»Ich glaube fest daran, dass ich das Richtige tue«, antwortete Flock. »Und wenn es so ist, dann wird Gott mich beschützen.«
»Verzeiht, wenn ich in diesem Punkt skeptisch bin, Hochwürden«, sagte Andrej spöttisch. »Aber ich habe leider andere Erfahrungen gemacht.«
Flock sah ihn sehr ernst an. »Ich werde dich nicht fragen, was man dir angetan hat«, sagte er. »Aber mir ist klar, dass es etwas Schlimmes sein muss. Lass nicht zu, dass anderen noch schlimmeres Unheil geschieht, nur, weil man dir so großen Schmerz zugefügt hat.«
Das Geräusch schwerer Schritte, die rasch näher kamen, hielt Andrej davon ab, zu antworten. Er drehte sich herum und zog überrascht eine Augenbraue hoch, als er Abu Dun erkannte. Der Nubier hatte sich mittlerweile aller Verbände entledigt und trug wieder seinen gewaltigen schwarzen Turban, der ihn noch größer und beeindruckender erscheinen ließ, als er ohnehin schon war, und als ob sein ebenholz-schwarzes Gesicht nicht schon finster genug wirkte, gab er sich alle Mühe, Andrej und Flock abwechselnd fast drohend anzustarren. »Löst ihr gerade alle Probleme dieser Welt, oder hat dein neuer Freund dich überredet, dich endlich taufen zu lassen und in Zukunft in einem Kloster zu leben?«, fragte er.
Andrej antwortete nicht gleich, obwohl ihm eine wütende Entgegnung auf der Zunge lag. Abu Dun wollte ihn reizen, aber diese Worte hatten eine andere Qualität, als die kleinen Sticheleien, die praktisch zu ihrem täglichen Umgangston gehörten. Das, was Abu Dun Flock gerade - und gewiss nicht unabsichtlich - verraten hatte, war gefährlich. Was versprach er sich davon, die Lage noch zu verschlimmern?
Aber auch Flock schwieg dazu und sah den Nubier mit einem schwer deutbaren Gesichtsausdruck an. Schließlich stieß er sich ächzend vom rauen Holz des Wagens ab und begann sich mit schleppenden Schritten zu entfernen. Andrejs erster Impuls war, ihm nachzueilen, um ihn zu stützen. Stattdessen aber blieb er stehen, bis Flock außer Hörweite war und drehte sich dann langsam zu Abu Dun herum. »Was sollte das?«, fragte er.
»Oh, entschuldige«, sagte Abu Dun hämisch. »Habe ich die beiden Turteltäubchen in einem entscheidenden Moment gestört?«
Andrej schluckte auch die Entgegnung auf diese Bemerkung herunter, obwohl es ihm immer schwerer fiel, nicht einfach zu explodieren. Es schien, Abu Dun wollte genau das erreichen, und Andrej hatte keine Ahnung, warum. »Wo warst du heute Nacht?«, fragte er.
»Heute Nacht?« Abu Dun hob die Schultern. »In meinem Zelt, wo sonst?«
»Nein, das warst du nicht«, sagte Andrej.
»Gewiss«, beharrte Abu Dun. »Im Gegensatz zu dir habe ich leider keine Zeugen, sodass du schon mit meinem Wort vorlieb nehmen musst, Hexenmeister. Nachdem du mich ja praktisch rausgeworfen hast, habe ich mich betrunken und schlafen gelegt.«
»Ich war in deinem Zelt«, sagte Andrej ernst. »Du warst nicht da.«
»Unsinn«, widersprach Abu Dun. »Vielleicht war ich kurz draußen, um die Blumen zu düngen. Aber ich habe das Lager nicht verlassen.«
»Obwohl du mir praktisch ein Ultimatum gestellt hast?«
Abu Dun verschränkte die Arme vor seiner Brust. »Manchmal ändert man eben seine Meinung«, sagte er. »Auch, wenn du es nicht verdienst, bin ich zu dem Schluss gekommen, dass ich bleiben muss, um dir wieder einmal den Hals zu retten. Jetzt frag mich nicht nach dem Grund. Anscheinend habe ich einen Narren an dir gefressen.«
Andrej wollte antworten, aber in diesem Moment fiel ihm etwas auf. Geschlagene fünf Sekunden lang starrte er Abu Dun nur wortlos und mit wachsender Verwirrung an, dann fragte er: »Was ist mit deinem Hals?«
»Mein Hals?« Der Nubier hob die linke Hand und tastete mit den Fingerspitzen über seine Kehle. »Was soll damit sein? Nichts.«
»Eben«, sagte Andrej. Plötzlich lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Du hast nicht die geringste Schramme. Dabei hab ich dir gestern einen tüchtigen Schnitt beigebracht.«
»Dann war er wohl doch nicht so tief, wie du vorgehabt hast«, erwiderte Abu Dun. »Es tut mir ja Leid, dass ich nicht wirklich schwer verletzt bin, aber ich -«
»Du weißt verdammt genau, was ich meine«, unterbrach ihn Andrej. »Die Wunde ist nicht etwa gut verheilt. Sie ist einfach nicht mehr da!«
»Du wirst dich getäuscht haben«, sagte Abu Dun. Irrte sich Andrej, oder klang seine Stimme ein bisschen unsicher? »Ich erinnere mich auch nicht, dass du mich geschnitten hast. Vermutlich war es dein eigenes Blut. Es ist ja weit genug herumgespritzt.«
Diese Ausrede war so dünn, dass sie schon fast lächerlich wirkte. Aber Andrej war nicht zum Lachen zumute. Erneut und noch heftiger rann ihm ein eisiger Schauer den Rücken hinab. Was ging hier vor?
»Ja, vielleicht hast du Recht«, sagte er leise. »Vielleicht hab ich mich getäuscht.« Aber er wusste, dass das nicht stimmte. Er hatte ihn verletzt - ziemlich übel sogar -, und der Nubier war in dieser Nacht nicht in seinem Zelt gewesen. Warum belog ihn Abu Dun?
Er spürte, was immer er jetzt sagte, er würde die Situation nur noch verschärfen. Abu Dun würde ihm nicht antworten, und Andrej wusste, dass er eine weitere Herausforderung nicht mehr wortlos hinnehmen würde. Und er spürte noch etwas: Wen es diesmal zum Streit zwischen ihnen käme, würde es nicht bei einem harmlosen Geplänkel bleiben.
Und plötzlich wusste er, wer ihm seine Fragen beantworten konnte.
Er musste nicht lange suchen, um Rason und Bason zu finden. Die Zwillinge lungerten, wohl eher von Neugier als von Sorge getrieben, ganz in der Nähe herum und sahen immer wieder wie zufällig in Richtung des Wagens, in dem Laurus gerade mit Schulz verhandelte.
Schon, als Andrej sie nur von weitem sah, begann sein Zorn zu verrauchen, und da war wieder diese Stimme in seinem Kopf, die ihn fragte, warum er eigentlich so wütend auf diese beiden Jungen war, die es doch ganz gewiss nicht böse mit ihm meinten und ihn - wenn überhaupt - ganz bestimmt nicht mit heimtückischer Absicht in die Irre geführt hatten, sondern eher aus Ungeschick oder allenfalls falsch verstandenem, jugendlichem Abenteuersinn.
Andrej gestattete sich nicht, auf sie zu hören.
Er beschleunigte seine Schritte und rannte schon fast, als Bason seine Gegenwart zu spüren schien und sich zu ihm umdrehte. Auch sein Zwillingsbruder hob den Kopf und blickte in Andrejs Richtung, und es war seltsam - es sollte umgekehrt sein, aber mit jedem Tag, den er in Gegenwart der Zwillingsbrüder verbrachte, fiel es ihm schwerer, sie zu unterscheiden, selbst wenn sie direkt nebeneinander standen und noch dazu unterschiedliche Kleidung trugen wie jetzt. Wäre nicht der mittlerweile schmutzige Verband an Basons Hand gewesen, Andrej wäre nicht sicher gewesen, wen er vor sich hatte.
»Andreas!«, begrüßte ihn Bason. Ein strahlendes Lächeln erschien auf seinem Gesicht, und er machte Anstalten, Andrej entgegen zu gehen. »Ich hab mich schon gefragt -«
Andrej packte ihn mit der linken Hand am Kragen, umklammerte mit der anderen seine Hand und schleifte ihn einfach mit sich. Bason ächzte vor Überraschung, und auch sein Bruder riss ungläubig die Augen auf.
»Andreas! Was ... was soll das, um Himmels willen?«, stöhnte Bason. Er hatte Mühe, die Worte überhaupt herauszubringen, denn Andrejs Griff war so fest, dass ihm sein eigener Hemdkragen fast die Luft abschnürte.
Andrej selbst erging es kaum besser. Er hasste sich für das, was er tat, und es fiel ihm immer schwerer, Bason festzuhalten und sein ebenso verzweifeltes wie sinnloses Strampeln und Wimmern zu ignorieren. Aber er zwang sich sogar dazu, noch fester zuzupacken und Bason in eine Lücke zwischen zwei große Wagen zu zerren, wo er ihn schließlich mit solcher Wucht gegen die Wand rammte, dass dem jungen Sinti die Luft wegblieb.
»Andreas, um Himmels willen! Was tust du?«, keuchte Rason hinter ihm.
Andrej ignorierte ihn, ließ endlich Basons Kragen los und griff mit der frei gewordenen Rechten nach dem Verband an seiner Hand. Mit einem einzigen, kräftigen Ruck riss er ihn herunter.
Bason ächzte. Andrej konnte hören, wie sein Bruder hinter ihm scharf die Luft einsog und mitten in der Bewegung erstarrte, und auch er selbst wich fast entsetzt zurück - obwohl er geahnt hatte, was er sehen würde. Nichts. Die Haut unter dem schmutzig gewordenen Verband war unversehrt. Basons Fleisch, das noch vor zwei Tagen von einem messerscharfen Stück Holz regelrecht zerfetzt worden war, wies nicht den mindesten Kratzer auf und war glatt und rosig wie die eines frisch gewaschenen Babys.
»Andreas, ich ... ich kann dir das erklären«, stammelte Bason. »Es ist nicht so, wie du denkst.«
»Was denke ich denn?«, fragte Andrej. Er erschrak fast selbst beim Klang seiner Worte. Er hatte leise gesprochen. Jeglicher Zorn und alle Wut waren aus seiner Stimme gewichen und hatten dafür einer umso größeren Bitterkeit Platz gemacht. Es fiel ihm schwer, seinen Blick von Basons Hand loszureißen und dem Sinti in die Augen zu sehen. Und es fiel ihm noch schwerer, zuzugeben, dass alles, was er darin sah, eine tiefe Bestürzung und der Ausdruck des puren schlechten Gewissens war. Keine Heimtücke. Kein Falsch und kein Hehl.
»Ich weiß, ich hätte es dir gleich sagen sollen«, sagte Bason.
Er war nervös. »Ich wollte es, aber ... aber mir hat der Mut gefehlt.«
»Um mir was zu sagen?«, fragte Andrej.
»Dass du zu uns gehörst«, antwortete Rason anstelle seines Bruders. Andrej drehte sich nicht zu ihm herum.
»Du bist einer von uns«, sagte Bason. »Ich habe es sofort gespürt, gleich, als wir dich und deinen Freund draußen im Wald gefunden und hierher gebracht haben. Ich wollte es dir sagen, aber -« Er rang einen Moment um Worte. »Aber Elena war dagegen. Und Laurus auch.«
»Warum?«, fragte Andrej.
»Weil Laurus uns hasst«, sagte Rason hinter ihm. »Und zugleich fürchtet er uns. Du bist nicht der Erste unserer Art, der hierher kommt, Andreas. Mit den meisten haben wir schlechte Erfahrungen gemacht.«
»Wir waren nicht sicher, welche Absichten du verfolgst«, stimmte ihm Bason zu. »Es tut mir Leid, du musst glauben, dass wir dir nicht getraut haben, aber das stimmt nicht. Wir waren nur vorsichtig.«
»Einer von euch«, wiederholte Andrej leise. »Und was genau seid ihr?«
Bason wich seinem Blick aus. »Es wäre mir lieber, wenn du Elena diese Frage stellen würdest«, sagte er.
»Ich bin nicht sicher, dass sie noch Gelegenheit hat, überhaupt irgendeine Frage zu beantworten«, sagte Andrej hart. »Die Männer aus der Stadt sind gekommen. Sie wollen Abu Dun und mich mitnehmen. Wenn ich schon in Ketten von hier weggeführt werde, dann möchte ich wenigstens wissen, warum.«
»Niemand wird von hier weggebracht«, sagte Rason. »Schon gar nicht in Ketten. Mach dir keine Sorgen.«
Andrej drehte sich nun doch zu ihm herum, und maß ihn mit einem langen, nachdenklichen Blick. Er fragte nicht, was Rason mit diesen Worten gemeint hatte, sondern wandte sich wieder an seinen Bruder.
»Du hattest völlig Recht mit den Fragen, die du Anka gestellt hast, Andreas«, sagte Bason im Tonfall eines schlechten Gewissens plötzlich. »Dieses Mädchen, nach dem du gesucht hast... Alessa?«
Andrej nickte.
»Alessa«, sagte Bason noch einmal. »Sie war hier, und Anka hat sofort erkannt, wer sie war. Sie und ihre Familie. Wir erkennen einander, wenn wir uns sehen, weißt du?«
Andrej hätte um ein Haar genickt, aber er unterdrückte den Impuls im letzten Moment. Seit er angefangen hatte, seine eigene Begabung - wenn es denn eine war und kein Fluch - zu erforschen, war auch er in der Lage, die Nähe eines anderen Unsterblichen zu spüren, und deutlicher, je mächtiger dieser war. Vielleicht war das auch der Grund, aus dem er Basons Behauptung, sie wären beide von der gleichen Art noch immer nicht traute. Selbst jetzt, da er den Beweis mit eigenen Augen gesehen hatte, fühlte er in Gegenwart der beiden jungen Sinti nichts dergleichen. Abgesehen vielleicht von dem immer noch präsenten Gefühl einer tiefen Verbundenheit, die weit über bloße Sympathie hinausging.
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte er.
»Das, was mit den meisten geschieht«, antwortete Bason traurig. »Sie sind gestorben, genau wie Anka gesagt hat. Wie fast alle, die wir im Laufe der Jahre getroffen haben.«
Andrej blickte verständnislos.
»Es gibt einige unter uns, die es als einen Segen betrachten«, fuhr Bason fort. »Aber für die meisten ist es ein Fluch, und für die allermeisten bedeutet es den Tod.« Er machte eine Kopfbewegung auf seinen Bruder, der hinter Andrej stand. »Wie alt würdest du uns schätzen, Andreas?«
Andrej hob die Schultern. Er hatte sich nie wirklich Gedanken darüber gemacht, wie alt die Zwillinge sein mochten, aber er glaubte nicht, dass es mehr als zwanzig Jahre waren, und nach kurzem Überlegen sagte er das auch.
Basons Lächeln wurde noch bitterer. »Wir sind einundfünfzig, Andreas«, sagte er. »Ich sogar eine Minute älter als mein Bruder.«
Andrej schwieg.
»Wir hatten elf Brüder und fünf Schwestern, Elena nicht mitgerechnet«, fuhr Bason fort. »Sie alle sind gestorben, als sie vom Kind zum Mann oder zur Frau wurden und ihre Zeit gekommen war. So geht es den meisten. Sie werden krank und sterben. Die, die Glück haben, schnell, aber bei manchen dauert es oft Jahre.«
»Ihr seht nicht aus, als hättet ihr gerade erst den Schritt vom Kind zum Mann vollzogen«, sagte Andrej.
Bason sah ihn leicht verwirrt an, antwortete aber trotzdem: »Es ist an die vierzig Jahre her. Wir sind nicht unsterblich, Andreas, wie du. Man kann uns töten, und wir altern.« Er hob die Hand. »Aber unsere Wunden heilen schneller, und wir altern viel langsamer als die anderen.«
»Woher weißt du das?«, fragte Andrej. »Dass ich unsterblich bin?«
»Von Anka«, antwortete Bason. »Sie hat es uns gesagt. Hat sie Recht?«
Andrej überlegte einen Moment und hob dann die Schultern. Er hätte den beiden sagen können, dass er selbst nicht annähernd so viele Jahre zählte wie sie, ja, noch nicht einmal alt genug, um wirklich mit Sicherheit sagen zu können, ob er ebenfalls so langsam alterte wie die Zwillinge. Aber aus irgendeinem Grund schreckte er davor zurück.
»Und ... Elena?«, fragte er.
»Sie ist unsere Schwester«, sagte Rason. »Die Älteste aus der Familie. Und jetzt quäle mich bitte nicht weiter. Geh zu Elena und frage sie selbst.« Er versuchte zu grinsen, aber das Ganze geriet zu einer traurigen Grimasse. »Sie kratzt mir die Augen aus, wenn ich dir verrate, wie alt sie wirklich ist. Was das angeht, ist sie eine ganz normale Frau, musst du wissen. Bitte frage sie selbst.«
»Das werde ich tun«, versprach Andrej düster. »Verlass dich darauf.«
Ganz egal, was er noch vor Augenblicken gedacht hatte, und ganz egal, welche Folgen es haben mochte - für ihn, für Elena und Laurus und alle anderen hier - Andrej bewegte sich im Sturmschritt zurück zu Elenas und Laurus' Wagen, um sie auf der Stelle zur Rede zu stellen, ob Schulz und Flock nun dabei waren oder nicht.
Hinter seiner Stirn tobte ein Chaos aus unterschiedlichsten Gefühlen, und er war sich noch nicht einmal selbst darüber im Klaren, welcher Art sie waren. Da waren Zorn und Enttäuschung, aber auch eine maßlose, an Raserei grenzende Hoffnung, und noch vieles andere, Gefühle, die ihm zum Teil bis zu diesem Moment fremd gewesen waren, und die ihm zum Teil Angst vor sich selbst machten. Vielleicht war er am Ziel seiner Suche angelangt, vielleicht aber auch an einer Weggabelung, deren Existenz er sich bisher nicht hatte eingestehen wollen.
Und er hätte etwas wirklich Dummes und Folgenschweres getan, wäre in diesem Moment nicht die Tür des Wagens aufgegangen und Schulz, dicht gefolgt von Laurus und seinem bewaffneten Begleiter, herausgetreten.
»Es ist alles in Ordnung, Andreas«, sagte Laurus; eine Spur zu laut und zu beiläufig, wie Andrej fand. Er war sich nicht sicher, ob der Ausdruck in Laurus' Augen warnend, beruhigend oder fast schon flehend zu nennen war, aber er wollte ihm irgendetwas damit mitteilen.
Vielleicht wäre er dennoch weitergegangen, doch als Letzte und in einem gehörigen Abstand zu den anderen trat Elena aus dem Wagen, und was er in ihren Augen las, das war ein so tiefes Erschrecken und ein so verzweifeltes Flehen, dass er schlagartig begriff, dass sie nicht nur seine Absichten und seine Gedanken so mühelos erriet, als läse sie in einem aufgeschlagenen Buch, sondern auch, dass er im Begriff stand, einen vielleicht nicht wieder gutzumachenden Fehler zu begehen. Er hielt mitten im Schritt inne, starrte Elena für die Dauer eines endlosen, schweren Herzschlages an und zwang sich dann, den Blick von ihr loszureißen und sich wieder zu Laurus umzudrehen.
Das Oberhaupt der Sinti-Familie bedeutete ihm ungeduldig mit der linken Hand, näher zu kommen, und sah sich gleichzeitig nervös um. Seine Erleichterung, Pater Flock in einiger Entfernung und offensichtlich unversehrt zu entdecken, war nicht zu übersehen.
»Wo ist Euer Freund, Andreas?«, fragte er. Andrej sah sich überflüssigerweise nach Abu Dun um und hob die Schultern. »Vermutlich in seinem Zelt«, sagte er.
»Dann seid Ihr mir persönlich dafür verantwortlich, dass er auch dort bleibt«, sagte Schulz. »Oder zumindest hier im Lager.«
Andrej sah ihn verständnislos an, warf dann einen Hilfe suchenden Blick in Laurus' Gesicht und sah schließlich zu Elena hoch, die auf der mittleren Stufe der kurzen Holztreppe stehen geblieben war. Aber die Antwort, die er in ihren Augen zu lesen gehofft hatte, war nicht da.
»Aber ich dachte -«
»Bedankt Euch bei den guten Leuten hier«, sagte Schulz. »Sie haben mich davon überzeugt, dass Eure Schuld noch keineswegs erwiesen ist. Wenn Ihr mir Euer Ehrenwort gebt, dass Ihr und Euer heidnischer Freund nicht versuchen werdet, das Lager zu verlassen oder gar zu fliehen, so verzichte ich darauf, Euch mitzunehmen.« Er sprach langsam, fast schleppend, und auf seinen Zügen hatte sich ein Ausdruck leiser Verwunderung ausgebreitet, so, als wüsste er selbst nicht genau, was er da sagte, oder zumindest, warum. Dann fuhr er mit einer Kopfbewegung auf Laurus hin fort: »Sein Ehrenwort habe ich bereits. Wenn Ihr mir Eures gebt und es brecht, dann werde ich so reagieren, als hätte er es getan.«
»Selbstverständlich«, antwortete Andrej - obwohl ihn das, was Schulz sagte, vollkommen überraschte.
»Könnt Ihr auch für Euren Freund sprechen?«, fragte Schulz.
Noch vor wenigen Augenblicken hätte Andrej nicht nur mit einem überzeugten »Ja« geantwortet, sondern ohne zu zögern sein Leben darauf verwettet, dass Abu Dun dieses in seinem Namen gegebene Versprechen auch einhalten würde. Jetzt war er nicht mehr so sicher. Dennoch nickte er und sagte »Ja«. Aber sein Zögern schien gerade lange genug gewesen zu sein, um Schulz' Misstrauen zu wecken. Es dauerte lange, bis der grauhaarige Mann sich mit dieser Antwort zufrieden gab und seinerseits nickte. Er wirkte noch immer verwirrt, ja, fast verstört, und Andrej warf erneut einen fragenden Blick zu Elena hoch. Diesmal hielt sie ihm nicht Stand, sondern ging mit schnellen Schritten weiter, wandte sich nach links und entfernte sich so schnell, dass sie nahezu schon rannte.
»Pater Flock?«, rief Schulz laut.
Es verging nur ein Moment, bis der Geistliche zwischen den beiden Wagen auftauchte, in deren Schatten er Schutz vor der Sonnenglut gesucht hatte. Andrej erschrak, als er ihn sah. War Flock auch vorhin schon so bleich gewesen? Es war schwer, bei einem Mann in seinem Zustand zu beurteilen, ob sich sein Aussehen noch verschlimmert hatte oder nur gleich geblieben war, aber Andrej wäre nicht erstaunt gewesen, wäre Flock im nächsten Moment tot zusammengebrochen. Unendlich behutsam tastete er mit seinen Vampyrsinnen nach der Lebensflamme des jungen Predigers. Sie brannte noch, aber sie war schwach, und er wagte nicht, zu beurteilen, wie lange das noch so blieb.
»Ich bin hier«, sagte Flock. Er quälte sich ein Nicken in Schulz' Richtung ab und löste die Hand von der hölzernen Wand des Wagens, an der er sich bisher festgehalten hatte - mit dem Ergebnis, dass er wankte und zu stürzen drohte. Andrej wollte rasch hinzustürzen, aber Schulz' Begleiter war schneller, trat mit einem Schritt neben Flock und führte ihn rasch, aber sehr behutsam, zu einem der wartenden Pferde. Der schwer verletzte Mönch lehnte sich keuchend gegen den Sattel und rang einen Moment lang mit geschlossenen Augen nach Atem, bevor er die Schultern straffte und sich mit einer unendlich mühsam erscheinenden Bewegung noch einmal zu Schulz herum drehte.
»Ein weiser Entschluss«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Ihr es nicht bereuen werdet, Schulz.«
Die Worte waren viel mehr an Andrej als an den grauhaarigen Mann aus der Stadt gerichtet, und sie waren auch viel mehr eine fast flehentliche Bitte als irgendetwas anderes. Andrej war fast sicher, dass Schulz das mindestens so deutlich verstehen musste wie er, aber der Grauhaarige enthielt sich auch diesmal jeden Kommentars. Nur der verstörte Ausdruck auf seinen Zügen schien noch an Intensität zuzunehmen.
»Verzeiht«, sagte Andrej rasch und an Schulz gewandt. »Aber Ihr solltet nicht zulassen, dass er den weiten Weg zurückreitet. Nicht in seinem Zustand, und nicht bei dieser Hitze.«
Schulz blickte ihn einen Moment lang an, als wäre Andrejs Sorge um Flocks Gesundheit das Allerletzte gewesen, womit er in diesem Moment rechnete. Dann aber nickte er.
»Habt Ihr einen Wagen?«
»Selbstverständlich«, sagte Laurus. »Ich lasse ihn sofort bereitstellen.«
Er eilte davon, um Schulz' Wunsch nachzukommen, und Andrej blieb allein und fast hilflos zurück. Alles in ihm schrie regelrecht danach, davonzustürmen und Elena zu suchen, aber zugleich war er auch noch immer so verwirrt und alarmiert wie selten zuvor in seinem Leben. Er wusste einfach nicht, was er tun sollte.
Schließlich spürte er Flocks Blick, drehte sich gezwungen ruhig herum und ging zu ihm hin. Der Krieger, der den Geistlichen zu seinem Pferd geführt hatte, folgte jeder seiner Bewegungen aus misstrauisch zusammengekniffenen Augen, und Andrej musste nicht auf seine übermenschlichen Sinne zurückgreifen, um seine Feindseligkeit zu spüren. Er ignorierte den Mann jedoch und blieb einen Schritt vor Flock stehen.
»Ihr solltet hier nicht so in der Sonne stehen«, sagte er. »Warum wartet Ihr nicht irgendwo im Schatten? Laurus wird sicher in ein paar Augenblicken zurück sein.« Flock schüttelte den Kopf. Die Bewegung wirkte trotzig, wie die eines verstockten Kindes, das längst eingesehen hatte, dass es im Unrecht war und es nur nicht zugeben wollte. »Ihr müsst fort von hier, Andreas«, sagte er leise. »Irgendetwas Furchtbares wird geschehen. Ich spüre ein großes Unheil nahen. Fühlt Ihr es denn nicht auch?«
Andrej war im Moment selbst nicht sicher, was er überhaupt fühlte. Er reagierte nicht.
»Begleitet mich in die Stadt«, sagte Flock. »Ich weiß nicht, ob Ihr dort sicher seid, aber hier seid Ihr es nicht. Ihr müsst es nur sagen. Ein einziges Wort von mir genügt, und Schulz lässt Euch mitkommen. Und Euren Freund auch, wenn ihr seinetwegen nicht fort wollt.«
Andrej antwortete auch darauf nicht, aber er fragte sich, ob Flock nicht gehört hatte, was Schulz gerade zu ihm gesagt hatte. Schulz hatte weder leise gesprochen, noch war Flock besonders weit entfernt gewesen. Wenn er seine Worte gehört hatte, dann musste ihm klar sein, dass er mit seiner Bitte Andrej praktisch aufforderte, Laurus und die anderen Sinti dem fast sicheren Tod zu überlassen. Er weigerte sich, das zu glauben, und sah Flock nur schweigend und mit einem traurigen Kopfschütteln an.
Es vergingen nur wenige Augenblicke, bis Laurus mit dem versprochenen Wagen zurückkam - dem gleichen Wagen, mit dem Flock schon einmal verletzt in die Stadt gebracht worden war. Laurus hatte die Ladefläche bereits mit strohgefüllten Säcken und Decken ausgepolstert, und Andrej half ihm, aus einigen davon ein Sonnendach zu improvisieren, das Flock vor der schlimmsten Hitze schützen sollte.
»Das ist Wahnsinn«, sagte er, während Laurus und er dem Geistlichen dabei halfen, sich auf die Ladefläche hinaufzuquälen. »Ihr solltet hier bleiben und erst am Abend zurückfahren. Wenn die Sonne untergegangen ist, lässt die Hitze rasch nach.« Flock hatte nicht die Kraft, sofort zu antworten. Erst, als er sich auf der Ladefläche des Wagens ausgestreckt und einige Augenblicke lang mit geschlossenen Augen und keuchend nach Luft gerungen hatte, schüttelte er den Kopf und sagte: »Allmählich überschreiten Eure Worte die Grenze zwischen Sorge und Beleidigung, Andreas. Der Weg ist nicht so weit. Und ich habe wichtige Aufgaben in der Stadt zu erledigen.«
»Zu sterben?«, fragte Andrej.
Flock zwang sich zu einem rauen Lachen. »Wer weiß?«
»Lass ihn«, murmelte Laurus. Die Sorge in seiner Stimme kam Andrej so echt vor wie der Ausdruck auf seinem Gesicht. »Ich glaube, er beginnt zu fantasieren.« Er dachte einen Moment lang nach und wandte sich dann mit lauterer Stimme an Schulz, der ihnen zwar nachgekommen war, jedoch in drei oder vier Schritten Entfernung dastand und misstrauisch zu ihnen hoch sah. »Warum überredet Ihr diesen jungen Narren nicht, unsere Hilfe anzunehmen und bis Sonnenuntergang hier zu bleiben? Wir können ihn ebenso gut pflegen wie Ihr.«
»Nein«, sagte Schulz hart. »Ich habe ihn gewarnt. Es war seine Entscheidung, uns zu begleiten. Und es ist auch seine Entscheidung, ob er hier bleibt oder sein Leben riskiert, indem er mit uns zurück in die Stadt kommt.«
Andrej resignierte. Das Gespräch begann sich im Kreis zu drehen, und er glaubte Flock mittlerweile auch gut genug zu kennen, um zu wissen, dass er nicht nachgeben würde. Das Unheimliche war, dass er das Gefühl hatte, dass Flock Recht hatte. Er konnte es nicht begründen. Es gab keinen Grund für diese Überzeugung, aber sie war da, und sie schien mit jedem Atemzug stärker zu werden.
Er überzeugte sich noch einmal sorgsam davon, dass Flock halbwegs bequem auf seinem Lager aus Kissen und Decken ruhte, dann sprang er vom Wagen und machte zwei Schritte zurück. Auf einen Wink von Schulz hin kletterte einer der beiden Bewaffneten auf den Kutschbock und griff nach den Zügeln, während der andere die Zügel der beiden jetzt überzähligen Reitpferde am hinteren Ende des Wagens befestigte. Schulz saß indessen auf, dirigierte sein Pferd so neben den Wagen, dass es zwischen ihm und Laurus und Andrej stand, und blickte sie beide abwechselnd von der Höhe des Pferderückens herab eindringlich an.
»Ihr habt gehört, was ich gesagt habe«, mahnte er. »Ihr könnt hier bleiben und Euch im Bereich Eures Lagers frei bewegen. Aber ich lasse jeden in Ketten legen, der versucht, es zu verlassen.«
»Ihr habt mein Ehrenwort«, sagte Laurus.
Was immer das wert sein mag, antwortete Schulz' Blick.
Vielleicht lag es einfach daran, dass er jetzt wieder im Sattel saß und damit nicht nur größer, sondern auch auf schwer in Worte zu fassende Weise Ehrfurcht gebietender aussah, dass Andrej den Eindruck hatte, er hätte schon wieder eine Menge von seinem früheren Selbstbewusstsein und seiner Ruhe zurückgewonnen. Dennoch war in seinen Augen noch immer ein leises, unstetes Flackern, ein Ausdruck von Verwirrung, der vergeblich nach einem Grund suchte.
Ohne ein Wort des Abschieds ließ Schulz sein Pferd antraben, und der Wagen und der zweite Krieger schlossen sich ihm an. Andrej wartete, bis sie das Lager zur Gänze durchquert und auf die Straße eingebogen waren, dann wollte er sich herumdrehen und gehen, aber Laurus hielt ihn mit einer fast schon groben Bewegung am Arm zurück.
»Wo willst du hin?«
»Ich muss mit Eurem Weib sprechen«, antwortete Andrej. Er versuchte, sich loszureißen, aber Laurus hielt ihn mit erstaunlicher Kraft fest. Andrej konnte sich nicht erinnern, jemals einen Ausdruck von solcher Entschlossenheit, aber auch nur noch mühsam unterdrücktem Zorn auf dem Gesicht des Sinti gesehen zu haben.
»Reden?«, fragte Laurus.
»Was sonst?«, gab Andrej kühl zurück. Er setzte dazu an, sich nun wirklich loszureißen, führte die Bewegung aber nicht zu Ende. Laurus würde ihn nicht loslassen. Er würde ihn zwingen müssen, und das wollte er nicht. Noch nicht.
»Ich habe gewusst, dass mit dir das Unheil über uns kommt, Andreas«, sagte Laurus. »Schon im ersten Moment, als ich dich gesehen habe, habe ich es gespürt. Du bringst den Tod.«
»Ich fürchte, ich verstehe nicht ganz, wovon Ihr redet«, erwiderte Andrej. Ihm lagen schärfere, herausforderndere Worte auf der Zunge, aber er spürte den brodelnden Zorn des Sinti, eine Wut, die nur nach einem, und sei es noch so kleinem, Vorwand suchte, um auszubrechen. Er wollte keinen Kampf mit diesem Mann. Fast sanft griff er nach Laurus' Hand, löste seine Finger von seinem Arm und trat einen Schritt zurück. »Ich will wirklich nur mit Elena reden«, sagte er. »Nicht mehr.«
Laurus wich seinerseits einen Schritt vor ihm zurück, hob die Hand, die Andrej gerade von seinem Arm gelöst hatte und betrachtete endlose Augenblicke lang seine immer noch halb geöffneten Finger. Ein Ausdruck von Schmerz und Bitterkeit erschien in seinen Augen, den Andrej im ersten Moment nicht verstand. Dann aber begriff er, dass er mehr getan hatte, als sich aus Laurus' Griff zu befreien. Er hatte ihn erniedrigt. Vielleicht mehr, als ihm das jetzt schon klar war. Aber jedes Wort der Entschuldigung hätte die Situation nur noch schlimmer gemacht.
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich herum und ging.
Elena wartete in seinem Wagen auf ihn. Sie hatte die Läden vorgelegt, das Bett gerichtet und die Decke zurückgeschlagen, aber sie stand vollkommen angekleidet und reglos wie eine Statue daneben, und sie war gewiss nicht gekommen, um dasselbe mit ihm zu tun wie in den vergangenen beiden Nächten. Andrej war nicht einmal sicher, ob er ihr hätte widerstehen können. Nicht einmal jetzt. Ihr bloßer Anblick, wie sie so in den Schatten stand, selbst kaum mehr als ein Schemen mit glänzendem Haar und bleichem Gesicht, löste sie ein Verlangen in ihm aus, wie er es nie zuvor gespürt hatte. Nicht einmal damals, in jenem anderen, so unendlich weit zurückliegenden und doch unvergessenen Leben, in dem er seine erste und zugleich bisher wirklich einzige Liebe gefunden hatte.
»Schließ die Tür«, sagte sie.
Andrej gehorchte. Nach dem gleißenden Sonnenlicht draußen waren seine empfindlichen Augen fast blind, und doch war es ihm, als sehe er Elena in allen Einzelheiten noch immer vor sich. Das Bild ihres verlockenden, so unendlich weiblichen Körpers, hatte sich unauslöschlich in seine Gedanken eingegraben; wie mit Säure in seine Augen geätzt.
»Laurus wird das nicht gefallen«, sagte er. Seine eigenen Worte kamen ihm absurd vor. Laurus war im Moment gewiss ihr kleinstes Problem.
»Was? Dass ich hier bin?« Elena lachte leise, aber es klang eher bitter. »Er weiß es. Er wusste es auch gestern und am Tag davor.«
Andrej war nicht einmal wirklich überrascht. Er nickte nur. »Wer hat es dir gesagt?«, fragte Elena.
»Was? Dass du eine Hexe bist?« Die Worte taten ihm sofort wieder Leid. Er hätte sich eher die Hand abgehackt, als das zu tun, was Elena verletzte, und eher die Zunge abgebissen, als ihr Schmerz zuzufügen. Und dennoch, so wie vorhin bei Bason, gelang es ihm diesmal, die fast übermächtigen Gefühle zurückzudrängen. Elena hatte ihn verzaubert, ob tatsächlich mit Hexenkraft oder mit dem Zauber, der jeder normalen Frau zu Eigen war, spielte keine Rolle. Er wusste überhaupt nicht mehr, was noch eine Rolle spielte und was nicht. Alles, was er wusste, war, dass Pater Flock Recht gehabt hatte. Irgendetwas Entsetzliches würde passieren. Er konnte das Unheil spüren, wie die knisternde Spannung in der Luft vor einem schweren Sommergewitter, bevor sich die erste Wolke am Himmel zeigt. Er schluckte die Worte der Entschuldigung, die ihm über die Lippen kommen wollten, herunter und sah Elena nur herausfordernd an.
»Und das glaubst du wirklich?« Elena klang traurig. »Dass ich eine Hexe bin?«
»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej in gequältem Tonfall. »Aber die Kaufleute in der Stadt ... all diese Menschen, denen du deinen Willen aufgezwungen hast...« Er suchte einen Moment nach Worten und räusperte sich, ehe er mit etwas klarerer, aber noch lange nicht fester Stimme fortfuhr: »Noch vor einer halben Stunde hätte uns Schulz am liebsten an Händen und Füßen gefesselt und über einem Pferderücken liegend in die Stadt mitgenommen. Jemand hat ihn überzeugt, es nicht zu tun. Warst du es?«
Elena nickte. Lange Zeit - in Wahrheit nur Augenblicke, die sich aber für sie beide zu einer Ewigkeit dehnten - schwieg sie. Dann sagte sie leise: »Du hast Recht, Andreas. Ich vermag tatsächlich manchen Menschen meinen Willen aufzuzwingen. Nicht allen und längst nicht in dem Ausmaß, in dem du vielleicht annimmst, aber oft ist es leicht, andere dazu zu bringen, das zu tun, was ich möchte.«
»So wie mich?«, fragte Andrej bitter.
Er konnte Elenas Gesicht in den Schatten, in denen sie stand, nicht sehen, aber er spürte, wie hart sie seine Worte trafen, und der Schmerz, den allein dieses Begreifen in ihm auslöste, war entsetzlich.
»Dich?« Andrej war nicht sicher, ob das Geräusch, das Elenas Worte begleitete, ein leises Lachen oder ein unterdrücktes Schluchzen war. »Nein. Ich habe mir niemals einen Mann so gefügig gemacht.«
»Du hättest es mir sagen müssen«, sagte Andrej.
»Was?«
»Du wusstest, warum ich hierher gekommen bin«, antwortete er gequält. »Du wusstest, wonach ich mein Leben lang gesucht habe. Warum hast du mir nicht gesagt, dass ihr so seid wie ich?«
»Aber das sind wir nicht«, antwortete Elena. Plötzlich erwachte sie aus ihrer Starre, kam auf ihn zu und blieb auf Armeslänge vor ihm wieder stehen, wie von einer unsichtbaren Hand zurückgerissen. Ihre Augen waren groß und erfüllt von Furcht. »Du glaubst, du hättest nach uns gesucht?« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Es ist genau umgekehrt, Andreas. So lange ich lebe, haben wir nach einem Mann wie dir gesucht.«
Andrej war nicht ganz sicher, ob er verstand, was Elena meinte. Ob er es überhaupt verstehen wollte.
»Du bist nicht wie wir«, wiederholte Elena. Ihre Stimme begann zu zittern. Sonderbarerweise konnte er ihr Gesicht immer noch nicht richtig erkennen, obwohl sie jetzt ganz dicht vor ihm stand, aber irgendwie spürte er dennoch die Tränen, die ihre Augen füllten. »Oh Andreas, was war ich für eine Närrin, es dir nicht sofort gesagt zu haben. Du hast Recht, wenn du mich dafür hasst. Ich hatte Angst davor.«
»Angst?«
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich glaubte, jemanden wie dich gefunden zu haben«, antwortete Elena. »Aber er war es nie. Ich bin drei anderen begegnet, und ich habe mich dreimal der Hoffnung hingegeben und bin dreimal an der Enttäuschung fast zerbrochen. Ich war nicht sicher, ob ich es ein weiteres Mal ertragen würde.« Und endlich gab sie sich einen Ruck, machte einen letzten Schritt und warf sich ihm mit solcher Kraft an die Brust, dass er wankte. Andrej konnte ihre heißen Tränen spüren, als sie das Gesicht gegen seine Wange presste. Es vergingen noch einige endlos quälende Sekunden, aber dann schloss er sie in die Arme und strich ihr zärtlich mit der Hand über das Haar. Auch seine Augen wurde heiß und begannen zu brennen. Er verstand den Grund für Elenas Tränen nicht, aber er wusste, dass sie echt waren, denn er konnte den unendlichen, grausamen Schmerz spüren, der Elena schüttelte. Bei dem Gedanken, dass er der Grund für diesen Schmerz sein könnte, schien auch in ihm etwas zu zerbrechen.
Wieder verging - diesmal wirklich - lange Zeit, bis Elena aufhörte, zu schluchzen, ihre Tränen versiegten und sie sich schließlich aus seiner Umarmung löste und einen Schritt zurücktrat. Sie straffte sich, drehte sich halb zur Seite und fuhr sich mit der linken Hand durch das Gesicht, um die Tränen fortzuwischen. »Du bist nicht wie wir«, sagte sie, zum wiederholten Male, zwar mit festerer Stimme, aber immer noch sehr leise. »Du bist alles, was wir je werden können, Andreas.«
»Du weißt nicht, was ich bin«, sagte er bitter.
»Ein Vampir«, antwortete Elena.
Andrej starrte sie an. Er sagte nichts. Sein Herz begann zu klopfen.
»Ich habe dir doch von den anderen erzählt, auf die wir gestoßen sind«, sagte Elena bitter. »Auch sie waren Vampyre. Unsterbliche wie du, die die Macht haben, die Leben anderer zu nehmen, um sich davon zu ernähren.«
»Es gibt keine Vampire«, sagte Andrej, fast schon automatisch, ganz einfach, weil er das immer sagte, wenn das Gespräch auf dieses Thema kam - was in letzter Zeit öfter der Fall war, als er wahrhaben wollte. »Das ist ein Ammenmärchen. Geschichten, die man erzählt, um Kinder zu erschrecken.«
Elena drehte sich langsam wieder zu ihm herum und sah ihm fest in die Augen. »Ich habe drei von ihnen getroffen«, sagte sie. »Es ist kein Ammenmärchen.«
»Die drei, von denen du berichtet hast. Was ist geschehen?«
»Ich habe sie getötet«, antwortete Elena. Ihre Stimme war ganz leise und scheinbar beherrscht; aber tief unter der Ebene des Hörbaren war noch etwas anderes darin, ein Schmerz, der zu groß war und zu tief ging, um ihn mit Worten zu beschreiben. »Deshalb habe ich mich dir nicht gleich offenbart, Andreas.«
»Weil du Angst vor mir hattest?«
»Weil ich nicht sicher war, ob ich dich nicht auch würde töten müssen«, antwortete Elena. »Weil ich verzweifelt gehofft habe, dass es diesmal anders sein könnte.«
»Und?«, fragte Andrej leise und bitter. »Ist es anders?«
»Du bist nicht wie sie«, antwortete Elena. Das war nicht wirklich eine Antwort auf seine Frage, und Andrej war sehr sicher, dass das auch kein Zufall war. Aber er schwieg, bis Elena von sich aus weiter sprach. »Es gibt nur sehr wenige von euch. Die meisten erliegen früher oder später der Verlockung der Macht über Leben und Tod, Andreas. Vielleicht alle.«
»Ich nicht«, widersprach er.
»Noch nicht«, sagte Elena. Sie schüttelte heftig den Kopf, als er widersprechen wollte. »Sag nicht, dass du es nicht auch schon gespürt hast. Du wärest kein Mensch, weil das Gift der Verlockung keine Wirkung auf dich hätte. Bisher hast du ihm vielleicht widerstanden, aber wirst du es immer können? In zehn Jahren? In hundert? Oder wortwörtlich auf ewig?«
Diesmal schien sie auf eine Antwort zu warten, und jetzt war es Andrej, der schwieg. Ein kalter Schauer rann ihm über den Rücken, denn ihre Worte waren fast gleich mit denen, die Anka ihm gesagt hatte, nur, dass sie aus Elenas Mund eine ungleich stärkere Wirkung auf ihn hatten. Vielleicht, weil er wusste, dass sie die Wahrheit sprach. Es war erst wenige Stunden her, da hätte er um ein Haar den einzigen Menschen getötet, der ihm auf der Welt noch geblieben war.
Elena schien sein Schweigen richtig zu deuten. Sie nickte. »Siehst du? Vielleicht verlange ich zuviel vom Schicksal. Vielleicht ist es unmöglich, darauf zu hoffen, dass es auch nur einen Menschen auf der Welt gibt, der dieser Versuchung auf Dauer widerstehen könnte. Aber bisher hast du es getan. Vielleicht bist du ja tatsächlich der eine Auserwählte, auf den wir alle warten.«
»Und wenn ich es wäre?«
»Dann wären all die Jahre des Hoffens und Wartens vielleicht nicht umsonst gewesen.« Elena lachte leise und sehr bitter. »Glaubst du an Gott, Andreas?«
Sein erster Impuls war, heftig den Kopf zu schütteln, »Nein« zu sagen, aber er tat weder das eine noch das andere, sondern sah sie nur weiter fragend an. Und nach einer Weile fuhr sie fort: »Nun, was mich angeht, ich bin nicht sicher. Ich habe oft geglaubt, ich hätte schon so viel gesehen und zu viel erlebt, um noch an ein höheres Wesen glauben zu können, oder gar an den Sinn, der hinter all dem steckt. Aber vielleicht gibt es ihn doch, und wir können ihn nur nicht erkennen. Wenn, dann muss er einen Grund gehabt haben, etwas wie uns zu erschaffen. Manche von uns glauben, wir wären nur eine Laune der Natur. Eine ganz besondere Art von Missgeburt. Krüppel, die von einer Krankheit gezeichnet sind, die man nicht sieht. Aber vielleicht ist unsere Zeit einfach noch nicht gekommen. Vielleicht bedarf es nur dieses Einen, um unser Volk endlich zu dem zu machen, was es werden soll.«
»Du hast mich gerade gefragt, ob ich an die Existenz eines Gottes glaube«, sagte Andrej. »Ich weiß die Antwort darauf so wenig wie du, Elena, aber eins weiß ich gewiss: Dass ich kein Messias bin.«
»Woher willst du das wissen? Irgendeiner muss der Erste sein.«
»Der Erste was?«, fragte Andrej noch einmal, und jetzt hörbar lauter.
Es verging eine geraume Weile, bis Elena antwortete. »Ich trage dein Kind in mir, Andreas«, sagte sie ganz leise.
Ein Schlag ins Gesicht hätte ihn kaum härter treffen können. Ungläubig starrte er sie an und suchte nach Worten. Schließlich stammelte er: »Das ... das ist... nicht möglich.«
Elena lachte. Nur ganz kurz, aber dieses Lachen klang echt und ehrlich amüsiert. »Wahrscheinlich sind diese Worte schon öfter gesprochen worden, als es Blätter an den Bäumen gibt, Andreas.« Sie wurde schlagartig wieder Ernst. »Es ist so. Glaub mir.«
»Du musst dich täuschen«, sagte Andrej. Er rang sichtlich um Fassung. »Ich bin nicht ... ich meine ... ich kann keine Kinder zeugen.«
»Woher willst du das wissen?«
»Ich hab mich nie besonders vorgesehen«, erwiderte Andrej. »Ich meine ... ich hatte viele Frauen, und wir waren nie -«
»Warst du jemals mit einer Frau deiner Art zusammen?«
Andrej antwortete nicht. Wie auch?
»Ich trage dein Kind in mir, Andreas«, sagte Elena noch einmal. »Ich habe es an unserem ersten Abend empfangen. Als wir uns das erste Mal geliebt haben.«
Andrej starrte sie an, dann das aufgeschlagene Bett. Er konnte nicht mehr denken. Hinter seiner Stirn herrschte nur Chaos, die Gedanken bewegten sich wie durch einen zähen Sumpf, und er spürte, wie seine Hände zu zittern begannen. »Dann ... dann war ich für dich nur ...«
»Hast du mir nicht zugehört, Andreas?«, fiel ihm Elena ins Wort. »Oder ist dein Gedächtnis so schlecht? Du warst so ungestüm, dass ich nach wenigen Minuten wieder hätte gehen können, aber ich bin geblieben. Und ich bin am Tag darauf zurückgekommen.«
»Ich weiß«, murmelte Andrej. »Verzeih. Ich wollte dich nicht kränken. Aber es ist ...« Wieder brach er ab. Wieder fehlten ihm die Worte. Elena kam wieder näher, ergriff seine Hand und legte sie auf ihren Bauch.
»Du kannst es noch nicht fühlen, aber ich weiß, dass es da ist, Andreas. Dein Kind. Unser Kind. Es wird ein Junge werden, und wenn es dort oben im Himmel wirklich einen Gott gibt, dann muss er mich einfach erhören, so oft, wie ich ihn angefleht habe, unserem Volk eine Zukunft zu geben. Vielleicht wird unser Sohn der erste einer neuen Art, und vielleicht wird er nicht sein ganzes Leben lang gegen die Dämonen aus seiner Seele kämpfen müssen, wie du.«
Andrej ließ die Hand einen Moment auf Elenas flachem Bauch liegen, dann zog er sie fast erschrocken fort und wäre um ein Haar auch vor ihr zurückgewichen. »Aber ... aber das kannst du doch gar nicht wissen«, stammelte er. »Ich meine: Selbst, selbst wenn' du weißt, dass du guter Hoffnung bist, woher willst du das wissen?«
»Ich weiß es«, antwortete Elena in einem Tonfall, der keinen Zweifel zuließ. »Bleib' bei uns, Andreas. Bei mir. Wenn nicht um meinetwillen, dann wegen deines Sohnes.«
»Das wird deinem Mann nicht gefallen«, sagte Andrej leise.
Elenas Blick verdüsterte sich. »Laurus hat mich seit fünf Jahren nicht mehr berührt«, sagte sie.
»Und warum?«
Die Dunkelheit in Elenas Blick schien zuzunehmen. Ein gequälter Ausdruck machte sich auf ihrem Gesicht breit. Lange Zeit schwieg sie, und Andrej konnte sehen, wie sie mit sich rang. Dann trat sie einen Schritt zurück, straffte die Schultern und machte eine Kopfbewegung zur Tür. »Komm mit!« Der Wald war ebenso still und von der gleichen, stickigen Hitze erfüllt wie gestern, als sie nach Bason und seinem Bruder gesucht hatten. Und er war von der gleichen, bösen Präsenz erfüllt wie vor zwei Tagen, als sie Bruder Flock gefunden hatten. Und doch war etwas anders: Diesmal spürte Andrej nicht diesen kompromisslosen Drang, grundlos zu vernichten und zu zerstören, sondern etwas Lauerndes - aber die Dämonen waren da, auch wenn er sie nicht sehen konnte.
»Was wollen wir hier?«, fragte er. Der Klang seiner Stimme verriet mehr von seiner Nervosität als ihm lieb war, und er ertappte sich zum wiederholten Mal dabei, wie seine rechte Hand nach seinem Gürtel tastete. Er hatte sein Schwert nicht mitgenommen, als Elena ihn aufgefordert hatte, ihr zu folgen, und er bedauerte dieses Versäumnis. Auch, wenn er ziemlich sicher war, dass das, was sie hier antreffen mochten, mit herkömmlichen Waffen nicht zu besiegen war.
»Wir sind gleich da«, sagte Elena. Sie ging dicht vor ihm her, und auch, wenn er sie jetzt im hellen Tageslicht sah und nicht im farblosen Grau der Nacht, wie damals bei Handmanns Mühle, so schien sie dennoch mit jedem Schritt mehr mit den Schatten zu verschwimmen und eins mit den Formen der Natur zu werden, sodass es ihm immer schwerer fiel, sie im Auge zu behalten.
»Ich finde es nicht klug, das Lager zu verlassen«, sagte er, während er unablässig nach rechts und links blickte. Das Gefühl, beobachtet zu werden, ohne seinerseits irgendetwas Verdächtiges zu sehen, trieb ihn fast in den Wahnsinn. »Wir haben versprochen, im Lager zu bleiben. Wenn man uns hier sieht, ist das vielleicht genau der Vorwand, auf den Schulz und die anderen warten.«
»Es sind nur ein paar Schritte«, sagte Elena. »Außerdem hat uns niemand gesehen.«
»Und wenn doch, dann wirst du dafür sorgen, dass er es vergisst, nicht wahr?«, fragte er. Elena antwortete nicht darauf, aber sie warf ihm einen leicht verletzten Blick über die Schulter zu, und Andrej entschuldigte sich in Gedanken bei ihr. Natürlich hatte sie niemand gesehen. Das kleine Waldstück lag auf der Rückseite des Lagers, und selbst wenn, so konnten sie immer noch behaupten, Feuerholz oder ein paar Kräuter gesucht zu haben. Er war einfach übernervös, das war alles.
Plötzlich blieb Elena stehen, und Andrejs ungutes Gefühl erhielt neue Nahrung, als er erkannte, dass sie sich genau dort befanden, wo Flock von den vier Bestien überfallen worden war. Elena wandte sich zu ihm um und sah ihn auf seltsame Weise an, und gerade, als Andrej eine Frage stellen wollte, hörte er hinter sich das Knacken eines Astes und leichte Schritte.
Als er herumfuhr, waren sie schon da. Das Mädchen und ihr älterer Bruder standen kaum auf Armeslänge von ihm entfernt und starrten ihn aus ihren bösen, seelenlosen Augen an, während die beiden jüngeren Knaben nach rechts und links auseinander gestrebt waren. Alle vier hielten kleine, scharfe Messer in der Hand, kaum mehr als Spielzeuge, die in den Händen solcher Kreaturen aber zu tödlichen Waffen werden konnten.
»Hab keine Angst«, sagte Elena rasch. »Sie werden dir nichts tun.«
Dem Ausdruck in den Augen des älteren Jungen nach zu schließen, ist das keineswegs die Wahrheit, dachte Andrej. Und auch das Mädchen starrte ihn nur kalt an. Ihr Blick war undeutbar, aber alles andere als freundlich.
»Ihr habt mich gehört«, sagte Elena jetzt mit lauter Stimme, in der eine Spur von Autorität lag, vielleicht sogar etwas wie eine Drohung. »Andreas gehört jetzt zu uns. Ihr werdet ihm kein Leid zufügen.«
Die Kinder schwiegen noch immer. Der Hass in den Augen des Jungen war unverändert groß, wie auch die Kälte in denen seiner Schwester nicht abnahm. Andrej fröstelte. Er hatte keine Angst. Er wusste, dass ihm im Moment keine Gefahr drohte, aber noch nie hatte er eine solche Bosheit und eine so unkontrollierte Lust am Zerstören und Töten, am Zufügen von Leid gespürt wie in Gegenwart dieser vier Kinder. Plötzlich musste er wieder an Flock denken, und er wusste nun, dass der Pfarrer Recht gehabt hatte. Das hier waren keine Kinder. Es waren nicht einmal Menschen. Es waren Dämonen.
Zitternd drehte er sich zu Elena herum. »Was bedeutet das? Was hast du mit diesen ...« Er suchte nach Worten und fand keine, und Elena, die seine Qual zu spüren schien, unterbrach ihn mit einer raschen Geste.
»Später«, sagte sie. »Ich erkläre dir alles.« Sie trat mit zwei schnellen Schritten an seine Seite und machte eine Bewegung, mit der sie die Aufmerksamkeit der Kinder auf sich lenkte. Andrej hatte das Gefühl, wieder freier atmen zu können, als die Blicke der unheimlichen Kreaturen nicht mehr auf ihn gerichtet waren. »Ihr werdet weder ihm noch seinem Freund oder irgendjemandem hier etwas antun«, fuhr Elena fort. »Ihr habt schon viel zu viel Schaden angerichtet. Wir werden in wenigen Tagen weiter ziehen, und so lange werdet ihr euch verborgen halten. Habt ihr das verstanden?«
Sie schien nicht wirklich auf eine Antwort zu warten, denn schon nickte sie mit grimmigem Gesichtsausdruck und machte eine Geste tief in den Wald hinein. »Und nun geht. Ich komme vielleicht später noch einmal zu euch und erkläre euch alles.«
Es war fast unheimlich, wie lautlos die vier Gestalten ins Dickicht zurückwichen und mit seinen Schatten zu verschmelzen schienen. Doch wenige Augenblicke später war auch ihre unheimliche Präsenz nicht mehr zu spüren, und der Wald schien sich wieder zu verändern, von einem Ort des Bösen, der der Hölle näher war als der Welt der Menschen oder gar dem Himmel, wieder zu einem Stück der Realität.
»Was bedeutet das?«, fragte Andrej noch einmal.
Elena antwortete nicht gleich, sondern neigte den Kopf und schloss die Augen, als würde sie lauschen. Erst, als sie zu dem Ergebnis gekommen zu sein schien, dass sie tatsächlich allein waren, hob sie die Lider, antwortete aber auch jetzt nicht, sondern wies auf den Waldrand und ging los. Fast auf dem gleichen Weg, auf dem Flock und er vor zwei Tagen hier heraus getaumelt waren, verließen sie das kleine Waldstück und gingen wieder zum Lager zurück.
»Du hast mich gefragt, warum Laurus mich nicht mehr berührt hat«, sagte Elena. »Du hast den Grund gerade gesehen.«
Andrej blieb stehen und riss ungläubig die Augen auf. »Wie bitte?«
»Es sind seine Kinder«, sagte Elena leise. »Laurus ist ihr Vater. Und ich ihre Mutter.«
Andrej schnappte hörbar nach Luft. »Dann ist Laurus also auch -?«
»Nein«, fiel ihm Elena ins Wort. Fast erschrocken. »Laurus ist ein Sterblicher. Der einzige hier im Lager.«
»Wusste er, was du bist?«, fragte Andrej.
Elena nickte. »Ja. Er hat es immer gewusst.«
»Und es hat ihm nichts ausgemacht?«, fragte Andrej ungläubig.
Elena lachte ganz leise; jedenfalls glaubte Andrej im ersten Moment, dass es ein Lachen wäre, aber dann war er nicht mehr sicher. Vielleicht war es auch ein unterdrücktes Schluchzen oder ein leiser, verzweifelter Schrei. »Urteile nicht vorschnell, Andreas«, sagte sie. »Laurus war nicht immer so. Vor zwanzig Jahren war er dir ähnlicher, als du vielleicht glaubst. Er hat wohl geglaubt, dass die Liebe jedes noch so große Hindernis überwinden kann.«
»Kann sie es?«, fragte Andrej.
»Ich glaube, er ist daran zerbrochen«, sagte Elena. »Ich weiß, er ist ein bitterer, böser alter Mann geworden. Aber es ist nicht seine Schuld. Auch nicht meine. Vielleicht ist es einfach die Schuld des Lebens, das nicht gerecht ist.«
Eine Zeit lang gingen sie schweigend nebeneinander her, bis sie die Grenze des Lagers erreicht hatten. Andrej folgte Elena ganz instinktiv, doch plötzlich wurde ihm klar, dass sie wieder den Weg zu seinem Wagen eingeschlagen hatte, und er blieb stehen.
»Du solltest zu deinem Mann zurückgehen«, sagte er.
Elena sah ihn traurig an. »Warum?«
»Weil du zu ihm gehörst«, erwiderte Andrej. Wie gern hätte er etwas anderes gesagt. Es gab nichts, was er im Moment mehr wollte, als sie in die Arme zu schließen, die Wärme ihres Körpers auf seiner Haut zu spüren und die Süße ihrer Lippen, und doch - nach allem, was Elena ihm erzählt hatte, würde er das vielleicht nie wieder können. Noch einmal und viel intensiver, mit fast schmerzhaft körperlicher Wucht, begriff er, was der Ausdruck in Laurus' Augen vorhin bedeutet hatte. Er hatte ihn erniedrigt, aber gewiss nicht damit, dass er seine Hand gepackt und ohne Mühe von seinem Arm gelöst hatte.
»Warum musst du meinen Schmerz noch vergrößern, Andreas?«, fragte Elena. »Glaubst du denn, es macht mir nichts aus?«
»Was? Dass deine Kinder Ungeheuer sind? Dass es ihnen Freude bereitet, Menschen zu quälen und zu töten?«
»Es vergeht kein Augenblick an keinem Tag, an dem ich nicht daran denke«, antwortete Elena. Ihre Augen schimmerten feucht, und er sah, dass sie nur noch mit Mühe die Tränen zurückhielt. »Aber es sind meine Kinder, Andreas. Was soll ich tun?«
Andrej blieb ihr die Antwort auch auf diese Frage schuldig - und was hätte er sagen sollen? Schon bei der bloßen Erinnerung an die seelenlosen Kreaturen mit den toten Augen, lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken, aber er konnte - zumindest intellektuell - auch Elena verstehen. Vielleicht besser, als er es wollte. Besser, als er es wahrhaben wollte.
»Beantworte meine Frage«, verlangte Elena. Sie sprach leise, und dennoch schrie sie fast. »Was soll ich tun? Soll ich sie töten? Soll ich meine eigenen Kinder umbringen?«
»Und was glaubst du, wird aus ihnen?«, gab Andrej zurück, wobei er ihre Frage ganz bewusst nicht beantwortete. Das konnte er nicht. »Was wird aus ihnen werden, wenn deine Tochter vom Mädchen zur Frau und deine Söhne von Kindern zu Männern werden? Sie töten jetzt schon grundlos. Nur, weil es ihnen Freude bereitet.«
»Ich weiß es nicht«, sagte Elena gequält. »Aber es kann nicht mehr lange dauern. Vielleicht schon dieses Jahr, vielleicht nächstes, aber dann wird sich erweisen, wozu sie werden. Vielleicht sterben sie. Vielleicht werden sie auch noch schlimmer, und dann werde ich sie töten müssen. Aber vielleicht werden sie auch so wie Bason und Rason.«
»Wie meinst du das?«
»Du magst die beiden, nicht wahr?«, fragte Elena. Sie lächelte flüchtig. »Jeder mag sie. Es gibt niemanden, der ihnen einen Wunsch abschlagen könnte, oder dem sie nicht auf Anhieb sympathisch wären. Das ist ihre Macht, Andreas. Das Geschenk, das sie vom Schicksal bekommen haben. So, wie ich in der Lage bin, anderen meinen Willen aufzuzwingen, so erwecken sie Gefühle von Freundschaft und Zuneigung, einfach, weil sie da sind. Ganz egal, bei wem. Vielleicht werden Laurus' Kinder ebenso - falls sie den Schritt vom Kind zum Erwachsenen überhaupt erleben.« Sie schüttelte den Kopf. »Mag das Schicksal über sie richten. Ich kann es nicht.«
Was sollte er darauf sagen? Konnte er von einer Mutter verlangen, über ihr eigenes Fleisch und Blut zu richten? Kaum. »Und wie ... soll es weiter gehen?«, fragte er leise. »Wollt ihr weiter von Stadt zu Stadt ziehen, von Land zu Land, und immer hoffend, dass niemand euer Geheimnis entdeckt? Willst du weiter zusehen, wie sie unschuldige Menschen töten?«
»Natürlich nicht«, antwortete Elena, ohne ihn anzusehen und mit leiser, fast brechender Stimme. Er konnte ihr Gesicht nicht sehen, denn sie blickte zu Boden, aber er spürte, wie sich ihre Augen weiter mit Tränen füllten. »Es ist auch nicht so, wie du vielleicht glaubst. Sie sind keine ... Mörder. Es ist nicht so, dass sie überall Tod und Verwüstung hinterlassen, wo immer wir hinkommen.«
»Den Eindruck hatte ich nicht«, sagte Andrej. Er fühlte sich schäbig bei diesen Worten, denn er wusste, wie weh sie Elena tun mussten, aber er konnte sie auch nicht zurückhalten.
»Ich weiß«, sagte Elena. »Es ist schlimmer geworden. Es wird schlimmer, mit jedem Tag, der vergeht, mit jeder Stadt in die wir kommen. Wir werden eine Entscheidung fällen müssen. Vielleicht habe ich deshalb so verzweifelt gehofft, dass du der bist, auf den wir seit so langer Zeit warten.«
»Ich werde diese Entscheidung nicht für euch treffen können«, sagte Andrej. Gleichzeitig war ihm klar, wie lächerlich diese Behauptung war. Er würde sie fällen, ganz gleich, was er tat. Selbst, wenn er nichts tat. Indem sie ihn in ihr Geheimnis eingeweiht hatte, lag die Verantwortung, ob er schwieg oder diese Höllenbrut auslöschte, nun ebenso auf seinen Schultern wie auf ihren. Vielleicht noch viel mehr.
»Und was soll ich jetzt tun?«, fragte er.
Als Elena den Kopf hob und ihn ansah, liefen Tränen über ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht«, sagte sie. »Ich weiß ja noch nicht einmal, was ich tun soll.«
Und damit drehte sie sich herum und ging, um ihn allein zurück zu lassen. Allein mit sich und einem Schmerz, der vielleicht schlimmer war als alles, was er je zuvor erlebt hatte, aber auch einer Hoffnung, die mindestens so mächtig war wie dieser Schmerz.
Er hätte nicht sagen können, wie lange er im Halbdunkel seines Wagens dagesessen und ins Leere gestarrt hatte. Was in dieser Zeit hinter seiner Stirn vorgegangen war, woran er gedacht, was er sich gewünscht und was er verflucht hatte. Irgendwann neigte sich der Tag seinem Ende entgegen, und im gleichen Maße, in dem die Hitze nachließ, die mit immer größerem Erfolg die dünnen hölzernen Wände seines Wagens überrannte und um Einlass kämpfte, und das Licht nicht mehr so gleißend war, dass es seine empfindlichen Augen fast blind machte, erwachte das Zigeunerlager ringsum mehr und mehr zum Leben. Die ersten Feuer wurden entzündet, die ersten, noch zaghaften Takte von Musik wurden laut, und schließlich hörte er das erste Lachen und Lamentieren, das von der Ankunft neuer Gäste kündete, die sich offensichtlich weder von den Gerüchten über Hexerei und Flüche, noch von den Geschichten über Tote abschrecken ließen, die man in den Wäldern ringsum gefunden hatte. Es war nach Sonnenuntergang, als Andrej das Gefühl hatte, aus einem tiefen, aber alles andere als traumlosen Schlaf zu erwachen, und tatsächlich eine oder zwei Atemzüge brauchte, um sich überhaupt darüber im Klaren zu werden, wo er war, und warum er dort war, wo er war. Er erinnerte sich nicht einmal wirklich, dass er in seinen Wagen zurückgegangen war und sich mit untergeschlagenen Beinen auf das Bett gesetzt hatte. Irgendwann zwischen dem Moment, in dem Elena sich herumgedreht und davongegangen war und jetzt, war ihm die Zeit abhanden gekommen. Er hatte das Gefühl, aus einem endlosen, von grässlichen Träumen geplagten Schlaf zu erwachen, und ganz wie in den Tagen zuvor, fühlte er sich auch jetzt körperlich müde und erschöpft, als hätte er eine Schlacht geschlagen. Fast ohne sein Zutun fuhr seine rechte Hand über die zurückgeschlagene Decke, auf der er saß. Sie war warm, aber es war nur die Sonnenwärme, die sie gespeichert hatte, nicht die von Elenas Körper. Selbst jetzt, nach allem, was er erfahren hatte, konnte er fast an nichts anderes denken.
Einen Moment lang fragte er sich ganz ruhig, ob er von dieser Frau besessen war. Er kam zu keiner Antwort, und selbst wenn - sie hätte ihm nichts genutzt. Er war Elena verfallen, und es spielte keine Rolle, warum und auf welche Art.
Andrej stand auf, ging zum Fenster, und sah hinaus. Er konnte nur einen kleinen Teil des Lagers überblicken, und es war im Grunde nicht mehr als flackernde rote Lichtsplitter und die Schatten von Menschen, vielleicht auch anderen, düstereren Dingen, die sich hektisch hin und her bewegten und dabei dem Rhythmus einer anderen, unhörbaren und atonalen Musik zu folgen schienen, und wie um sich selbst zu verhöhnen, ertappte er sich dabei, in diesen Schatten nach dem Elenas zu suchen, in dem Durcheinander von Stimmen auf ihr helles Lachen zu lauschen.
Etwas wie eine dumpfe Verzweiflung begann sich in ihm breit zu machen. Andrej hatte keine große Erfahrung darin, verliebt zu sein. Vielleicht gar keine. Aber wenn das, was er nun spürte, wirklich Liebe war, dann erlaubte sich das Schicksal, Gott, oder wie immer man es nennen mochte, einen wirklich bösen Scherz mit ihm. Er war hierher gekommen, um etwas zu suchen, von dem er gar nicht genau wusste, was es war, und er hatte etwas gefunden, von dem er noch viel weniger wusste, ob er es haben wollte. Und von dem er trotzdem nicht mehr loskam.
Lange Zeit stand er einfach da, starrte in die Nacht und auf den roten Widerschein der Feuer hinaus, dann ging er langsam zu seinem Bett zurück, nahm das Schwert, das er daneben an die Wand gelehnt hatte, und band sich den mit Silber beschlagenen Waffengurt mit bewusst langsamen, überpräzisen Bewegungen um, Bewegungen die keinen anderen Sinn hatten als den, Zeit zu gewinnen und den Moment, in dem er den Wagen verlassen musste, noch um eine kurze, aber unendlich wertvolle Zeitspanne hinauszuzögern.
Schließlich aber verließ er den Wagen, wandte sich nach links und erreichte nach wenigen Augenblicken das kleine Zelt am äußeren Rand des Lagers, zu dem er auch in der vergangenen Nacht schon einmal vergebens gegangen war.
Diesmal war sein Bewohner anwesend.
Abu Dun war nicht im Zelt, aber er stand reglos, hoch aufgerichtet und in abwartender Haltung daneben, so, als hätte er gewusst, dass Andrej kam, und geduldig auf sein Erscheinen gewartet. Sein Gesicht, schon bei Tage eine schwarze Maske, war in der Nacht fast nicht zu erkennen, aber Andrej spürte die Ruhe, die der Nubier ausstrahlte, gleichzeitig aber auch etwas anderes; eine Bitterkeit, die es ihm fast unmöglich machte, weiterzugehen.
»Du hast lange gebraucht, Hexenmeister«, sagte Abu Dun.
»Du hast gewusst, dass ich komme.«
»Ich hab's gehofft«, erwiderte Abu Dun. Er machte ein Geräusch, das Andrej nicht deuten konnte, das sich aber trotzdem wie ein dünner, glühender Pfeil in seine Brust grub. »Du hast dich also entschieden.«
»Ja«, antwortete Andrej, dann rasch, fast, als wäre er erschrocken vor seinem eigenen Wort: »Nein. Ich ... ich weiß es nicht, Abu Dun. Ich weiß einfach nicht, was ich tun soll.«
»Und das aus deinem Mund!«, Abu Dun lachte rau. »Weißt du, wie lange ich mir gewünscht habe, das zu hören? Andrej, der Unfehlbare, der unsterbliche Hexenmeister, der zugibt, dass er nicht weiter weiß?«
»Mach es mir nicht schwerer, als es ohnehin schon ist«, bat Andrej. »Verdammt, Abu Dun, ich -«
»Dann mach ich's dir leichter«, unterbrach ihn Abu Dun. »Du willst hier bleiben. Ich bin nicht überrascht, falls du das erwartet hast. Ich bin auch nicht enttäuscht. Ich wusste immer, dass es eines Tages so weit kommen würde. Ich wusste vom ersten Tag an, dass du auf der Suche bist. Und es gehört nun mal zu einer Suche, dass man eines Tages sein Ziel erreicht.«
Und eben das war es, was Andrej immer noch nicht wusste, weniger denn je zuvor. Hatte er sein Ziel wirklich erreicht? Nach allem, was er erlebt, und vor allem von Elena gehört hatte, sollte die Antwort eindeutig »Ja« lauten, aber war das die Wahrheit? Er hatte etwas gefunden, aber er konnte nicht sagen, ob es das war, was er hatte finden wollen.
»Ich hab rührselige Abschiedsszenen noch nie gemocht«, fuhr Abu Dun fort, als er keine Antwort bekam. »Wenn du gekommen bist, um Lebewohl zu sagen, dann tu es und dann geh deiner Wege.«
»Abu Dun -«, begann Andrej.
»Ich jedenfalls werde genau das tun«, fuhr der Nubier unbeeindruckt fort. »Ich wäre schon fort, aber ich habe auf dich gewartet. Nach so vielen Jahren wäre es undankbar, einfach so zu verschwinden.«
Andrej schwieg auch jetzt. Es war nicht das erste Mal in den vergangen Tagen, dass Abu Dun ihm drohte, allein fortzugehen, aber diesmal, so erkannte er, meinte der Nubier es ernst. Er wusste mit unerschütterlicher Sicherheit, dass er Abu Dun nie wieder sehen würde, wenn sich ihre Wege jetzt trennten.
»Ich hoffe, du wirst hier glücklich, Andrej«, sagte Abu Dun. Jede Spur von Häme oder Spott war aus seiner Stimme verschwunden. Er meinte, was er sagte, und genau deshalb taten seine Worte auch so weh.
»Ich nehme an, es macht dir nichts aus, wenn ich mir von unserem gemeinsamen Besitz nehme, was ich brauche«, sagte Abu Dun plötzlich lauter. Als ob Andrej das in diesem Moment interessierte, oder ob es irgendeine Bedeutung hätte. Doch er vermutete, dass Abu Dun womöglich einfach nur das Thema hatte wechseln wollen.
»Wo willst du hin?«, fragte Andrej.
Abu Dun hob die Schultern. »Die Welt ist groß. Irgendwo wird sich schon eine Beschäftigung für einen ehemaligen Sklavenhändler und Schmuggler finden. Die Zeiten sind zwar schlecht, aber man sagt auch, dass schlechte Zeiten gut für schlechte Menschen sind, hab ich Recht?«
Andrej lachte nicht. Man konnte viel über Abu Dun sagen, aber eines war er gewiss nicht: Ein schlechter Mensch. Er war ein Mörder, ein Sklavenhändler, Schmuggler, Dieb und Räuber, aber tief unter dem Gebirge von Untaten, das er im Laufe eines langen Lebens angehäuft hatte, schlug das Herz eines aufrechten Mannes - trotz allem.
»Du könntest noch eine Weile hier bleiben«, sagte er. »Ich bin sicher, dass Laurus nichts dagegen hätte.«
Abu Dun lachte. Es klang böse. »Und wenn, würde es ihm nichts nutzen, nehme ich an«, sagte er, schüttelte aber zugleich auch den Kopf. »Nein, nein, lass gut sein, Andrej. Vielleicht sehen wir uns einmal wieder, aber im Moment ziehe ich es vor, zu gehen. Selbst ich merke irgendwann, wenn ich nicht erwünscht bin. Ich denke, es ist besser zu gehen, bevor man es mir sagt.«
»Aber das ist doch nicht die Wahrheit«, wollte Andrej schreien, aber in Wahrheit flüsterte er nur, obwohl die Worte in seinem Kopf gellten.
»Was ist schon Wahrheit?«, sagte Abu Dun. Er löste sich endlich aus den Schatten, in denen er dagestanden und Andrej angestarrt hatte, und kam ihm ganz nahe. »Es war eine schöne Zeit mit dir, Andrej«, sagte er. »Du hast mir eine Menge genommen, aber du hast mehr dafür gegeben, als ich verloren habe. Dafür danke ich dir. Und ich wünsche dir von Herzen, dass du dein Glück findest. Oder wenigstens deinen Seelenfrieden.« Er lachte leise. »Und solltest du noch einmal in meine Heimat kommen und ein paar Sarazenenschädel einschlagen, dann achte darauf, dass sie nicht schwarz sind, denn einer davon könnte der meine sein. Inschallah.«
Erst später, viel später, wie es Andrej erschien, wurde ihm klar, dass der Nubier sich einfach abgewandt hatte und in Richtung der Koppel davon gegangen war, ohne noch einmal in sein Zelt zurück zu kehren und sein Gepäck zu holen. Und erst da begriff er, dass Abu Dun schon lange zum Aufbruch bereit gewesen war und nur auf ihn gewartet hatte, um ihm diese wenigen, aber unendlich kostbaren Worte zu sagen.
Und dann, als es viel zu spät war, begriff er, dass es durchaus etwas auf der Welt gab, das ebenso schmerzte wie die Gewissheit, sein Ziel verloren zu haben. Abgesehen von dem Gefühl, von dem er noch immer nicht wusste, ob es nun Liebe war oder etwas, das er nur dafür hielt, vermochte es einem Menschen das Herz zu brechen, einen Freund zu verlieren.
Aber vielleicht war auch dies nur eine der vielen Lektionen, die man erst im Laufe eines Lebens lernte: dass man es immer erst dann wirklich begriff, wenn es längst zu spät war.
Von einer inneren Unruhe getrieben, deren Gründe er nicht zu erforschen wagte, ging Andrej nicht zurück zu seinem Wagen - obwohl da aller Logik und innerem Aufruhr zum Trotz noch eine dünne Stimme war, die ihm sagte, dass Elena möglicherweise gerade in diesem Moment dort auf ihn wartete -, sondern wandte sich in die entgegen gesetzte Richtung, dem hell erleuchteten Zentrum des Lagers zu.
Er wusste selbst nicht, warum. Die laute Musik, das Lachen, all die fröhlichen Menschen dort widerten ihn an, denn in diesem Moment erschien ihm die Atmosphäre, die über diesem Platz lag, nicht als Ausdruck von Lebenslust, sondern von purem Hohn. So bewegte er sich, fast gegen seinen Willen, genau dorthin, wo er im Moment eigentlich am wenigsten sein wollte, und schon bald fand er sich inmitten einer ausgelassenen, fröhlichen Menschenmenge wieder und vor der Bühne, auf der Bason oder sein Bruder - im Moment war es Andrej wirklich nicht mehr möglich, die beiden zu unterscheiden - gerade ein Kunststück mit wirbelnden Messern und brennenden Keulen aufführten. Eine Jonglierübung, die gefährlicher aussah, als sie war, die zum größten Teil bereits angetrunkene Zuschauermenge aber in ihren Bann schlug.
Während er so dastand und der Darbietung zusah, das falsche Lachen hörte und in tückische Augen blickte, die weniger die Fertigkeit des Künstlers würdigten als vielmehr darauf warteten, dass dieser daneben griff und einer der Dolche seine Hand durchbohrte oder eine brennende Fackel sein Gesicht versengte, fragte sich Andrej, ob das hier wirklich die Welt war, in der er leben konnte. Er war weitgehend frei von Vorurteilen und hatte weder etwas gegen Gaukler noch gegen das fahrende Volk, aber er war oft genug bei Menschen wie diesen gewesen, um längst begriffen zu haben, dass er ein solches Leben nicht führen wollte. Und obwohl auch er schon so lange unterwegs war, dass er gar nicht mehr wusste, was das Wort Heimat wirklich bedeutete, war er doch stets auf der Suche danach gewesen. Diese Menschen hier waren Reisende, die ihr Ziel längst gefunden hatten, denn ihr Ziel war die Reise. Ganz plötzlich und mit unerschütterlicher Sicherheit begriff er, dass er dieses Leben auf Dauer weder führen wollte noch konnte.
Aber was bedeutete schon auf Dauer für einen Unsterblichen?
»Du hast dich also entschieden«, sagte eine Stimme hinter ihm.
Andrej drehte sich herum und sah ohne Überraschung in Laurus' Gesicht. Erst im Nachhinein wurde ihm klar, daß der Grauhaarige schon eine ganze Weile hinter ihm gestanden und ihn angeblickt hatte. »Ja«, sagte er.
In Laurus' Augen erschien eine Bitterkeit, die Andrej die Kehle zuschnürte. »Und was willst du tun?«
»Nichts«, sagte Andrej. »Da ist nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, Laurus. Ich erhebe weder Anspruch auf deine Position, noch auf dein Weib. Ich werde einfach warten.«
Die Brutalität dieser Aussage wurde ihm erst klar, als er die Reaktion darauf in Laurus' Blick las. Dann jedoch mit umso größerer Wucht. Für einen Moment konnte er kaum glauben, dass es seine eigene Stimme gewesen war, die diese Worte ausgesprochen hatte. Von allem, was er dem Sterblichen hätte sagen können, war dies vielleicht das Schlimmste und zugleich die größte Erniedrigung, die ein Mann einem anderen zufügen konnte. Er versuchte sich vorzustellen, wie Laurus sich in diesem Moment fühlen musste, aber seine Fantasie reichte dazu nicht aus. Laurus war ein Mann, für den jeder Tag, der verging, unwiederbringlich verloren war, und der mit jedem Atemzug, den er tat, dem Tod ein Stück näher kam. Ein Mensch, der alterte. Wie sehr musste es ihn schmerzen, neben einer Frau zu leben, für die die Zeit stehen geblieben war, die heute noch so schön und jugendlich aussah wie vor zwanzig Jahren? Und welch ungleich größere Schmach musste es bedeuten, den Nebenbuhler Tag für Tag vor Augen zu haben, einen Mann, dem die Zeit ebenso wenig anhaben konnte wie seinem Weib und der nichts weiter tun musste, als einfach nur zu warten.
Andrej schämte sich, und er verstand immer weniger, was ihn zu dieser Grausamkeit getrieben hatte. »Verzeih«, murmelte er.
Laurus zwang sich zu einem Lächeln. »Da gibt es nichts zu verzeihen, Andreas«, sagte er. »Willst du dich für das entschuldigen, was du bist? Es ist schließlich nicht deine Schuld.« Er schloss für einen Moment die Augen und fuhr dann mit leiserer, aber gefasster Stimme fort: »Ich wusste immer, dass du eines Tages kommen würdest. Elena hat mir nie etwas vorgemacht. Mir war stets klar, dass ich diesen Kampf nicht gewinnen kann. Nun, es tut trotzdem weh, ihn zu verlieren, aber ich hasse dich nicht dafür. Ich werfe dir nicht einmal etwas vor. Du hast die Welt nicht gemacht, und dich selbst auch nicht.«
Seltsam - aber Andrej glaubte zu spüren, dass diese Worte ehrlich gemeint waren. Sie berichtigten eine Menge von dem, was er über Laurus gedacht hatte. Und wenn es bei diesem ganzen Dilemma je um Schuld gegangen war, dann schuldete er diesem Mann Hochachtung. Wortlos wandte er sich ab und ging zu seinem Wagen zurück.
Lange, sehr lange nach Mitternacht kam Elena zu ihm. Andrej war längst eingeschlafen. Er hatte nicht damit gerechnet, in dieser Nacht auch nur ein Auge zuzutun, aber die sonderbare Schwäche und Kraftlosigkeit, die schon seit Tagen an ihm nagte, hatte auch jetzt wieder ihr Recht gefordert, und er war trotz allem in einen unruhigen Schlummer gesunken. Ein Schlaf, aus dem er einige Male aufgeschreckt war, allein mit der Dunkelheit in seinem Wagen, und dem verwirrenden Gefühl, dass irgendetwas nicht so war, wie es den Anschein hatte; und schon ganz und gar ich so, wie es sein sollte. Er war jedes Mal wieder eingeschlafen, bevor er diesen Gedanken ganz zu Ende verfolgen konnte, und als er das dritte oder vierte Mal erwachte, da war er nicht mehr allein. Eine vertraute Wärme presste sich an seinen Körper, und er spürte Elenas Gegenwart, noch bevor er ihren Geruch wahrnahm, das seidige Gefühl ihrer Haut auf seiner Brust fühlte und dann die süße Berührung ihrer Lippen. Fast instinktiv erwiderte er ihren Kuss und schloss sie in seine Arme, aber nur für einen Moment. Dann wurden seine Lippen spröde, und er ergriff sie bei den Schultern und schob sie, sanft aber nachdrücklich, ein Stück von sich fort.
Elena versteifte sich unter seiner Berührung, dann machte sie sich los, setzte sich auf und sah verwirrt auf ihn herab. In dem schwachen Mondlicht, das durch das offene Fenster herein strömte, konnte er erkennen, dass sie ihr Kleid bereits ausgezogen hatte und nackt war, und wieder erging es ihm so, wie schon ein paar Mal zuvor: Er betrachtete den Körper einer Göttin, aber es war ihm unmöglich zu sagen, wie alt sie war, nicht einmal, ob sie wirklich schön war. Es konnte an nichts anderem liegen als am schwachen Licht und dem verwirrenden Spiel der Schatten, aber für einen ganz, ganz kurzen Moment hatte ihr Gesicht etwas Katzenhaftes, etwas noch immer unwiderstehlich Verlockendes zwar, aber eine Schönheit, die plötzlich die eines tödlichen Räubers war. Doch wie so viele Gedanken in letzter Zeit, entglitt ihm auch dieser, und schon im nächsten Moment war selbst die Erinnerung daran war verschwunden.
»Was hast du?«, fragte Elena. Sie klang verwirrt.
Andrej setzte sich bewusst umständlich auf, um Zeit zu schinden, und rückte gerade so weit von ihr ab, dass es nicht unhöflich wirkte. »Nichts«, sagte er. »Entschuldige. Ich ... ich war nur überrascht.«
»Hast du jemand anderen erwartet?«, fragte Elena lachend.
»Wenn ich ehrlich sein soll, habe ich niemanden erwartet«, antwortete Andrej. »Auch dich nicht.«
Elena runzelte die Stirn. »Wie soll ich das verstehen?«
»Ich habe mit Laurus gesprochen«, sagte Andrej. »Er weiß von uns.«
»Natürlich weiß er von uns.«
»Woher?«
»Er ist mein Mann«, sagte Elena. »Ich habe es ihm erzählt.«
»Du hast es -?« Andrej stockte buchstäblich der Atem. Ungläubig riss er die Augen auf.
»Jetzt sag nicht, dass du Angst vor ihm hast«, sagte Elena. »Das brauchst du nicht.«
»Aber ... wieso hast du das getan?«, murmelte Andrej fassungslos. Wusste sie denn nicht, was sie Laurus damit antat? Und damit letzten Endes auch ihm? Wie sollte er eine Frau lieben, die den Mann, dem sie schließlich irgendwann einmal die Treue versprochen hatte, so erniedrigte?
»Wäre es dir lieber, ich hätte ihn belogen?«, fragte Elena und beantwortete ihre eigene Frage sogleich mit einem Kopfschütteln. »Laurus und ich haben uns niemals etwas vorgemacht, Andreas. Und das wird auch so bleiben.«
Als er nicht antwortete, lachte sie leise und versuchte, die Arme um seinen Hals zu schlingen und ihn erneut zu küssen, doch wieder schob Andrej sie von sich fort. »Nein«, sagte er. »Ich kann das nicht.«
»Gestern konntest du es aber noch ganz gut«, sagte Elena. »Und falls du das eine oder andere vergessen haben solltest, bin ich gerne bereit, deine Erinnerungen aufzufrischen.«
»Ich meine es ernst. Nicht, solange Laurus hier ist.«
Elena blinzelte. Sie wirkte verwirrt, als verstünde sie wirklich nicht, wovon er sprach. »Was soll das heißen? Willst du damit sagen, dass du kein Problem damit hattest, meinen Mann zu hintergehen, wohingegen du es nicht über dich bringst, etwas zu tun, wovon er weiß?«
»Ich hätte es anders formuliert, aber es läuft ungefähr darauf hinaus«, antwortete Andrej. Er bemühte sich um einen möglichst sachlichen Ton, aber natürlich gelang es ihm nicht. Ebenso wenig wie es ihm gelang, seinen Blick von Elenas Körper loszureißen, der von silbernem Mondlicht überschüttet unendlich verlockend direkt vor ihm saß. Dennoch fuhr er fort: »Wir können das nicht mehr tun, Elena.«
»Ich verstehe dich nicht«, sagte Elena. »Wo ist der Unterschied? Ich meine: Ich erwarte ein Kind von dir, Andreas. In wenigen Monaten wird es jeder sehen. Selbst, wenn ich Laurus belügen wollte, wüsste er spätestens dann Bescheid. Wäre dir das lieber?«
»Lieber wäre mir, wenn es gar nicht geschehen wäre«, murmelte Andrej.
»Oh«, sagte Elena, »das habe ich -«
»So war das nicht gemeint«, sagte Andrej hastig. »Ich bedaure keine Sekunde. Es ist nur ... Ich kenne Laurus nicht sehr gut. Aber ich glaube, dass er ein aufrechter Mann ist. Er hat es nicht verdient, so gedemütigt zu werden.« So wenig wie ich. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Elena nicht begriff, was sie da von ihm verlangte, und was es sowohl für Laurus als auch ihn bedeuten musste. Wieso war sie so grausam?
»Und was willst du jetzt tun?«, fragte sie leise. Sie rutschte ein kleines Stück näher, versuchte aber nicht mehr, ihn zu berühren. »Du kannst nicht so tun, als wäre nichts geschehen, Andreas.«
»Ich weiß«, sagte Andrej. »Mach es mir nicht so schwer, Elena, ich flehe dich an. Ich weiß nicht, was ich tun werde oder sollte. Vielleicht sollten wir einfach eine Weile abwarten.«
Elena sah ihn sicher eine halbe Minute lang fast ausdruckslos an, und mit ebenso ausdrucksloser Stimme flüsterte sie schließlich: »Eine Weile. Und was genau verstehst du unter ›einer Weile‹, Unsterblicher?«
»Nicht viel weniger als du«, sagte Andrej. »Gib mir etwas Zeit, um nachzudenken, Elena.«
»Gefalle ich dir nicht mehr?«, fragte sie.
Täuschte er sich, oder war da ein ganz leiser, aber scharfer Unterton in ihrer Stimme, den er bisher noch nie bei ihr vernommen hatte?
Sie schnappte hörbar nach Luft. »Ich verstehe. Du hast deinen Spaß gehabt, und jetzt -«
»Aber das ist doch nicht wahr!«, sagte Andrej. Schon, um seine Worte zu bekräftigen, streckte er die Hand aus und wollte ihren Arm ergreifen, aber Elena machte sich unwirsch los und rutschte wieder ein Stück weit von ihm fort.
»Und ich dachte, du wärst anders als all die anderen.«
»Das bin ich«, sagte Andrej. Er fühlte sich in die Ecke gedrängt, hilflos. »Es hat nichts mit dir zu tun.«
»Sondern?«
»Ich ... brauche einfach ein wenig Zeit«, sagte er stockend.
»Tut es dir Leid, dass du dich entschieden hast, bei uns zu bleiben?«, fragte Elena. »Noch ist es nicht zu spät. Wenn du gleich losreitest, kannst du deinen Freund, den Heiden, sicher noch einholen. Vielleicht hätte ich dir nicht sagen sollen, dass ich dein Kind erwarte. Anka hat mich gewarnt, dass ihr Männer manchmal so reagiert.«
»Aber so ist es doch nicht«, widersprach Andrej. Er blickte Elena verständnislos an. »Begreifst du denn nicht, was ich meine?«
»Nein«, sagte Elena. »Und das ist vermutlich meine Schuld. Ich ...« Sie brach ab. Andrej sah ihr an, dass sie noch viel sagen wollte, und dass sie innerlich vor Zorn bebte. Dann aber zwang sie sich zu einem Lächeln und machte eine um Verzeihung heischende Geste. »Wir sollten uns nicht streiten, Andreas«, sagte sie. »Vielleicht hast du Recht. Das ist möglicherweise wirklich nicht der richtige Moment.« Sie stand auf und drehte sich halb herum, wie um sich vom Bett zu entfernen, und für einen winzigen Moment konnte er ihren ganze Körper in seiner unendlichen Schönheit im silbernen Licht des Mondes erkennen. Und vielleicht hätte er diesen Moment sogar noch ertragen, doch da drehte sie noch einmal den Kopf und sah ihn an, und als sich ihre Blicke begegneten, brach sein Widerstand wie ein Fenster aus filigranem Glas unter einem Hammerschlag.
Sein Verstand schrie ihm verzweifelt zu, dass es falsch war, dass er sie nicht berühren durfte, zumindest nicht in dieser Nacht, wenn er auch nur noch einen winzigen Rest von Achtung vor sich selbst behalten wollte. Aber die Stimme seiner Vernunft war bedeutungslos. Als Elena sich wieder zu ihm herum drehte, sich über ihn beugte und die Arme nach ihm ausstreckte, sah er noch einmal und jetzt viel deutlicher das Raubtier in ihren Augen, und irgendwo in ihm war eine Stimme, die endlich die Wahrheit begriffen hatte und verzweifelt versuchte, ihn zu warnen. Aber auch diese Stimme verhallte ungehört, und dann spürte er wieder ihren Körper an seinem, ihre Lippen auf seinem Mund, und plötzlich war nichts anderes auf der Welt noch irgendwie von Bedeutung.
Es war das Gefühl unendlicher Müdigkeit und Erschöpfung, das ihn weckte; eine Mattigkeit die so allumfassend war, dass selbst der Schlaf zu anstrengend schien, um nicht daraus zu erwachen. Er hatte wirre Erinnerungen an etwas, das zu furchtbar gewesen war, um ein bloßer Albtraum zu sein, und zu bizarr für die Wahrheit. Und die Erinnerung daran, die letzte Grenze, der er schon oft so nahe gekommen war, diesmal berührt zu haben. Nicht überschritten, denn selbst für ein Wesen wie ihn bedeutete diese Schwelle einen Weg ohne Wiederkehr, aber er hatte sie zum ersten Mal nicht nur gesehen und gefühlt, sondern berührt, und vielleicht war ein Teil von ihm hinübergeglitten, denn in ihm war eine so allumfassende Leere, dass er davor erschauerte.
Dennoch war sich Andrej vollkommen des Umstandes bewusst, noch am Leben zu sein. Am Leben, aber vielleicht nicht mehr Herr seines Körpers. Er spürte, dass er auf etwas Warmem lag, das zu weich für Stein und zu hart für sein Bett war, und das Hände etwas an ihm taten, das unangenehm war, ohne dass er es genau identifizieren konnte. Vielleicht fügten sie ihm Schmerz zu, aber wenn, dann schützte ihn diese grausame Müdigkeit, die ihn immer noch quälte, denn selbst Schmerz zu empfinden war eine Anstrengung, zu der er nicht mehr fähig war. Seine Gedanken waren schwer wie Eisen und bewegten sich ebenso träge. Fast verzweifelt begann er, in sich nach einem verborgenen Reservoir an Kraft zu suchen, ein winziges bisschen Energie, aus dem er schöpfen und wenigstens ganz wieder ins Bewusstsein hinüber gleiten konnte, aber da war nichts. Das gewaltige Reservoir an eigener und fremder, gestohlener Lebenskraft, aus dem er bisher geschöpft hatte, war leer, aus der tobenden Feuersbrunst ein heruntergebrannter Funke geworden, kaum noch ein Glimmen, als hätte ihn jemand nicht nur all seiner Kraft, sondern auch seiner Lebensenergie beraubt. Sein Körper war unversehrt, sein Herz schlug wie eine präzise und treu arbeitende Maschine, aber mehr war er auch kaum noch.
So also ist das, dachte er matt. Trotz allen Erschreckens und aller Müdigkeit war ihm klar, was geschehen war. Er spürte das, was andere gespürt hatten, wenn er ihre Lebenskraft nahm.
Wieder spürte er, wie sich Hände an ihm zu schaffen machten. Er wurde unsanft an den Armen gepackt und über den Boden geschleift, und jetzt hörte er auch Stimmen, Stimmen, die ihm vage bekannt vorkamen, ohne dass er sie zuordnen konnte, und Worte in einer Sprache, die er zwar verstand, die aber trotzdem im ersten Moment keinen Sinn zu ergeben schienen. Dann wurde er so grob fallen gelassen und prallte gegen etwas, dass der Schmerz wie eine kleine Explosion den erstickenden Mantel aus Mattigkeit durchbrach, der sich um seine Gedanken gelegt hatte. Er hatte nicht die Kraft, zu stöhnen, geschweige denn, die Augen zu öffnen, aber als die lodernde Qual allmählich verebbte, erkannte er zumindest eine der Stimmen wieder, und nur einen Moment später ergaben ihre Worte auch Sinn, wenn auch sonderbarer Weise nur die dieser einen Stimme, die Bason gehörte. »Wieso lebt er noch? Sie hat gesagt, sie würde es zu Ende bringen.«
Eine andere Stimme antwortete, ihr Besitzer ebenso unbekannt wie die Worte unverständlich, dann wieder Bason: »Wozu?«
Jemand trat ihn in den Leib. Der Tritt war so wuchtig, dass zwei oder drei seiner Rippen brachen. Andrej registrierte den Schmerz, aber er war nebensächlich, denn er bemerkte etwas viel Alarmierenderes: Die zerbrochenen Knochen blieben zerbrochen. Sein Körper begann nicht damit, sich zu regenerieren, als wäre ihm auch diese Kraft genommen worden. Vielleicht war sie es.
Bason: »Das wird ihr nicht gefallen. Wir sollten ihm den Kopf abschlagen und ihn irgendwo vergraben.«
»Du hast gehört, was ich gesagt habe. Mir gefällt es ebenso wenig, aber es ist auch sehr erstaunlich. Wir bringen ihn zu Anka.« Andrej konnte die zweite Stimme immer noch nicht identifizieren, aber er vermutete, dass es die Rasons war. Verzweifelt versuchte er, die Lider zu heben, aber es ging nicht. Selbst diese kleine Anstrengung war hundertmal mehr, als er im Moment vollbringen konnte.
»Elena wird nicht erfreut sein, wenn sie das hört«, sagte Bason.
»Elena«, erwiderte die andere Stimme, die er für die Rasons hielt, »hat ihn schließlich am Leben gelassen. Vielleicht ist an ihm ja etwas Besonderes.«
»Ja. Er ist besonders gefährlich.« Andrej konnte hören, wie Bason heftig den Kopf schüttelte, und nur einen Moment später traf ihn ein zweiter, womöglich noch härterer Tritt in die Seite. Diesmal brach ihm die Stiefelspitze keinen weiteren Knochen, aber der Schmerz war schlimmer als das erste Mal. »Ich traue ihm nicht.«
Trotz dieser eindeutigen Worte wurde Andrej nur einen Moment später grob an den Armen gepackt und davongeschleift. Er konnte spüren, wie der raue Boden, über den er gezerrt wurde, seine Haut aufriss und Blut über seinen zerschundenen Rücken lief, aber er fürchtete den Schmerz jetzt nicht mehr, sondern war im Gegenteil dankbar dafür, und sei es nur, weil ihm diese Qual bewies, dass er noch am Leben war und dass es vielleicht doch noch ein Zurück gab. Immer verzweifelter versuchte er, sich zum Aufwachen zu zwingen, seinen Körper bewusst dazu zu bringen, was er bisher immer ganz von selbst getan hatte, nämlich seine Verletzungen zu heilen und die Schwelle des Todes mit der zum Leben zu tauschen, aber es ging nicht. Etwas in ihm war einfach nicht mehr da. Vielleicht war er sterblich geworden.
Wieder drohte er für einen kurzen Moment, endgültig ins Nichts hinüberzugleiten, spürte die Berührung jener unsichtbaren und auch für ihn endgültigen Grenze, und die Verlockung der ewigen Stille und des allumfassenden Vergessens und Friedens auf der anderen Seite. Aber da war noch irgendetwas, das ihn zurückhielt, ein winziger Funke, tief unter der fast erloschenen Glut seiner Lebensflamme, die sich einfach weigerte, auszugehen, vielleicht das Wissen, dass es da noch etwas gab, was erledigt werden musste, etwas, das wichtiger war als sein eigenes Leben.
Die Stimmen und Geräusche begannen erneut zu verschwimmen, und auch die Schmerzen, die ihm zugefügt wurden, verloren an Bedeutung. Sein geschundener Rücken blutete noch immer, und die gebrochenen Rippen bohrten sich wie kleine, spitze Messer tiefer in seine Brust. Aber Andrej war nur noch in der Lage, zu registrieren, nicht mehr, irgendetwas dagegen zu tun oder sich gar zu wehren.
Er spürte, wie er eine kurze Treppe hinaufgeschleift und dann grob auf einen Stuhl gestoßen wurde. Sein Kopf und sein Oberkörper sanken nach vorne und schlugen unsanft auf der harten Platte eines Tisches auf, er hörte Schritte, dann andere, scharrende Geräusche, ein Poltern, und schließlich eine dritte Stimme, die er zu seinem Erstaunen als die von Laurus identifizierte.
»Es ist genug. Ihr könnt gehen.«
»Aber -«, protestierte Bason.
»Wartet draußen!«, unterbrach ihn Laurus. »Habt ihr nicht verstanden?«
Wieder dieses Scharren, ein unmutiges Murren und dann das dumpfe Zuschlagen einer Tür. Für eine Weile geschah nichts, dann ergriff eine Hand brutal sein Haar und riss seinen Kopf nach oben und in den Nacken. »Siehst du, Unsterblicher«, sagte Laurus' Stimme, »so schnell können sich die Dinge ändern. Wo ist jetzt deine Überheblichkeit?«
Andrej hätte nicht einmal geantwortet, wenn er es gekonnt hätte. Er verstand nicht, was hier vorging. Er war selbst zu schwach, um wirklich zu erschrecken, allenfalls, dass er eine sachte Verwunderung verspürte.
Mit aller Kraft versuchte er, zumindest die Augen zu öffnen, doch nicht einmal das gelang ihm. Seine Lider schienen Zentner zu wiegen, und auch, wenn er spürte, dass der winzige Funke in ihm ein wenig heller zu glühen begann, so würde es doch noch lange dauern, vielleicht Stunden, bis er auch nur die Kraft aufgebracht hätte, den Kopf zu heben.
Sein Schweigen schien Laurus noch wütender zu machen, denn er schlug ihm zwei-, drei-, viermal hintereinander mit der flachen Hand und mit großer Kraft ins Gesicht, sodass Andrejs Kopf hin und her rollte und er vom Stuhl gefallen wäre, hätte Laurus ihn nicht zugleich auch festgehalten. »Ich könnte jetzt so großmütig sein wie du und sagen, dass ich nichts tun und einfach warten werde«, fuhr Laurus mit zitternder Stimme fort. »Aber ich bin ja nur ein sterblicher Mensch, dessen Tage begrenzt sind, weißt du? Ich kann mir so viel Geduld nicht leisten.«
Diesmal schlug er mit der Faust ins Gesicht. Andrej spürte, wie seine Lippen aufplatzten und salziges Blut über sein Kinn lief. Er war immer noch unfähig, darauf zu reagieren.
»Du spielt gern den harten Mann, wie?«, höhnte Laurus. »Nun, wollen wir sehen, wie hart du wirklich bist?« Er schlug ihn noch einmal, und noch sehr viel härter. Diesmal lief das Blut nicht nur an seinem Kinn herab, sondern füllte auch seinen Mund und rann salzig und warm in seine Kehle.
Und irgendetwas tief in ihm reagierte auf den bitteren Kupfergeschmack.
Was immer Elena ihm auch genommen hatte, sie war nicht bis auf den tiefsten Grund seiner Seele gekommen. Sein düsterstes Geheimnis, das Gefängnis, in dem die Bestie lauerte, war noch da, die Tür zu diesem sichersten aller Verliese unberührt, vielleicht unentdeckt.
»Ich hätte Lust, dich zu Tode zu prügeln«, sagte Laurus und schlug ein drittes Mal zu, um seine Worte unverzüglich zu beweisen. »Aber ich glaube, das würde Anka nicht gefallen.« Er lachte böse. »Vielleicht tue ich es ja doch gleich und fasse mich in Geduld. Ja, das werde ich tun. Ich werde einfach dastehen und zusehen, was Anka mit dir tut, und wer weiß, vielleicht ist es das erste Mal, dass ich den Anblick wirklich genieße.«
»Das reicht«, sagte eine scharfe Stimme. »Er kann dich nicht hören, du Narr. Und wenn er es könnte, dann könnte er nicht antworten.«
Laurus antwortete nicht darauf, aber Andrej konnte hören, wie er scharf die Luft einsog. Seine Hand ließ Andrejs Haar los, sodass er wieder nach vorne sank und sein Gesicht erneut und schmerzlich hart auf die Tischplatte prallte. Und das warme Blut lief weiter seine Kehle hinab. Er konnte jeden Fingerbreit des Weges spüren, den es nahm, wie eine brennende Spur, die es in sein Fleisch brannte.
»Lass das, du Dummkopf«, sagte Ankas Stimme. Sie war leise und zitterte, so wie immer, und doch war etwas darin, das Andrej erschauern ließ. »Richte ihn auf.« Er wurde erneut grob in die Höhe gezerrt, dann trat Laurus hinter ihn und legte ihm beide Hände auf die Schultern, damit er nicht zur Seite kippte. Er konnte hören, wie Anka mit schlurfenden Schritten näher kam und sich einen Stuhl heranzog, um sich an der gegenüberliegenden Seite des Tisches niederzulassen. Aus der winzigen Glut in ihm war jetzt ein Flämmchen geworden. Er war noch weit davon entfernt, etwas zu spüren, das man als Kraft bezeichnen konnte, aber seine Sinne erwachten nach und nach. Er konnte Laurus' scharfen Schweiß hinter sich riechen, aber auch den säuerlichen Geruch der hundertzwanzigjährigen Frau auf der anderen Seite des Tisches. Und da war noch etwas. Das Blut rann weiter seine Kehle hinab. Die brennende Verlockung, die es transportierte, hatte die Tür des Gefängnisses erreicht und begann, sich hineinzufressen wie Säure in altes, längst morsch gewordenes Holz.
»Du bist also noch am Leben«, sagte Anka. Er konnte hören, wie sie den Kopf schüttelte. »Das ist erstaunlich. Ich habe noch keinen getroffen, der die dritte Nacht mit Elena überlebt hätte. Wer bist du Andrej Delany? Was hast du uns verschwiegen?«
Die Bestie auf der anderen Seite der Tür zerrte immer wilder an ihren Ketten.
Etwas raschelte. Ankas säuerlicher Greisinnen-Geruch wurde intensiver, dann berührte eine pergament-trockene Hand seine Wange. Dürre Spinnenfinger tasteten über sein Gesicht, berührten seine Augen, seine Stirn, und er spürte, wie etwas in ihn eindrang und mit brutaler Kraft nach dem flackernden Lebensfunken in ihm griff. Doch statt ihn endgültig zu löschen, fachte sie ihn zu höherer Glut an. Nicht viel. Nicht annähernd genug, dass er hätte auf den Gedanken kommen können, sich zur Wehr zu setzen, aber doch genug, ihm zumindest die Kontrolle über seinen Körper zurückzugeben. Mühsam öffnete er die Augen und blickte in Ankas Gesicht. Obwohl sie blind war, musste sie es irgendwie registriert haben, denn ihr faltenzerfurchtes Antlitz verzog sich zur höhnischen Grimasse eines Lächelns. »Ja, wir können auch Kraft geben, Andrej«, sagte sie. »Das hast du nicht gewusst, nicht wahr? Woher auch? Nehmen ist ja so viel seliger denn Geben.«
Er versuchte, sich aufzurichten und ganz instinktiv Laurus' Hände abzuschütteln, die immer noch schwer auf seinen Schultern lagen, aber dazu reichte seine Kraft nicht aus. »Was willst du von mir?«, murmelte er.
»Dein Leben, was sonst?«, fragte Anka. Sie klang ehrlich verwundert. »Wenigstens das, was noch übrig ist. Aber du interessierst mich auch. Du bist ein erstaunlicher Mann, Andrej. Die Wenigsten überleben die erste Nacht mit meiner Tochter. Nur ganz wenige die zweite. Eine dritte hat noch keiner geschafft.« Sie schüttelte den Kopf. »Erstaunlich.«
»Deine Tochter?«
Anka lachte meckernd. »Oh, hat sie vergessen, dir das zu erzählen? Ja, ja, Elena ist mein Kind. Ich war nicht einmal sechzehn, als ich sie geboren habe.« Wieder lachte sie, und diesmal lag ein hämischer Ton darin, der Andrej einen kalten Schauer über den Rücken laufen ließ. »Ich hatte Zeit genug, mich daran zu gewöhnen, aber es gibt Momente, in denen ich wirklich bedaure, nichts sehen zu können. Jetzt zum Beispiel. Ich hätte zu gern dein Gesicht gesehen, als du dir gerade ausgerechnet hast, dass du mit einer Hundertjährigen im Bett warst.«
»Warum?«, murmelte Andrej.
Anka legte den Kopf schräg. »Warum was?«
»Warum habt ihr mich nicht einfach umgebracht?«, murmelte Andrej. »Warum habt ihr eure Brut nicht einfach gewähren lassen? Bereitet es euch solche Freude, Menschen zu quälen?«
»Auch das«, erwiderte Anka ungerührt. »Aber ich dachte, Elena hätte es dir gesagt. Es gibt nur noch wenige wie dich, Andrej, und auch das Leben einer Unsterblichen endet irgendwann. Das Überleben des Volkes muss gesichert werden.« Sie deutete mit einer verächtlichen Geste auf Laurus, der hinter seinem Stuhl stand. »Du hast ja gesehen, was dabei herauskommt, wenn wir uns mit normalen Sterblichen paaren.«
Andrej blickte weiter starr in Ankas Gesicht, aber er konnte spüren, wie Laurus hinter ihm leicht zusammenfuhr. »Dann habt ihr ja jetzt, was ihr wolltet«, sagte er kalt. »Töte mich. Vielleicht tust du mir damit ja einen Gefallen.«
»Das wäre ja fast ein Grund für mich, es nicht zu tun«, sagte Anka, lachte aber gleich darauf meckernd, schüttelte den Kopf und hob beide Hände, die Finger wie dürre Raubvogelkrallen nach seinem Gesicht ausgestreckt. »Aber freu dich nicht zu früh.«
»Ihr glaubt doch nicht, dass ihr damit durchkommt?«, fragte Andrej.
Anka erstarrte mitten in der Bewegung. Ihre blinden Augen taxierten Andrejs Gesicht so aufmerksam, dass er sich für einen Moment fragte, ob sie nicht doch sehen konnte, wenn auch vielleicht auf eine völlig andere Art, als er sich auch nur vorzustellen vermochte. »Was meinst du damit?«
»Ihr habt vor, das, was mit Handmann passiert ist und die Morde auf mich abzuwälzen«, sagte er. »Aber ich glaube, ihr unterschätzt Pater Flock. Und ihr unterschätzt auch die Inquisition.«
»Inquisition?«
Andrej lachte leise. »Oh, hat Schulz euch nichts davon gesagt? Es ist ein Inquisitor auf dem Weg hierher. Ich glaube nicht, dass er sich mit ein paar Lügen abspeisen lässt. Nein, das stimmt nicht. Ich weiß, dass es nicht so ist. Ich hatte schon hinlänglich Gelegenheit, Erfahrungen mit ihnen zu sammeln.«
»Deine Sorge um uns rührt mich«, sagte Anka. »Aber ich kann dich beruhigen. Wir haben für alles vorgesorgt. Und gerade dein Freund Flock wird es sein, der unsere Unschuld beweist.«
»Hör auf damit, Anka«, sagte Laurus. »Merkst du denn nicht, dass er nur Zeit gewinnen will?«
»Vielleicht hast du Recht«, sagte Anka nachdenklich. Direkt an Andrej gewandt und in verändertem Ton fuhr sie fort: »Ja, ich weiß, was du vorhast, Andrej. Du willst Zeit gewinnen. Du willst Kraft sammeln, weil du glaubst, mir gewachsen zu sein. Ich glaube nicht, dass du es bist, aber Laurus hat Recht. Du bist gefährlich. Gefährlicher vielleicht, als ich selbst jetzt schon ahne. Es wäre töricht, dir eine Chance zu geben.«
Und damit führte sie die begonnene Bewegung zu Ende, und schlug ihre Krallenfinger in sein Gesicht, und gleichzeitig griff der Seelenfresser in ihr nach Andrejs verbliebener Lebenskraft, um sie mit einem einzigen Ruck aus ihm herauszureißen.
Und Andrej entfesselte den Vampyr in sich.
Ankas Augen wurden groß vor Entsetzen, als sie schlagartig begriff, wie grausam sie sich getäuscht hatte, dass sie es nicht mit einem wehrlosen und schon fast toten Opfer, sondern einem gleichwertigen Gegner zu tun hatte, einem Ding, das mindestens so böse und alt war wie das, das sie selbst beseelte, aber ungleich gieriger und wilder. Sie prallte keuchend zurück, und Andrej sprang mit einer einzigen Bewegung auf und versetzte dem Tisch einen Tritt, der ihn umfallen und Anka mitsamt ihres zusammenbrechenden Stuhles unter sich begraben ließ. Noch aus der gleichen Bewegung heraus und so schnell, dass Laurus nicht die Spur einer Chance hatte, auch nur zu begreifen, was hier geschah, geschweige denn, sich zu wehren, wirbelte er herum und brach ihm mit einer blitzschnellen Bewegung das Genick. Noch bevor Laurus zusammenbrach, langte er über den umgestürzten Tisch, schleuderte ihn zur Seite und riss Anka an den Haaren in die Höhe.
Die blinde Greisin wimmerte vor Schmerz und Angst. Ihre dürren, immer noch zu Krallen gekrümmten Hände fuhren ziellos durch die Luft und versuchten sein Gesicht zu zerkratzen, aber auch die andere, viel stärkere Bestie in ihr verschwendete ihre Kraft für einen Moment in sinnloser Raserei - vielleicht für den entscheidenden Moment, denn obwohl Andrej schon längst nicht mehr Herr seiner selbst war und eigentlich nur noch Zuschauer, der dem Toben des Vampyrs mit einer Mischung aus Entsetzen und grimmiger Befriedigung folgte, spürte er doch, dass diese vermeintlich uralte, zerbrechliche Greisin eine zumindest gleichwertige Gegnerin war, wenn nicht ihm überlegen. Hätten Überraschung und Wut sie nicht blind gemacht, so hätte sie ihn durchaus überwinden können. Aber der Moment war vorbei, und Andrej gedachte nicht, ihr eine zweite Chance zu geben.
So mühelos als wöge sie gar nichts, hob er Anka hoch und schleuderte sie quer durch den Raum auf das schäbige Bett, das vor der gegenüberliegenden Wand stand. Der Aufprall ließ Anka pfeifend die Luft ausstoßen und brach ihr vermutlich mehrere Knochen, und Andrej konnte spüren, wie aus ihrer Raserei Panik wurde. Blitzschnell war er über ihr, packte sie mit der linken Hand an der Kehle und ballte die andere zur Faust.
»Wage es nicht!«, sagte er. »Um dich selbst zu zitieren, alte Frau: Ich weiß, wie gefährlich du bist. Und auch ich habe nicht vor, dir eine Chance zu geben.«
Anka hustete. Er sah, dass sie zu antworten versuchte, aber seine Hand schnürte ihr die Luft ab. Andrej lockerte zwar den Griff ein wenig, blieb aber auf der Hut. Gleichzeitig lauschte er mit seinen nichtmenschlichen Sinnen in sie hinein, und erneut lief ihm ein eisiger Schauer über den Rücken, als er die unvorstellbare Macht der Vampyrin spürte, ein unendlich altes, unendlich böses Ding, das vielleicht schon seit Jahrtausenden Seelen fraß und das mit jedem Leben, das es genommen hatte, stärker, böser und niederträchtiger geworden war. »Was habt Ihr vor?«, fragte er.
»Was habt Ihr mit Abu Dun gemacht? Rede, du altes Weib, oder ich schwöre dir, ich schlage dir den Schädel ein!«
Anka gab einen Laut von sich, den er im ersten Moment für ein Stöhnen hielt, bis er begriff, dass es nichts anderes als ein Lachen war. »Tu es doch!«, sagte sie herausfordernd. »Töte mich.«
Alles in ihm schrie danach, es tatsächlich zu tun. Nie zuvor hatte er den Tod eines Menschen so sehr gewollt wie jetzt den dieser alten Frau, und niemals zuvor hatte so deutlich gewusst, dass er es nicht tun durfte. Ganz plötzlich begriff er, dass er diesen Kampf nicht gewinnen konnte, ganz egal, wie er ausging.
Anka lachte erneut, hustete plötzlich gequält und spuckte Blut, und Andrej begriff, dass er sie bereits tödlich verletzt hatte. Ganz gleich, wie mächtig das Ding in ihr auch sein mochte, ihr Körper war der einer über hundert Jahre alten Frau, für den schon eine flüchtige Bewegung eine tödliche Gefahr darstellen konnte. Er lockerte seinen Griff weiter, ließ die zur Faust geballte Rechte aber nicht sinken. Seine Gedanken rasten. Was sollte er tun? Auch der Vampyr in ihm schien zu zögern, als begriffe er ganz instinktiv, was geschehen würde, wenn er versuchte, dieses uralte, unvorstellbar mächtige Konglomerat aus Hunderten und Aberhunderten verdorbener Seelen zu verschlingen. Aber die Gier war trotzdem da, und sie wurde mit jedem Moment stärker. Das Ding in ihm war kein Intellekt. Nichts, was logisch dachte oder plante, sondern ein seelenloser Killer, der keinen anderen Daseinszweck kannte als zu töten.
»Aber ich will es dir trotzdem sagen, Unsterblicher«, sagte Anka kichernd. »Ich habe deinem Freund einen Herzenswunsch erfüllt. Etwas, das er von dir nie bekommen hat.«
Andrej keuchte. »Du hast -«
»Hat man dir nie gesagt, dass wir das können?«, fragte Anka hämisch. »Es ist so leicht. Man muss nur seine Gier beherrschen, weißt du? Du darfst nicht alles von einer Seele nehmen, und du musst ihr etwas von dir geben. Die meisten sterben daran, aber einige schaffen es doch. Mach dir keine Sorgen um deinen großen Freund. Er ist stark. Er wird es überleben, und er wird ein würdiger Nachfolger für dich werden.« Sie kicherte. »Wenigstens so lange er noch lebt.«
»Hör auf«, sagte Andrej mit zitternder Stimme. »Hör auf!«
Anka kicherte erneut, leise und meckernd, und so böse, dass es Andrejs ganzer Willenskraft bedurfte, nicht die Hand um ihren dürren Hals zu schließen und ihn zu zerquetschen. »Und was willst du tun, wenn nicht?«, fragte sie. »Mich töten? Nur zu. Damit erweist du mir nur einen Gefallen. Dieser Körper hat längst ausgedient. Töte mich, und wir werden beide ewig leben.«
Andrej ließ ihre Kehle los, richtete sich halb auf, und schlug ihr dann die geballte Faust mit aller Gewalt gegen die Schläfe. Die alte Frau starb auf der Stelle.
Und dann explodierte der Raum unter einer Flut brodelnder, schwarzer Lebensenergie, die aus ihr hervorbrach wie eine Flutwelle aus einem zerbrochenen Damm; eine Woge von Kraft, wie Andrej sie noch nie gespürt hatte, und vielleicht nie wieder spüren sollte, und die danach schrie, von ihm verschlungen und seiner eigenen Lebenskraft hinzugefügt zu werden.
Aber er tat es nicht.
Der Vampyr in ihm schrie auf, wütend, in schierer Raserei Vor Gier und Enttäuschung, diese unendlich verlockende Beute nicht schlagen zu können, aber irgendwie gelang es Andrej, ihn zurückzuhalten. Vielleicht war es nicht einmal seine eigene Kraft. Vielleicht war es etwas, das noch stärker war als seine dunkle Seite, das pure Wissen, dass es sein sicheres Ende bedeuten musste, wenn er versuchte, aus der Quelle des reinen Bösen zu trinken. Andrej krümmte sich, schlug die Fäuste vor das Gesicht und stürzte schließlich rücklings zu Boden. Er hörte nicht, dass er schrie, und er spürte nicht, dass er sich wie in Krämpfen auf dem Boden wand, während er verzweifelt versuchte, der immer stärker werdenden Gier zu widerstehen. Das Toben der Bestie wurde zur Agonie, hatte längst die Grenzen dessen, was vorstellbar war, überschritten, und drohte ihn nun seinerseits zu verzehren, und er spürte, dass er den Kampf verlieren würde ...
Und dann war es vorbei.
Die Raserei hörte auf, und das Ungeheuer in ihm zog sich wieder in sein Versteck am Grunde seiner Seele zurück, nicht geschlagen, sondern zutiefst verstört und erschrocken. Andrej sank erschöpft zurück, schloss für einen Moment die Augen und wartete darauf, dass sich sein rasender Herzschlag beruhigte und sein Atem nicht mehr keuchend und unregelmäßig ging. Er war am ganzen Leib in Schweiß gebadet, und als er sich aufrichtete und sich zu Ankas Lager herumdrehte, zitterten seine Hände so stark, dass er sie gegen den Leib pressen musste.
Die alte Zigeunerin war tot. Aber nicht nur ihr Körper war gestorben. Da hing noch etwas wie ein leiser Hauch einer uralten, aber allmählich in Vergessenheit geratenen Macht in der Luft, und für einen ganz kurzen Moment glaubte Andrej einen unendlich leisen, aber auch unendlich gequälten, enttäuschten Aufschrei zu hören, der jedoch verklang, bevor er sicher sein konnte. Dann war es endgültig vorbei. Das Ding, das so viele Seelen verschlungen und zur puren Verhöhnung dessen gemacht hatte, wozu sie einst erschaffen worden waren, war fort. Vielleicht hinüber geglitten in eine andere Dimension des Seins, die Andrejs Verständnis ebenso verborgen blieb wie allen anderen Menschen, vielleicht aber auch endgültig erloschen und für alle Zeiten zerstört. Er hoffte es.
Andrej wartete, bis das Zittern seiner Hände ganz aufgehört hatte, dann drehte er sich herum und ging langsam zu Laurus' Leichnam hinüber. Erst jetzt spürte er, wie müde und ausgelaugt er immer noch war. Die Kraft, die ihn befähigt hatte, Laurus zu töten und Anka zu widerstehen, war nicht seine eigene gewesen, sondern nur geliehen, und ihr eigentlicher Besitzer hatte den allergrößten Teil davon wieder mit sich zurück in sein finsteres Verlies genommen. Obwohl er wusste, wie sinnlos es war, ließ er sich neben Laurus auf die Knie sinken und suchte in dem reglosen Körper nach einem Rest der Kraft, die ihn bisher von einem unbeseelten Stück Fleisch zu einem Menschen gemacht hatte. Aber da war nichts mehr. Wenn er eine Seele nahm, dann musste es im Augenblick des Todes geschehen, wortwörtlich der letzte Atemzug, mit dem der Lebensodem ausgehaucht wurde.
Immerhin hatte Laurus ihm ein letztes Geschenk dagelassen: Er trug Andrejs Schwertgurt mitsamt der Waffe an der Hüfte. Andrej nahm sein Eigentum wieder an sich, richtete sich auf und legte den silberbeschlagenen Gürtel an, während er nachdenklich auf den Leichnam des grauhaarigen Sinti vor sich hinabblickte. Er sollte Zorn empfinden oder zumindest eine grimmige Befriedigung, aber alles, was er spürte, war ein vages Gefühl von Mitleid mit diesem fehlgeleiteten Sterblichen, der vielleicht wirklich geglaubt hatte, er könne ein Stück der Ewigkeit erringen, wenn er sich mit dem Teufel einließe. Andrej konnte ihn nicht verurteilen. Nicht wirklich. Es stand ihm nicht zu - und wie auch? Selbst er war Elenas Zauber erlegen, und er wirkte jetzt noch auf ihn. So wie jetzt, als er wusste, dass sie von Anfang an nur mit ihm gespielt und seine Sinne verwirrt hatte, war es ihm unmöglich, sie zu hassen. Andrej sah an sich herab, strich glättend über seine Kleider, und schleifte Laurus' Leiche dann ein Stück zur Seite, damit man sie nicht gleich sah, wenn er die Tür öffnete. Die Hand in einer nachlässigen Geste auf dem Schwertknauf liegend und mit festen Schritten (von denen er wenigstens hoffte, dass sie seine Schwäche verbargen) entriegelte er die Tür und trat in die Naht hinaus.
Bason und sein Bruder warteten in wenigen Schritten Abstand. Beide fuhren überrascht zusammen, als sie ihn erblickten, und Basons Augen wurden groß vor Schrecken, während Rason eher verwirrt aussah und dann mit einem Ausdruck niedergeschlagenen Begreifens die Stirn runzelte. Ohne Hast und mit einem gezwungenen Lächeln auf den Zügen ging Andrej auf die beiden zu.
»Andreas?«, murmelte Bason verwirrt. »Oder ...?«
»Nein, nein«, antwortete Andrej ruhig. »Andreas war schon richtig.«
Vielleicht begriff Bason noch, was diese Worte wirklich bedeuteten, aber weder er noch sein Bruder kamen auch nur dazu, nach ihren Waffen zu greifen.
Es war nicht besonders schwer gewesen, der Spur zu folgen, die Abu Dun hinterlassen hatte. Dennoch war Andrej nach einer Weile davon abgewichen und hatte einen großen Bogen in westlicher Richtung geschlagen, als ihm klar geworden war, wohin der Nubier ritt - an den einzigen Ort, der Sinn machte, wenn Elenas und Ankas Plan aufgehen sollte. Er verlor eine Menge Zeit dadurch, wertvolle, möglicherweise sogar unwiederbringliche Zeit, aber er wagte es trotzdem nicht, auf dem kürzesten Weg zu Handmanns Mühle zu reiten, denn er konnte es nicht riskieren, einfach darauf zu bauen, dass Ankas Tochter hundertprozentig davon überzeugt war, dass ihr Plan aufging, und nicht vielleicht doch jemanden zurückließ, der den Weg im Auge behielt. Nachdem er Bason und seinen Bruder getötet und ihre Lebenskraft in sich aufgenommen hatte, fühlte er sich wieder einigermaßen erfrischt und bei Kräften, aber er war noch weit davon entfernt, so stark wie früher zu sein. Elena hatte ihm fast seine ganze Kraft genommen, und er konnte es sich einfach nicht leisten, auch nur einen Atemzug damit zu verschwenden, sich unter Umständen aus einem Hinterhalt freizukämpfen. Dass er Anka besiegt hatte, hatte mehr mit Glück als mit irgendetwas anderem zu tun, und Andrej war nicht so vermessen, einfach darauf zu bauen, dass ihm sein Glück auch treu blieb.
Der Himmel im Osten begann sich rot zu färben, als er in den Wald eindrang und sich dem Dunkel mit der ausgebrannten Ruine der alten Mühle aus Richtung der Stadt näherte. Der Wald schien jetzt, bei Nacht, noch unheimlicher und lebensfeindlicher als das erste Mal, als er hier gewesen war, aber etwas hatte sich verändert. Nicht alles Leben war erloschen. Irgendwo vor ihm hallten die lautlosen Entsetzensschreie sterbender Seelen durch die Nacht, und er konnte das Blut riechen, noch bevor die Mühle in Sichtweite kam und er sein Pferd zügelte. Vielleicht kam er schon zu spät.
Dennoch ritt er nur noch ein kleines Stück weiter, bevor er ganz abstieg, das Tier wenige Schritte weit in den Wald hineinführte und seine Zügel an einem Ast festband. Er glaubte jetzt, Schreie zu hören, vielleicht auch Kampflärm, aber er war nicht ganz sicher. Für die Dauer einiger schwerer Herzschläge blieb er stehen, schloss die Augen und versuchte auch, die schrecklichen Geräusche zu ignorieren, um auf einer anderen, weiter reichenden Ebene in den Wald hineinzulauschen.
Sie waren da. Er konnte ihre finstere Präsenz spüren, wie einen Pesthauch, der die Nacht durchzog, und jetzt fühlte er auch noch etwas. Etwas, das die ganze Zeit über da gewesen war, vom ersten Tag an, als er das Lager der vermeintlichen Sinti betreten hatte, nur, dass er es niemals bemerkt hatte - weil etwas ihn daran hinderte.
Andrej zog sein Schwert aus dem Gürtel und lief los. Trotz seiner scharfen Augen und des immer lauter werdenden Kampflärmes, der ihm den Weg wies, lief er ein gutes Stück weit in die falsche Richtung, ehe er seinen Irrtum erkannte und seinen Kurs korrigierte. Statt unmittelbar unter der Mühle aus dem Wald zu treten, ragte der mit Ruß und verbrannten Trümmern bedeckte Hügel vor ihm auf, sodass er sich mühsam seinen Weg durch die verkohlte Ruine bahnen musste, ehe er sah, was sich auf der anderen Seite abspielte.
Er hatte sich nicht getäuscht. Es war Kampflärm gewesen, den er gehört hatte, und er kam zu spät. Am Waldrand auf der anderen Seite des Weges, fast genau dort, wo Elenas Kinder gestanden hatten, als Abu Dun und er in der Mühle gewesen waren, war etwa ein Dutzend Pferde angebunden. Bei den meisten handelte es sich um derbe Tiere, die eher dazu geeignet schienen, einen Wagen zu ziehen als einen Reiter zu tragen, zumindest drei indes waren unverkennbar Schlachtrösser, und eines trug eine prachtvolle Schabracke, deren Gold- und Silberstickereien selbst in der Nacht noch glänzten.
Die Männer, die auf diesen Pferden geritten waren, lagen erschlagen auf dem Hügel.
Andrej schloss für einen Moment die Augen, konzentrierte sich und stellte fest, dass noch nicht aus allen Körpern das Leben gewichen war, und als er aus der Ruine hervor und ins helle Mondlicht trat, hörte er ein halblautes Wimmern.
Aber das würde nicht mehr lange so bleiben, denn der Mann, der dieses Gemetzel angerichtet hatte - ein ganz in Schwarz gekleideter Hüne - versetzte genau in diesem Moment einem der wenigen Überlebenden den Todesstoß. Dann drehte sich Abu Dun herum und ging langsam zum Weg zurück. Andrej verbarg sich im Schutz der Ruine, als er spürte, wie sich in den Schatten auf der anderen Seite des Weges etwas regte. Aufmerksam beobachtete er aus seinem Versteck heraus, was weiter geschah.
Die Gestalt, der sich Abu Dun nun mit seinem blutigen Säbel näherte, unterschied sich deutlich von den anderen. Es war kein Krieger, sondern ein hoch gewachsener, sehr schlanker Mann, der einen prachtvollen roten Mantel trug und neben dem eine spitze, ebenfalls mit Gold- und Silberstickereien verzierte Mütze im Schlamm lag. Er war verletzt. Sein Gesicht war blutüberströmt, und es hätte Andrejs übersinnlicher Kräfte nicht bedurft, um die blanke Todesangst zu erkennen, die in seinem Blick lag. Als Abu Dun vor ihm stehen blieb und den Säbel hob, riss der Mann entsetzt beide Hände vor das Gesicht und begann zu wimmern.
Doch Abu Dun schlug nicht zu. Er stand einfach reglos da und starrte auf das zitternde Häufchen Elend hinab, bei dem es sich um keinen Geringeren als den Inquisitor handeln musste, von dem Flock gesprochen hatte. Der Nubier schien auf etwas zu warten, und Andrej wusste, worauf.
Aufmerksam sah er sich um. Er konnte spüren, dass sich Elena und ihre Höllenbrut näherten, aber noch waren sie nicht zu sehen, und vermutlich blieben ihm noch einige Minuten.
Vorsichtig und jeden Schatten als Deckung ausnutzend, trat Andrej zum zweiten Mal aus der Ruine und huschte zu einem der Toten. Dem Mann war mit einem sauberen Schnitt die Kehle durchtrennt worden, und er schien nicht einmal die Zeit gefunden zu haben, seine Waffe zu ziehen. Auf seinem Gesicht lag kein Ausdruck von Erschrecken oder Schmerz, sondern nur der maßloser Überraschung. Andrej kannte ihn. Es war einer der beiden Soldaten, die Schulz begleitet hatten.
Sein Dienstherr lag nur ein Dutzend Schritte entfernt auf dem Hügel, und als Andrej neben ihm niederkniete, sah er, dass Schulz noch am Leben war. Er hatte eine üble Schnittwunde in der Schulter, die heftig blutete, aber er war bei Bewusstsein. Als er Andrej erblickte, verzerrte sich sein Gesicht vor Furcht, aber Andrej machte eine warnende Bewegung und sah wieder zu Abu Dun hin. Der Nubier schien noch nichts von seiner Anwesenheit bemerkt zu haben. Er hatte ihm den Rücken zugewandt und das Schwert sinken lassen, stand aber immer noch in eindeutig drohender Haltung über dem wimmernden Kirchenmann.
»Hab keine Angst«, flüsterte Andrej. »Ich bin hier, um Euch zu helfen.«
Schulz' Blick flackerte. Für einen Moment erschien eine wilde, verzweifelte Hoffnung darin, aber Andrej sah auch, dass er es nicht gestattete, an diese Hoffnung zu glauben. »Es ist nicht so, wie es aussieht, glaubt mir«, flüsterte er. »Abu Dun ist nicht er selbst. Er weiß nicht, was er tut.«
»Sie hatten Recht«, stöhnte Schulz. »Ihr seid vom Teufel besessen. Ihr seid Dämonen.«
»Glaubt doch, was Ihr wollt«, antwortete Andrej. »Aber jetzt haltet den Mund, sonst ist es um uns beide geschehen.« Er machte eine fahrige Handbewegung. »Ist sonst noch jemand am Leben?«
»Flock«, flüsterte Schulz. »Ich glaube, er ... er lebt noch.«
»Flock?«, keuchte Andrej. »Ihr Wahnsinniger habt ihn mit hierher gebracht?«
»Er hat darauf bestanden«, presste Schulz zwischen zusammen gebissenen Zähnen hervor. Er schien starke Schmerzen zu haben. Trotzdem hob er die Hand und deutete mit zitternden Fingern auf eine verkrümmte Gestalt, die nur wenige Schritte entfernt lag. Andrejs Herz machte einen schmerzhaften Sprung in seiner Brust, als er den jungen Geistlichen erkannte. Flock lag auf der Seite und hatte die Beine an den Leib gezogen. Er wies zumindest auf den ersten Blick keine sichtbaren Verletzungen auf, aber in dem erbarmungswürdigen Zustand, in dem er sich befand, reichte es vermutlich schon, ihn aus dem Sattel zu stoßen, um ihn damit umzubringen. »Seid still!«, zischte Andrej. »Wenn Ihr die Kraft habt, dann kriecht in den Wald, aber macht es um Himmels Willen lautlos!«
Nach einem weiteren Blick in Abu Duns Richtung huschte er geduckt los. Andrej war sich durchaus darüber im Klaren, dass er völlig ohne Deckung war, und kaum mehr als ein Dutzend Schritten von Abu Dun entfernt. Der Nubier musste sich nur herum drehen, um ihn zu sehen, und in dem Blutrausch, in dem er sich ganz offensichtlich befand - und bei dem, wozu er geworden war - war Andrej ihm vermutlich nicht gewachsen, sollte dieser ihn angreifen. Trotzdem schlich er rasch neben Flock und hob den jungen Geistlichen behutsam auf die Arme. Flock stöhnte vor Schmerz. Abu Dun musste ihn gehört haben, aber er regte sich immer noch nicht. Er stand einfach da, starrte den Mann im roten Mantel der Inquisition zu seinen Füßen an, und schien auf irgendetwas zu warten. Vielleicht hatte er Andrej sogar bemerkt und es war ihm schlichtweg egal.
Andrej trug Flock zurück in die Ruine, legte ihn behutsam hinter die Reste einer niedergebrannten Mauer auf den Boden, und wollte gerade Schulz holen, als er eine Überraschung erlebte. Der grauhaarige Mann hatte sich aus eigener Kraft erhoben und taumelte, gebeugt und die rechte Hand auf die immer noch heftig blutende Schulter gepresst, auf ihn zu. Abu Dun, der wie ein schwarzer Dämon hinter ihm aufragte, regte sich noch immer nicht.
Mit Andrejs Hilfe gelang es Schulz, die letzten Schritte zurück zu legen und mit einem erschöpften Keuchen neben Flock auf die Knie zu sinken. »Was bedeutet das, Andreas?«, murmelte er. Sein Blick war noch immer voller Furcht und Misstrauen. Er war weiter denn je davon entfernt, Andrej zu glauben. Vielleicht hatte er einfach resigniert und eingesehen, dass ihm keine andere Wahl blieb.
»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej. »Noch nicht. Bleibt hier! Kümmert Euch um Flock. Und wenn ich es nicht ... schaffen sollte, dann lauft weg. Versucht Euch irgendwo zu verstecken, bis alles vorbei ist.«
»Vorbei?«, murmelte Schulz. »Was?«
Statt zu antworten, richtete sich Andrej langsam hinter seiner Deckung auf und sah wieder zum Weg hinunter. Abu Dun stand immer noch wie angewurzelt da, aber das würde nicht mehr lange so bleiben. Sie waren ganz nahe, aber vielleicht reichte die Zeit ja noch ...
Sie reichte nicht. Aus dem Unterholz tauchten lautlos vier geisterhafte, schlanke Schemen auf, noch bevor Andrej die halbe Strecke zurückgelegt hatte, und begannen den Nubier und sein Opfer zu umzingeln. Sie mussten Andrej gesehen haben, denn er hatte die Sinnlosigkeit seines Versteckspieles eingesehen und bewegte sich nun ganz offen auf sie zu. Doch es schien sie nicht zu kümmern, denn ihre schmalen, im Mondlicht totenbleich schimmernden Gesichter waren starr auf Abu Dun gerichtet. Sie hatten nun keine Ähnlichkeit mehr mit Kindern, sondern sahen aus wie das, als das Flock sie vom ersten Moment an bezeichnet hatte: Dämonen.
»Tu es nicht, Abu Dun!«, rief Andrej.
Der Nubier reagierte nicht. Andrej war nicht sicher, ob er ihn überhaupt gehört hatte. Reglos stand er da, das Schwert gezogen und den Blick starr auf den verletzten Inquisitor gerichtet, der mittlerweile aufgehört hatte, zu wimmern und den schwarzgesichtigen Hünen aus weit aufgerissenen Augen anstarrte. Seine Hände hatten zu zittern begonnen.
Andrej ging langsamer weiter und blieb einen Schritt hinter Abu Dun stehen. Dann schob er sein Schwert zurück in den Gürtel. Dies war nicht länger der Moment für Waffen. Stahl vermochte den Nubier nicht aufzuhalten.
»Abu Dun«, sagte er eindringlich. »Tu es nicht! Du kannst ihnen widerstehen.«
Einer der beiden jüngeren Knaben löste seinen Blick von Abu Dun und sah zu Andrej hoch. Er hatte erwartet, Hass in den Augen des Jungen zu erblicken oder Zorn, aber alles, was er darin las, war ein höhnischer Triumph.
Abu Dun zitterte immer stärker. Er hob das Schwert und ließ die Waffe dann wieder sinken, als wäre sie plötzlich zu schwer für ihn - und sank dann langsam neben dem verletzten Kirchenmann auf die Knie.
»Hilf mir, Andrej«, flüsterte er. »Ich weiß nicht, was mit mir geschieht. Hilf mir!«
»Das kann ich nicht«, sagte Andrej.
»Dann töte mich!« Plötzlich schrie Abu Dun auf, fuhr herum und starrte aus weit aufgerissenen Augen in die Runde. Blankes Entsetzen breitete sich auf seinem Gesicht aus, als er das knappe Dutzend toter Soldaten gewahr wurde, die auf dem Weg und den Pfad zum Hügel hinauf dalagen.
»Es ist noch nicht zu spät«, sagte Andrej eindringlich. »Du kannst es besiegen. Ich habe es geschafft, und du kannst es auch.«
»Hilf mir!«, wimmerte Abu Dun. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Hand hatte nicht mehr die Kraft, das Schwert zu halten. Es fiel dicht neben dem Inquisitor zu Boden.
»Warum verschwindest du nicht, Missgeburt«, zischte Elenas Tochter. »Fühl dich bloß nicht zu sicher. Vielleicht dürfen wir dir nichts tun, aber wer weiß - möglicherweise sind wir ja unartige Kinder, die nicht auf das hören, was ihre Mutter ihnen sagt?«
Andrej ignorierte sie. Er empfand jetzt keine Furcht mehr vor diesen Geschöpfen. Nicht, nachdem er wusste, was sie wirklich waren. »Kämpf dagegen an, Abu Dun«, sagte er noch einmal. »Du kannst es.«
»Aber welchen Sinn hätte es, Andreas?«, fragte jemand hinter ihm.
Andrej schloss die Augen und versuchte vergeblich, ein leises Stöhnen zu unterdrücken, als er Elenas Stimme erkannte und ihre Nähe spürte. Irgendetwas in ihm begann zu zerbrechen.
»Du weißt, dass er diesen Kampf nicht gewinnen kann, Andreas«, fuhr Elena fort. Er konnte hören, wie sie näher kam und weniger als zwei Schritte hinter ihm stehen blieb. Selbst über die Entfernung spürte er ihren Duft und glaubte, hinter seinen geschlossenen Lidern ihren verlockenden Körper vor sich zu sehen, wie er einst nackt im Mondlicht geschimmert hatte. »So wenig wie du. Obwohl ich mir da nicht einmal mehr sicher bin. Du überraschst mich immer wieder.«
»Warum?«, fragte er. »Weil ich noch lebe? Es tut mir Leid, wenn ich dich enttäuschen muss.«
»Warum sagst du das?«, fragte Elena. Der Schmerz in ihrer Stimme klang echt. Beinahe hätte er ihn wirklich überzeugt. »Ich hatte nie vor, dir ein Leid anzutun.«
»Oh nein«, sagte Andrej. »Ich bin sicher, du wirst gleich morgen Abend wieder in mein Bett kriechen, um zu sehen, ob ich vielleicht noch eine vierte Nacht mit dir überlebe.«
»Ich bin nun einmal, was ich bin«, antwortete Elena. »Genau wie du. Willst du mir meine Natur zum Vorwurf machen?«
»So wie die deiner Mutter?«, fragte Andrej.
Elena schwieg eine Weile. »Du hast sie getötet«, sagte sie dann.
Andrej nickte.
»Dann ist ein Teil von ihr jetzt auch ein Teil von dir«, sagte Elena. »Vielleicht bist du tatsächlich der, auf den wir gewartet haben. Warum wehrst du dich, Andreas? Sieh endlich ein, dass du zu uns gehörst. Zu mir.«
Und vielleicht hatte sie ja Recht. Wieso entsetzte ihn das Gemetzel so sehr, das Abu Dun angerichtet hatte? Er selbst hatte ihm Laufe seines Lebens so viel mehr Männer getötet, und nur die wenigsten von ihnen hatten eine echte Chance gehabt. Und auch in ihm wohnte das gleiche Ungeheuer, das er in Ankas Seele gespürt hatte, dasselbe Raubtier, das in Gestalt einer wunderschönen, verlockenden Frau hinter ihm Stand. Vielleicht hatte sie Recht. Es konnte kein Zufall sein, dass er so lange durch die Welt gezogen war, so viele seiner Art getroffen hatte, und dass er niemals auch nur einem einzigen begegnet war, der wie er der Verlockung des Blutes so lange widerstanden hatte. Ja. Er gehörte zu ihr. Er konnte diesen Kampf noch ein Menschenleben lang führen oder auch zwei oder hundert, aber am Ende würde er ihn verlieren. Warum ihn dann überhaupt kämpfen? Warum ein Dasein auf der Flucht und in ständiger Angst vor sich selbst einem Leben an Elenas Seite vorziehen? Sie konnte ihm gehören, sie würde ihm gehören, jetzt, wo es Anka nicht mehr gab und Laurus ... Er musste einfach nur stehen bleiben und nichts tun, und statt eines Millenniums auf der Flucht und einer Ewigkeit voller Angst und Selbstzweifeln wartete ein Leben im Schutze einer Familie auf ihn, und ungezählte Nächte, in denen er Elena in den Armen halten und die Wärme ihres Körpers spüren konnte.
»Du kannst ihn nicht mehr retten, Andreas«, sagte Elena noch einmal. »Er ist verloren, wie wir alle. Aber wenn du ihn opferst, gewinnst du mich.«
In diesem Moment schrie Andrej auf, als hätte man ihm einen glühenden Dolch in die Brust gestoßen, wirbelte herum und riss noch in der Bewegung das Schwert aus dem Gürtel. Vermutlich begriff Elena nicht, was geschah, keinesfalls jedoch spürte sie den scharf geschliffenen Stahl des Damaszenerschwertes, das sie enthauptete. Etwas in Andrej starb mit ihr in diesem Moment, schnell und lautlos und unwiderruflich und noch bevor er den Schlag ganz ausgeführt und aus der selben Drehung heraus auch Elenas Tochter niedergestreckt hatte. Das Mädchen sank lautlos neben seiner Mutter zu Boden, und wieder war es Andrej, als erhebe sich ein unsichtbarer dunkler Vogel auf rauchigen Schwingen in die Nacht, um mit einem klagenden Schrei zu vergehen.
Doch Andrej schritt gnadenlos voran, tötete zuerst den älteren Knaben und dann seine beiden jüngeren Brüder, und auch das, was er im letzten Moment in ihren Augen las, würde er nie mehr vergessen, denn in der Sekunde, da sie der tödliche Stahl traf, schien alles Dämonische und Böse von ihnen abzufallen. Und vielleicht waren es nun tatsächlich Kinder, die er erschlug, und keine Höllenbrut, jetzt, wo das Ungeheuer, das sie erschaffen hatte, nicht mehr lebte. Dennoch brachte er es zu Ende. Er konnte nicht anders. Und vielleicht war der Tod, den er ihnen brachte, die einzige Gnade, die es für diese missbrauchten Kreaturen noch gab.
Als es vorbei war, ließ er erschöpft sein Schwert sinken und drehte sich zu Abu Dun und dem Inquisitor herum. Der Nubier zitterte am ganzen Leib. Sein Blick irrte unstet über den Hügel und den Weg, über die reglosen Körper Elenas und ihrer Kinder, und verlor sich dann in einer Unendlichkeit, die von grenzenlosem Entsetzen erfüllt zu sein schien. Andrej war nicht sicher, ob er überhaupt begriffen hatte, was vorging.
Das blutige Schwert noch immer in der Hand, trat er neben den Inquisitor und ließ sich auf ein Knie herabsinken. Der Kirchenmann erschrak und versuchte ein Stück vor ihm zurückzukriechen, erstarrte aber dann mitten in der Bewegung, als Andrej eine Hand nach ihm ausstreckte.
»Nein!«, keuchte er.
»Habt keine Angst«, sagte Andrej rasch. »Ich werde Euch nichts tun.«
»Aber ... aber wer ... was ...« Der Inquisitor zitterte nun ebenso heftig wie Abu Dun und bekreuzigte sich mehrmals hintereinander, ohne dass er daraus wirklich Trost zu ziehen schien. »Was bedeutet das?«, murmelte er immer wieder.
Andrej wandte sich wieder Abu Dun zu. Der Nubier starrte jetzt ihn an, aber auch wenn sein Blick aus jener entsetzlichen Leere zurückgekehrt war, hatte er den Schrecken, der sie erfüllte, doch mitgebracht. »Hilf mir, Andrej«, wimmerte er. »Habe ... habe ich das getan?«
Andrej nickte nur stumm. Und du wirst noch viel mehr tun, mein Freund, dachte er. Wenn dich niemand daran hindert. Bitterkeit machte sich in ihm breit. Nun wusste Abu Dun, warum Andrej ihm das Geschenk der Unsterblichkeit, um das er ihn so oft gebeten hatte, immer verweigert hatte. Doch nun war es zu spät.
»Das kann ich nicht«, sagte er leise.
»Dann töte mich«, zischte Abu Dun. »So will ich nicht leben.«
Andrej schwieg. Er stand auf. Seine Hand schloss sich fester um den Schwertgriff, und auch sein Herz schien zu einem kalten Klumpen Eis zu erstarren. Plötzlich war in ihm nichts mehr als Leere. Er hatte nicht einmal mehr die Kraft, Schmerz zu empfinden. Sein Blick streifte Abu Duns Gesicht, wanderte dann zum Inquisitor, und kehrte schließlich zu dem Nubier zurück. »Es tut mir Leid, Freund«, flüsterte er und stieß Abu Dun das Schwert bis zum Heft zwischen die Rippen.
Der Nubier keuchte, starrte eine endlose Sekunde lang fassungslos auf seine Brust herab und kippte dann wie ein gefällter Baum nach hinten, als Andrej die Waffe mit einem Ruck wieder herauszog. Sein Gesicht war dem Inquisitor zugewandt, als er zu Boden stürzte, aber in seinen Augen war schon kein Leben mehr, als er aufschlug.
»Großer Gott!«, keuchte der Inquisitor. Er starrte aus hervor quellenden Augen auf das blutige Schwert in Andrejs Hand, dann wieder auf den Leichnam des Nubiers. »Warum habt Ihr das getan?«
Andrej antwortete nicht, sondern ging zum Waldrand und band Abu Duns Hengst los. Das Tier folgte ihm gehorsam, und es blieb auch reglos stehen, als er sich zu Abu Dun niederbeugte und dessen schweren Körper hochhob und über den Sattel legte. Der Inquisitor sah ihm schweigend dabei zu, hörte aber nicht auf, sich zu bekreuzigen.
»Gebt Acht, dass Ihr Euch nicht den Arm ausrenkt«, sagte Andrej. »Und hebt auch ein kleines Gebet für den Schmied auf, der mein Schwert gemacht hat. Ohne seine Kunstfertigkeit wärt Ihr jetzt vielleicht tot.« Er bückte sich nach dem Krummsäbel, hob die Waffe auf und wischte sie sorgsam an dem roten Mantel des Inquisitors ab, ehe er sie zurück in Abu Duns Gürtel schob.
»Wer ... wer seid Ihr?«, flüsterte der Inquisitor. »Wer in Gottes Namen seid Ihr?«
Andrej musterte ihn kalt. Hätte der Mann im hellen Licht des Tages vor ihm gestanden und hätte man nicht gerochen, dass er sich vor Angst selbst beschmutzt hatte, dann hätte er vielleicht sogar eine beeindruckende Gestalt abgegeben in seinem prachtvollen roten Mantel und mit dem schweren goldenen Kirchenorden auf der Brust. So empfand Andrej nichts als Verachtung für ihn. Fast bedauerte er es, dass Abu Dun ihn verschont hatte. »Das tut nichts zur Sache«, sagte er. »Nehmt einfach an, dass Eure Feinde auch meine Feinde sind. Aber das bedeutet nicht, dass wir Freunde sind, oder gar auf derselben Seite stehen.«
»Dann werdet Ihr mich auch töten?«
Andrej lachte leise. Seine Stimme klang wie zerbrochenes Glas, als er antwortete. »Ich wüsste nicht viel, was dagegen spricht. Aber ich weiß im Moment auch keinen Grund, aus dem ich es tun sollte. Seid Ihr verletzt?«
Der Inquisitor schien einen Moment zu brauchen, um auf diese Frage zu antworten, aber dann schüttelte er den Kopf. Andrej streckte die Hand aus, und der Kirchenmann griff danach - allerdings erst, nachdem er sie einige Augenblicke lang angstvoll angestarrt hatte. Andrej zerrte ihn mit einem unsanften Ruck auf die Füße, und er ließ ihn auch sofort wieder los, ohne sich davon zu überzeugen, dass der Mann aus eigener Kraft stehen konnte. »Dann muss ich mich wohl jetzt bei Euch bedanken«, sagte der Inquisitor. »So wie es aussieht, habt Ihr mir das Leben gerettet.«
»Und das eines Freundes dafür geopfert«, antwortete Andrej. »Aber das ist ja wohl ein geringer Preis für eine so bedeutende Persönlichkeit wie Ihr es seid, nicht wahr?«
»Bestimmt habt Ihr einen Grund, so mit mir zu reden«, antwortete der Geistliche. »Wenn das der Fall ist, dann sagt ihn mir.«
Andrej starrte ihn nur an. Er wollte es nicht, aber er sah an der Reaktion auf dem Gesicht des Inquisitors, dass sein Blick hasserfüllt sein musste. Schließlich nickte der Kirchenmann und deutete dann auf Elena. »Dann erklärt mir wenigstens, was das zu bedeuten hat. Wer in Gottes Namen waren diese Leute, und warum wollten sie meinen Tod?«
Andrej ergriff die Zügel des Hengstes und deutete zur Ruine der Mühle hinauf. »Dort oben sind zwei, die Euch alles erklären werden«, sagte er. »Außerdem benötigen sie Eure Hilfe. Und nun lasst mich ziehen, Pfaffe. Ich muss einen Freund beerdigen.«
Mit dem neuen Tag waren Regenwolken von Westen her aufgezogen, und zum ersten Mal seit Wochen linderte ein kühler Wind die grausame Hitze, mit der der Sommer das Land bisher bestraft hatte.
Trotzdem war es hier, im Schutze des kleinen Waldstreifens, der das Zigeunerlager nach Norden hin begrenzte, so warm und stickig wie die Male zuvor, als sie hier gewesen waren. Die Schatten waren so düster wie eh und je, und obwohl der Fluch gebrochen und zumindest dieser Teil der Welt die unheimliche Präsenz des Bösen vielleicht nie wieder spüren sollte, war das Leben noch nicht wirklich zurückgekehrt. Vielleicht würde es lange dauern, bevor irgendetwas Atmendes wieder wagte, seinen Fuß auf diesen Boden zu setzen, der von etwas berührt worden war, das nicht in diese Welt gehörte.
Andrej hatte sein eigenes und Abu Duns Pferd weit genug ins Unterholz hinein geführt, dass sie von außen nicht mehr zu sehen waren. Er hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Tiere anzubinden, aber das war auch nicht nötig. Die beiden Hengste warteten treu genau dort, wo er sie zurückgelassen hatte, als er nach fast einer Stunde aus dem Lager zurückkam. Er fühlte sich noch immer leer und erschöpft, aber die Müdigkeit, die ihn nun plagte, war von einer völlig anderen, natürlichen Art, die verschwinden würde, wenn nur genügend Zeit verstrichen war und er wieder neue Kräfte gesammelt hatte. Die Leere, die nun ein Teil von ihm war, war es nicht. Als er Elena getötet hatte, da war auch ein Teil von ihm gestorben, und es spielte keine Rolle, wie oft und intensiv er auch versuchte, sich selbst klarzumachen, dass das, was er für Liebe gehalten hatte, nur böser Zauber gewesen war, und dass Elena und ihre Familie vielleicht nicht einmal Menschen gewesen waren, sondern Kreaturen, die böser und fremdartiger waren als alles, wozu er jemals würde werden können. Es war egal, ob das Messer in gesundes Fleisch schnitt, oder einen Krankheitsherd entfernte, der den ganzen Körper zu vergiften drohte. Der Schmerz blieb derselbe.
Abu Dun hockte auf einem Felsen und hatte das Gesicht in den Händen vergraben, als Andrej zurückkehrte. Er war ein wenig überrascht, den Nubier bereits wieder wach vorzufinden. Er hatte ihm eine tödliche Verwundung beigebracht, und er hatte fest damit gerechnet, dass er viel länger brauchen würde, um sich davon zu erholen. Als er das erste Mal getötet worden war, hatte es Tage gedauert, bis er wieder zu sich gekommen war.
Abu Dun nahm die Hände herunter, als er die Schritte hörte. Seine Rechte senkte sich automatisch auf den Griff des Krummsäbels, den er wieder im Gürtel trug, und hielt inne, als er Andrej erkannte.
»Du bist schon wach«, stellte Andrej überrascht fest. »Du erstaunst mich immer wieder, Sklavenhändler.«
Abu Dun zog eine Grimasse und begann mit der linken Hand die Stelle zu massieren, an der Andrejs Schwert seine Brust durchbohrt hatte. »Du hast mir nie gesagt, dass es so weh tut.«
»Es wird von Mal zu Mal besser«, antwortete Andrej. »Du wirst dich daran gewöhnen.«
»Werde ich das?«, fragte Abu Dun. Sein Blick verdüsterte sich, und Andrej begriff, dass er nicht den körperlichen Schmerz gemeint hatte.
»Das wirst du wohl müssen«, sagte er kühl. »Man bekommt im Leben nichts geschenkt, weißt du? Nicht einmal die Unsterblichkeit.«
»Aber vielleicht ist der Preis zu hoch«, murmelte Abu Dun. »Bei Allah, was habe ich nur getan?«
»Es war nicht deine Schuld«, sagte Andrej. »Du hättest dich nicht wehren können. Nicht einmal ich konnte es.«
Er hatte geglaubt, mit teilnahmsloser Stimme zu sprechen, aber das konnte nicht stimmen, denn Abu Dun musterte ihn nun mit alarmiertem Blick. »Aber du hast doch -« Er sog scharf die Luft ein. Seine Augen weiteten sich, als er die blutige Schwertklinge in Andrejs Hand sah. »Was -?«
Er sprang auf, rannte ein paar Schritte in die Richtung zurück, aus der Andrej gekommen war, und blieb mit einem unterdrückten Keuchen stehen, als er den Waldrand erreichte und das Lager sehen konnte. Selbst aus dieser geringen Entfernung betrachtet, wirkte es friedlich und ruhig. Nirgends regte sich ein Zeichen von Leben. Irgendwo jaulte ein Hund, und zwei oder drei der Pferde schnaubten unruhig, aber das war alles. »Was hast du getan?«, fragte Abu Dun erschüttert.
»Was ich tun musste«, antwortete Andrej. Er ging in die Hocke, raffte eine Handvoll Moos zusammen und begann, die Schwertklinge damit zu säubern. Seine Bewegungen waren gleichmäßig und ruhig, mehr Ritual als lästige Pflicht. Andrej hatte es tausendmal getan in den vergangenen Jahren, und dennoch war er heute so wenig bei der Sache, dass er sich zweimal an dem Rasiermesser scharfen Stahl schnitt. Er merkte es nicht einmal.
Irgendwann trat Abu Dun hinter ihn, aber Andrej fuhr fort, das Damaszenerschwert zu polieren, obwohl die Klinge längst wie Silber schimmerte.
»Aber warum?«, murmelte Abu Dun. »Seit wir zusammen sind, warst du auf der Suche nach ihnen.«
»Vielleicht hab ich mich geirrt«, sagte Andrej.
»Aber sie hätten dir alles sagen können. Die Antworten auf alle Fragen, die du dir je gestellt hast.«
»Vielleicht bin ich ja zu dem Schluss gekommen, dass ich sie gar nicht hören will.«
»Du weißt, dass du ab jetzt ein Ausgestoßener bist?«, fragte Abu Dun. »Was du getan hast, wird sich herumsprechen. Auch unter deinesgleichen.«
»Du irrst dich schon wieder, Sklavenhändler«, sagte Andrej. »Es muss heißen: Unter unseresgleichen.« Er stand auf, schob das Schwert in die Scheide zurück und drehte sich mit einem Ruck zu Abu Dun herum. »Vielleicht hätte ich dir die Zunge abschneiden sollen, statt nur deine Brust zu durchbohren«, sagte er. »Manchmal dauert es lange, bis abgetrennte Körperteile nachwachsen. Und manchmal tun sie es gar nicht.«
Der Nubier setzte zu einer Antwort an, doch in diesem Moment raschelte es hinter ihnen im Unterholz, und Andrej hörte Schritte. Mit einer Schnelligkeit, die nicht einmal er Abu Dun zugetraut hätte, wirbelte der schwarzgesichtige Riese herum und war einen Atemzug später im Gebüsch verschwunden.
Und wie es aussah, keinen Augenblick zu früh, denn die Schritte kamen näher, und noch bevor die Äste des Busches, durch den Abu Dun außer Sicht gekrochen war, zu zittern aufgehört hatten, erschien ein grauhaariger Mann mit schmutziger Kleidung und einem hastig angelegten, blutigen Verband über der linken Schulter vor Andrej.
»Schulz«, murmelte Andrej überrascht. »Was tut Ihr denn hier?« Ohne eine Antwort abzuwarten, lief er an dem Mann vorbei und starrte argwöhnisch in die Richtung, aus der der Grauhaarige gekommen war.
»Keine Sorge«, sagte Schulz. »Ich bin allein.«
»Was tut Ihr hier?«, fragte Andrej noch einmal.
»Vielleicht sollte ich mich bei Euch bedanken, Andreas«, sagte Schulz. »Immerhin habt Ihr mir das Leben gerettet.«
»Bildet Euch nichts darauf ein«, antwortete Andrej. »Das war mehr ein Zufall.«
»Das mag sein«, sagte Schulz. Er sah sich aufmerksam um. Sein Blick blieb einen Moment lang auf Abu Duns schwarzem Hengst haften, ehe er sich wieder an Andrej wandte. »Ihr habt Euren Freund beerdigt, Andreas?«
»Draußen im Wald, ja«, antwortete Andrej. »Das wäre sein Wunsch gewesen. Er hat den Gedanken immer gehasst, auf einem Friedhof zu liegen, inmitten so vieler Toter. Und wenn Ihr glaubt, Ihr wäret mir etwas schuldig, so könnt Ihr Eure Schuld auch gleich zurückzahlen: Versucht nicht, seine letzte Ruhestätte zu finden oder ihn gar auszugraben.«
»Natürlich nicht«, sagte Schulz. »Das ist das Mindeste, was ich für Euch tun kann.« Er schwieg einen Moment. Dann trat er wieder an Andrejs Seite und blickte in die gleiche Richtung wie er zuvor; aber nur für einen Moment, bevor er sich herumdrehte und das Lager aus Zelten und Wohnwagen betrachtete. »Ich war gerade dort«, sagte er. »Ich habe Euch gesehen.«
»So?«, fragte Andrej. »Und was werdet Ihr jetzt tun?«
»Das hängt vielleicht ganz von Euren Antworten ab«, erwiderte Schulz. »Warum habt Ihr es getan?«
Andrej hob die Schultern. »Jemand musste es tun.« Schulz nickte, als wären das genau die Worte, die er erwartet hatte. »Dann werdet Ihr gehen müssen«, sagte er. »Flock und ich haben dem Inquisitor alles erklärt. Ich meine: Wir haben ihm alles erzählt, was er hören wollte.«
»Wie geht es Flock?«
»Er wird wieder gesund, glaube ich«, antwortete Schulz. »Und was diesen eingebildeten Popanz von Inquisitor angeht, so hat er genug gesehen und gehört, um guten Gewissens in sein Kloster zurückkehren und sich noch ein paar Verdienste für seinen Ablass gutschreiben zu lassen. Macht Euch keine Sorgen um ihn. Aber dort drüben liegen eindeutig zu viel Tote, als dass niemand Fragen stellen würde. Besser, Ihr verlasst diese Gegend, Andreas. Schnell.«
Andrej schwieg eine kleine Ewigkeit. Dann trat er einen Schritt zurück, drehte sich ganz zu Schulz herum und sagte: »Danke.«
»Wahrscheinlich werde ich nie ermessen können, was Ihr wirklich für uns getan habt, Andreas«, sagte Schulz ernst. »Und ich glaube, ich bin es, der sich zu bedanken hat. Auch im Namen all der braven Leute hier, die gar nicht wissen, in welcher Gefahr sie geschwebt haben. Aber nun solltet Ihr gehen.« Kaum hatte er die Worte ausgesprochen, da hob er plötzlich die Hand, als wäre ihm noch etwas eingefallen. »Beantwortet mir noch eine Frage, Andreas.«
»Nur zu«, sagte Andrej. »Wenn es nicht zu lange dauert.«
Schulz maß Abu Duns Pferd noch einmal mit einem nachdenklichen Blick. »Dieser Zaubertrick, von dem man mir erzählt hat«, sagte er. »Als es so aussah, als hätte Euer heidnischer Freund Euch mit dem Schwert durchbohrt und so vom Leben zum Tode befördert. Ich habe gehört, Ihr wäret sehr überzeugend gewesen. Überzeugend genug, dass alle, die dabei waren, Stein und Bein geschworen haben, es wäre kein Trick gewesen.«
»Es war ein Trick«, antwortete Andrej. »Wenn auch ein sehr guter. Was ist damit?«
»Nun, ich frage mich nur, ob das Ganze auch in umgekehrter Richtung funktioniert«, sagte Schulz.
»Ich fürchte, nein«, antwortete Andrej. »Ich werde mich wohl nach einem anderen Beruf umsehen müssen.«
Schulz lachte leise, drehte sich herum und ging. Und als er in sicherer Entfernung war, tauchte auch Abu Dun wieder aus seinem Versteck auf, trat neben Andrej und blickte dem grauhaarigen hinkenden Mann schweigend nach. Als sie eine halbe Stunde später den Wald verließen und sich nach Süden wandten, begann es zu regnen.
ENDE DES VIERTEN BUCHES