gebrochen.«
»Ein Unglücksfall? Das ist ja interessant!«, rief Juffin aufgeregt. »Warten wir ab, was Melifaro dazu sagt.« Er wandte sich an mich. »Und du, Max? Was denkst du darüber?«
»Wir haben es hier mit vielen Toten zu tun, unter anderem mit ehemaligen Magistern aus den alten Orden und mit Mitgliedern der vor dreißig Jahren im Wald von Mahagon durchgeführten Strafaktion gegen Dschifa. Unter all diesen Toten hält sich ein falscher Toter versteckt. Er ist ganz unauffällig gestorben, und seine Familie trauert um ihn. Suchen Sie nach so einer Person, Juffin?«
»Sicher«, murmelte er. »Du bist clever, Max. Kompliment! Ich will, dass du diese Sache zu Ende führst. Ich meine das, was du auf Bitten des armen Schichola hin überhaupt erst begonnen hast.«
Ehrlich gesagt, fürchtete ich, diese Aufgabe wäre für mich eine Nummer zu groß, aber ich zweifle eigentlich immer an mir. Diesmal aber hatte ich keine Lust, meine bezaubernde Bescheidenheit zu zeigen, um alsdann jede Menge bestätigende Worte zu ernten. Inzwischen nämlich war auch ich überzeugt davon, diesen Fall beenden zu müssen.
»Gut, dass du das auch so siehst«, fuhr Sir Juffin fort, ohne meine Reaktion abzuwarten. »Aber auch Sir Schürf hat eine Ahnung von der metaphysischen Ordnung des Weltgeschehens. «
»Wenn ihr beide glaubt, dass alles gut enden wird, werde ich dem keinen Widerstand entgegensetzen«, sagte Lonely-Lokley phlegmatisch.
»Geh nach Hause, Max«, befahl Juffin plötzlich. »Wasch dich, zieh dir ein paar bequeme Sachen an und pack eine kleine Reisetasche. Und vergiss dein Amulett bitte nicht. Ich kann dir nicht garantieren, dass du heute in deinem Haus übernachten wirst. Sei bitte in ein, zwei Stunden zurück, keinesfalls später. Ich werde auch Melamori rufen. Hoffentlich hat sie sich erholt. Je früher ihr die Suche beginnt, desto besser.«
»Schön, ich bin gleich wieder da.«
Wer auf der Fensterbank im Erdgeschoss sitzt, muss eigentlich nicht mehr über die Flure gehen. So zog auch ich die Beine übers Sims und sprang die knapp anderthalb Meter auf den Mosaikgehsteig der Straße der Kupfermünzen hinunter. Den Kontakt mit der Erde empfand ich wie einen elektrischen Schock. Zwar verschwand das unangenehme Gefühl sofort, doch ich wusste nicht, was ich eigentlich gespürt hatte. Irgendwie war es gewesen, als habe jemand meine Schritte von der Seite beobachtet. Jedenfalls brauchte ich eine halbe Ewigkeit, um ein paar Meter voranzukommen.
»Max!«
Ich drehte mich um. Mein Chef winkte mir aus dem Fenster. Ich musste zurückkehren.
»Herzlichen Glückwunsch, mein Naturwunder.«
»Was ist denn?«, fragte ich verblüfft.
»Niemand außer mir kann durch dieses Fenster gehen. Ich hab mich sehr damit gequält, den entsprechenden Zauberspruch zu basteln. Hast du etwa gedacht, mein Zimmer hätte ein ganz normales Fenster?«
Kaum war ich zu Hause, zog ich mich aus und ging ins Bad. Die Katzen beobachteten mich von einer Ecke her. Ich hatte einmal mehr das Gefühl, ihnen zu wenig Zeit zu widmen. In der vierten Wanne ging es mir unversehens besser. Als hätte jemand einen Schalter umgelegt, war ich plötzlich wieder ich selbst - mit allen Folgen. Ich regte mich enorm auf, entspannte mich aber gleich darauf wieder. Beinahe hätte ich wegen des Todes von Hauptmann Schichola geweint, doch der Gedanke, dass ich Dschifa mit Lady Melamori suchen würde, tröstete mich etwas. Kaum aber hatte ich ein wenig länger über die Ereignisse der letzten Stunden nachgedacht, war ich aufs Neue betrübt.
Ich lächelte in mich hinein, verließ die Wanne und ging ins Wohnzimmer. Armstrong und Ella kamen mir entgegen und rieben sich schnurrend an meinen Beinen. Ich nahm meine Tiere in den Arm, vergrub die Nase in ihrem weichen Fell und verging fast vor Entzücken. Über meine Wange lief eine verräterische Träne. Erstaunt schüttelte ich den Kopf, raffte mich auf und ging ins Schlafzimmer,
um mich für die Reise vorzubereiten. Schon auf der Treppe spürte ich eine weitere Träne.
Hör endlich auf damit!, ermahnte ich mich streng.
Warum denn?, fragte eine innere Stimme spöttisch zurück.
Sonst gibt's eins auf die Zwölf!, meinte ich und setzte meinen inneren Dialog fort.
Schlag ruhig zu - schließlich ist es dein Kopf.
Ich musste lachen. Identitätsspaltung ist der beste Weg, das seelische Gleichgewicht zu verlieren.
Nach einer halben Stunde warf ich meine kleine Reisetasche auf die Rückbank meines A-Mobils. Ich hatte nur Ersatzkleidung und ein Päckchen Zigaretten dabei. Die mir so teure Flasche Kachar-Balsam steckte schon in der Tasche meines Lochimantels. Das Amulett vom Großen Magister des Ordens vom Geheimen Kraut band ich mir um den Hals, da ich befürchtete, im Wirrwarr der Ereignisse zu vergessen, es vor dem Schlafengehen anzulegen. Falls ich noch etwas brauchen würde, könnte ich es in der Ritze zwischen den Welten finden. Ich musste ohnehin immer mal wieder dort fischen gehen, um meine Form nicht zu verlieren.
Eine Viertelstunde später war ich im Haus an der Brücke. Ich schaute mir das geöffnete Fenster von Sir Juffins Büro an und beschloss, diese Abkürzung nicht noch mal zu nehmen. Also nahm ich wie alle Mitarbeiter der Behörde die Geheimtür.
Juffin saß ganz allein in seinem Zimmer, und das erstaunte mich.
»Haben Sie die anderen in den Urlaub geschickt?«, fragte ich. »Oder sind sie von selbst zu dem Schluss gekommen,
dass ihnen die Gesundheit wichtiger ist als der nervenaufreibende Dienst für den Kleinen Geheimen Suchtrupp?«
»Endlich bist du wieder der Alte«, sagte Juffin froh. »Wie hast du das gemacht? Oder ist das ein Geheimnis?«
»Ich hab gebadet, geweint und gedroht, mir einen Schlag auf die Nuss zu geben. Das ist eine sehr gute Methode, um wieder zur Vernunft zu kommen. Ich kann das nur empfehlen.«
»Es würde vielleicht reichen, wenn du dich auf die Kopfnuss beschränkst«, kicherte mein Chef. »Du hast wirklich ein Talent zu übertreiben. Aber zurück zur Sache. Melifaro hat herausgefunden, woran die jüngeren Magister, die damals an der Jagd auf Dschifa beteiligt waren, gestorben sind. Das klingt alles sehr harmlos, aber ...«
»Waren es etwa Unglücksfälle? Oder sind alle Teilnehmer der königlichen Jagd im Wald von Mahagon an einem Trauma gestorben? Gibt es denn nichts Konkreteres, woran man sich halten könnte?«
»Zum Glück doch. In zwei Fällen hatten die Toten ein entstelltes Gesicht. Es handelt sich dabei um Sir Atwa Kurajsa vom Orden der Gitter und Spiegel und um Sir Jofla Kumbai vom Orden des Schlafenden Schmetterlings. Atwa wurde von seiner Schwester gefunden. Kumbaj lebte allein. Gefunden hat ihn der Bote aus dem Lustigen Skelett, der ihm immer Essen gebracht hat. Die beiden Männer haben durchaus eine Chance, unsere Kunden zu werden, denn ihre Orden waren in früheren Zeiten sehr mächtig, und es ist nicht unwahrscheinlich, dass die beiden in Geheimnisse eingeweiht waren.«
»Und die Stumme Rede? Hat sich bei Ihnen jemand per Stummer Rede gemeldet?«, fragte ich. »Das ist doch die einfachste Methode, um zu prüfen, ob jemand tot oder lebendig ist. Oder rede ich da Unsinn?«
»Nein, du hast Recht, aber ein guter Magier kann sich der Erreichbarkeit durch die Stumme Rede entziehen. Er kann einen Schutzschild errichten, der ihn so sicher abschirmt, als sei er tot. Du musst mit Melamori nach Dschifa suchen. Ich glaube, die Magister, die damals auf die Jagd gingen und inzwischen alle tot sind, hocken irgendwo zusammen. Und wenn ihr Glück habt, findet ihr nicht nur die Spur von Dschifa, sondern auch die Spur dessen, der ihn hat auferstehen lassen. Und dann trittst du ihm auf die Spur, wie du das schon bei Lady Melamori getan hast. Dieser Verbrecher soll zittern!«
»Das soll er«, pflichtete ich meinem Chef bei. »Warum haben Sie mir eigentlich nie beigebracht, anderen auf die Spur zu treten?«
»Weil du das nicht gebraucht hast«, meinte Juffin. »Du lernst einfach zu schnell.«
»Schon wieder bin ich völlig Ihrer Meinung«, seufzte ich. »Hier geht mir alles zu schnell, viel zu schnell - vielleicht, weil das Leben dort, wo ich herkomme, viel rascher vorbei ist als hier. Ich war am Anfang womöglich etwas übermotiviert.«
»Kann sein, kann auch nicht sein«, meinte mein Chef grinsend. »Aber was macht das schon?«
»Womit sollen wir anfangen, Sir Juffin?«, fragte Melamori, als sie in unser Büro kam. »Soweit ich weiß, gibt es hier im Haus keine Spur, weil Dschifa den Dunklen Weg genommen hat.«
»Stimmt, und genau da müssen wir ansetzen. Das wird die unangenehmste Aufgabe, die du bis jetzt im Suchtrupp erledigt hast, Melamori. Was meinst du? Wird es dir gelingen, den Dunklen Weg ausfindig zu machen?«
Sie wirkte zunächst finster, nickte dann aber.
»Ich glaube schon. Er ist selten und wird mich geradezu ansaugen. Das ist unangenehm, aber einfach.«
Ihre Stimme klang so normal und ruhig, als hätte Juffin ihr nur eine Tasse Kamra angeboten.
»Wir machen das zusammen«, rief er unerwartet. »Du nimmst die Spur auf, und ich folge dir. Ich glaube, wir haben keine bösen Überraschungen zu befürchten. Du bleibst hier, Max. Ich halte per Stummer Rede mit dir Verbindung und sage dir, wo wir gelandet sind. Dann kommst du so rasch wie möglich zu uns.«
»Schnell wie der Blitz - das ist doch klar.«
»Gut. Melamori, lass uns gehen.«
Die Lady zog rasch ihre Schuhe aus, war einen Moment unsicher und drehte sich dann um.
»Hat er das Zimmer einfach so verlassen?«
»Natürlich. Wenn die Tür erst auf ist, ist das kein Problem. Das Zimmer ist dann keine Falle mehr, sondern ein Büro wie jedes andere. Wusstest du das nicht?«
»Doch, doch, ich hab bloß nicht daran gedacht. Gut, ich bin schon weg«, sagte sie, winkte kurz und lächelte mir zu. »Keine Sorge, Max - wenn Sir Juffin dabei ist, brauchst du keine Angst zu haben.«
»Du wirst schon noch lernen, Frauen auf diese Tour zu erobern, mein Junge«, sagte Juffin gönnerhaft. »Siehst du, mit mir geht sie bis ans Ende der Welt.«
»Bringen Sie mir das demnächst auch mal bei?«, fragte ich amüsiert.
»Ja, wenn du ein guter Mitarbeiter bleibst.«
Juffin klopfte sich zweimal mit dem rechten Zeigefinger an die Nasenspitze, und ich fühlte mich wie ein gebürtiger Kettarier, als ich mit der gleichen Geste antwortete.
Melamori ging schnell im Zimmer umher, sah sich um, erhob sich kurz auf die Zehenspitzen, seufzte tief und löste sich dann buchstäblich in Luft auf.
Juffin stieß einen Pfiff aus. »Nicht schlecht«, meinte er und verschwand ebenfalls. Ich sah verlegen zu Kurusch hinüber.
»Alle haben mich verlassen«, sagte ich traurig zu dem ungerührten Buriwuch.
»Die Menschen sind nun mal so«, erklärte er mir.
»Max, stell dir vor, Melamori und ich sind in der Nähe des Wirtshauses Alter Dorn gelandet«, hörte ich Juffin per Stummer Rede sagen. Er wollte offenbar nicht, dass ich mich langweilte. »Komm zu uns, hier ist es lustig.«
»Lustig?«, fragte ich baff und stand auf. »Habt ihr zwei euch entschieden, alles stehen und liegen zu lassen und euch ein Tellerchen Suppe zu gönnen? Das hört sich verdächtig nach Suchtverhalten an.«
»Ach, Max, du und deine ewigen Eifersüchteleien! Ich hoffe, du sitzt schon im A-Mobil.«
»Nein, ich bin noch im Büro.«
»Du bist vielleicht träge! Gut, ich will dich nicht länger aufhalten. Ende.«
Ein paar Minuten später war ich in der Nähe des Wirtshauses Alter Dorn. Ich sah mich um, entdeckte niemanden und meldete mich per Stummer Rede bei Juffin.
»Wo seid ihr?«
»Max, bist du schon da? Ich wollte dir entgegenkommen, hatte aber nicht gedacht, dass du so schnell bist. Wir sind in dem kleinen gelben Haus gegenüber vom Alten Dorn. Hier gibt es jede Menge frische Spuren. Melamori kann vor Begeisterung kaum atmen.«
Ich stieg aus meinem Wagen, öffnete die Tür des Hauses, das Juffin mir beschrieben hatte, und stieß auf meine Kollegen, die mit klugem Gesicht durch den breiten Flur schlichen.
»Die Lady hat nämlich keine Lust mehr, dem alten Langweiler Dschifa zu folgen«, fuhr mein Chef fort.
»Da haben Sie Recht«, sagte Melamori nickend.
»Bin ich dann mit der Verfolgung dran? Sie haben doch gesagt, ich soll den Kerl erledigen!«, rief ich begeistert.
Ich war erstaunt, spürte aber auch gewaltiges Jagdfieber. Obwohl ich extrem angespannt war, musste ich plötzlich lachen, worüber ich selbst erschrak.
»Du hast schon die Unsitten eines Verfolgungsmeisters«, sagte Juffin lächelnd und wandte sich an Melamori. »Schauen Sie sich sein schräges Verhalten an, meine Liebe, und machen Sie sich klar, dass es auf Außenstehende ganz genauso wirkt, wenn Sie sich auf die Jagd vorbereiten.«
»Ach«, meinte Melamori und lächelte tückisch. »Sieht das wirklich genauso aus? Das ist ja schrecklich!«
»Gut, macht ihr nur weiter eure Späßchen«, meinte ich. »Ich nehme derweil die Verfolgung auf. Melamori, kannst du mir bitte die Spur zeigen? Vielleicht gelingt es mir ja wieder, jemanden zu schnappen.«
»Welche Spur soll ich dir denn zeigen? Außer der von Dschifa gibt es noch zwei andere.«
»Was? Noch zwei? Na gut, zeig sie mir.«
»Dann komm. Warum trägst du eigentlich noch Schuhe? Ach so, du hast ja eine andere Technik als ich.«
Ich ging zu Melamori, blieb kurz neben ihr stehen und konzentrierte mich auf meine Eindrücke, doch das half nichts.
»Machst du dich über mich lustig?«, fragte ich gereizt.
Melamori schüttelte erstaunt den Kopf. Dann merkte ich, dass ich nicht eine, sondern zwei Spuren fand. Mein linker Fuß stand auf der einen, mein rechter auf der anderen. Was ich nun spürte, ähnelte meiner Vorstellung von Identitätsspaltung. Ich wollte die linke Spur verfolgen, da mich die rechte nicht so anzog und mein Gefühl selten trügt.
»Ich hab sie«, rief ich mit kehliger Stimme, »und zwar beide. Ich glaube, die rechte Spur ist gefährlich und die linke harmlos. Uns interessiert vor allem die gefährliche Spur, fürchte ich.«
»Sie ähneln sich sehr«, stellte Melamori irritiert fest. »Aber ich weiß nicht, warum.«
Sir Juffin schob mich ein wenig beiseite.
»Ihr habt beide Recht«, sagte er und schüttelte nachdenklich den Kopf. »Die Spuren ähneln einander, aber die rechte ist wirklich gefährlicher. Gut, dass ihr zu zweit seid. Max, du übernimmst die linke Spur, und Sie, Lady, nehmen sich die rechte vor. Es sieht so aus, als hätten sich Dschifa und der, der ihn wieder zum Leben erweckt hat, im A-Mobil davongemacht. Kein Wunder - warum sollten sie den weiten Weg auch zu Fuß zurücklegen? Gut, verfolgt sie. Mögen die Dunklen Magister euch beistehen!«
»Komm, Max, gehen wir«, sagte Melamori. »Wir haben schon Zeit genug verloren.«
»Du musstest dich schließlich erholen, Melamori«, meinte Juffin. »Außerdem lass ich mich von Verbrechern nicht hetzen!«
Während die beiden sich noch unterhielten, war ich schon wieder auf der Straße. Mein A-Mobil stand um die Ecke, doch ich hatte größte Lust, mich genau an dieser Stelle ans Steuer zu setzen. Mein Wunsch war so einfach, stark und klar, dass ich mich ihm nicht zu entziehen vermochte.
»Juffin, könnten Sie meinen Wagen herfahren?«, fragte ich per Stummer Rede. »Es hört sich vielleicht verrückt an, aber es geht nicht anders.«
»Aha. Dann sind die beiden offenbar da gestartet, wo du stehst. Du wirst wirklich keine Probleme mit dieser schrecklichen Spur haben. Erstaunlich, wie fest du an ihr hängst.«
Als ich mich umdrehte, stellte ich fest, dass der Wagen bereits neben mir stand. Ich riss die Tür auf, und Juffin schaffte es gerade noch, auf den Beifahrersitz rüberzurücken.
»Mein Leben lang hab ich davon geträumt, jemanden wie dich auf dem Schoß zu haben«, seufzte er gereizt. »Du brennst ja geradezu vor Leidenschaft für diese Karre.«
»Um die Karre geht es nicht. Wissen Sie, Juffin, ich glaube, der Mann, dessen Spur ich verfolge, hat auch am Steuer gesessen. Anders kann ich Ihnen das nicht erklären.«
»Warum solltest du mir etwas erklären? Meinst du, ich wüsste nicht, worum es geht?«, fragte mein Chef achselzuckend.
Dann sprang er auf die Straße, und Melamori setzte sich auf die Rückbank. Ich drehte mich überrascht um und wollte sie schon fragen, warum sie sich nicht neben mich setzte, doch dann begriff ich: Die Person, deren Verfolgung sie aufgenommen hatte, hatte offenbar im Fond des Wagens gesessen. Melamori verstand meinen fragenden Blick und nickte schweigend.
»Wenn Dschifa und sein Magister wirklich in den Wald von Mahagon gefahren sind, braucht ihr einen Ortskundigen«, bemerkte Juffin. »Ich melde mich am besten per Stummer Rede beim dortigen Förster. Sir Zwachta Tschijam ist ein toller Hecht und kennt den Wald wie seine Westentasche. Dschifas Höhle kennt er auch, da er sie nach Beendigung der königlichen Jagd auf eigene Faust jahrelang untersucht hat. Ich glaube, er hat dort sogar allerlei für seinen Haushalt mitgehen lassen, aber dagegen habe ich nichts.«
»Warum halten Sie die beiden Männer für so dumm?«, fragte Melamori. »An ihrer Stelle würde ich aus Uguland fliehen und versuchen, das Vereinigte Königreich zu verlassen.«
»Dschifa kann Uguland nicht verlassen, weil sein Zauber nur hier wirkt. Alles hängt davon ab, wie wichtig dem Meister, der ihn von den Toten auferweckt hat, sein Leben ist. Gut, jetzt fahrt endlich los und meldet euch demnächst per Stummer Rede bei mir.«
»Wollen Sie nicht mitkommen?«, fragte ich erstaunt.
»Das würde ich gern, doch solche Einsätze sollten die beenden, die sie begonnen haben, ohne dass Außenstehende sich einmischen.«
Ich fuhr noch schneller als letztes Mal, hatte aber kein Vergnügen daran, sondern verspürte nur den Wunsch, den zu erwischen, auf dessen Spur ich getreten war. Alles andere spielte keine Rolle. Das Tempo berauschte mich nicht, und den herrlichen Duft der blühenden Bäume bemerkte ich nicht einmal. Auch die Gesellschaft von Lady Melamori besserte meine Laune nicht. Sie saß auf der Rückbank und war so schweigsam und konzentriert wie ich.
Nach einer Stunde spürte ich eine enorme Erleichterung. Unerwartet bremste ich und sah auf die leere Straße vor mir.
»Was ist los, Max?«, fragte Melamori ungeduldig.
»Keine Ahnung. Ich hab einfach das Gefühl, wir sind da. Wo sind die beiden bloß?«
»Jetzt verstehe ich: Der Mann, dessen Spur du folgst, muss eben gestorben sein. Na ja, er hat lange durchgehalten.«
»Ist er wirklich tot?«, fragte ich ungläubig.
»Ich hab dir doch gesagt, dass einem das Herz stehen bleibt, wenn du ihm auf die Spur trittst. Das war absolut wörtlich gemeint. Gut, lass uns die Plätze tauschen. Der Mann, den ich verfolge, ist nämlich noch am Leben«, sagte Lady Melamori und setzte sich ans Steuer.
Sie hatte wirklich gute Aussichten, unsere Tempowette zu gewinnen, denn sie legte mit fünfzig Meilen pro Stunde los. Das ist zwar nicht allzu schnell, aber das Doppelte dessen, was in Echo erlaubt ist.
»Für den Anfang nicht schlecht, oder?«, fragte sie etwas unsicher. »Ich fahre jedenfalls flotter als üblich, oder?«
»Stimmt. Nun brauchst du nur noch etwas mehr Fahrpraxis.«
»Zu rasen ist noch schöner als das Ende einer Spur zu erreichen!«, rief Melamori. »Es ist wirklich unbeschreiblich.«
Sie schwieg und konzentrierte sich auf die Fahrt. Ich setzte mich bequem hin, zündete mir eine Zigarette an und sah aus dem Fenster. Dann meldete ich mich per Stummer Rede bei Juffin.
»Der Mann, dessen Spur ich folge, hat den Löffel abgegeben. Jetzt ruhen alle Hoffnungen auf Lady Melamori.«
»Bei euch geht's ja abenteuerlich zu«, meinte mein Chef. »Alle Achtung! Wenn ihr dahin kommt, wo die zwei ausgestiegen sind, wechsle bitte auf die Spur, die Melamori verfolgt. Dann bleibt demnächst auch Dschifa das Herz stehen, und ihr habt beide unschädlich gemacht.«
»Gut. Hoffentlich gelingt uns das.«
»Ach, übrigens - Zwachta Tschijam erwartet euch dort, wo die Straße in den Wald von Mahagon führt. Die Spur weist doch in diese Richtung, oder?«
»Melamori, fahren wir zum Wald von Mahagon?«, fragte ich.
»Was? Ach so, ja, ja. Sieht ganz so aus.«
»Sie haben es erraten«, sagte ich zu Juffin.
»Na prima. Läuft doch alles wie geschmiert. Also machen wir Schluss. Oder hast du noch eine Frage?«
»Nein«, sagte ich, doch dann fiel mir etwas ein. »Wem gehört eigentlich das Haus gegenüber dem Alten Dorn.«
»Unser Großes Archiv besitzt darüber leider keine allzu aussagekräftigen Informationen. Es gehört der Familie Chita, aber seit einem Jahr ist es an eine Lady namens Brisa Chlon vermietet, die dort allerdings laut Aussage ihrer Nachbarn nie aufgetaucht ist. Es fragt sich also, wer diese Frau ist. In Echo jedenfalls gibt es niemanden mit diesem Namen. Ich habe Melifaro beauftragt, möglichst viel über sie in Erfahrung zu bringen. Aber jetzt Ende.«
»Ende und over«, sagte ich seufzend.
Lady Brisa Chlon, dachte ich. Dieser Name missfiel mir von Anfang an.
Nach einer Stunde tauchte am Straßenrand eine hoch gewachsene Gestalt im dunkelroten Lochimantel auf.
»Sir Zwachta Tschijam, wie ich vermute«, sagte ich zu Lady Melamori. »Wir sollten besser anhalten.«
»Willst du mir den Spaß rauben?«, brummte sie. »Na gut.«
»Steigen Sie bitte ein, aber schnell!«
Das musste ich Sir Zwachta nicht zweimal sagen. Im nächsten Moment saß er neben Melamori auf dem Beifahrersitz, drehte sich um und musterte mich aus Eulenaugen.
»Sind Sie wirklich Zwachta Tschijam?«, fragte ich skeptisch.
Vielleicht war das bloß ein Pilz- oder Beerensammler? Das allerdings würde schlecht zu seinem Gesicht passen.
Er nickte wortlos und inspizierte mich weiter.
»Bist du dir unsicher?«, fragte Melamori. »Vielleicht solltest du dich nächstes Mal erkundigen, ehe du jemanden einsteigen lässt.«
Als unser Mitfahrer Melamoris Stimme hörte, drehte er sich zu ihr um. Jetzt musste sie seine wortlose Musterung über sich ergehen lassen.
»Sie kennen unsere Mission?«, fragte ich, um mit Sir Zwachta ein Gespräch zu beginnen.
Der Mann drehte sich wieder zu mir und schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass ich Ihnen die Höhlen der Füchse von Mahagon zeigen soll«, sagte er ruhig. »Und genau das werde ich tun.«
Er schwieg wieder und musterte das Innere meines Wagens. Zwachta Tschijam kannte anscheinend keine Benimmregeln oder kümmerte sich einfach nicht um sie.
Nach ein paar Minuten bog Melamori auf einen schmalen, fast unpassierbaren Weg ab. Wir fuhren noch einige Zeit zwischen dicht stehenden Büschen hindurch und krachten schließlich gegen ein stehen gelassenes A-Mobil, in dem offenbar die Männer gesessen hatten, die wir verfolgten. Der fremde Wagen war nur leicht gebaut und ging beim Aufprall kaputt. Uns hingegen passierte zum Glück nichts.
»Entschuldige, Max-, sagte Lady Melamori verlegen. »Ich hätte rechtzeitig bremsen sollen.«
»So was passiert mitunter«, sagte ich lächelnd. »Kein Grund zur Beunruhigung.«
Der Förster stieg aus, ging ein wenig hin und her und zuckte die Achseln. »Hier gibt es nirgendwo eine Höhle«, sagte er ruhig und setzte sich ins Gras.
»Hier nicht, aber wir werden sie schon finden«, versprach ihm Melamori.
Sie trat von einem Bein aufs andere und schien die Jagd unbedingt fortsetzen zu wollen.
»Juffin hat mich gebeten, auf die Spur zu wechseln, der du folgst. Vielleicht kann ich so auch den zweiten Mann erledigen.«
»Gut. Je schneller wir Dschifa finden, desto besser.«
»Suchen Sie etwa Dschifa Sawancha?«, fragte der Förster erstaunt. »Ich dachte, der ist tot.«
»Natürlich. Das ist ja das Problem«, brummte ich.
Sir Zwachta nickte so vehement, als hätte er plötzlich alles begriffen.
Ich sah zu Melamori. »Na, wo ist die kostbare Spur?«
»Na wo wohl? Unter meinen Füßen! Bist du sicher, Max, dass du sie übernehmen willst? Schließlich hat sie dir von Anfang an nicht gefallen.«
»Nicht gefallen? Ich habe eine ausgewachsene Abneigung gegen diese Spur! Aber Sir Juffin hat mich per Stummer Rede gebeten, ihr nun doch zu folgen.«
»Was ist das da eigentlich für eine Leiche?«, fragte der Förster desinteressiert.
»Wo?«, riefen Melamori und ich wie aus einem Munde.
»Na da«, sagte er und zeigte auf das kaputte A-Mobil.
»Das ist der Mann, den du verfolgt hast, Max. Also musst du ihn dir auch ansehen«, meinte Melamori erleichtert.
Ich stieg aus und ging zum Wagen, in dem ein Toter mittleren Alters saß. »Wer mag das sein, Melamori?«
»Keine Ahnung. Frag doch mal Sir Juffin. Aber eigentlich ist es nicht so wichtig.«
»Wieso nicht? Vielleicht gehört er einem gefährlichen Orden an, und wir müssen uns vorsehen.«
Per Stummer Rede beschrieb ich Juffin die Leiche.
»Hellblondes Haar?«, fragte mein Chef aufgeregt. »Hat er auch ein Muttermal auf der linken Wange?«
Ich sah nach und bestätigte es ihm.
»Du hast also Sir Atwa Kurajsa erwischt, den letzten jüngeren Magister des Ordens der Gitter und Spiegel. Übrigens hat Melifaro noch immer nichts über das merkwürdige gelbe Haus herausgefunden. Ihr seid deutlich effektiver als er.«
»Ich hätte nie gedacht, mal effektiver zu arbeiten als Melifaro.«
»Versuch bitte, auch den zweiten Mann zu erledigen.«
»Wer mag das sein? Haben Sie eine Ahnung?«
»Absolut nicht. In Echo leben so viele Leute, und ständig werden es mehr. Finde ihn einfach. Dann sehen wir ja, wer es ist. Den Förster Zwachta habt ihr getroffen, oder?«
»Ja«, seufzte ich. »Das ist vielleicht eine Marke!«
»Komm her, Max!«, rief Melamori. »Hier ist die Spur.«
Vorsichtig trat ich auf die Stelle, die Melamori nur ungern verlassen hatte.
»Und?«, fragte sie.
»Weißt du, bei mir kommt alles viel später an.«
Ich versuchte, mich auf meine Empfindungen zu konzentrieren. Wie üblich geschah alles ganz plötzlich. Zuerst spürte ich nichts, dann aber trugen mich meine Beine mitten in den Wald, wo es schon dämmrig war. Mein Herz warnte mich erneut, doch ich beschloss, nicht darauf zu hören. Ich lief wie mit Siebenmeilenstiefeln, doch Melamori und der Förster hielten Schritt.
Nach einigen Minuten endete die Verfolgung unvermittelt, und ich wusste wieder nicht, wohin ich mich wenden sollte. Also blieb ich stehen und machte dann halbherzig einen Schritt nach vorn. Kaum hatte ich den Fuß aufgesetzt, konnte ich mich nicht mehr rühren. Die kluge Melamori begriff sofort, was los war, und stieß mich in die Kniekehlen. Meine Füße lösten sich vom Boden, und ich fiel mit einem Seufzer der Erleichterung ins Gras. Ich war am Leben!
»Das hätte mir klar sein müssen«, sagte Melamori schuldbewusst. »Aber ich hab es zu spät durchschaut.«
»Was denn?«
»Dschifa hat den, der ihn von den Toten erweckt hat, huckepack genommen. Das hat ihm offenbar schwer zugesetzt.«
»Das ist gut«, sagte ich und stand auf. Nach der zweiten Landung taten mir allmählich die Knie weh.
»Um diese Jahreszeit wird es im Wald rasch dunkel«, sagte der Förster ungerührt. »Wir sollten uns deshalb beeilen.«
»Uns macht die Dunkelheit nichts aus, aber beeilen können wir uns natürlich«, meinte Melamori. »Wo ist die Spur jetzt?«
Finster musterte sie einen schmalen Waldweg und betrat ihn dann entschlossen. Der Förster und ich folgten ihr. Ich mochte meinen Augen kaum trauen: Noch am Morgen war Lady Melamori schwer ermüdet davon gewesen, am Vortag auf Dschifas Spur getreten zu sein - so ermüdet, dass es weh getan hatte, sie nur anzuschauen. Jetzt hingegen hielt sie sich unglaublich tapfer, und in ihrer Miene standen Ärger und Freude zugleich.
»Hast du dich an Dschifa gewöhnt?«, fragte ich.
»Ich weiß nicht, aber ärgerlich zu sein erleichtert mir die Verfolgung. Und ich finde, Dschifa ist schwächer geworden, deutlich schwächer. Melde dich vielleicht mal per Stummer Rede bei Juffin und erzähl ihm alles. Er sollte Bescheid wissen.«
»Das sollte er.«
Ich berichtete unserem Chef die Neuigkeiten.
»Ihr seid meine tapfersten Mitarbeiter«, meinte er. Juffin lobt seine Leute einfach gern. Ob tapfer oder nicht - seine Komplimente reichen für mindestens ein Jahrhundert. »Ich verstehe langsam, warum es Melamori so leichtfällt,
Dschifas Spur zu folgen«, fuhr er fort. »Weißt du, wann er umgebracht wurde?«
»Vor dreißig Jahren.«
»Nein, Max, ich meine die Tageszeit, zu der es ihn erwischt hat. Es war eine Stunde nach Sonnenuntergang -genau wie jetzt. Versucht, ihn so schnell wie möglich zu stellen, denn morgen früh hat er wieder frische Kraft.«
»Alles klar«, sagte ich und begann zu begreifen. »Hat der Todeszeitpunkt so eine große Bedeutung?«
»Natürlich. Wer von den Toten erweckt wird, schwächelt Tag für Tag zur Todesstunde und kommt danach wieder zu Kräften. Also los.«
»Wir sind fast da«, sagte Melamori und zog leicht an meinem Lochimantel. »Hier ist die Höhle, aber ich kann ihn nicht wie gestern rufen.«
»Wir stehen am Höhleneingang«, sagte ich zu Juffin.
»Keine Sorge. Jetzt, wo ihr Sir Zwachta dabeihabt, wird alles gutgehen. Achtet aber darauf, ihm auf Schritt und Tritt zu folgen. Und bedenkt, dass er kein guter Kämpfer ist.«
»Ich auch nicht. Und damit Ende.«
»Einen schönen Ausflug wünsche ich euch! Ende und over!«
Ich schüttelte den Kopf. Manche Sprüche meines Chefs sollte man unbedingt aufschreiben.
»Was hat er gesagt?«, fragte Melamori besorgt.
Sie hockte neben einem großen, moosbedeckten Stein, und Sir Zwachta musterte mit Kennerblick den Höhleneingang.
»Er meint, wir haben Glück. Dschifa ist gerade schwach, und wir sollen ihn sofort fangen. Morgen früh ist es wieder viel schwerer.«
»Also los«, sagte Melamori und wandte sich an den Förster. »Kennen Sie diesen Eingang?«
»Ich kenne alle Eingänge.«
»Gut. Melamori, du gehst als Erste, ich folge dir, und Sie, Sir Zwachta, passen auf, dass wir uns nicht verlaufen.«
Melamori ging forschen Schrittes in die Höhle, und ich blieb ihr auf den Fersen. Das schwere Atmen in meinem Rücken bewies mir, dass der Förster den Anschluss nicht verloren hatte.
Auf allen vieren zu kriechen stimuliert die Fantasie. Ich kam auf die Idee, mit Melamori in den Hades geraten zu sein. Die ihr hier eingeht, lasst alle Hoffnung fahren!, dachte ich und übertrug, was bei Dante über dem Eingang zur Hölle steht, kurzerhand in die griechische Unterwelt.
Verstohlen sah ich mich nach unserem Begleiter um. Seine Augen leuchteten im Dunkeln wie Kerzen, und sein Gesicht schien mir älter und größer als bei normaler Beleuchtung.
»Sie sehen aus wie Charon!«, rief ich begeistert.
Es war zwar dumm, Sir Zwachta mit mythologischen Gestalten zu kommen, die ihm ganz unbekannt waren, doch ich war von der Atmosphäre wie berauscht und konnte noch nicht ahnen, wie richtig ich lag.
»Warum nennen Sie mich so?«, fragte der Förster misstrauisch.
»Weil Sie uns in die Unterwelt führen.«
Was hätte ich sonst sagen sollen?
»Verstehe«, sagte der eigenartige Zwachta ungerührt.
Ich lächelte und dachte: Was verstehst du schon!
Der Gang wurde größer, und wir konnten einigermaßen aufrecht gehen.
»Weiter hinten wird es noch bequemer«, versprach Zwachta.
»Hoffentlich«, murmelte ich und schlug mir den Staub von den Händen.
Seltsamerweise fiel es mir leicht, Melamori zu folgen, obwohl es finster war. Kann ich wirklich im Dunkeln sehen?, fragte ich mich erstaunt.
Melamori ging energisch voraus. Ich war etwas beunruhigt, weil unsere Toten sicher einige Überraschungen für uns geplant hatten.
»Melamori, sind wir den beiden schon nah?«
»Noch nicht so ganz, aber sie sind stehen geblieben - das spüre ich. Vielleicht hecken sie etwas aus ... Womöglich aber hat sich Dschifas Befinden deutlich verschlechtert, und es geht ihm so lausig wie mir heute Morgen.«
»Sei vorsichtig. Das gefällt mir überhaupt nicht.«
»Wer Dschifa zum Leben erweckt hat, muss wirklich ein mächtiger Magister sein«, meinte Melamori versonnen. »Aber das macht nichts. Du spuckst ihn an, und alles wird gut.«
»Hoffentlich. Hauptsache, sie greifen nicht vorher an.«
»Das ist egal«, meinte Melamori achselzuckend. »Du weißt noch nicht, wie gut ich kämpfen kann.«
»Ich kann's mir vorstellen.«
Wir bogen erst nach links, dann nach rechts ab und gerieten bald in ein wahres Labyrinth. Arglos drehte ich mich zu unserem Begleiter um. »Ist es wirklich kein Problem, den Rückweg zu finden?«
»Warum? Wollen Sie schon umkehren?«
»Das ist nur so eine allgemeine Frage.«
»Wir schaffen das schon, keine Sorge«, meinte Sir Zwachta und winkte ab.
Wir bogen mal nach links, mal nach rechts ab. Melamori und Sir Zwachta sagten keinen Ton. Ich hatte längst die Orientierung verloren und lief Melamori nur noch hinterher.
»Wir sind nah dran«, sagte sie plötzlich. »Max, brems mich. Ich bin so aufgeregt, dass ich mich kaum noch unter Kontrolle habe. Und das, obwohl ich mich wirklich beherrschen sollte. Ich glaube, die zwei sind kampfbereit - sie jedenfalls ist es garantiert.«
»Sie?« Ich war frappiert, erwischte Melamori aber noch am Ellbogen und konnte sie zurückhalten. Gereizt versuchte sie, mich abzuschütteln.
»Danke, du bist sehr fürsorglich. Aber warum erstaunt es dich, dass ich von einer Frau rede? Frauen können in so einer Lage ausgesprochen gefährlich sein.«
»Warum?«
»In Stresssituationen können Frauen kräftig zulangen.«
»Wir werden sehen, wer vor Angst das größere Chaos stiftet - die fremde Lady oder wir«, sagte ich und kicherte nervös. »Ist sie wenigstens hübsch? Vielleicht kann ich die Gunst der Stunde nutzen und meinem Privatleben endlich eine glückliche Wendung geben.«
»Dafür hättest du keinen günstigeren Moment finden können«, meinte Melamori sarkastisch. »Ihre Schönheit kannst du gleich selbst in Augenschein nehmen.«
Trotz meiner Bemühungen, sie aufzuhalten, beschleunigte Melamori ihre Schritte noch mehr. Als ich versuchte, sie mit Gewalt zu bremsen, stieß sie mir den Ellbogen in den Bauch.
»Langsam, meine Liebe. Du hast mich selbst gebeten, dich zu bremsen.«
»Ich bin nicht deine Liebe«, rief Melamori verärgert.
»Also gut, meine Böse«, gab ich zurück.
Melamori musste lachen und hielt an.
»Entschuldige, ich hab wohl etwas übertrieben, aber das passiert mir mitunter.«
»Schon gut. Willst du dich nicht hinter meinem breiten Rücken verstecken? Ich glaube, es ist bald so weit, dass ich meine giftige Spucke einsetzen kann.«
»Lass uns nebeneinander gehen«, schlug Melamori vor. »Wenn Lonely-Lokley nicht dabei ist, weiß man nie, wer vorgehen soll.«
»Ja, seine Gegenwart löst viele Probleme«, pflichtete ich ihr bei. »Schade, dass er nicht da ist.«
»Wir schaffen das auch so«, rief sie und reckte das Kinn.
Sie klinkte sich bei mir ein, und wir gingen weiter, um uns mit einem Pärchen zu treffen, das nicht weniger seltsam war als wir.
Mir blieb keine Zeit, um zu begreifen, was mir widerfuhr. Ich spürte einen jähen Schlag am Hals, hörte ein unangenehmes Knirschen und hatte den Eindruck, eine Verbrennung liege mir wie ein Schal um den Hals. Mir stockte der Atem, und ich wäre fast zu Boden gegangen. Dann machte ich vorsichtig einen kleinen Schritt nach vorn.
Alles war so schnell vorbei, wie es gekommen war. Mir lief ein Schauer über den Rücken, aber das war nur eine Schutzreaktion auf den Stress, den ich gerade erlitten hatte. Am Hals spürte ich nur mehr einen stumpfen Schmerz.
Melamori schrie auf, ließ meine Hand los und versteckte sich hinter einer Biegung. Ich folgte ihr.
Hinter der Kurve war es erstaunlicherweise nicht mehr so dunkel, und ich sah, was ich sehen sollte: den nackten Fuß von Lady Melamori, der nach dem Bauch einer Unbekannten trat. Die Hände der Fremden schimmerten ein wenig, und auch Lady Melamoris Kopf war von einer schwachen Aureole umgeben.
Ich erstarrte vor Angst. Ohne Genaueres sagen zu können, spürte ich intuitiv, dass etwas Schlimmes geschah.
Dann lag die Fremde am Boden. Unsere Verfolgungsmeisterin konnte wirklich gut kämpfen. Und sie behielt ihre Aureole. Ich schrie und schnippte dabei mit den Fingern, ohne nachzudenken. Ein tödlicher Kugelblitz fuhr in die Unbekannte. Ich konnte es nicht erklären, doch ich wusste, dass ich Melamoris Leben nur so zu retten vermochte.
Der grüne Kugelblitz hatte die Unbekannte am Kopf getroffen, und sie sah mich mit kühlem Hass an. Ich muss gestehen, dass ich ihren Blick als erotisch empfand. Doch im nächsten Moment war er leer und wie ausgelöscht. Die hübsche Frau streckte die Hände aus, die ihre Aureole längst verloren hatten.
»So ist's gut«, sagte ich. »Interessante Experimente muss man zu Ende führen und schauen, was herauskommt.«
»Du lebst ja noch!«, rief Melamori verblüfft.
Sie saß auf dem Boden und hielt sich den Kopf, sah ansonsten aber ganz gut aus.
Ich wollte etwas sagen, konnte aber keinen Ton herausbringen, sondern musterte die unverletzte Melamori nur schweigend und mit breitem Lächeln. Sie reagierte darauf mit einem erstaunten Blick.
Ein kräftiger Stoß streckte mich jäh zu Boden. Und ich Dummkopf hatte gedacht, die Gefahr sei ausgestanden!
Zum Glück hatte ich keine Schmerzen - und das, obwohl mein Zustand einer Agonie ähnelte. Ich konnte nur stumpf auf dem Boden sitzen und interessiert die Löcher meines Mantels betrachten. Und ich sah, dass er blutig war ... Sündige Magister! Über meine Finger rann der mir so teure Kachar-Balsam. Verletzt war ich aber nur leicht.
»Flau ab, du totes Gespenst«, sagte Melamori und packte Dschifa mit einer Kraft, die ich ihr nicht zugetraut hatte. »Max, er hat dich mit einem Babum beschossen! Ich hab alles Mögliche erwartet, aber das nicht.«
»Was kann man von einem Räuber schon erwarten?«
»Da hast du Recht - von einem Räuber und einer Schönheit. Was hast du eigentlich mit ihr gemacht, Max?«
»Das weiß ich nicht genau. Schauen wir sie uns mal an.«
Als Vorsichtsmaßnahme schnippte ich allerdings zunächst mit den Fingern, und ein grüner Blitz schlug in Dschifas Kopf ein. Ich wollte ihn nicht umbringen, ehe er meine vielen Fragen beantwortet hatte. Prompt wurde der Räuber weich und rief: »Ich stehe Euch zu Diensten, Herr.«
Melamori sah uns begeistert an.
»Das war's. Deine Schutzmechanismen greifen nicht mehr«, sagte ich boshaft zu Dschifa. »Und das, obwohl du so ein Spektakel veranstaltet hast. Jetzt bleib hier sitzen.« Dann wandte ich mich an die Fremde: -Wie geht es Ihnen, gnädige Frau? Ich hoffe, Sie fühlen sich schlecht.«
»Max, was hast du getan?«, fragte Melamori geradezu hysterisch und beugte sich über unser unglückliches Opfer.
»Ich hab doch gesagt, dass ich es nicht genau weiß.«
Als ich allerdings das Werk meiner Hände sah, zuckte ich zusammen. Auf dem Boden lag ein zierlicher, in einen schwarzen Lochimantel gehüllter Frauenkörper, doch er hatte den Kopf eines Vogels. Der halb geöffnete Schnabel wirkte traurig.
»So was hab ich noch nie gesehen«, flüsterte Melamori. »Wie hast du das nur geschafft?«
»Ich hab damit nichts zu tun. Sie hat sich selbst verzaubert«, sagte ich. »Aber könntest du mal schauen, was mit meinem Hals los ist? Er tut höllisch weh.«
»Das ist eine Verbrennung«, sagte Melamori und schüttelte mitfühlend den Kopf. »Die ist zwar unangenehm, aber nicht schlimm. Wenn man bedenkt, dass du enthauptet werden solltest ... Ich weiß nicht, ob dir klar ist, dass man mit dem Dünnen Tod auf dich gezielt hat. Hast du schon davon gehört?«
Ich schüttelte den Kopf und sagte: »Was soll das sein?«
»Eine Stahlplatte, die so dünn wie ein Haar ist. Sie findet ihr Opfer von selbst. Man benötigt also keine Kenntnisse, um sie einzusetzen. Sie trennt nur den Kopf vom Rumpf - andere Körperteile interessieren sie nicht. In der Ordensepoche war sie eine beliebte, wenn auch seltene Waffe, da ihre Herstellung viel Geheimwissen erfordert. Als ich den Blitz an deinem Hals sah, war ich vor Schreck ganz außer mir. Gut, dass dir nichts passiert ist«, sagte sie und weinte fast.
»Da bin ich ganz deiner Meinung«, erklärte ich mit voller Überzeugung und betastete meinen schmerzenden Hals. »Ich bin der glücklichste Mensch im All!«
Jetzt erst begriff ich nämlich, was geschehen war, und hätte bei der Vorstellung, mein Kopf läge ein paar Meter von meinem Körper entfernt, beinahe geschluchzt.
»Weißt du«, fuhr ich fort, »als ich aus dem Haus ging, hab ich mir mein Amulett um den Hals gebunden - das Armband des Großen Magisters vom Orden des Geheimen Krauts. Juffin hat mir das kostbare Stück geschenkt, als ich aus Kettari zurückkam. Er hat mir empfohlen, mit dem Armband zu schlafen, und ich dachte mir, ich sollte es mir umbinden, bevor wir losziehen, damit ich es in der Hektik der Verfolgung nicht vergesse.«
»Bist du etwa stolzer Besitzer des Armbands des Großen Magisters Chana?«, fragte Melamori und schüttelte erstaunt den Kopf. »Max, du bist ein Glückspilz. Nur dieses Amulett schützt vor dem Dünnen Tod!«
»Den Namen dieses Magisters höre ich zum ersten Mal.«
»Den kennt ohnehin kaum noch jemand. Weißt du, der Orden des Geheimen Krauts war für seine Amulette bekannt. Doch Magister Chana verlor plötzlich alles Interesse an seiner Arbeit und verschwand, ohne dass man wüsste, wohin. Aber warum soll ich dir darüber Vorträge halten? Frag besser Melifaro - seine Familie steht dem Orden des Geheimen Krauts sehr nah.«
»Das mach ich. Sag mal, wo ist eigentlich unser lieber Sir Zwachta?«
»Vielleicht ist er geflohen«, meinte Melamori lachend.
Nach kurzem Zögern schloss ich mich an. Wir saßen beide neben der Leiche mit dem Vogelkopf, und unser Lachen hatte eine erstaunlich befreiende Wirkung.
»Weißt du«, sagte ich, »vielleicht sollten wir an die frische Luft gehen.«
»Mit Vergnügen. Aber ruf erst deinen treuen Knecht.«
»Dschifa, komm und zeig uns den kürzesten Weg zurück.«
»Ja, Herr.«
Dschifa ging schnurstracks durch die Höhle, und ich half Lady Melamori beim Aufstehen. Sie warf einen letzten Blick auf die Tote.
»Wer mag das gewesen sein? Sie kommt mir bekannt vor.«
»Wer war diese Frau?«, fragte ich meinen treuen Vasallen.
»Lady Tana Kurajsa, mein Herr.«
»Natürlich! Die Schwester von Magister Atwa!«, rief Melamori. »Er hat sie in diese Sache verwickelt! Schweinerei!«
»Wer hat wen in diese Sache gezogen, Dschifa?«, fragte ich interessiert. »Erzähl uns, wie es war.«
»Lady Tana war in mich verliebt. Wir waren einige Zeit zusammen, aber unsere Beziehung spielte für mich keine große Rolle. Nachdem mir meine Räuberbande genommen war, zwang Lady Tana ihren Bruder, mich von den Toten zu erwecken. Das hat anfangs nicht besonders gut geklappt, und ich ähnelte eher einer leblosen Puppe. Aber Lady Tana hat hartnäckig an mir gearbeitet, bis ich wieder ganz der Alte war. Doch sie hat mich nur aus Eigennutz von den Toten erwecken lassen und verlangt, dass ich ausschließlich für sie da sein solle. Ich dagegen sehnte mich nach meinem früheren Leben und wollte in den Wald von Mahagon zurück. Doch meine neue Bande enttäuschte mich. Die Räuber waren dumm, und die Atmosphäre von damals wollte sich nicht mehr einstellen. Das war für mich das Schlimmste ... Wollt Ihr mich nun endgültig umbringen, Herr?«
»Natürlich. Was könnte ich sonst noch mit dir machen?«
»Das ist gut«, sagte er und nickte dankbar.
Wir gingen lange durch Höhlen und Gänge und mussten wieder auf alle viere, ehe wir nach draußen kamen.
Dort war es dunkel, kalt und feucht. Während unseres Höhlenbesuchs hatte es im Wald von Mahagon stark geregnet.
Wir zitterten vor Kälte. Nur Dschifa machte das Wetter nichts aus.
»Führ uns zu unserem A-Mobil«, befahl ich. »Ich hab warme Sachen dabei. Die brauch ich jetzt.«
Wir folgten ihm. Nasse Zweige schlugen uns ins Gesicht, und wir traten ständig in große Pfützen.
»Ich hab mich bei Juffin gemeldet«, sagte Melamori und versuchte, ihr Zähneklappern zu unterdrücken. »Ich hab ihm erzählt, dass es uns gutgeht, und ihn gefragt, ob wir Dschifa mitbringen sollen. Das brauchen wir nicht.«
»Was hat er auch in Echo zu suchen? Soll er doch in seinem Wald sterben, in dem er schon mal gestorben ist.«
Dschifa blieb bei einem moosbedeckten Stein stehen.
»Wir sind da«, sagte er. »Könnt Ihr mich nun umbringen?«
»Hab noch einen Moment Geduld. Führ uns bitte erst zu unserem A-Mobil. Weißt du; wo wir es stehen gelassen haben?«
»Ja«, sagte Dschifa und ging weiter.
»Hast du alles von ihm erfahren, was du wissen wolltest?«, fragte Melamori.
»Gut, dass du mich daran erinnerst«, meinte ich und wandte mich an Dschifa: »Wo habt ihr eigentlich das Diebesgut versteckt?«
»Das haben wir alles Atwa gegeben, und er hat die Sachen abtransportiert. Ich hab nie gefragt, wohin. Wir wollten nur mit der alten Bande aktiv sein.«
»Und wer hat die Mitglieder der königlichen Jagd umgebracht? All die jüngeren Magister, die euch vor dreißig Jahren das Handwerk gelegt haben?«
»Niemand. Tana hat sie verflucht, als sie begriff, dass unsere Beziehung nicht von Dauer sein würde. Sie wusste, dass die jüngeren Magister ihr einen schlechten Dienst erwiesen hatten, und hat sich so an ihnen gerächt. Den Tod ihres Bruders hat sie nur inszeniert, um die Spuren zu verwischen. Außerdem hatte sie Angst, dass man mich schnappen würde und sie in eine unangenehme Lage geriete. Tana war sehr sauer auf Atwa und mich, nachdem wir all meine Spießgesellen zum Leben erweckt hatten und aufs Neue mit unseren Raubzügen begannen. Eines Tages kam sie zu mir, um mir zu helfen, obwohl ich nicht darum gebeten hatte. Es ist seltsam, aber sie hat mich offenbar wirklich geliebt. Atwa ist gleich gestorben, als du auf seine Spur getreten bist, doch Tana war dagegen immun. Wir sind da. Hier steht euer A-Mobil. Bin ich müde! Es geht mir furchtbar. Bitte bring mich jetzt um.«
Dschifa tat mir nicht leid, aber in dieser Sache stand ich auf seiner Seite. Ich hasse jeden Zwang. Und ich verabscheute, was man ihm angetan hatte.
»Gut«, sagte ich. »Ich befehle dir, wieder der wahre Dschifa Savancha zu sein und dorthin zu gehen, wo er jetzt sein sollte.«
Seine trüben Augen schauten mich so hasserfüllt wie begeistert an. Dann fiel er ins Gras, stieß einen letzten Schrei aus und war verschwunden.
Ich setzte mich hin und wischte mir den Schweiß von der Stirn. Ich fühlte mich lausig.
»Max, was hat das alles zu bedeuten? Was hast du da gemacht?«, fragte Melamori erschrocken.
»Keine Ahnung. Ich glaube, ich habe Gerechtigkeit walten lassen. Ich hab bestimmt alles richtig gemacht. Warum geht es mir dennoch schlecht? Jetzt, wo auch noch die Flasche mit dem Kachar-Balsam kaputt ist, hab ich überhaupt keine Kraft mehr - zu gar nichts.«
»Wozu brauchst du auch Kraft? Ich fahr uns jetzt nach Hause, und du legst dich auf die Rückbank.«
Melamori zog mich hoch und half mir in den Wagen.
Ich streckte die Beine genüsslich aus, schloss die Augen und erwartete nichts als süße Träume.
»Max, der Wagen will nicht anspringen«, rief Melamori. Ihre erschrockene Stimme zerriss meine süßen Traumgespinste.
»Was mag passiert sein?«, fragte ich erstaunt.
»Vielleicht ist ja der Kristall bei unserem Auffahrunfall zerbrochen. Ich schau mal nach.«
Ich hörte sie die Tür aufmachen und die Motorhaube öffnen. Dann fluchte sie mehrmals und kam schließlich zu mir.
»Leider ist es so, wie befürchtet. Dabei hatte ich mir schon eine lauschige Rückfahrt vorgestellt
»Das ist schlecht«, sagte ich, öffnete die Augen, setzte mich auf und dachte nach. Der Kristall ist das Herz des A-Mobils - das, was in meiner alten Heimat der Motor ist.
»Sieh mal, Max, da kommt jemand.«
Zwachta steckte den Kopf durchs Seitenfenster. »Wo sind Sie denn gewesen? Ich hab Sie die ganze Zeit in der Höhle gesucht. Geht's Ihnen gut? Möchten Sie Nüsse?«, fragte er und warf uns ein paar auf die Rückbank.
Melamori und ich tauschten einen Blick und lachten.
»Haben Sie auch einen Wagen, Sir?«, fragte Melamori.
»Natürlich, aber zu Haus. In den Wald geh ich prinzipiell zu Fuß.«
»Das ist gut«, seufzte die Verfolgungsmeisterin. »Bei unserem Wagen ist nämlich der Kristall kaputtgegangen.«
»Kein Problem. Dann gehen wir einfach zu mir. Das ist allerdings ein Spaziergang von anderthalb Stunden.«
»Das schaff ich beim besten Willen nicht«, sagte ich. »Holen Sie besser Ihren Wagen. Wir warten auf Sie.«
»Gut. Ich bin in zwei Stunden zurück. Aber rühren Sie sich nicht von der Stelle. Sie kennen den Wald nicht.«
»Was meinst du, kommt er zurück?«, fragte Melamori. »Womöglich sollten wir uns bei Sir Juffin melden und ihm alles erzählen.«
»Der kommt schon. Juffin hat ihn uns wärmstens empfohlen, und das will was heißen. Außerdem kann ich jetzt zwei Stunden dösen und mich etwas erholen. Mein Amulett ist zwar verbrannt, und Sir Juffin hat gesagt, dass ...«, meinte ich noch und schlief dann ein.
Diesmal führte mich mein Traum sehr weit weg. Ich landete in der Leere. Anders kann ich es nicht sagen, denn dort gab es tatsächlich nichts: weder Raum noch Zeit, weder Licht noch Gravitation. Ich hatte das Gefühl, seltsam zwischen Sein und Nichtsein zu schweben.
Von dort konnte ich in jede beliebige Welt wechseln, und ich begriff, dass es eine unendliche Zahl von Welten gibt. Ich musste mich entscheiden, wohin ich wollte, um nicht von einer fremden, mir feindlich gesinnten Welt verschluckt zu werden.
Ich war offenbar in die Tür zwischen den Welten geraten, von der mir Juffin und Maba Kaloch schon mehrmals erzählt hatten. Ich war immer sehr gespannt darauf gewesen, wie diese Tür beschaffen sein würde. Jetzt wusste ich es.
Und ich hatte Angst, nie mehr nach Hause - also nach Echo - zurückzufinden. Deshalb wollte ich sofort in den Wald von Mahagon zurück, wo ein gewisser Sir Max, der ich wieder sein wollte, in seinem Wagen schlief. Aber wie sollte ich dorthin gelangen?
Ich versuchte, mich zu beherrschen, spürte aber die Gier der Welten, mich zu verschlucken. Ich sehnte mich nach den Mosaikgehsteigen von Echo, meinen Freunden, die ich unendlich liebte, und den grauen Augen von Lady Melamori. Gleich würde ich verschwinden. Das spürte ich deutlich ...
Eine kräftige Ohrfeige katapultierte mich in die Wirklichkeit zurück. Ich sprang auf und war tief erschrocken und desorientiert, aber ungemein glücklich. Ich konnte mich nicht daran erinnern, was mit mir los gewesen war, aber ich wusste, dass ich gerade einer großen Gefahr entronnen war.
Melamori war bleich und schien so erschrocken wie ich.
»Was ist los? Hab ich dich im Schlaf bedrängt oder beleidigt? «
»Nein. Entschuldige bitte, dass ich dich geschlagen habe, Max, aber ich musste etwas unternehmen, denn du bist langsam verschwunden.«
»Das klingt ja gar nicht gut«, meinte ich und rieb mir ungläubig die Augen. »Wie sah mein Verschwinden konkret aus?«
»Wie es ausgesehen hat? Schlimm! Während du schliefst, hab ich mich per Stummer Rede bei Sir Juffin gemeldet und ihn gebeten, den seltsamen Förster zu überprüfen. Ich hatte Angst, wir würden kein neues A-Mobil bekommen. Sir Juffin hat gesagt, ich solle auf dich aufpassen, weil du ohne Amulett eingeschlafen seist. Das kam gerade noch rechtzeitig, denn du warst schon halb durchsichtig. Ich wusste nicht, was ich machen sollte, dachte aber, ich wecke dich besser auf. Und das hat funktioniert.«
»Oh ja«, sagte ich und massierte meine brennende Wange.
»Versuch, dich daran zu erinnern, was mit dir los war.«
Ich schloss die Augen und landete zwischen Traum und Wirklichkeit. Das ist meine bewährte Methode, mir Träume zu vergegenwärtigen.
»Und? Weißt du schon, wo du warst? Erzähl doch mal!«
»Ich glaube, ich melde mich am besten sofort bei Sir Juffin. Darf ich bei diesem Gespräch deine Hand halten? Ich hab nämlich große Angst.«
Melamori nickte schweigend und hielt mir die Hand hin. Ich beruhigte mich ein wenig, baute die Verbindung auf und erzählte meinem Chef alles.
»Ich hatte schon damit gerechnet, dass dir mal so was passiert«, meinte Sir Juffin. »Es ist gut, dass dein Amulett dir das Leben gerettet hat, aber schlecht, dass es verbrannt ist. Ein Duplikat lässt sich nicht herstellen, weil der Große Magister des Ordens vom Geheimen Kraut nicht mehr in seinem Beruf tätig ist. Na ja, Max, du musst es einfach anders versuchen. Auf alle Fälle weißt du jetzt, wie es ist, die Welten zu wechseln. Und nun gib dir alle Mühe, nicht einzuschlafen, ehe du wieder in Echo bist.«
»Alles klar, Chef. Meinen Sie, dass dieses Abenteuer gut ausgeht? Ich möchte Echo auf keinen Fall verlassen.«
»Und wenn eine andere Welt so hübsch wäre wie die Stadt Kettari? Vielleicht würdest du dann deine Meinung ändern?«
»Nein, ich muss in Echo bleiben. Ich kann es Ihnen nicht erklären, aber
»Das brauchst du auch nicht, Max. Im Großen und Ganzen hängt es von dir ab, wie diese Sache endet. Hauptsache, du schläfst nicht ein. Ich erwarte euch.«
Melamori sah mich fragend an.
»Juffin meint, alles wird gut«, beruhigte ich sie. »Ich darf nur nicht einschlafen. Sag mal, kommt Zwachta bald? Die zwei Stunden sind doch schon rum, oder?«
»Fast«, antwortete Melamori. »Versuch bitte, nicht zu verschwinden, Max. Du hast mich heute dreimal ordentlich erschreckt: Zuerst wurdest du vom Dünnen Tod attackiert, dann mit einem Babum, und dann bist du langsam verschwunden.«
••Tja«, sagte ich und versuchte zu lachen, musste stattdessen aber schniefen.
Wir saßen in schweigender Umarmung da, und ich wünschte, diesen herrlichen Moment ins Unendliche zu dehnen.
Das Geräusch eines A-Mobils zwang uns in die Wirklichkeit zurück. Kurz darauf sahen uns große Eulenaugen durchs Seitenfenster unseres Wagens an.
»Sind Sie traurig?«, fragte Zwachta. »Man sollte wegen eines kaputten Wagens nicht gleich eine Depression bekommen.«
Melamori und ich mussten lachen.
»Soll ich Sie nach Echo fahren?«
»Das schaffen wir schon allein. Aber vielen Dank für das Angebot«, meinte ich.
Genüsslich setzte ich mich ans Steuer des nagelneuen Wagens, den der Förster uns überlassen hatte.
»Morgen bringt Ihnen jemand den Wagen zurück, wechselt den Kristall und überführt mein A-Mobil nach Echo«, sagte ich.
»Vergiss deine Tasche nicht, Max«, meinte Melamori. »Gute Nacht, Sir Zwachta. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«
»Nicht der Rede wert«, sagte der Förster mit honigsüßem Lächeln.
Vorsichtiger als sonst fuhr ich durch den Wald, denn es wäre mir unangenehm gewesen, auch diesen Wagen kaputt zu machen. Doch als wir die Landstraße erreichten, trat ich energisch aufs Gaspedal und ging aufs Ganze. Melamori wirkte unendlich glücklich.
Fast den ganzen Weg rasten wir schweigend dahin. Die Dunkelheit war ein wunderbarer Gesprächsersatz.
»Wir sind da«, sagte Melamori, als ich vor dem Geheimeingang des Hauses an der Brücke hielt.
Sir Juffin saß in seinem Sessel und starrte auf einen Punkt an der Wand. Kaum aber hatte er uns bemerkt, lächelte er, stand auf und kam uns entgegen.
»Mit Dschifa und seiner leidenschaftlichen Freundin seid ihr wunderbar fertig geworden«, begann er. »Die Stadtpolizei wird sich freuen, dass ihr Rache für Hauptmann Schichola genommen habt.«
»Statt uns Komplimente zu machen, geben Sie uns lieber einen Schluck Kachar-Balsam. Ich bin fix und fertig. Sie wissen vermutlich, welch schreckliches Schicksal meine Flasche erlitten hat.«
»Sicher, auch das hat mir Melamori erzählt. Das kommt davon, wenn du mal die eigene Flasche mitnimmst und mir nicht ständig Balsam aus dem Schreibtisch klaust.«
Nach zwei Schlucken spürte ich meine Lebensgeister zurückkehren. Ich fühlte mich wieder leicht, und das Leben erschien mir einmal mehr einfach und wunderbar.
»Bitte sehr«, sagte ich und reichte Melamori die Flasche. »Wirklich empfehlenswert.«
»Ich glaube, ich sollte jetzt besser nach Hause gehen und mich ausschlafen«, meinte sie. »Bitte versprechen Sie mir aber, dass Max nicht verschwindet.«
»Abgemacht. Und sollte er tatsächlich verschwinden, werde ich ihn schon irgendwo erwischen. Zufrieden?«
Melamori nickte und küsste mich unerwartet auf die Wange.
»Gute Nacht, meine Herren. Wenn ich jetzt nicht gehe, schlafe ich im Stehen ein.«
Mir fiel die Kinnlade runter. Juffin sah mich mitfühlend an und lächelte verständnisvoll.
»Was machen wir jetzt?«, fragte ich.
»Was wohl? Essen natürlich. Dabei warten wir auf unsere Kollegen, und dann erzählst du uns alles. Danach übernachtest du bei mir, und ich pass auf dich auf. Auch Maba Kaloch hat versprochen, dir zu helfen. Es ist also dafür gesorgt, dass dir nichts Böses zustößt. Weißt du, ein so kniffliges Problem wie deine Weltenwanderungen im Schlaf muss man ein für alle Mal lösen. Du wirst das ganze Labyrinth abschreiten und in allen Welten vorbeisehen. Du musst endlich eine Vorstellung von ihnen bekommen. Und wenn dich die Tür zwischen den Welten das nächste Mal ruft, bist du kein Opfer mehr, sondern ein reiselustiger Mensch, der Abwechslung sucht. Du hast großes Glück, Max: Viele Leute warten jahrelang auf so eine Reise. Mancher Große Magister würde vor Neid platzen, wenn er wüsste, wie leicht du die Tür zwischen den Welten gefunden hast.«
»Das klingt zwar ganz gut, aber ich habe Angst, dass ich bei jedem Einschlafen dorthin gerate.«
»Du hast mich offenbar noch nicht verstanden. Du bist kein Gefangener dieser Tür, sondern eher ihr Miteigentümer.«
»Und Sie?«, fragte ich klopfenden Herzens.
»Ich hab mich dort gut eingelebt und weiß, wovon ich rede.«
Nach einer halben Stunde kam Sir Kofa zu uns. Er wirkte müde.
»Na, hast du die Füchse aus Mahagon erledigt?«, fragte er. »Wie ich höre, hast du das wieder prima hinbekommen.«
»Wirklich? Hat sich das schon herumgesprochen?«
Kofas Worte schmeichelten mir, weil er nicht dazu neigte, mich mit Komplimenten zu überschütten.
»Die ganze Stadt spricht über dich«, meinte unser Meister des Verhörs lächelnd. »Es gibt sogar Gerüchte, wonach du den Kopf von Sir Dschifa in einem Sack mitgebracht hast. Die Einwohner der Hauptstadt rümpfen die Nase über so eine Grausamkeit, denken aber, das sei typisch für einen Barbaren aus den Leeren Ländern.«
»Guten Abend, meine Herren.«
Mit diesen Worten tauchte Lonely-Lokley auf, musterte mich und schüttelte dann den Kopf.
»Du siehst angegriffen aus«, meinte er.
»Dafür bin ich noch am Leben.«
»Stimmt auffallend.« Schürf setzte sich neben mich und goss sich Kamra ein.
»Seid ihr etwa schon am Essen?«, tönte es von der Bürotür her, und Sir Melifaro trat mit verärgertem Gesicht ein. »Ich möchte auch was abbekommen, denn ich bin unglaublich hungrig. Wisst ihr, wo das Diebesgut der Füchse aus Mahagon versteckt war?«
»Vermutlich im Wagen von Lady Tana und ihrem Bruder Atwa. Die beiden hatten vor, Echo für immer zu verlassen.«
»Sehr gut, Max. Der seltsame Förster Zwachta hat den Wagen gefunden. Ich habe ihn zwar im Verdacht, sich das eine oder andere in die Taschen gestopft zu haben, aber für eine gute Tat darf man sich notfalls auch mal selbst belohnen«, erklärte Melifaro, setzte sich und schob sich eine Pirogge in den Mund.
»Max, wir müssen gehen. Wir haben noch was vor«, sagte mein Chef.
»Gute Nacht, Freunde«, meinte ich und ging zur Tür. An der Schwelle drehte ich mich um. »Schön, dass es euch gibt.«
Ich hatte vor Verlegenheit einen Kloß im Hals, doch Juffin beruhigte mich: »Das hast du richtig gemacht, Max. Solche Sachen sollte man ruhig öfter sagen.«
Der Wagen von Sir Juffin wartete bereits vor dem Haus. Am Steuer saß Kimpa, der alte Diener meines Chefs. Ich wusste, dass Juffin mich nie ans Steuer seines Wagens lassen würde - mochte geschehen, was wolle.
Während der Fahrt schwiegen wir. Juffin schien sich per Stummer Rede zu unterhalten, und ich schwelgte in Vorfreude, dieses seltsame Abenteuer endlich hinter mich zu bringen.
»Willkommen in meiner bescheidenen Hütte, Max«, sagte Juffin, öffnete die Tür und komplimentierte mich mit theatralischer Verbeugung über die Schwelle. Ich zögerte kurz, dachte mir dann aber, es müsste endlich etwas geschehen.
Ich zog mich aus, schlüpfte unter eine warme, weiche Decke, schloss die Augen und schlief binnen Sekunden ein.
Wovon ich in dieser Nacht geträumt habe, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls habe ich ungemein viele Welten besucht, von denen manche sehr real, manche dagegen wie ein schrilles Fantasieprodukt wirkten. In einer dieser Welten traf ich sogar den rothaarigen Dschifa, doch auch an die Details dieser Begegnung kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass er sehr zufrieden aussah.
Auch in meiner alten Heimat schaute ich kurz vorbei und konnte feststellen, dass sie weder besser noch schlechter als die übrigen Welten war.
Auf keinen dieser Besuche legte ich gesteigerten Wert. Ich fühlte mich nicht wie ein Mensch, sondern wie ein Windhauch, der mühelos weite Entfernungen zurücklegt.
Dann hatte ich es satt, im Traum einsam von Abenteuer zu Abenteuer zu ziehen, und wollte nach Echo zurück. Kaum hatte ich festgestellt, dass ich mich in der Tür zwischen den Welten mühelos zurechtfand, erwachte ich.
Einige Zeit lag ich da, ohne die Augen zu öffnen. Als ich schließlich die Lider aufschlug, musste ich mich erst ans Tageslicht gewöhnen. Ich sah mich um. Das war nicht das Schlafzimmer von Sir Juffin Halli, in dem ich am Vorabend eingeschlafen war, sondern ein kleines Zimmer, das mir durchaus bekannt vorkam. Jetzt wusste ich, wo ich mich befand: im Schlafzimmer meiner ersten Wohnung in Echo, die in der Straße der alten Münzen gelegen hatte. Was sollte ich bloß machen, falls plötzlich mein Nachmieter auftauchte?
Ich hörte ein leises Kichern, drehte mich erschrocken um und erblickte Sir Maba Kaloch.
»Es ist unfassbar, wie stark du dich diesem Zimmer verbunden fühlst«, sagte er belustigt. »Kannst du mir sagen, was dich so anzieht?«
»Keine Ahnung, Sir Maba. Ich fürchte, ich bin ein wenig verrückt.«
»Halb so schlimm. Du bist sehr interessant - nur ein wenig exzentrisch. Gut, wie ich sehe, kann ich jetzt gehen. Du wirkst nicht wie jemand, der Hilfe braucht. Gleich kommt Sir Juffin und bringt dir was zum Anziehen. Du hast hier nichts mehr, oder?«
»Nein, und ein Lochimantel ist das Mindeste, was ich brauche. Vielen Dank, Sir Maba. Darf ich mich als völlig geheilt betrachten?«
»Durchaus. Aber jetzt lass mich verschwinden. Dreh dich dafür bitte kurz um.«
Im Nu hatte Sir Maba sich in Luft aufgelöst. Dafür hörte ich Juffins Schritte. Mein Chef nahm den gewöhnlichsten aller Wege - den durch die Tür.
»Na, mein Weltenbummler, wie fühlst du dich?«, fragte er amüsiert. »Hat dir die Reise gefallen?«
»Ich glaube, ja, kann es aber nicht genau sagen. Warum bin ich eigentlich hier gelandet? Ich bin doch bei Ihnen zu Hause eingeschlafen.«
»Das hast du dir so gewünscht. Sonst wärst du nicht hier«, meinte Juffin und breitete ratlos die Arme aus. »Maba Kaloch und ich haben sehr gestaunt, aber du hast offenbar ein Faible für solche kleinen Zimmer. Deine Tür zwischen den Welten jedenfalls befindet sich ausgerechnet hier. Also wirst du bei deinen Reisen immer hier starten und landen. Und jetzt zieh dich an«, sagte er und warf mir eine schwarze Skaba zu. Ich war erleichtert, weil ich mich nackt seltsam ehrlos fühlte.
»Und jetzt ab ins Bad. Wir haben heute noch viel vor -zum Beispiel ein Frühstück.«
Ich brachte die Morgentoilette schnell hinter mich, und ebenso rasch ordneten sich meine Gedanken. Dann kam ich ins Wohnzimmer, wo Juffin ungeduldig auf und ab ging.
»Eins möchte ich noch wissen: Lande ich wirklich nach jeder Reise durch die Tür zwischen den Welten wieder in diesem Zimmer? Was wird denn dann aus dem Schlafzimmer in meiner neuen Wohnung?«
»Wie gesagt, dieser Raum dient dir nur dazu, alle möglichen Welten zu erreichen. Du warst so hartnäckig, dass wir nicht anders konnten - wir mussten dir dieses Zimmer einfach überlassen. Und jetzt zieh endlich deinen Lochimantel an, und lass uns ins Fressfass gehen. Alle warten schon auf dich.«
»Wie lange habe ich geschlafen? Vierundzwanzig Stunden?«
»Etwas mehr. Über ein Jahr, um ehrlich zu sein.«
»Was?«
»Du hast richtig gehört. Warum wundert dich das so?«
»Na ja, soll das jetzt öfter Vorkommen?«
»Schwer zu sagen, aber je mehr Erfahrungen man mit dem Reisen zwischen den Welten hat, desto schneller geht es.«
»Und was haben Sie den anderen Mitarbeitern des Kleinen Geheimen Suchtrupps gesagt? Hat überhaupt jemand nach mir gefragt?«
Ich war beleidigt - es war so wie in der Kindheit, wenn man zum Mittagessen gerufen wird und hinterher feststellt, dass alle vergnügt und ungerührt weitergespielt haben.
»Ich hab allen erzählt, dass du in den Orden des Siebenzackigen Blatts eingetreten bist und dort eine geheime Mission zu erfüllen hattest. Außerdem hab ich dir dein Gehalt jeden Monat in die Schublade gesteckt, und jetzt bist du ein reicher Mann. Zufrieden?«
Das Fressfass war leer. Nur unser Lieblingsplatz zwischen Bar und Fenster war von Mitarbeitern des Kleinen Geheimen Suchtrupps umlagert. Viele warfen sich mir nacheinander um den Hals. Lady Melamori machte den Anfang. Als Nächster war Melifaro dran und nutzte die seltene Gelegenheit, uns beide auf einmal zu umarmen. Lukfi Penz verschüttete vor lauter Freude ein wenig Kamra, und Sir Kofa Joch grüßte mich von seiner Tischecke her. Nur Lonely-Lokley beobachtete den ganzen Trubel distanziert, und das war auch besser so. Diesen wunderbaren Kerl wollte ich gesondert begrüßen.
Ich setzte mich an den Tisch und musterte die Kollegen. In einem Jahr konnte sich manches geändert haben. Melifaro zum Beispiel hatte sich eine kleine Narbe an der Braue zugezogen.
«Hauptsache, man bekommt rechtzeitig eins auf die Zwölf«, kommentierte er den Vorfall, wollte aber nicht erzählen, was geschehen war. »Sieh dir lieber an, was Lockey-Lonely angerichtet hat. Das ist vielleicht ein Held!«
»Melifaro, merk dir endlich meinen Namen«, raunzte Sir Schürf und wandte sich dann an mich. »Sieh mal, Max«, sagte er und zog seinen Handschuh aus.
Mitten in der Handfläche saß ein strahlend blaues Auge.
»Wem hat das gehört?«, fragte ich erstaunt.
»Einem Jungen, den du nicht kennst. Diese Geschichte ist ohne dich passiert. Aber es sieht hübsch aus, stimmt's?«
»Verfügt dieses Auge über spezielle Zauberkräfte?«
Alle am Tisch brachen in Gelächter aus. Nur Sir Schürf blieb wie immer unerschütterlich.
»Es kann dir zuzwinkern, Max. Das war's«, brachte Melifaro lachend hervor.
»Ich dachte, es würde dir gefallen«, sagte Lonely-Lokley. »Wenn ich nun meine berühmte Linke zum Einsatz bringe, kann sie dem Opfer noch kurz zuzwinkern.«
Nach dem lustigsten Frühstück meines Lebens konnte ich mich endlich ins A-Mobil setzen und nach Hause fahren. Ich wollte unbedingt meine Katzen sehen. Ein Jahr lang hatte ich sie nicht zu Gesicht bekommen.
»Max, komm bei Sonnenuntergang wieder ins Haus an der Brücke«, meinte mein Chef. »Es gibt viel für dich zu tun.« Seine Worte gefielen mir sehr.
Als ich mein Haus betrat, stockte mir vor Aufregung beinahe das Herz. Das Wohnzimmer war eine wahre Idylle: Es herrschte ein unbeschreibliches Chaos, und mittendrin saß Ande Pu. Ella lag eingerollt zu seinen Füßen und schnurrte, und auf seinem Schoß räkelte sich Armstrong. Ich schüttelte den Kopf und wusste nicht recht, ob ich mich bei Ande bedanken oder ihn beschimpfen sollte.
»Guten Tag, Max«, sagte dieser perfekte Tierpfleger. »Ich weiß, dass ich ohne Ihre Erlaubnis eigentlich nicht hätte bleiben dürfen, aber meine Nachbarn haben vier Kinder, die die ganze Zeit ein Mordsspektakel machen, und ich muss unbedingt etwas schreiben. Außerdem haben sich Ihre Katzen nach mir gesehnt.«
Ich setzte mich auf den Boden und lachte laut. So was hätte jeden anderen verrückt machen können, aber was soll's!