»Und wie willst du auf mich aufpassen, wenn du nicht einmal in meine Richtung siehst?«, fragte Elena spöttisch.

»Das werde ich tun, sobald du im Wasser bist«, sagte Andrej knapp. Er musste sich beherrschen, um nicht unhöflich zu werden. Elena wollte ihn provozieren, das war klar, aber er wusste weder genau warum, noch, wie weit sie gehen würde.

Hinter ihm erscholl wieder dieses leise, spöttische Lachen, das es ihm immer schwerer machte, seine Wut im Zaum zu halten. Dann konnte er hören, wie sie tiefer in den Tümpel hinein ging, und nach einigen Augenblicken rief sie: »Also gut. Ich bin im Wasser.«

Andrej war nicht einmal überrascht, als er sich umdrehte und feststellte, dass sie zwar bis zur Mitte des kleinen Sees gewatet war, ihr das Wasser aber trotzdem nur bis zu den Oberschenkeln reichte. Und sie hatte sich nicht etwa herum gedreht oder ins Wasser gesetzt, sondern stand ihm zugewandt da und legte gerade den Kopf in den Nacken, um das Haar nach hinten zu schütteln.

Andrej atmete hörbar ein. Dass nichts von dem, was Elena tat, Zufall oder unbeabsichtigt war, änderte nichts daran, dass es seine Wirkung nicht verfehlte. Er war ein Mann, und er war weder aus Holz, noch dem eigenen Geschlecht zugetan, und es war lange her, dass er eine so schöne Frau wie die Zigeunerin gesehen hatte. Sein Herz begann schneller zu schlagen. Er ballte die Hände zu Fäusten, damit Elena nicht sah, dass sie leicht zu zittern begonnen hatten, und er spürte, dass auch sein Körper auf den Anblick reagierte, was ihm unendlich peinlich war - obwohl Elena zweifellos genau diese Reaktion hatte hervorrufen wollen. Und doch war es war ihm nicht möglich, seinen Blick von ihr abzuwenden. Nackt, wie Gott sie schuf, blieb Elena einige Momente länger als nötig reglos stehen, dann öffnete sie die Augen und sah ihn mit dem strahlendsten Lächeln an, das er sich nur vorstellen konnte und einem Blick, der nicht mehr den geringsten Zweifel zuließ. »Nun?«, fragte sie. »Willst du es dir nicht doch noch einmal überlegen? Du weißt ja nicht, was dir entgeht.«

Er hätte blind und schwachsinnig sein müssen, um das zu wissen.

Mühsam, und mit belegter Stimme antwortete er: »Ich bin ein Ehrenmann, Elena.« Das war albern, und es klang genau dem, was es war: Das Erstbeste, was ihm eingefallen.

Elena lachte, ließ sich in die Hocke sinken und spritzte sich mit beiden Händen Wasser über Brust und Schultern, ehe sie sich wieder aufrichtete. »Ein Ehrenmann?«, wiederholte sie spöttisch. »Nun ja, ich hatte gehofft, dass du zumindest ein bist.«

Andrej hätte nicht einmal mehr antworten können, selbst wenn er gewollt hätte. Es fiel ihm immer schwerer, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Irgendwo, ganz tief in ihm, war noch ein kleiner Rest von Vernunft, der mit leiser werdender Stimme fragte, wieso er eigentlich derartig heftig auf ihren Anblick reagierte.

Elena war weiß Gott nicht die erste Frau, die er nackt sah, nicht einmal die erste, die sich ihm so offen anbot, und auch nicht die schönste - selbst wenn er sich eingestehen musste, er sie bisher falsch eingeschätzt hatte. Plötzlich war es ihm nicht mehr möglich, ihr Alter zu schätzen. War es zuvor schon schwierig gewesen zu sagen, ob sie fünfundzwanzig war, die Dreißig schon hinter sich hatte oder sich bereits auf die Vierzig zubewegte, so schien sie jetzt vollkommen alterslos zu sein - plötzlich war sie Kind, Mädchen und reife Frau zugleich.

Ihre Haut, die vom Mondlicht in ein silbernes Kleid aus fließendem Licht gehüllt zu sein schien, war makellos und schimmerte wie Seide, das schwarze Haar fiel wie ein Wasserfall aus Gestalt gewordener Nacht über ihre Schultern, und ihre Augen glichen grundlosen Seen, erfüllt von einem Versprechen, das er niemals einzufordern wagen würde.

Nein - sie war nicht die schönste Frau, die er je gesehen hatte: Ihre Züge waren ebenmäßig, hatten aber einen leicht slawischen Einschlag, der sie exotisch aussehen ließ, zugleich aber auch den Unterschied zu einer klassischen Schönheit ausmachte. Ihre Lippen waren ein wenig zu voll und sinnlich für ihr ansonsten schmales Gesicht, ihre Brüste ein wenig zu schwer und ihre Hüften eine Kleinigkeit zu ausgeprägt, um seinem persönlichen Schönheitsideal zu entsprechen.

Dennoch hatte er nie zuvor eine Frau gesehen, die ihn so erregte ...

Und dann begriff er.

Er hatte nie zuvor eine Frau gesehen, die so weiblich war wie Elena. Wenn es einen Menschen gab, der die Bezeichnung Frau zu Recht trug, dann sie.

»Warum tust du das?«, fragte er leise.

Elena sah mit unschuldigem Blick zu ihm auf und fragte: »Was?«

»Du weißt genau, was ich meine«, antwortete Andrej. Warum tat sie ihm das an? Und vor allem: Was würde geschehen, wenn er sie nahm?

»Das weißt du doch genau, Andreas«, antwortete Elena, immer noch lächelnd, aber in verändertem, sonderbar ernstem Tonfall. »Was ist los mit dir? Hast du ein Keuschheitsgelübde abgelegt oder gefalle ich dir nicht?«

»Du gehörst mir nicht«, sagte er. Und doch war dies ganz und gar nicht der Grund dafür, dass er hier am Ufer stehen blieb und all seine Willenskraft aufbot, um auch weiter hier stehen zu bleiben. Trotzdem fuhr er fort: »Laurus hat mich in eurer Familie aufgenommen, und -«

»Laurus!« Elena machte eine wegwerfende Handbewegung. »Laurus ist ein braver, pflichtbewusster Mann, der gut für mich und meine Brüder sorgt. Aber er ist auch ein alter Mann. Ich könnte seine Tochter sein. Zerbrich dir über ihn nicht den Kopf, Andreas. Laurus hat immer gewusst, dass er mich zwar zum Weib nehmen kann, ich ihm aber niemals gehöre«

»Du meinst, es würde ... ihm nichts ausmachen?« Elena schüttelte den Kopf. »Das hab ich nicht gesagt«, antwortete sie. »Aber du bist nicht der erste andere Mann in meinem Leben, Andreas. Wir reden zwar nicht darüber, aber Laurus ist nicht dumm.«

Andrej starrte sie immer noch mit klopfendem Herzen mittlerweile nicht mehr nur zitternden Händen, sondern auch Knien an. Und dann änderte sich etwas ... Ihr Anblick erregte ihn noch immer so sehr, dass es fast körperlich schmerzte, und es war ihm noch immer unmöglich, den Blick von ihr loszureißen. Und doch hatte das, was Elena gerade gesagt hatte, alles geändert. Es hatte seine Skrupel besänftigen sollen, ihm den willkommenen Anlass liefern, alle Hemmungen abzustreifen und das zu tun, was sie wollte und er noch so viel mehr. Und dennoch hatten ihre Worte das genaue Gegenteil bewirkt. Die bloße Vorstellung, dass Laurus wusste, oder zumindest ahnte, dass er Elena nicht nur begleitet hatte, um sie zu beschützen, machte es ihm vollkommen unmöglich, seinem Verlangen nachzugeben. »Nimm dein Bad«, sagte er.

Etwas in Elenas Blick erlosch. Aus der verlockenden Aufforderung in ihren Augen wurde Überraschung, dann Zorn und schließlich Verachtung. Ihr Lächeln gefror. »Ganz, wie du willst, Andreas«, sagte sie. Dann drehte sie sich mit einem Ruck herum, ließ sich wieder auf die Knie sinken und überkreuzte zugleich die Arme vor der Brust, als wäre es ihr plötzlich peinlich, von ihm angestarrt zu werden. »Dann tu das, weshalb du mitgekommen bist, und gib Acht, dass mir kein Leid geschieht.«

Ihre Worte brachen den Bann endgültig. Von einem Moment zum anderen sah Andrej sie wieder so, wie sie war: Eine Frau, die deutlich älter war als er selbst, immer noch eine Schönheit, der die Jahre kaum etwas hatten anhaben können, aber dennoch eine ganz normale Frau und nicht mehr die Gestalt gewordene Weiblichkeit, deren Verlockung kein Mann widerstehen konnte.

Er betrachtete sie noch eine Weile schweigend, dann drehte er sich herum und tat so, als suche er den Waldrand ab.

Und für einen Moment glaubte er tatsächlich, etwas zu hören. Waren da nicht Schritte? Schnelle, hastige, kleine und leichte Schritte, die sich schnell entfernten und im nächsten Augenblick verschwunden waren ...

Er erwachte am nächsten Morgen ungewöhnlich spät, geweckt von misstönender, lauter Musik, hämmernden Kopfschmerzen und dem Gefühl, nicht richtig atmen zu können.

Im ersten Moment war er einfach nur verwirrt. Statt auf Schlag zu erwachen und sich und seiner Umgebung völlig bewusst zu sein, wie er es gewohnt war, erinnerte er sich nur an ein Gemisch aus wirren Albträumen und zusammenhanglosen, düsteren Bildern, von denen er lediglich wusste, dass sie allesamt unangenehm gewesen waren.

Es war warm, fast schon heiß, und das Licht, das durch seine noch geschlossenen Lider drang, hatte eine unangenehme, bräunliche Färbung, die irgendetwas mit den Träumen zu tun zu haben schien, die er eben noch durchlitten hatte. Außerdem hatte er entsetzlichen Durst. Schließlich öffnete er die Augen, blinzelte verschlafen umher und stellte fest, dass das Lager aus Decken und einem als Kopfkissen dienenden Strohsack neben ihm, auf dem Abu Dun schlief, verlassen war. Das unangenehme rotbraune Licht, das ihn einhüllte, war das der Sonne, das mit erbarmungsloser Kraft durch den dicken Stoff der Zeltplane drang. Ihrem Stand nach zu schließen - er konnte die Sonne als verwaschenen, hellgelben Fleck durch die Zeltplane hindurch erkennen -, mussten mindestens zwei Stunden vergangen sein, seit sie aufgegangen war, und wenn es hier drinnen Schon so warm war, dass er kaum atmen konnte, dann musste es draußen schier unerträglich heiß sein.

Vor allem hatte er viel zu lange geschlafen, und das war etwas, was normalerweise nie vorkam.

Andrej setzte sich auf und fuhr mit dem Handrücken über das schweißnasse Gesicht. Er hatte nicht nur Kopfschmerzen, ihm war auch leicht schwindelig, und er hatte einen widerwärtigen Geschmack im Mund. Vergeblich versuchte er sich zu erinnern, wie er ins Zelt gekommen war, und ob und worüber er vor dem Zubettgehen noch mit Abu Dun gesprochen hatte.

Elena und er hatten den Rückweg in grimmigem Schweigen zurückgelegt, und sie war auf der letzten halben Meile vorausgeritten, ohne dass er versucht hätte, sie daran zu hindern. Im Lager war es bereits dunkel gewesen, und er hatte weder sie noch ihre Brüder oder Laurus gesehen, so dass er sofort in sein Zelt gegangen sein musste, um sich schlafen zu legen. Und dann ...

Nein, er konnte sich nicht mehr daran erinnern. Die Erkenntnis beunruhigte ihn. Er hatte das Gefühl, dass noch irgendetwas passiert war, aber er konnte nicht sagen, was, und zusammen mit der Tatsache, dass er offensichtlich bis weit in den Vormittag hinein geschlafen hatte, war das keine völlig neue, unangenehme Erfahrung für ihn. Irgendetwas stimmt nicht mit mir, dachte er. Ist es möglich, dass ich krank bin?

Normalerweise hätte Andrej diesen Gedanken weit von sich geschoben. Krankheit war ihm genauso wenig vergönnt wie der Tod, und er konnte nur mutmaßen, dass das, was er fühlte, wenn er sich nach einer Verletzung wieder regenerierte, dem ähnelte, was Sterbliche durchmachten, wenn sie auf dem Krankenbett danieder lagen. Aber wenn er nicht krank war, was war dann mit ihm los ? Abermals betastete er seine Stirn. Sie war heiß, was allerdings angesichts der stickigen Luft im Zelt kein Wunder war, und der schlechte Geschmack in seinem Mund war bestimmt einfach die Folge eines leeren Magens, denn er hatte seit gestern Mittag nichts mehr gegessen. Und selbst, dass er so lange geschlafen hatte, war vielleicht nur natürlich. Die letzten Monate waren überaus anstrengend gewesen, die unerträgliche Hitze der zurückliegenden Wochen forderte auch von ihm ihren Tribut, und gewiss brauchte auch ein Unsterblicher dann und wann eine Zeit der Erholung ...

Er stand ganz auf und griff nach dem Hemd, das er am vergangenen Abend achtlos zu Boden geworfen hatte. Das erinnerte ihn an ein anderes Kleidungsstück, welches gestern ebenso achtlos fallen gelassen worden war, sodass er für einen winzigen Moment stockte, ehe er sich hastig ankleidete und aus dem Zelt trat.

Es war nicht so heiß, wie er erwartet hatte. Es war heißer. Die Luft über dem Zigeunerlager flimmerte, und jede Zeltbahn, jedes Kleidungsstück, jedes Fitzelchen Metall schien das Sonnenlicht zu reflektieren wie ein Spiegel, sodass er im ersten Moment fast blind war, bis sich seine Augen an die erbarmungslose Helligkeit gewöhnt hätten. Draußen war es fast so stickig wie im Zelt, und die misstönende Musik, die ihn geweckt hatte, war hier natürlich noch lauter.

Er war nicht einmal ganz sicher, ob es wirklich Musik war. Im Verlauf des vergangenen Jahres hatten sie mehr als ein Dutzend Zigeuner-Familien besucht, und er hatte genug Erfahrung mit den aufpeitschenden, schnellen Rhythmen ihrer Musik, um sagen zu können, dass er so etwas noch nie gehört hatte; schrille, atonale Rhythmen, deren Takt und Lautstärke unentwegt wechselten, und die manchmal gegeneinander zu spielen schienen. Klänge, die misstönend hätten sein müssen, es sonderbarer Weise aber nicht waren und sogar etwas in ihm anrührten.

Verwirrt sah er sich nach der Ursache des Lärms um und entdeckte sie schließlich in der Mitte des Lagers, dort, wo Laurus' Sippe am vergangenen Tag das hölzerne Podest aufgebaut hatte. Ein Großteil des Clans - wenn nicht alle - hatten sich dort versammelt, und als er genauer hinsah, entdeckte er zwischen ihnen auch Abu Dun. Wenngleich nicht unbedingt zwischen ihnen ...

Der schwarze Hüne stand zusammen mit zwei jungen Sinti auf der Bühne, und im ersten Moment erschrak Andrej, denn er glaubte, einen Kampf auf Leben und Tod zu beobachten. Doch auf den zweiten Blick entpuppte sich das, was nach einem erbitterten Gefecht aussah, als ebenso albernes wie unwürdiges Schauspiel.

Abu Dun, der sowohl die Menschenmenge als auch seine beiden Gegner überragte wie ein Dschinn aus den alten Legenden seiner Heimat, verteidigte sich mit wuchtigen Schwerthieben gegen zwei junge Männer, die mit Schilden, Schwertern und Brustharnischen bewaffnet waren und ihn mal abwechselnd, mal gleichzeitig attackierten. Nur, dass diese Kampfausrüstung aus bunt bemaltem Holz bestand. Zudem trugen die Akteure lächerliche Helme aus Pappmaschee, die von bunten Federbüschen gekrönt wurden. Und um das Maß voll zu machen, führten sie nicht nur ihre Attacken im Takt der bizarren Musik aus, sondern Abu Dun tat mit seinen Paraden und Gegenangriffen das gleiche. Im Gegensatz zu den beiden jungen Männern war er mit seinem eigenen Krummsäbel bewaffnet, den er mit großer Kraft und Geschicklichkeit schwang, sodass es ihm ein Leichtes war, die Angriffe nicht nur abzuwehren, sondern immer wieder die Deckung der beiden zu durchbrechen und halbherzige Hiebe und Stiche auszuführen.

Die Zuschauermenge quittierte jeden dieser Angriffe mit johlendem Beifallrufen und Klatschen. Während Andrej langsam auf das Podest zuschlenderte, versuchte er sich darüber klar zu werden, ob er das groteske Theater nun lächerlich, dumm oder möglicherweise gar peinlich finden sollte.

Als er näher kam, wurden einige der Sinti auf ihn aufmerksam. Köpfe wurden zusammengesteckt, es wurde getuschelt und auch der eine oder andere verstohlene Blick ausgetauscht. Auf einigen Gesichtern glaubte Andrej gar einen betroffenen Ausdruck zu erkennen. Die meisten Zigeuner jedoch winkten ihm freundlich zu, und einige bedeuteten ihm sogar, näher zu kommen. Unbewusst suchte sein Blick nach Elena, aber er konnte weder sie noch ihren Mann in der Menge erkennen.

Dafür eilte Bason ihm entgegen, aufgeregt mit beiden Händen gestikulierend und einen Ausdruck echter Freude auf dem Gesicht. »Andreas! Endlich bist du wach! Ich hatte schon Angst, ich müsste einen Eimer Wasser verschwenden, um dich zu wecken.«

»Warum hast du's nicht getan?«, fragte Andrej. Er sah wieder zur Bühne hoch. Der stampfende Takt der Musik war schneller geworden, und auch der alberne Schaukampf hatte an Tempo gewonnen. Die beiden vermeintlichen Angreifer starben gerade zum ungefähr fünfundvierzigsten Mal unter Abu Duns kraftvollen Hieben, was sie aber nicht daran hinderte, sich sogleich wieder zu erheben und nun sogar die Taktik zu ändern: Während der eine der beiden wie wild mit seinem Schwert auf ihn eindrosch, um ihn zu beschäftigen, versuchte der andere, hinter Abu Dun zu gelangen. Natürlich blieb es bei dem Versuch. Der Nubier wartete, bis der Junge fast an ihm vorbei war, dann fegte er ihm mit einem blitzschnellen Tritt die Füße unter dem Körper weg und stieß seinen Krummsäbel so kraftvoll neben den Hals des Angreifers in den Bretterboden, dass die Klinge zitternd stecken blieb.

Die Zuschauer honorierten diese Aktion mit tosendem Beifall, und auch Bason nickte anerkennend. »Dein Freund kann gut mit dem Schwert umgehen«, bemerkte er. »Ich bin froh, dass er nicht unser Feind ist.«

»Wenn Abu Dun euer Feind wäre«, antwortete Andrej ernst, dann wären die beiden Possenreißer da oben längst tot.

Für einen Moment sah Bason ihn mit einem Ausdruck an, der Andrej einen kalten Schauer über den Rücken jagte. Dann aber lächelte er wieder so strahlend und ehrlich, wie er es von ihm gewohnt war. »Gottlob seid ihr ja nicht unsere Feinde.«

Andrej erwiderte sein Lächeln, aber er spürte auch, dass es kühler ausfiel als beabsichtigt. »Was soll dieser Mumpitz?«, fragte er und nickte Richtung Bühne.

»Gefällt's dir nicht?«, fragte Bason mit gespielter Enttäuschung. »Du willst keine ehrliche Antwort, oder?«

»Welcher Künstler will schon eine ehrliche Antwort auf die Frage, ob sein Stück gefällt?«

»Dein Stück?«

Bason machte ein verlegenes Gesicht. »Ich gestehe, ich habe es geschrieben. Das war auch der Grund, warum ich deinen Freund gebeten habe, eine Rolle darin zu übernehmen.«

Andrej blickte kopfschüttelnd zu Abu Dun hinauf. Der Nubier war mittlerweile in die Defensive gegangen und tat so, als koste es ihn immer größere Mühe, die Angriffe der beiden Jungen abzuwehren - Andrej mutmaßte allerdings, dass es ihn immer größere Mühe kostete, sie aus Versehen nicht doch noch zu verletzen. Theaterwaffen hin oder her, er hatte selten jemanden gesehen, der sich im Kampf so ungeschickt bewegte wie die beiden ›Angreifer‹.

»Welche Rolle spielt er?«, fragte er. »Die des Hofnarren?«

»Er stellt das türkische Heer dar«, antwortete Bason ernst. »Bei der Schlacht um Prag.«

»Die muss ich wohl verpasst haben«, erwiderte Andrej.

Die gespielte Enttäuschung auf Basons Gesicht nahm noch zu. »Es hat nie eine Schlacht um Prag gegeben?« Er zuckte mit den Schultern. »Macht nichts, klingt auf jeden Fall gut. Die Türken verwüsten das Land, töten die Männer, plündern die Städte, und reiben das christliche Herr auf, bis sich die tapferen Bauern und Handwerker zusammentun und selbst eine Armee aufstellen.«

»Und das türkische Heer natürlich in die Flucht schlagen?«, vermutete Andrej.

»Nach einem langen und harten Kampf, ja«, bestätigte Bason. Und wie aufs Stichwort brachte in diesem Moment einer der beiden Burschen seinen ersten Treffer mit dem Spielzeugschwert an. Andrej zuckte leicht zusammen, als er das dumpfe Geräusch hörte, mit dem die hölzerne Klinge gegen Abu Duns Arm prallte, und auch der Nubier stieß einen grunzenden Schmerzenslaut aus. Für den Bruchteil einer Sekunde war Andrej alarmiert, als er sah, wie sich Abu Duns Gesicht vor Wut verzerrte - aber der junge Dummkopf dort oben hatte Glück. Der Nubier fasste sich, ehe sein Jähzorn die Oberhand gewinnen konnte, und der Kopf des Narren blieb auf seinen Schultern.

»Ich weiß, das ist keine besonders originelle Handlung«, gestand Bason, der Andrejs Schweigen vermutlich falsch gedeutet hatte. »Aber die Leute mögen so etwas. Und sie werden deinen Freund dort oben lieben. Bisher haben wir uns selbst als Türken verkleidet, aber mit einem echten Sarazenen-Krieger gewinnt das Stück doch sehr an Glaubhaftigkeit.«

»Willst du einen Rat von mir?«, fragte Andrej.

Bason nickte heftig. »Ich hätte dich sowieso gefragt. Dein Freund hat erzählt, dass ihr gegen die Türken gekämpft habt?«

Andrej ignorierte die Bemerkung und machte eine Kopfbewegung Richtung Bühne, auf der Abu Dun gerade unter einem heftiger als notwendig angedeuteten Stich in die Knie ging und mit nicht nur gespieltem Schmerz die Hände gegen den Leib schlug. »Wenn du die Rolle der Helden nicht dauernd neu besetzen willst, dann solltest du deinen Schauspielern raten, nicht ganz so hart zuzuschlagen. Abu Dun ist vielleicht der erste richtige Sarazene, den ihr seht, aber glaub' mir, er ist auch der jähzornigste Araber, den du jemals treffen wirst.«

Für einen Moment blickte Bason stirnrunzelnd zum Podest, auf dem Abu Dun mittlerweile zu Boden gefallen war. Einer der beiden Sinti stand über ihm und hatte anscheinend Gefallen an der Idee gefunden, dem Schwarzen die stumpfe Spitze seines Holzschwertes an die Kehle zu setzen, ohne zu ahnen, wie nahe er daran war, die gleiche Erfahrung mit einem echten Säbel zu machen. »Ja«, sagte Bason zögernd und mit einem schiefen Lächeln. »Ich ... werde es ihnen sagen. Künstlerschicksal«, seufzte er.

Andrej erwiderte sein Lächeln nicht, sondern sah wieder fassungslos zu Abu Dun, sich fragend, warum der Nubier dieses Possenspiel mitmachte. Er hoffte zwar inständig, daß die gestrige hässliche Szene zwischen ihnen die letzte ihrer Art gewesen war, war aber zugleich auch Realist genug, um zu wissen, dass diese Hoffnung kaum mehr als ein frommer Wunsch sein konnte. Er kannte Abu Dun nun wahrlich lange genug, um sagen zu können, dass der Nubier im Grunde seines Herzens ein sehr vernünftiger und kluger Mann war, zugleich aber auch so störrisch und uneinsichtig sein konnte wie ein Kind. Selbst wenn er wusste, dass er im Unrecht war, hieß das noch lange nicht, dass er das zugeben würde.

»Du siehst nicht begeistert aus«, bemerkte Bason. »Gefällt dir das Stück wirklich nicht?«

»Willst du die Wahrheit hören?«, fragte Andrej.

Basons Grinsen wurde noch eine Spur breiter. »Untersteh' dich!«

»Es ist entwürdigend«, sagte Andrej. »Und es ist nicht besonders gut.«

Bason blinzelte. Für einen Moment wirkte er ehrlich verletzt, dann drehte er sich um und sah wieder zur Bühne hoch, wo das Stück offensichtlich seinem Höhepunkt entgegenstrebte: Irgendwie war Abu Dun wieder auf die Beine gekommen, wich aber nun vor den ungeschickten Hieben der Holzschwerter in gespielter Panik zurück, wobei er sich größte Mühe gab, ebenso tölpelhaft zu wirken wie seine Gegner.

Bason seufzte. »Der Künstler in mir hätte vielleicht eine etwas weniger drastische Ausdrucksweise bevorzugt«, gestand er. »Möglicherweise hast du Recht.« Er schwieg einen Moment, in dem er Andrej auf eine nachdenkliche Weise ansah, die diesem gar nicht gefiel, dann fragte er mit veränderter, hoffnungsvoller Stimme: »Vielleicht sollte ich dir auch eine Rolle in das Stück schreiben?«

»Mir?« Andrejs Stimme klang eindeutig entsetzt.

Bason nickte heftig. »Dein Freund hat mir von euren Abenteuern und Heldentaten erzählt«, sagte er. »Selbst, wenn nur ein Teil davon wahr ist und der Rest hoffnungslos übertrieben, sehe ich doch, wie vorzüglich der Mohr mit dem Schwert umzugehen versteht. Und ich nehme an, du bist genau so gut?«

»Wir haben es nie ausprobiert«, antwortete Andrej - was in gewisser Weise sogar der Wahrheit entsprach. Sie hatten sich in einem Kampf auf Leben und Tod kennen gelernt, aber der war ohne Waffen ausgefochten worden; und auch, wenn sie seither zahllose Male mit dem Schwert gegeneinander gefochten hatten, so doch nur zu Übungszwecken oder um ihre Kräfte zu messen. Sie hatten nie herauszufinden beabsichtigt, wer der bessere Schwertkämpfer war, und Andrej wollte es auch gar nicht. Es wäre kein fairer Kampf gewesen. »Worauf willst du hinaus?«, fragte er.

»Die Leute kommen hierher, um sich zu amüsieren«, antwortete Bason und deutete Richtung Bühne. Andrej widerstand dem Impuls, der Geste mit Blicken zu folgen. Er hatte genug gesehen. »Ein echter Schwertkampf«, fuhr der Junge fort, »würde sie zweifellos begeistern - und vielleicht ein wenig mehr Geld in unsere Kassen bringen.«

»Denk nicht mal daran.«

»Warum?«. wollte Bason wissen. »Ich bin sicher, ihr würdet die Zuschauer von den Plätzen reißen.«

»Nein«, sagte Andrej bestimmt. »Ich kämpfe nicht für Geld oder zum Vergnügen anderer. Eine Waffe ist kein Spielzeug, Bason.«

Der junge Sinti wirkte enttäuscht, versuchte aber nicht, Andrej umzustimmen. Der wiederum drehte sich fast brüsk ein Stück zur Seite, um Basons Blick auszuweichen, und sah nachdenklich in die Runde. Für einen Moment gelang es ihm sogar, sich selbst einzureden, dass er nicht wusste, warum, doch da sagte Bason: »Elena ist nicht da.«

»Wie kommst du darauf, dass ich nach Elena -?«

»- suche?« Bason grinste fast schon unverschämt breit. »Nun, du hast diesen Elena-Blick, weißt du? Früher oder Später bekommt ihn jeder Mann, der unsere Schwester kennen gelernt hat.«

»Unsinn!«, protestierte Andrej.

»Ach?« Jetzt wurde Basons Grinsen geradezu anzüglich. »Ihr wart gestern ziemlich lange fort.«

»Es ist ein weiter Weg zur Mühle hinaus.«

»Und ein noch weiterer zurück, ich weiß«, erwiderte Bason.

Andrej erschrak, hatte sich aber gut genug in der Gewalt, um weiter völlig gelassen und sogar ein wenig verständnislos auszusehen. Hinter dieser Maske jedoch wuchs sein Schrecken von Sekunde zu Sekunde. Was hatte Elena erzählt? Wie viel, und vor allem, wie viel hatte sie dazu erfunden?

»Mein Bruder und ich hatten gestern Abend gewettet, was unsere Schwester wohl tun wird: Dir die Kehle durchschneiden, oder dich ins Gebüsch zerren.«

»Und?«, fragte Andrej kühl, »worauf hast du gesetzt?«

»Ich konnte mich nicht entscheiden«, antwortete Bason. »Auf beides, um ehrlich zu sein. Aber ich war mir nicht ganz über die Reihenfolge im Klaren.«

»Du scheinst keine sehr hohe Meinung von deiner Schwester zu haben«, bemerkte Andrej. »Aber ich kann dich beruhigen: Sie hat weder das eine noch das andere versucht. Selbst, wenn sie es vorgehabt hätte, wäre ihr vermutlich nicht mehr danach zumute gewesen, nachdem wir mit diesem Dummkopf von Müller gesprochen hatten.«

Jetzt nahm Basons Gesicht einen betrübten Ausdruck an. »Sie hat mir davon erzählt. Es ist schlimm. Ich meine: Es ist nichts, was wir nicht kennen würden, aber meistens dauert es eine Weile, bis es dazu kommt.«

»Und wo ist Elena jetzt?«, fragte Andrej.

»Laurus und sie sind noch einmal in die Stadt gefahren, ganz früh heute Morgen«, antwortete Bason. »Ich kann dich also wirklich nicht überreden, eine Rolle in meinem Stück zu übernehmen?«

»Nein!«, sagte Andrej. »Was wollen die beiden in der Stadt?«

»Versuchen, die schlimmsten Wogen zu glätten, nehme ich an«, antwortete Bason. »Mach dir keine Vorwürfe, Andreas. Es ist nicht das erste Mal, dass so etwas passiert, und es wird auch nicht das letzte Mal sein. Elena ist vielleicht die begabteste Händlerin unter der Sonne, und ich glaube, sie könnte selbst einem Beduinen in der Wüste einen Sack voll Sand verkaufen. Aber manchmal kann ein Segen auch zum Fluch werden, weißt du?«

Wenn es etwas gab, was Andrej wusste, dann das. Wenn auch in einem völlig anderen Zusammenhang, als Bason ahnen konnte. Er nickte. »Laurus ist also nicht hier?«

»Wir erwarten ihn jeden Moment zurück«, erwiderte Bason. »Es hätte ohnehin keinen Sinn, jetzt mit Anka reden zu wollen. Ich war vor einer Stunde bei ihr, und da war sie betrunken. Jetzt wird sie wohl schlafen.«

»Wie kommst du auf die Idee, dass ich -?« Er brach ab, als er das spöttische Glitzern in Basons Augen bemerkte.

»So schwer war das nun wieder nicht zu erraten«, erwiderte der Junge. »Davon abgesehen, dass du dich mindestens fünfzig Mal nach Anka erkundigt hast, vergeht keine Minute, in der du nicht mindestens einmal zu ihrem Wagen hinsiehst.«

Wie jetzt ... Andrej ertappte sich dabei, wie er, fast ohne sein Zutun, den Kopf hob und den wuchtigen, sechsrädrigen Karren anstarrte, in dem die Puuri Dan lebte. Wie üblich stand er ein Stück abseits der anderen, und wie üblich waren die hölzernen Fensterläden geschlossen. Trotz des Sonnenlichtes glaubte er, dahinter den gelben Schein einer brennenden Kerze auszumachen.

»Du solltest es nicht tun, ohne Laurus um Erlaubnis gefragt zu haben.«

»Dein Stiefvater scheint Anka nicht besonders zu mögen«, sagte Andrej nachdenklich. »Warum?«

»Er hat seine Gründe«, antwortete Bason. »Du hast Recht. Die beiden kommen nicht gut miteinander aus. Doch jetzt versuch' bloß nicht, zwischen ihnen zu vermitteln. Du würdest es nur schlimmer machen, glaub mir. Warte einfach ein paar Tage ab. Laurus liebt es, den Unnahbaren zu spielen, aber er ist nicht so hart, wie er sich gibt. Wenn du erst mal sein Vertrauen gewonnen hast, wird er dich mit Anka reden lassen.«

Sein Vertrauen gewonnen?, dachte Andrej. Noch eine weitere Nacht wie die zurückliegende, und er würde es nicht mehr über sich bringen, Laurus auch nur in die Augen zu sehen. Obwohl er spürte, wie unangenehm seinem Gegenüber das Thema war, fragte er: »Was ist denn zwischen Laurus und Anka vorgefallen?«

Basons Lächeln erlosch endgültig. Einen Moment lang war Andrej fest davon überzeugt, dass der Junge sich nun abwenden und gehen würde, dann aber seufzte er leise. »Er gibt ihr die Schuld am Tod seiner Mutter, glaube ich.«

»Und?«, fragte Andrej. »Ist es wahr?«

»Das kommt ganz darauf an, von welchem Standpunkt aus man es betrachtet«, antwortete Bason. »Von seinem aus, ja. Aber wenn du mehr wissen willst, dann frag ihn lieber selbst. Ich meine, am besten fragst du ihn natürlich nicht, aber du kommst mir nicht vor wie jemand, der auf gut gemeinte Ratschläge hört, stimmt's?«

Andrej lachte nur leise und überließ es Bason, die rechte Antwort herauszuhören. Ganz bestimmt würde er nicht noch Tage oder gar Wochen warten, bis es ihm vielleicht gelungen war, Laurus' Vertrauen zu erringen. Und spätestens die Ereignisse des vergangenen Abends hatten ihm klar gemacht, dass Abu Dun zumindest in einem Punkt Recht hatte: Sie konnten nicht mehr lange hier bleiben. Und möglicherweise hätten sie niemals hierher kommen sollen.

»Kann ich dich um einen Gefallen bitten?«, fragte er.

»Du kannst um alles bitten«, antwortete Bason.

»Aber ob du diese Bitte erfüllst, steht auf einem anderen Blatt, ja, ich weiß«, erwiderte Andrej in leicht ungeduldigem Ton, der aber nichts an Basons neuerlichem, ebenso unerschütterlichem wie unverschämtem Grinsen änderte. »Du scheinst weniger Probleme mit Anka zu haben als Laurus. Geh' und frage sie, ob ich noch einmal mit ihr reden kann. Heute oder morgen.«

»Davon wird Laurus aber nicht begeistert sein.«

»Er muss es nicht erfahren.«

»Davon wird er noch viel weniger begeistert sein«, meinte Bason. Er sah Andrej einen Moment lang prüfend an, blickte dann zur Bühne hoch und schließlich wieder in Andrejs Gesicht. Und Andrej ahnte, was nun kam, noch ehe Bason es aussprach. »Ich könnte dir ein Geschäft vorschlagen, Andreas. Du spielst eine Rolle in meinem Stück, und dafür arrangiere ich ein Treffen zwischen dir und Anka.«

»Selbst, wenn ich es wollte, hätte es wenig Sinn«, antwortete Andrej. »Abu Dun und ich werden nicht sehr lange bei euch sein.«

»Du meinst, ihr werdet gehen, sobald du noch einmal mit der Puuri Dan gesprochen hast? Wenn das so ist, warum sollte ich dir dann zu diesem Gespräch verhelfen?«

»Vielleicht, weil ich dich darum bitte?«

Bason tat so, als müsse er einen Moment angestrengt über diese Worte nachdenken. Dann nickte er. »Ja. Das ist ein Grund. Ich werde darüber nachdenken. Und du über meinen Vorschlag?«

Ob Andrej wollte oder nicht - plötzlich musste er über die Hartnäckigkeit des jungen Sinti lachen. »Darüber nachdenken, ja«, sagte er. »Aber das bedeutet nicht zwangsläufig, dass ich es tue.«

»Wir werden sehen«, sagte Bason. »Und um dich vielleicht etwas milder zu stimmen, Andreas, habe ich jetzt noch eine Überraschung für dich.«

Andrej war nie besonders erpicht auf Überraschungen gewesen, aber Basons Worte weckten seine Neugier. Er sagte nichts, und der Junge ließ ihn natürlich eine kleine Ewigkeit zappeln, ehe er sich in Bewegung setzte. »Komm mit!«

Sie erkämpften sich mit einiger Mühe einen Weg durch die Menge, die noch immer lachend und johlend zusah, wie der riesige Nubier unter den angedeuteten Hieben der Holzschwerter zurückwich und wankte, sich aber schlichtweg weigerte, umzufallen. Dann beschleunigte Bason seinen Schritt. Nicht sehr, aber gerade rasch genug, dass Andrej sich sputen musste, um nicht zurückzufallen, und damit keine Gelegenheit zu bekommen, weitere Fragen stellen zu können.

Sie steuerten einen Wagen an, der ganz an dem Honsen zugewandten Ende des Lagers stand. Schon aus der Entfernung fiel Andrej auf, wie alt und heruntergekommen das Gefährt war. Die Farbe war abgeblättert und so verblichen, dass das Ganze zu einem unansehnlichen Schmutzgrau geworden war, und sowohl die Deichsel als auch die Räder hatten dringend eine Überholung, besser gleich eine Erneuerung, nötig. Die dreisprossige Treppe, die zur Tür hinauf führte, war zerbrochen, sodass Bason eine kurze Kletterpartie einlegen musste, um den Wagen zu öffnen, und als er das tat, schlug ihnen ein Schwall trockener, muffig riechender Luft entgegen, die Andrej im ersten Moment den Atem verschlug.

Bason verschwand im Wagen, und einen Moment später wurden die beiden hölzernen Läden von innen aufgestoßen; einer davon vielleicht ein bisschen zu heftig, denn er riss aus den Angeln und zerbrach, noch bevor er zu Boden fiel.

»Komm rein«, rief der Junge aufgeregt. »Nur keine Scheu.«

Scheu war nicht unbedingt das Gefühl, das sich bei Andrej eingestellt hatte, aber er folgte Bason zögernd, wobei er darauf achtete, die morsche Treppe nicht über Gebühr zu belasten. Was ihn im Innern erwartete, übertraf seine schlimmsten Befürchtungen. Die Fenster waren heillos verdreckt, und was von der Einrichtung noch übrig war, schien allein von Staub und Schmutz zusammengehalten zu werden. Immerhin war der Wagen einigermaßen geräumig. »Und?«, fragte Andrej misstrauisch. »Was soll ich hier?«

»Wenn du willst, ist dies dein neues Zuhause«, antwortete Bason. In seiner Stimme schwang deutlich Besitzerstolz mit. »Wenigstens so lange dein Freund und du unsere Gäste seid.«

»Hier?«

Er musste wohl entsetzter geklungen haben, als er beabsichtigt hatte, denn der Ausdruck auf Basons Gesicht war nun eindeutig eher Verlegenheit als Stolz. »Ich weiß, es sieht nicht besonders einladend aus«, sagte er. »Aber mit ein bisschen gutem Willen und ein paar Stunden Arbeit kann man es gemütlich herrichten. Und es schläft sich hier drinnen bedeutend besser als auf dem nackten Boden.«

»Ich habe nicht auf dem Boden geschlafen«, antwortete Andrej verwirrt.

»Du nicht, aber dein Freund«, antwortete Bason. Er nickte heftig, als Andrej ihn überrascht ansah. »Das wusstest du nicht? Er hat das Zelt verlassen, als du gestern gekommen bist, und bei den Pferden genächtigt.«

»Das ist nichts Ungewöhnliches«, antwortete Andrej leichthin. »Das tut er öfter.«

Das war nicht einmal gelogen, aber Basons Worte erinnerten ihn wieder an seine Verwirrung vom Morgen, als er das Lager neben sich leer gefunden hatte. Abu Dun hatte also das Zelt verlassen, als er ihn heimkommen gehört hatte. Ein solch kindisches Verhalten passte zwar zu dem Nubier, verwirrte Andrej aber trotzdem.

Bason lachte. »Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, ihr benehmt euch wie ein altes Ehepaar.« Er machte eine wegwerfende Geste, bevor Andrej antworten konnte. »Aber das geht mich natürlich nichts an. Wenn du also willst, gehört der Wagen euch. Er steht sowieso leer, deswegen brauchst du kein schlechtes Gewissen zu haben.«

»War das deine Idee?«, erkundigte sich Andrej argwöhnisch.

Bason zögerte einen Moment, dann schüttelte er den Kopf. »Nein«, sagte er nur. »Und jetzt komm mit. Du siehst aus, als könntest du ein kräftiges Frühstück gebrauchen - auch wenn es schon fast Zeit fürs Mittagsmahl ist. Ich werde sehen, was ich für dich tun kann, und danach denke ich über deine Frage nach, was Anka angeht. Und du über meinen Vorschlag.«

Aus purer Langeweile hatte Andrej damit begonnen, den alten Wagen zu säubern und die dringendsten Reparaturen vorzunehmen.

Er hatte gehofft, dass sich Abu Dun im Laufe des Vormittags zu ihm gesellen würde, aber er hatte ihn weder dann, noch während des Mittagsmahls gesehen, das die Sippe und er zusammen eingenommen hatten.

Und als er endlich seinen Stolz überwand und zu dem Zelt ging, in dem sie die letzten beiden Nächte zugebracht hatten, fand er Abu Duns Lager unangetastet, die beiden Satteltaschen mit seiner Habe aber waren noch da. Da er sich daran erinnerte, was Bason ihm erzählt hatte, ging er zur Pferdekoppel, und tatsächlich traf er den Freund dort an. Der ehemalige Sklavenhändler stand mit dem Rücken zum Eingang der improvisierten Koppel und schien ganz darin versunken zu sein, sein Pferd zu striegeln. Andrej gab sich keine Mühe, leise zu sein, doch der Nubier reagierte nicht auf sein Näherkommen, sondern striegelte weiterhin so inbrünstig den Hals seines Tieres, als erwarte er den Besuch eines Kalifen aus seiner Heimat.

»Wenn du weiter so machst, wird der arme Gaul morgen einen Verband tragen müssen«, sagte Andrej schließlich.

Abu Dun reagierte nicht. Weder wandte er sich um, noch unterbrach er seine Tätigkeit.

»Andererseits, für einen toten Mann machst du es ganz gut«, fuhr Andrej fort. »Die beiden tapferen Ritter haben dich doch gerade erschlagen, wenn ich mich recht erinnere, oder? Sogar gleich mehrmals.«

Abu Dun bürstete noch einen Moment weiter, dann drehte er sich ruckartig um und funkelte Andrej aus seinen dunklen Augen an. »Was willst du?«

»Eigentlich nur mit dir reden«, antwortete Andrej. »Auch wenn ich allmählich glaube, dass das keinen Sinn mehr hat.«

»Warum verschwendest du dann deine Zeit?«, fragte Abu Dun. Tatsächlich machte er Anstalten, sich wieder herumzudrehen und mit seiner sinnlosen Tätigkeit fortzufahren. »Bitte!«, seufzte Andrej.

Der Nubier verharrte mitten in der Bewegung, schien einen Moment unentschlossen, und warf dann aufgebracht die Bürste zu Boden. »Also?«

»Ich habe vorhin mit Bason gesprochen«, sagte Andrej. »Er wird ein Treffen zwischen Anka und mir arrangieren. Wenn ich von ihr erfahre, was ich wissen will, ziehen wir weiter.«

»Und wenn nicht?«

»Sie wird mir antworten«, sagte Andrej. »Und wenn nicht, So ändert das auch nichts an meinem Entschluss. Wenn sie mir beim zweiten Mal nicht antwortet, dann tut sie es auch beim dritten Mal nicht und vermutlich auch nicht beim hundertsten Mal. Aber gib mir doch bitte noch diese eine Chance, Abu Dun.«

Der Nubier wirkte überrascht, aber auf andere Art, als Andrej erwartet hatte. Sein Blick wurde bohrend. »Und diesmal meinst du es wirklich ernst?«

»Warum sollte ich nicht?«

Abu Dun hob die Schultern. Sein Blick tastete über das Lager hinter Andrejs Rücken, als er antwortete: »Du warst gestern Abend mit der Hexe zusammen, habe ich Recht?«

»Warum nennst du sie so?« Andrej wusste genau, dass der Nubier dieses Wort gewählt hatte, um ihn zu ärgern, und im Grunde war es nicht seine Art, sich provozieren zu lassen. Jetzt aber fiel es ihm schwer, auch nur halbwegs die Fassung zu wahren.

»Weil sie dich verhext hat«, antwortete Abu Dun. »Und du merkst es nicht einmal.«

»Was für ein Unfug!«, rief Andrej. »Elena interessiert mich nicht. Sie gehört einem anderen, und selbst, wenn es nicht so wäre - du kennst meinen Geschmack, was Frauen angeht.«

»Wie ich es sage«, beharrte Abu Dun. »Du merkst es nicht einmal.« Andrej öffnete den Mund zu einer Antwort, aber Abu Dun fuhr in schärferem, bewusst verletzend gemeintem Ton fort: »Was ist los mit dir, Andrej ? Bist du es sonst nicht immer, der mir bei jeder Gelegenheit vorhält, ich würde zu wenig nachdenken und zu sehr meinen Instinkten folgen? Vielleicht ist es an der Zeit, dass du mehr nachdenkst und weniger deinen Instinkten folgst! Verdammt, wenn du es so nötig hast, dann nimm dir ein Goldstück, reite in die nächste Stadt und kauf' dir eine Hure oder auch zwei. Aber mach endlich die Augen auf! Diese Frau ist Gift für dich!«

Plötzlich war Andrej viel mehr verwirrt denn wütend. Wovon sprach der Nubier? Zwischen Elena und ihm war rein gar nichts gewesen, und er sprach diesen Gedanken auch laut aus: »Ich weiß nicht, was du meinst«, sagte er so beherrscht, wie er konnte. Sehr beherrscht war es nicht. »Ich habe sie zu diesem Müller begleitet und zurück, und das ist alles. Zwischen uns war rein gar nichts. Wenn sie irgendetwas anderes erzählt hat, dann hat sie gelogen.«

»Sie hat nichts erzählt«, antwortete Abu Dun. »Aber manchmal sind gerade die Dinge, die die Leute nicht sagen, die Aufschlussreicheren. Allah, ich hab doch Augen im Kopf!«

»Aber anscheinend sind sie nicht mehr sehr gut«, antwortete Andrej. Abu Dun lachte böse. »Hab ich dir eigentlich je erzählt, dass es in meiner Heimat Stämme gibt, bei denen Liebe tatsächlich als Krankheit angesehen wird? Wenn das stimmt, dann stehst du offensichtlich kurz davor, an dieser Krankheit zu sterben. Und das meine ich ernst.«

Nun war Andrej regelrecht schockiert. Es war nicht einmal so sehr die Absurdität dieses völlig aus der Luft gegriffenen Vorwurfes, sondern vielmehr die Überzeugung, mit der Abu Dun ihn vorbrachte. Weder an seinem Verhalten, noch an dem, was Elena oder er gesagt oder getan hatten, war irgendetwas, das Anlass zu der Vermutung gab, zwischen ihnen wäre mehr gewesen als tatsächlich gewesen war. »Was hat sie erzählt?«, fragte er noch einmal.

Abu Dun sah ihn lauernd an. »Nichts«, sagte er. »Aber das war auch nicht nötig.«

Andrej setzte zu einer scharfen Antwort an, beließ es aber dann bei einem Seufzen. Sie waren wieder an dem gleichen Punkt angelangt wie gestern. Es war völlig sinnlos, noch irgendetwas zu sagen. Und er verstand weniger denn je, warum Abu Dun so reagierte, wie er reagierte.

»Du brauchst heute Nacht nicht wieder bei den Pferden zu schlafen«, sagte er. »Du kannst das Zelt haben. Bason hat mir einen Wagen zugewiesen.«

»Ja, das passt.« Abu Dun lachte. »Wie zum Teufel meinst du das jetzt schon wieder?«

»Wenn du deinen Verstand noch beieinander hättest, dann wüsstest du die Antwort auf diese Frage«, erwiderte der Schwarze und wandte sich zum Gehen. »Und jetzt entschuldige mich bitte. Ich muss zur Probe. Unser erster Auftritt ist schon heute Abend.«

Verwirrt und zornig sah ihm Andrej nach. Abu Duns Worte - vor allem das, was er über Elena gesagt hatte - hatten ihn wütend gemacht, zugleich aber auch vollkommen verunsichert. Der Nubier war niemand, der offen zugab, wenn er sich geirrt hatte, aber wenn er so hartnäckig auf etwas beharrte, dann war er zumeist auch davon überzeugt, im Recht zu sein - und nur zu oft erwies sich diese Überzeugung als richtig.

Er wartete, bis der Freund ein gutes Stück vorausgeeilt war, dann verließ auch er die Koppel und machte sich wieder auf den Weg zu dem alten Wagen, um mit seiner Arbeit fortzufahren. Er war gut vorangekommen, aber bis aus diesem Trümmerhaufen wieder ein auch nur halbwegs behagliches Zuhause werden konnte, würde vermutlich noch eine Woche vergehen.

Kurz bevor er sein Ziel erreichte hörte er Hufschläge. Er blieb stehen und sah sich um. Zwei Reiter preschten in scharfem Tempo die Straße herab. Da sie die Sonne im Rücken hatten, konnte Andrej sie zunächst nur als schwarze Schatten erkennen, denen irgendetwas Unheimliches, Körperloses vorauszueilen schien, aber dann sah er, dass die beiden Schemen niemand anderes als Laurus und Elena waren. Sie ritten nicht nur schnell, sondern auch in großem Abstand zueinander auf das Lager zu, und irgendwie hatte er das Gefühl, dass sie keine guten Neuigkeiten brachten. Kurz entschlossen ging er ihnen entgegen.

Laurus fiel weiter zurück, denn er zügelte sein Pferd, als er näher kam, während Elena dem ihren die Sporen gab und das letzte Stück bis zur Koppel im Galopp zurücklegte. Mit einem unnötig harten Ruck brachte sie das Tier kurz vor dem Tor zum Stehen, sprang aus dem Sattel, noch bevor das Pferd zur Ruhe gekommen war, und stapfte mit gerafften Röcken und so eilig auf den Wagen zu, den Laurus und sie bewohnten, dass jeder, der ihren Weg kreuzte, hastig zur Seite sprang.

Andrejs erster Impuls war, ihr nachzueilen und sie zu fragen, was passiert war, aber dann rief er sich ins Bewusstsein, dass ihm ein solches Verhalten nicht zustand; schon gar nicht nach der vergangenen Nacht. Also wandte er sich in Richtung Laurus. Das Oberhaupt des Sinti-Clans war unweit der Bühne aus dem Sattel gestiegen, auf der Abu Dun und seine beiden ausstaffierten Schauspieler-Kollegen schon wieder mit ihrer Probe begonnen hatten, und unterhielt sich aufgeregt gestikulierend mit Bason, Rason und einem dritten, älteren Sinti. Da er Andrej den Rücken zugewandt hatte, konnte dieser den Ausdruck auf Laurus' Gesicht nicht erkennen, aber sein Gebärdenspiel, der Klang seiner Stimme und seine angespannte Haltung verrieten ihm, dass er in der Tat keine guten Nachrichten gebracht hatte. Besorgt beschleunigte Andrej seinen Schritt.

Bason entdeckte ihn als erstes, und Laurus musste den Ausdruck auf dem Gesicht seines Stiefsohnes wohl richtig gedeutet haben, denn er unterbrach seine Rede und fuhr abrupt herum. Seine Stirn umwölkte sich, als er Andrejs gewahr wurde.

»Andreas!«, sagte er. »Dich habe ich gesucht.«

Aus dem unguten Gefühl in Andrej wurde Gewissheit. »Was ist passiert?«, fragte er. Aus den Augenwinkeln nahm er wahr, wie Abu Dun und die beiden anderen ihren Schaukampf unterbrachen und gespannt in ihre Richtung blickten, und auch die Aufmerksamkeit aller anderen Umstehenden konzentrierte sich plötzlich ganz auf ihn und Laurus.

»Genau das wollte ich dich fragen«, erwiderte Laurus. »Was ist gestern Abend passiert?«

Andrej antwortete nicht sofort, sondern sah Laurus forschend ins Gesicht, versuchte in seinem Blick zu lesen, das Beben in seiner Stimme richtig zu deuten. »Ich verstehe nicht ganz ...«

»Gestern Abend, als ihr, Elena und du, zur Mühle geritten seid«, erklärte Laurus. »Was ist da passiert?«

»Nichts«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Abgesehen davon, dass wir keinen Erfolg hatten - aber das wird dir dein Weib sicher schon erzählt haben.«

»Ihr habt mit dem Müller gesprochen. Was genau hat er gesagt?«, verlangte Laurus zu wissen.

»Der Mann ist ein Dummkopf, der nur Unsinn von sich gegeben hat«, antwortete Andrej. »Wir wollten mit ihm reden, aber das war gar nicht möglich. Er hat Elena als Hexe beschimpft, und mich ...« Er hob die Schultern. »Kurz, wir hatten keinen Erfolg. Es tut mir Leid. Aber mehr war nicht.«

»Er hat Elena beschimpft?«, hakte Laurus nach. »Und weiter? Was geschah dann?«

»Nichts«, sagte Andrej zum wiederholten Mal. »Aber was ist denn eigentlich los?«

Laurus' Stirnrunzeln wurde noch tiefer. Einen Moment lang starrte er zu Boden, dann schnaufte er hörbar und nickte knapp. »Nichts«, sagte er. »Du hast Recht, Andreas. Der Mann ist ein Narr.« Zwei, drei Sekunden lang schwieg er, und dann konnte Andrej förmlich sehen, wie er sich einen inneren Ruck gab, um das Thema zu wechseln. »Bason hat mir erzählt, dass du angefangen hast, den Wagen herzurichten?«

Andrej nickte. Ihm war wirklich nicht danach zumute, über den Wagen zu sprechen, und auch Bason und sein Bruder wirkten wegen des krassen Themenwechsels leicht irritiert.

»Das ist gut«, sagte Laurus. »Ich nehme an, das bedeutet, dass Ihr bei uns bleibt? Wenigstens für eine Weile?«

»Vielleicht«, antwortete Andrej ausweichend.

»Wenn es so ist, dann ist es an der Zeit, dass wir eine Aufgabe für dich finden, Andreas«, sagte Laurus. »Ich hatte gehofft, dass du Elena begleiten könntest, um ihr bei ihren Geschäften zu helfen, aber vielleicht ist es besser, wenn ich das auch weiterhin selbst tue.«

Bei ihren Geschäften helfen, oder sie begleiten?, dachte Andrej, hütete sich aber, die Frage laut auszusprechen.

»Bason sagte mir, dass du vielleicht in unserem Stück mitwirken könntest«, fuhr Laurus fort. »Ich halte das für eine gute Idee. Wir erwarten heute Abend die ersten Gäste. Es werden viele Menschen kommen, aus dem Dorf, aber auch aus der Stadt, und eine neue Attraktion ist immer gut. Bist du auch so ein Meister mit dem Schwert wie dein schwarzer Freund?«

Andrej tauschte einen überraschten Blick mit Bason, der ein Stück hinter Laurus stand und ihn mit unverhohlener Schadenfreude musterte. Und gerade, als Andrej zu einer abschlägigen Antwort ansetzen wollte, deutete Bason ein Nicken an und machte zugleich eine winzige Geste in die Richtung, in der Andrej Ankas Wagen wusste. Und zu seiner eigenen Überraschung hörte er sich sagen: »Ich bin kein Schauspieler, Laurus. Aber ich kann recht ordentlich mit dem Schwert umgehen, das ist richtig.«

»Mehr ist auch nicht nötig«, sagte Laurus. »Ich will Bason nicht zu nahe treten, aber seine Stücke werden wohl nie an den großen Theatern der Welt aufgeführt werden.«

»Weil die Welt ungerecht ist«, warf Bason ein. »Außerdem ist es das Schicksal großer Künstler, zu Lebzeiten niemals die Anerkennung zu finden, die ihnen gebührt.«

Laurus ignorierte ihn. »Wenn Ihr bleiben wollt, müsst ihr für Unterkunft und Essen arbeiten«, sagte er. »Vielleicht sollten wir es versuchen. Sagen wir, solange wir hier lagern ... also für eine Woche, vielleicht weniger, vielleicht mehr. Danach könnt ihr entscheiden, ob ihr bleiben wollt. Und wir, ob ihr es dürft.«

Erstaunt hob Andrej eine Augenbraue. Laurus hatte ihm und Abu Dun nie so etwas wie übertriebene Zuvorkommenheit oder gar Freundschaft entgegengebracht, aber bei seinen letzten Worten hatte eindeutig so etwas wie eine Drohung mitgeschwungen, die er sich nicht erklären konnte. Der Sinti gab ihm jedoch keine Gelegenheit zur Nachfrage, sondern erklärte das Thema mit knapper Geste für beendet und ging davon.

Andrej sah ihm nach, bis er in dem Wagen verschwunden war, den Elena und er bewohnten, dann drehte er sich verärgert zu Bason herum.

»Du hast mich reingelegt.«

Bason grinste. »Nur ein bisschen.«

»Ich meine es ernst, Bason«, sagte Andrej. »Ich schätze es nicht, wenn man versucht, mich zu übertölpeln.«

»Wieso? Es hat doch geklappt«, feixte Bason.

Andrej setzte zu einer zornigen Antwort an, aber dann beließ er es bei einem fast resignierten Seufzen. Vermutlich hatte es keinen Zweck, mit dem Jungen zu diskutieren. Und wie schon zuvor, so musste er sich auch jetzt eingestehen, dass er Bason nicht wirklich böse war. Er - wie auch sein Bruder - hatte irgendetwas an sich, das es ihm unmöglich machte, ernsthaft wütend auf ihn zu werden. Und so sagte er nur: »Du weißt nicht, worauf du dich einlässt.«

»Das wird sich zeigen«, meinte Bason. »Jetzt geh zu meinem Bruder und lass dir ein Kostüm geben. Es sind nur noch ein paar Stunden bis zur ersten Vorstellung, und du hast noch eine Menge Text zu lernen.«

Was Bason als »Kostüm« bezeichnet hatte, erwies sich als fast zur Farblosigkeit verblasster, löchriger Fetzen, der so übel roch, dass Andrej ihn nur mit spitzen Fingern anhob und dann angewidert wieder fallen ließ. Tatsächlich hatte das Ding so wenig Ähnlichkeit mit einer Uniform wie die aus Pappmaschee und Holz zusammengestümperte Spielzeugstaffage mit echten Rüstungen. Darüber hinaus bestand sein so genannter »Text« aus gerade einmal vier Sätzen, von denen drei keinen Sinn ergaben.

Stirnrunzelnd studierte Andrej den schmutzigen Zettel mit den hingekritzelten Zeilen. Da trat Rason zu ihm und ließ sich zu einer Bemerkung hinreißen, die Andrej klar machte, dass dieser von den künstlerischen Fähigkeiten seines Bruders auch nicht sonderlich angetan war. Mehr noch, er stellte Andrej anheim, sich doch einfach selbst einen Text auszudenken. Andrej schwieg dazu - was Rason nicht weiter zu überraschen schien - und verließ den Wagen, um sich auf die Suche nach Bason zu machen. Ihr Abkommen mochte ein wenig einseitig zustande gekommen sein, aber es bestand dennoch aus zwei Teilen. Und er würde darauf pochen, dass Bason auch den seinen einhielt.

Er durchquerte das Lager, fand Bason jedoch weder in seinem Wagen noch bei den anderen, die emsig mit den Vorbereitungen für den Abend beschäftigt waren, und er wollte sich gerade - wenn auch widerwillig - auf den Weg zu Laurus' Wagen machen, um sich dort nach dessen Stiefsohn zu erkundigen, als er plötzlich das intensive Gefühl hatte, beobachtet zu werden.

Es war nicht das erste Mal, seit Abu Dun und er hierher gekommen waren. Auch, wenn sich die Sinti alle Mühe gaben, freundlich zu sein, so waren und blieben sie doch Fremde, die immer wieder mit teils neugierigen, teils skeptischen Blicken verfolgt wurden. Dieses Gefühl jedoch war anders. Er wurde nicht nur einfach beobachtet, er wurde angestarrt, belauert und mit durch und durch bösartigem Blick verfolgt.

Tatsächlich war es das gleiche Gefühl, das ihn gestern Abend im Wald beschlichen hatte, als er neben dem kleinen See stand, nur ungleich intensiver und zorniger ...

So gelassen wie möglich kam Andrej zum Stehen und drehte sich einmal langsam um die eigene Achse, wobei er seinen Blick aufmerksam über das Lager und jeden einzelnen seiner Bewohner schweifen ließ. Nichts war anders als sonst.

Und tatsächlich hatte dieses unheimliche Gefühl seinen Ursprung auch nicht hier. Er betrachtete einen Moment lang die Straße und die dahinter gelegenen ersten Häuser des Ortes, dann den nahen Waldrand auf der anderen Seite. Er konnte nicht sagen, aus welcher Richtung das ungute Gefühl, beobachtet zu werden, kam, doch dann glaubte er für einen ganz kurzen Moment eine Bewegung wahrzunehmen: Ein Schatten, der nicht da sein sollte, ein kaum sichtbares Huschen, das Wippen eines Zweiges, der sich in der windstillen Luft eigentlich nicht bewegen durfte ...

Er hatte genug gesehen. Betont gemächlich ging er zu dem Zelt zurück, in dem außer seinen Satteltaschen und Kleidern auch das Schwert lag und schnallte sich den Gurt nebst Waffe um. Sodann schlenderte er scheinbar ziellos in Richtung Pferdekoppel; nicht direkt auf den Wald zu, aber doch in einem Winkel, der ihn nahe genug heranbringen würde, um seine Beobachtung zu verifizieren.

Das Gefühl, angestarrt zu werden, war noch immer da, wenngleich nicht mehr ganz so intensiv wie noch vor einem Augenblick. Und neben dem Eindruck des Belauertwerdens spürte Andrej noch etwas: Gefahr, die herauf zog - wie die drückende Luft vor einem Sommergewitter, noch bevor sich die erste Wolke am Horizont zeigt. Er sah halb zu Boden, halb in Richtung der Pferdekoppel, behielt aber den Waldrand aus den Augenwinkeln im Blick. Er war sicher: Irgendetwas war dort. Und vielleicht hatte Abu Dun ja Recht. Vielleicht waren diese Leute keineswegs so harmlos, wie es den Anschein hatte.

Worauf er den ganzen Tag vergebens gewartet hatte, das geschah nun, im ungünstigsten aller denkbaren Augenblicke: Er hatte die Strecke zur Koppel fast zur Hälfte zurückgelegt, als ihm eine riesenhafte, ganz in Schwarz gekleidete Gestalt den Weg vertrat. »Wir müssen miteinander reden, Hexenmeister«, sagte Abu Dun.

»Nicht jetzt«, antwortete Andrej. Er versuchte um Abu Dun herum zu gehen, aber der Nubier machte einen raschen Ausfallschritt, sodass er stehen bleiben musste.

»Ganz genau jetzt«, erwiderte Abu Dun gereizt. »Es sei denn, du willst -«

»Nicht jetzt!«, zischte Andrej. Wohl wissend, dass er noch immer beobachtet wurde, bemühte er sich, auch weiterhin möglichst gelassen zu erscheinen und brachte sogar das Kunststück fertig, ein Lächeln auf sein Gesicht zu zwingen. Doch der scharfe Ton in seiner Stimme und der gehetzte Blick Richtung Wald hatten Abu Dun alarmiert. Aus der grimmigen Miene des Nubiers wurde ein erstauntes Gesicht, dann schürzte er die Lippen und deutete ein Kopfnicken an. Er hatte verstanden.

»Ich nehme an, du willst dein Pferd holen, um ins Dorf zu reiten«, bemerkte der Freund leutselig und überaus vernehmlich. »Ich bin auch gerade auf dem Weg dorthin. Reiten wir doch zusammen.«

»Warum nicht?« Andrej machte eine einladende Geste in Richtung Koppel, und sie legten den Rest des Weges gemeinsam zurück. Abu Dun öffnete das Tor, stieß einen schrillen V Pfiff aus, und nur einen Moment später kamen sowohl sein als auch Andrejs Pferd auf sie zu getrabt. Die beiden Tiere hatten die Ruhe der letzten Tage sichtlich genossen, ebenso wie die Gesellschaft anderer Pferde, die sie auf ihre Art ebenso vermissen mochten wie Andrej die anderer Menschen, gehorchten aber trotzdem noch immer aufs Wort.

Andrej wollte sich gerade zum Sattelgestell wenden, als Abu Dun seinem Pferd entgegenlief und sich mit einer kraftvollen Bewegung - und einem spöttischen Blick in Andrejs Richtung - auf den Rücken des Tieres schwang. Und obwohl Andrej sich darüber im Klaren war, dass seine Reaktion um keinen Deut besser war als Abu Duns angeberisches Gehabe, tat er es ihm gleich.

Was vielleicht ein Fehler war, denn Abu Dun schien Andrejs Reaktion als Herausforderung zu deuten und sprengte sogleich in halsbrecherischem Tempo los. Einige der anderen Pferde wieherten erschrocken und begannen nervös auf der Stelle zu tänzeln, und obwohl Andrej nicht hinsah, wusste er, dass sich im Lager nun viele Köpfe in ihre Richtung wandten und ihr rein zufälliger Aufbruch auch im Wald nicht unbemerkt geblieben sein konnte. Und so - wider alle Vernunft - galoppierte er hinter dem Nubier her, so schnell er konnte.

Binnen weniger Augenblicke hatten sie das Lager durchquert - wobei ihnen nicht nur verständnislose Blicke, sondern auch der eine oder andere zornige Ruf folgten. Sodann preschte Abu Dun durchs offene Gelände davon, nicht etwa auf den Wald zu, sondern in die entgegengesetzte Richtung, auf die Handvoll Häuser zu, aus denen Honsen bestand. Erst, als sie schon die halbe Strecke zurückgelegt hatten, gelang es Andrej, den Nubier einzuholen. »Was soll das?«, rief er aufgebracht. »Willst du mit Gewalt Aufsehen erregen?«

Abu Dun lachte. »Aufsehen erregst höchstens du, weil du jeden Moment von deinem Gaul fällst. Weißt du eigentlich, was für eine komische Figur du abgibst?«

Andrej warf ihm einen wütenden Blick zu, aber insgeheim musste er Abu Dun Recht geben. Das Reiten ohne Sattel, Zaumzeug und Zügel war alles andere als leicht, und bei dem halsbrecherischen Tempo, das der Nubier vorlegte, auch alles andere als ungefährlich. Wäre er zufällig Zeuge einer solchen Szene geworden, wäre es ihm schwer gefallen zu glauben, dass es sich bei dem Rennen nur um ein freundschaftliches Kräftemessen handelte. Aber jede Bemerkung in diese Richtung würde es im Moment nur verschlimmern. Also beschränkte er sich darauf, sich in einer halbwegs würdevollen Haltung an der Pferdemähne festzuklammern.

Zu seiner Erleichterung nahm Abu Dun das Tempo deutlich zurück, als sie auf die ungepflasterte Hauptstraße des Ortes gelangten. Sie ritten noch immer recht schnell, was ihnen auch hier den einen oder anderen verwunderten oder empörten Blick einbrachte, doch Abu Dun wurde immer langsamer, und als sie den Ort durchquerte hatten - was nach wenigen Minuten der Fall war - befanden sich die Pferde nur noch in einem raschen, aber nicht mehr rasenden Trab. Schließlich wandten sie sich nach rechts, um Honsen - und damit auch das auf der anderen Seite gelegene Sinti-Lager - in weitem Bogen zu umgehen und sich dem dahinter liegenden Hain und jedem, der darin auf der Lauer liegen mochte, von der Rückseite her zu nähern.

Zumindest jetzt bewies Abu Dun einen kühlen Kopf, denn er trieb das alberne Spiel nicht noch weiter auf die Spitze, sondern hielt im Schutz eines weit ausladenden Busches an, der die Hitzewelle der zurückliegenden Wochen wie durch ein Wunder fast unbeschadet überstanden hatte. Dann glitt er vom Rücken seines Pferdes und ließ sich mit auf den Oberschenkeln abgestützten Händen in die Hocke sinken, während er darauf wartete, dass Andrej es ihm gleich tat. »Was hast du gesehen?«, fragte er.

»Nichts«, antwortete Andrej. »Aber irgendjemand ist hier, das spüre ich.«

Das genügte Abu Dun. Sie kannten sich lange genug, und der Nubier wusste, dass eine Ahnung Andrejs hundertmal mehr wert sein konnte als die vermeintlich sichere Beobachtung eines anderen. Der Schwarze nickte, schlug den Mantel zurück und legte die Hand auf den Griff des Krummsäbels, den er darunter trug. Auch Andrej tastete nach seiner Waffe, zog die Hand dann aber wieder zurück. Das Gefühl des Angestarrtwerdens hatte sich irgendwo auf halbem Wege zwischen der Pferdekoppel und Honsen verloren, aber er spürte nach wie vor, dass irgendetwas hier war. Etwas, das nicht hier sein sollte. Und er spürte auch, dass es sich hierbei nicht um eine Gefahr handelte, der er mit der Waffe begegnen konnte. Es war sehr verwirrend.

Abu Dun machte eine Kopfbewegung nach rechts, zog den Säbel und huschte einen Augenblick später in die angegebene Richtung davon. Praktisch im gleichen Moment trat Andrej in der entgegengesetzten Richtung hinter dem Gebüsch hervor. Nahezu lautlos erreichten sie den eigentlichen Waldrand und drangen ins dichte Unterholz vor. Nichts war zu hören, nirgends rührte sich etwas. Andrejs Sinne waren zum Zerreißen gespannt, aber er hörte absolut nichts, außer seinen eigenen Schritten und denen Abu Duns, die sich allmählich von ihm entfernten. Und doch spürte er immer deutlicher diese fremde, böse Präsenz, die die Atmosphäre verpestete wie ein übler Gestank.

Aber das war unmöglich. Der Wald war nicht groß genug, um diesen Namen wirklich zu verdienen. Selbst einem normalen Menschen mit einigermaßen wachen Sinnen wäre es möglich gewesen, jedermann aufzuspüren, der sich hier zu verstecken suchte - und er hätte jeden Fremden wortwörtlich gerochen. Aber hier war nichts. Absolut nichts.

Andrej war drauf und dran, sich einzugestehen, dass ihm vielleicht doch nur seine Nerven einen bösen Streich gespielt hatten, als rechts von ihm ein helles, unterdrücktes Pfeifen ertönte, das jeder andere für den Ruf eines Vogels gehalten hätte, der sich über die Störung durch die Eindringlinge beschwerte - jeder, der nicht seit Jahren mit Abu Dun ritt und wusste, dass der Nubier nahezu jede Tierstimme perfekt zu imitieren verstand. Rasch schob er das Schwert in den Gürtel zurück, wandte sich in die fragliche Richtung und langte nach wenigen Schritten neben dem Freund an.

Er wollte eine Frage stellen, aber der Nubier gebot ihm zu schweigen und deutete zugleich mit einer Kopfbewegung auf den Boden vor sich. Andrej ging langsam weiter, wobei er darauf achtete, möglichst leise aufzutreten, ließ sich dann neben dem Freund in die Hocke sinken und erschrak, als er sah, was Abu Dun entdeckt hatte.

In dem weichen Moos, das den Waldboden vor ihm bedeckte, waren die Spuren nackter kleiner Füße zu sehen. Sehr kleiner Füße und nicht nur die eines, sondern die von mindestens zwei oder mehr Menschen. »Also doch«, murmelte Abu Dun. Dann stand er mit einem Ruck auf und sah sich aus zusammengekniffenen Augen um. »Diesmal bringe ich es zu Ende.« Schon stürmte er in die Richtung los, in die die Fußspuren wiesen, noch bevor Andrej etwas sagen oder versuchen konnte, ihn zurückzuhalten, und er nahm jetzt keinerlei Rücksicht mehr darauf, ob er Lärm machte oder nicht. Vermutlich spielte es auch keine Rolle. Die Fußspuren waren erst wenige Minuten alt, und Andrej spürte die feindselige Präsenz jetzt mit solcher Intensität, dass sie ihm fast den Atem raubte.

Noch während er hinter Abu Dun hereilte, versuchte er, die Richtung zu spüren, aus der das unheimliche Gefühl kam, aber es wollte ihm nicht gelingen. Was immer dieses unheimliche Geschöpf war, dessen Nähe er spürte, es schien nirgends und überall zugleich zu sein.

Er beschleunigte seinen Schritt, um zu dem Nubier aufzuholen, doch dann blieb Abu Dun so plötzlich stehen, dass Andrej einen hastigen Ausfallschritt machen musste, um nicht gegen ihn zu prallen. Im nächsten Augenblick erstarrte auch er mitten in der Bewegung, als er sah, weshalb Abu Dun so plötzlich stehen geblieben war.

Sie hatten den jenseitigen Waldrand fast erreicht. Vor ihnen erhob sich nur noch eine einzige Baumreihe, zwischen der das Unterholz aber so dicht war, dass es eine nahezu undurchdringliche Mauer bildete.

Dort lag Pater Flock wimmernd vor Angst und Schmerz und hoffnungslos im dornigen Gestrüpp des Unterholzes verfangen, die seine Kutte zerrissen und Gesicht und Arme blutig gekratzt hatten. Verzweifelt versuchte er, sein Gesicht mit den Händen vor den Hieben eines höchstens acht- oder neunjährigen Jungen zu schützen, der auf seiner Brust hockte und versuchte, dem Geistlichen mit einem kinderkopfgroßen Stein den Schädel zu zertrümmern. Ein zweiter, kaum älterer Junge hatte dem Mann beide Knie in den Unterleib gerammt und stach mit einem winzigen Messer immer wieder auf seinen Oberschenkel ein, während zwei weitere Kinder das Ganze johlend und händeklatschend beobachteten. In den Augen des schwarzhaarigen Mädchens blitzte es spöttisch auf, als es Andrej und Abu Dun bemerkte, während der ältere Junge den beiden nur einen verächtlichen Blick zuwarf und sich dann wieder auf das grausame Geschehen am Boden konzentrierte.

Außer sich vor Wut brüllte Abu Dun auf, riss mit beiden Händen den Säbel in die Höhe und war mit einem einzigen Schritt am Ort des Geschehens. Zweifellos hätte er den Jungen enthauptet, hätte er nicht aus irgendeinem Grund im letzten Moment versucht, seinen Hieb in eine andere Richtung zu lenken. Es gelang ihm nicht ganz. Die gebogene Klinge des Krummsäbels zischte mit einem hässlichen Geräusch durch die Luft. Doch dieses winzige Zögern hatte dem Knaben gereicht. Blitzschnell duckte er sich und entging dem tödlichen Hieb buchstäblich um Haaresbreite. Durch die eigene Wucht nach vorne gerissen, musste Abu Dun einige hastige Schritte machen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren und zu stürzen.

Trotz seiner enormen Größe und Körperfülle, die schon so manchen Gegner getäuscht hatte, war Abu Dun wiesel-schnell; er brauchte nur eine Sekunde, um seine Balance wiederzufinden und herumzufahren, doch diese Spanne reichte den Kindern. Noch immer lachend und johlend, ließen sie endlich von ihrem Opfer ab und verschwanden so schnell im Unterholz wie Schatten, die vor dem Licht der Sonne flohen. Abu Dun stieß einen Fluch in seiner Muttersprache aus, brach rücksichtslos durch das Gebüsch und setzte zur Verfolgung an, während Andrej zu dem hilflosen, wimmernden Geistlichen lief und sich neben ihm auf den Boden kniete.

Der Anblick war so entsetzlich, dass er hart schlucken musste. Pater Flocks Gesicht war blutüberströmt und verzerrt vor Schmerz und Todesangst. Er blutete aus zahlreichen kleinen und zwei größeren Wunden an Stirn und Schläfe, und der Knabe mit dem Messer hatte sich sogar die Zeit genommen, ihm ein gut fingerlanges Kreuz in beide Wangen zu ritzen, ehe er Flocks Gesicht seinem Bruder und dessen Stein überließ. Die Augen des jungen Geistlichen waren schwarz vor Angst, und hinter der Furcht und dem unerträglichen Schmerz flackerte der beginnende Wahnsinn. Als Andrej sich über ihn beugte, riss der Mann die Arme in die Höhe und versuchte, nach ihm zu schlagen. Andrej nahm zwei, drei seiner kraftlosen Hiebe hin, dann umfasste er die Handgelenke des Geistlichen und drückte ihn mit sanfter Gewalt zu Boden.

»Ganz ruhig!«, rief er. »Ich bin es, Andreas! Es ist vorbei!«

Doch Flock reagierte nicht darauf. Stattdessen wurde sein Wimmern nun von hohen, spitzen Schreien abgelöst. Dabei strampelte er so heftig mit den Beinen, dass Andrej rasch ein Stück von ihm abrückte, um nicht auch noch getreten zu werden.

»Es ist vorbei! Pater Flock! Kommt zu Euch! Sie sind fort! Ihr seid in Sicherheit!«

Im ersten Moment schien es, als ob Flock ihn auch jetzt nicht verstand, dann erschlaffte sein Körper in Andrejs Griff, und das Flackern beginnenden Irrsinns in seinen Augen ließ nach. Fassungslos starrte er Andrej an, riss dann den Kopf herum und blickte in die Richtung, in der die Kinder und Abu Dun verschwunden waren. »Teufel!«, schrie er. »Sie sind des Teufels. Dämonen aus der Hölle, geschickt, uns für unsere Sünden zu bestrafen.«

»Es ist vorbei«, sagte Andrej noch einmal, aber mit, wie er hoffte, beruhigender Stimme. »Sie können Euch nichts mehr tun. Ihr seid in Sicherheit.«

Flock begann zu wimmern; ein leises, klagendes Weinen, in dem mehr zum Ausdruck kam als die pure Todesangst, die er gerade durchgestanden hatte. Andrej wagte es nicht, seine Hände loszulassen, lockere aber seinen Griff und unterzog Flock sodann einer zweiten, etwas gründlicheren Begutachtung.

Ihr Ergebnis war nicht besser als das seiner ersten Inaugenscheinnahme. Im Gegenteil: Der junge Geistliche bot einen schrecklichen Anblick. Sein Gesicht war eine Maske aus hellem, glänzendem Blut, sodass gar nicht genau zu erkennen war, wie schlimm die Verletzungen wirklich waren; und auch seine Hände, mit denen er den Stein abgewehrt hatte, waren übel verletzt. In Höhe seiner Oberschenkel war das braune Mönchsgewand schwarz und nass von Blut. Flocks Unterlippe war gespalten, und er hatte mindestens zwei Zähne verloren.

»Beruhigt Euch«, sagte Andrej. »Nicht bewegen. Ihr seid schwer verletzt. Ich bringe Euch zu einem Arzt.«

»Nein«, sagte Flock. »Bringt Euch in Sicherheit. Sie werden wiederkommen. Sie werden Euch umbringen. Sie sind Dämonen. Der Teufel hat sie geschickt!«

»Es ist alles in Ordnung«, sagte Andrej zum wiederholten Mal. Natürlich entsprach das nicht der Wahrheit. Nichts war in Ordnung. Nicht der Zustand, in dem sich der junge Geistliche befand, und schon gar nicht die Umstände, unter denen er diese Verletzungen erlitten hatte. Er schloss für einen Moment die Augen, lauschte in sich hinein und versuchte nach dem bösartigen fremden Geist zu tasten, dessen Gegenwart er eben noch so deutlich gefühlt hatte. Aber da war nichts mehr. Das einzige Leben, was er spürte, war das Flocks und Abu Duns.

Wie aufs Stichwort hörte er neben sich das Geräusch brechender Zweige, dann trat der Nubier aus dem Unterholz auf die Lichtung. Auf seinem Gesicht lag ein Ausdruck maßloser Enttäuschung. Noch immer hielt er den Krummsäbel in beiden Händen, doch die Klinge war blank. Mit einem zornigen Schritt trat er heran und rammte den Säbel nur eine Handbreit neben der Schulter des Geistlichen in den Boden. Er sagte nichts, sondern warf Andrej nur einen wütenden Blick zu. Sie sind entkommen!

Sei froh!, signalisierte ihm Andrej auf die gleiche Weise und wandte sich erneut an Flock.

»Es ist alles gut«, sagte er noch einmal. »Abu Dun und ich werden Euch zu einem Arzt bringen. Versucht nicht, zu reden.«

»Was ist hier passiert?«, wollte der Freund wissen. Er maß Flock mit einem argwöhnischen Blick und hockte sich dann neben ihn, die linke Hand auf den Griff des Krummsäbels gestützt. »Was hattet Ihr hier zu suchen?«

»Ich ... ich war hier, und ... und plötzlich ... plötzlich waren sie da«, stammelte Flock. Sein Blick begann wieder zu flackern, und sein Atem ging schneller. Andrej, der immer noch die Handgelenke des Geistlichen umfasst hielt, spürte, wie der Puls zu rasen begann, und er warf Abu Dun einen mahnenden Blick zu. Jetzt war nicht der Moment, Fragen zu Stellen. Der Zustand des jungen Paters schien ernster, als er bisher angenommen hatte.

Ungeachtet dessen herrschte ihn Abu Dun in einem Ton an, der alles andere als freundlich oder gar mitfühlend war: »Ihr wart hier? Einfach so? Mitten im Wald?«

»Ich ... ich hatte mich verirrt«, nuschelte Flock. »Verirrt?« Abu Dun lachte. »Haltet mich nicht zum Narren, Pfaffe! Niemand kann sich in diesem Wäldchen verirren, es sei denn, er wäre blind.«

»Abu Dun!«, ermahnte Andrej ihn scharf. »Nicht jetzt!«

»Ja, ja, nicht jetzt und auch nicht später, und am besten gar nicht!«, schnappte Abu Dun. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen, und für einen Moment war Andrej sicher, dass sich sein Zorn nun gegen ihn richten würde - ein Zorn, der keinen anderen Grund hatte als den, dass ihm diese mörderischen Kinder auch diesmal wieder entkommen waren. Begriff der Freund denn nicht, dass ihm dieser Umstand mit einiger Wahrscheinlichkeit das Leben gerettet hatte?

»Das reicht jetzt!«, sagte Andrej, der allmählich wirklich zornig wurde. »Lauf voraus ins Lager und gib Bescheid, dass wir kommen. Man soll heißes Wasser und Verbandszeug vorbereiten. Er verblutet.«

»Welch ein Verlust für die Menschheit«, bemerkte Abu Dun böse. Doch er erhob sich, verstaute seinen Säbel und machte sich auf, das zu tun, worum er gebeten worden war - nicht ohne Andrej einen letzten, verächtlichen Blick zuzuwerfen. Verwirrt sah er dem Freund nach. Für den Moslem war der Geistliche so etwas wie sein natürlicher Feind, und auch er selbst hatte der Kirche und allem, was damit zu tun hatte, schon vor langer Zeit abgeschworen. Dennoch erschien ihm Abu Duns unverhohlene Feindseligkeit gegenüber Pater Flock unangemessen.

Er wandte sich wieder dem Verletzten zu. Flock war wieder nach hinten gesunken, hatte die Augen geschlossen und versuchte mit zusammengebissenen Zähnen, ein Stöhnen zu unterdrücken. Wenn man bedenkt, dachte Andrej, was er gerade durchgemacht hat und wie schwer er verletzt ist, dann hält er sich sehr tapfer. Aber er vermochte nicht vorauszusagen, wie lange diese Kraft noch vorhalten würde.

»Ich bringe Euch jetzt ins Lager«, sagte er. »Ich werde versuchen, Euch nicht weh zu tun, aber ich kann es nicht versprechen.«

Er wollte gerade seine Arme unter Flocks Körper schieben, als der junge Priester fast erschrocken den Kopf schüttelte. »Ich kann gehen«, behauptete er. »Helft mir nur, aufzustehen.«

»Das ist keine gute Idee«, sagte Andrej ernst. »Ihr habt eine Menge Blut verloren, und ich weiß nicht, welche Verletzungen Ihr darüber hinaus erlitten habt. Lasst mich Euch tragen. Es macht mir nichts aus.«

Doch Flock blieb bei seiner Weigerung und setzte sich umständlich auf, wie um seine Behauptung unter Beweis zu stellen. »Es geht schon«, murmelte er. »Helft mir auf, das ist alles.«

»Aber -«

»Ich bitte Euch, Andreas, erspart mir diese neuerliche Demütigung«, murmelte Flock. »Es sind doch nur wenige Schritte.«

Andrej zögerte, entschied dann aber zu tun, was Flock verlangte. So stand er auf, ergriff die Hand des Paters und zog ihn unsanfter in die Höhe als nötig. Flock keuchte vor Schmerz und wäre sofort wieder gestürzt, hätte Andrej nicht rasch mit der anderen Hand zugegriffen. Erneut schüttelte Flock unwillig den Kopf und blieb schwer atmend stehen, bis er wieder halbwegs zu Kräften gekommen war.

Andrej verschränkte die Arme vor der Brust, und sowohl das, was er sah, als auch sein Verstand sagten ihm, dass er sich diesen jungen Narren wie einen Sack Kartoffeln über die Schulter werfen und ins Lager tragen sollte, egal, wie laut Flock auch protestierte. Stattdessen legte er sich lediglich den Arm des Geistlichen um die Schultern und setzte sich langsam in Bewegung. Flock humpelte neben ihm her und stöhnte bei jedem Schritt, fand aber dennoch die Kraft, einen Fuß vor den anderen zu setzen und sich nicht einmal übermäßig Schwer auf Andrej zu stützen.

Sie verließen den Wald und bewegten sich in gerader Linie auf das Zigeunerlager zu, das keine hundert Schritte entfernt war. Zweifellos musste man sie im selben Moment entdeckt haben, in dem sie aus dem Schutz der Bäume getreten waren, doch niemand kam ihnen entgegen, und auch sonst änderte sich nichts am gewohnten Anblick des aus Wagen und Zelten zusammengestellten Lagers.

Andrej fragte sich, ob Abu Dun bereits dort eingetroffen war, vermutete aber das Gegenteil. Wie er den Nubier einschätzte, war der mitnichten auf kürzestem Wege zurückgegangen, sondern hatte sich erst in die entgegengesetzte Richtung gewandt, um die Pferde zu holen, und vermutlich würde es ihm sogar gefallen, möglichst lange für den Weg zu brauchen, ja, vielleicht sogar erst nach ihnen dort einzutreffen.

Sie hatten gut die Hälfte der Strecke zurückgelegt, als Flock heftig die Luft zwischen den Zähnen einsog und ihn bat, einen Moment stehen zu bleiben. Andrej tat schweigend wie ihm geheißen. Er war das Theater gründlich leid. Sicher, angesichts seines Zustandes hielt sich Flock besser als er erwartet hätte, aber der Moment, in dem Tapferkeit in Unvernunft umschlug, war fast erreicht. Und auch wenn er Flock nicht besonders ins Herz geschlossen hatte, würde er doch nicht tatenlos zusehen, wie dieser junge Narr ein Opfer seines Stolzes wurde.

»Ich brauche nur ... eine Minute«, stammelte Flock. »Ich habe Schmerzen.«

»Ihr haltet Euch gut«, antwortete Andrej fast gegen seinen Willen.

»Ihr seid ein Schmeichler, Andreas, aber ich weiß es zu schätzen«. Flock versuchte ein Lächeln, das gründlich misslang.

Andrej schüttelte heftig den Kopf. »Ich meine das ernst«, sagte er. Und in diesem Moment war es auch die Wahrheit. »Ich habe härtere Männer als Euch unter weniger zusammenbrechen sehen. Ruht Euch nur einen Moment aus.«

»Das werde ich«, versprach Flock. »Aber ich ... ich habe aus einem anderen Grund um diese Pause gebeten.«

»Ja?«

Flock wich seinem Blick aus als er weitersprach, und er rang sichtlich um die rechten Worte. »Euer muselmanischer Freund, Andreas.«

»Abu Dun.«

»Abu Dun, ja.« Flock nickte. »Er hatte Recht.«

»Womit?«

»Ich war nicht zufällig dort im Wald. Und ich habe mich natürlich auch nicht verirrt.«

»Sondern?«

»Ich bin ... ich habe absichtlich einen Umweg gemacht«, gestand Flock. »Ich wollte euer Lager beobachten, bevor ich es betrete. Ich ... ich dachte, dass ich vielleicht irgendetwas sehe.«

»Irgendetwas?«

Flock schien sich unter seinem Blick regelrecht zu winden, und Andrej spürte, dass ihm das, was er zu sagen hatte, mindestens ebenso große Qual bereitete wie seine körperlichen Schmerzen. »Es ist... etwas geschehen. Heute Nacht.«

»Und was?«

Flock atmete schwer ein, bracht irgendwie die Kraft auf, Andrej einen Moment lang in die Augen zu blicken, und starrte dann unbehaglich abwechselnd vom Boden zum Waldesrand. Andrej vermutete, dass es ihm gleich war, wohin er seinen Blick lenkte, Hauptsache, nur nicht auf das Lager der Sinti. »Diese Leute, Andreas«, begann der Geistliche schließlich.

»Wie gut kennt Ihr sie?«

Andrej trat einen halben Schritt zurück, sodass Flocks Hand von seiner Schulter rutschte, hielt den Arm jedoch ausgestreckt, falls der Geistliche zu stürzen drohte. Seine Augen wurden schmal. »Warum fragt Ihr mich das?«, wollte er wissen und schnitt Flock mit einer Handbewegung das Wort ab, bevor dieser antworten konnte. »Ihr erzählt mir, dass Ihr Euch an das Lager angeschlichen habt, um diese Menschen zu belauschen, und wollt nun von mir etwas über sie erfahren?«

»Wie gut kennt Ihr sie?«, wiederholte Flock. »Immerhin besser als Euch«, antwortete Andrej. »Nicht besonders gut. Aber gut genug, um zu wissen, dass sie Abu Dun und mich aufgenommen haben, ohne Fragen zu stellen, dass sie freundlich zu uns sind, und dass sie niemandem ein Leid zugefügt haben, jedenfalls nicht, solange ich bei ihnen bin.« Es fiel ihm schwer, Ruhe zu bewahren. Flocks Worte machten ihn wütend. Er schuldete diesem Mann nichts. Die Kirche, in deren Diensten er stand, hatte seine Familie ausgelöscht, jeden getötet, den er gekannt, alles vernichtet, was er besessen und geliebt hatte. Und niemand an seiner Stelle wäre wohl in der Lage gewesen, einem Mann, der das Büßergewand trug, unvoreingenommen gegenüberzutreten. Aber Flocks Worte weckten nicht nur Zorn in ihm, sondern ein Gefühl, das an Hass grenzte. Er verstand selbst nicht, warum.

»Ihr und Euer Freund seid anders als diese Leute«, sagte Flock. Er schwankte leicht, und Andrej war mit einem raschen Schritt wieder bei ihm, als ihm klar wurde, dass Flock die Kräfte jetzt immer schneller verließen.

Vielleicht war es ein Fehler. Mit einem Mal war er dem Geistlichen so nahe, dass er nicht nur seinen sauren Schweiß und die Angst riechen konnte, sondern auch das Blut, das noch immer aus den beiden Platzwunden an seinem Kopf sickerte und auch den groben Stoff seiner Kutte über dem rechten Oberschenkel tränkte. Ein bitterer, metallischer Geruch, der ihn an unzählige überstandene Kämpfe und Schlachten erinnerte, der aber auch etwas anderes in ihm wach rief; eine uralte, unstillbare Gier, der düstere Teil seines Erbes, den zu ergründen er hierher gekommen war, und den er so tief in den finstersten Abgründen seiner Seele eingesperrt zu haben geglaubt hatte, dass er ihn manchmal schon zu vergessen begann. Aber er war da, nicht sehr stark, nicht einmal verlockend, aber er war da, und er würde immer da sein.

Andrej vertrieb den Gedanken hastig und fragte lauter und - wie er hoffte - in sachlicherem Ton: »Was wollt Ihr von mir, Pfaffe?«

Wenn Flock die Beleidigung überhaupt gehört hatte, so ignorierte er sie. »Vielleicht will ich nur wissen, mit wem ich es zu tun habe«, antwortete er. »Ihr seid nicht der Mann, der zu sein Ihr vorgebt, Andreas. Euch umgibt ein Geheimnis. Ein großes und düsteres Geheimnis.«

»Ach?«, fragte Andrej spöttisch. »Ist das so? Nun, vielleicht habt Ihr Recht, vielleicht redet ihr aber auch Unsinn. Und selbst, wenn Ihr Recht haben solltet - wer sagt Euch, dass es ein Geheimnis ist, das Ihr kennen wollt? Vielleicht sind Abu Dun und ich ja Späher der Türken, die ausgeschickt wurden, um einen Überfall der Muselmanen vorzubereiten. Oder wir sind gemeine Mörder und Diebe, die auf der Suche nach neuen Opfern sind. Oder auch Dämonen, die Euch und allen braven Bürgern in dieser Gegend nach der Seele trachten?«

Flock blieb ernst. Er sah Andrej einen Moment lang durchdringend, aber auf so sonderbare Weise an, dass ihm ein kalter Schauer über den Rücken lief. »Ihr seid kein schlechter Mensch, Andreas«, sagte er. »Ich weiß nicht, was Ihr seid, geschweige denn, wer, aber Ihr seid nicht böse.«

»Woher wollt Ihr das wissen?«

»Weil ich in die Seelen der Menschen blicken kann«, erwiderte Flock. »Ich weiß, ob mich ein Mensch belügt oder ob er die Wahrheit sagt, ob er gut oder schlecht ist. Und Ihr seid nicht schlecht.«

»Oh, das wisst Ihr?«, fragte Andrej spöttisch. »Sagt, lernt das bei der Priesterweihe, oder erhält man diese Fähig-zwangsläufig, sobald man erstmals die Kutte überstreift?«

Flock schüttelte matt den Kopf. Er wirkte nicht verletzt, sondern nur ein wenig traurig. »Das war nicht nur so dahergesagt, Andreas«, sagte er. »Ich kann in die Seelen der Menschen blicken. Ich konnte es schon immer, bereits als Kind. Früher hat mich diese Fähigkeit verwirrt, später habe ich sie als Segen angesehen und noch später als Fluch. Sie ist der Grund, aus dem ich in den Orden eingetreten bin.«

Andrej verfügte zwar nicht über diese besondere Gabe, aber er hatte eine Menge anderer Fähigkeiten, die die Sinne eines normalen Menschen weit in den Schatten stellten, und die es ihm im Allgemeinen ebenso sicher wie Flock ermöglichten zu sagen, ob sein Gegenüber ihn belog oder nicht. Und zumindest in diesem Moment hatte er das sichere Gefühl, dass Flock die Wahrheit sprach; wenn er log, dann tat er es entweder meisterhaft, oder er wusste nicht, dass er log. Behutsam tastete er mit seinen Vampyrsinnen nach dem Geist des jungen Ordensbruders, aber da war nichts, was nicht da sein sollte. In einem Anflug von schlechtem Gewissen verscheuchte er den Gedanken: ein Wesen wie er selbst im Büßergewand? Das war absurd.

»Und als was nehmt Ihr diese Gabe heute?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht«, gestand Flock. »Manchmal erleichtert sie die Dinge, aber zumeist macht sie alles schwieriger. Menschen sind nicht für die Wahrheit geboren, Andreas. Wir sind keine wahrhaftigen Wesen, wir wollen nicht immer die Wahrheit sagen, und wir wollen sie auch nicht immer hören.«

»Und wie kommt Ihr dann auf die Idee, dass ich Euch wahrheitsgemäß antworten würde - selbst wenn Ihr Recht hättet?«, fragte Andrej.

»Weil ich es wüsste, wenn Ihr lügt«, antwortete Flock einfach. »Auch wenn Ihr selbst es nicht genau wüsstet. Aber ich merke schon, Ihr wollt meine Frage nicht beantworten. Bitte verzeiht, dass ich sie überhaupt gestellt habe.« Er ächzte leise und schwankte. »Und nun, auch wenn es mir sehr peinlich ist ... könnten wir vielleicht noch einmal über Euer Angebot reden, mich den Rest des Weges zu tragen?«

Es verging fast eine Stunde bis Andrej - zusammen mit zwei jüngeren Frauen aus dem Lager - Flocks Wunden gesäubert und so weit versorgt hatte, dass er sich nicht mehr die bange Frage stellen musste, ob der junge Geistliche den Abend noch erleben würde.

Dennoch waren Flocks Verletzungen schlimmer als erwartet. Abgesehen von den zwei schweren Kopfwunden und den grässlichen Schnitten im Gesicht hatte der Priester mindestens zwei gebrochene Finger und ein schlimm verstauchtes Handgelenk. Zudem befanden sich in seinem rechten Oberschenkel mehr als ein Dutzend schmale, aber sehr tiefe Stichwunden, die heftig bluteten. Wie durch ein Wunder hatte die Klinge des Jungen die Hauptschlagader nicht durchtrennt, sodass Flock nicht in Gefahr war zu verbluten. Auch die übrigen Wunden erwiesen sich als schmerzhaft und schwer - einige würden Wochen brauchen, um zu verheilen -, aber keine von ihnen war für sich gesehen wirklich lebensgefährlich. Allerdings wagte Andrej nicht, sich auch nur vorzustellen, was passiert wäre, wären Abu Dun und er auch nur einen Augenblick später am Ort des Geschehens eingetroffen.

Obwohl er sehr vorsichtig gewesen war und ihm die beiden jungen Frauen geschickt zur Hand gegangen waren, hatte er Flock zusätzliche Schmerzen zugefügt; zwei oder drei Mal so arg, dass der Pater gellend aufgeschrien hatte und man ihn vermutlich noch im Dorf hatte hören können. Doch als Andrej sich schließlich von Flocks Lager erhob und ihm riet, nun ein paar Stunden zu schlafen, um wieder zu Kräften zu kommen, schüttelte der Mann nur heftig den Kopf und versuchte sogar sich aufzurichten.

»Dazu ist keine Zeit«, sagte er. »Ich muss mit dem Oberhaupt dieser Familie sprechen.«

»Mit Laurus?«

»Ich weiß seinen Namen nicht. Wenn er es ist, ja.«

»Ich glaube nicht, dass das eine so gute Idee ist«, sagte Andrej. »Ihr habt eine Menge Blut verloren und seid schwach.«

»Das mag sein, aber es ist wichtig. Ich werde schon nicht in Ohnmacht fallen.«

»Das meine ich nicht«, sagte Andrej. »Glaubt mir, ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Manchmal ist es besser, in einem Zustand wie Eurem nicht zu reden.«

»Es ist aber wirklich wichtig«, beharrte Flock. »Nicht für mich. Für diese Leute hier. Und vielleicht auch für Euch, Andreas.«

Andrej resignierte. Flock würde nicht nachgeben, und vielleicht war das, was er zu sagen hatte, ja wirklich wichtig. So erhob er sich und sagte: »Ich werde mit ihm reden. Aber ich kann nicht versprechen, dass er überhaupt mit Euch sprechen will.«

»Richtet ihm aus, es geht um heute Nacht«, sagte Flock. »Um den Müller und das, was nach Eurem Besuch geschehen ist.«

»Nach unserem Besuch?«, fragte Andrej alarmiert. »Was soll denn da passiert sein?«

»Das würde mich auch interessieren«, sagte eine Stimme hinter ihm.

Andrej fuhr erschrocken herum und fand sich Aug' in Aug' mit Laurus. Das Oberhaupt der Sinti-Familie hatte das Zelt betreten ohne dass er es mitbekommen hatte, und Andrej fragte sich erschrocken, wie lange er wohl schon dagestanden und ihnen zugehört hatte. Und dann wurde ihm klar, dass Laurus' Frage viel weniger Flock als ihm gegolten hatte.

»Nichts ist passiert«, sagte Andrej. »Elena und ich sind wieder zurückgeritten, das ist alles.«

Laurus maß ihn mit einem durchdringenden, auf unangenehme Weise wissenden Blick, dem Stand zu halten Andrej ausgesprochen schwer fiel. Wenngleich er in gewissem Sinne die Wahrheit gesagt hatte - zumindest, was den Müller anging... »Ihr habt Andreas gehört, Vater«, sagte Laurus kühl. Er maß den jungen Geistlichen mit einem langen, doch mitleidlosen Blick, der vor allem seinen diversen Verbänden zu gelten schien. Flock war nackt bis auf einen Lendenschurz und eine dünne Halskette mit einem silbernen Kreuz, zugleich aber mit so vielen Bandagen umwickelt, dass er fast schon wieder angezogen wirkte.

»Ihr wisst es nicht?«, fragte Flock.

»Dann würde ich nicht fragen«, antwortete Laurus. Sein Gesicht umwölkte sich. »Vater, wenn Ihr etwas zu sagen habt, dann sagt es. Wenn nicht, dann verzeiht, aber wir haben noch viel zu tun. Ich habe einen Wagen vorbereiten lassen, der Euch in die Stadt bringt. Dort kann man Euch besser versorgen als hier.«

Selbst für einen Mann wie Laurus waren das Worte von ausgesuchter Unhöflichkeit. Und sie waren zudem nicht besonders klug. Flock war zwar kein Kardinal, vielleicht nicht einmal ein richtiger Priester, und er war jung genug, um Laurus' Enkel sein zu können - aber sie lebten in einer Zeit und in einem Land, in dem das Gewand eines Mannes oft mehr zählte als der Mann selbst. Andrej konnte nicht verstehen, warum Laurus den Geistlichen so brüskierte.

»Handmann war heute Morgen bei mir, noch vor Sonnenaufgang«, begann Flock. »Ihm ist ein großes Unglück widerfahren. Fast seine gesamten Mehlvorräte und alles Korn wurden vernichtet.«

»Was ist passiert?«, fragte Laurus. »Ein Brand?«

»Ratten«, antwortete Flock. »Ratten sind über seine Mühle hergefallen.«

Andrej starrte ihn überrascht und erschrocken zugleich an, und er erschrak ein weiteres Mal, als er sah, dass Flock bei diesen Worten nicht Laurus sondern ihn angesehen hatte. Ratten?

»Das ist bedauerlich«, sagte Laurus. »Aber nach allem, was mir mein Weib über diesen Müller erzählt hat, war er wohl ein ziemlich unbeherrschter Mann und nicht sehr klug. Vielleicht war er zudem auch nicht sehr reinlich. Wenn man sein Haus nicht in Ordnung hält, dann kommen die Ratten gern.«

»So etwas ist aber noch nie passiert«, sagte Flock.

»Irgendwann ist immer das erste Mal«, erwiderte Laurus kühl. »Worauf wollt Ihr hinaus? Dass wir diesen Dummkopf von Müller verhext haben? Sagt es ruhig.«

Andrej sog scharf die Luft ein Hatte Laurus den Verstand verloren?

»Nun, ich war dabei«, sagte Flock. »Gestern Nacht, als Andreas dem Handmann mehr Geld geboten hat, damit er ihm Mehl verkauft. Der Müller hat gesagt, eher würde er seine Vorräte an die Ratten verfüttern, bevor er Euch auch nur einen Scheffel davon überlässt.«

»Nun, dann ist sein Wunsch ja wohl in Erfüllung gegangen«, meinte Laurus. »Manchmal sollte man seine Wünsche eben mit Bedacht äußern.«

»Aber ich bitte Euch, Bruder Flock«, mischte sich Andrej hastig ein und eigentlich nur, um zu verhindern, dass Laurus sich um Kopf und Kragen redete »Ihr seid doch ein vernünftiger Mann. Ihr wart dabei, genau wie ich. Ihr könnt doch nicht allen Ernstes an diesen Unsinn von Hexen und Flüchen glauben, den Handmann von sich gegeben hat.«

»Natürlich nicht«, sagte Flock. »Ich denke nicht so wie dieser Müller und die vielen anderen. Wäre es so, dann wäre ich nicht hier.«

»Und warum seid Ihr dann hier?«, fragte Laurus.

»Weil etwas vorgeht«, antwortete Flock. »Weil etwas Schlimmes passiert ist, und weil ich nicht will, dass noch Schlimmeres passiert, weder den Menschen in der Stadt noch Euch.«

»Wir können ganz gut auf uns selbst aufpassen«, sagte Laurus eisig. »Und für das Wohl Eurer Schäfchen seid ja wohl Ihr verantwortlich.« Er wies auf Andrej. »Andreas wird Euch zurück in die Stadt bringen. Doch zuerst muss ich mit ihm sprechen. Ihr entschuldigt uns.«

Er fuhr auf dem Absatz herum und bedeutete Andrej, ihm nach draußen zu folgen. Kaum hatten sie das Zelt verlassen und sich ein paar Schritte außer Hörweite begeben, da riss Andrej Laurus derb an der Schulter herum.

»Seid Ihr von Sinnen?«, herrschte er den Sinti an. »Habt Ihr nicht gehört, was der Priester erzählt hat?«

»Mich würde viel mehr interessieren, was du zu erzählen hast, Andreas«, antwortete Laurus. »Was ist gestern Abend wirklich passiert?«

»Nichts, was ich Euch nicht schon berichtet hätte«, erwiderte Andrej. »Es war alles genau so, wie ich gesagt habe. Und Euer Weib Elena vermutlich auch.«

»Von der Geschichte mit den Ratten, an die der Müller sein Mehl lieber verfüttern wollte, habt Ihr nichts gesagt.«

»Weil das alles Unsinn ist«, antwortete Andrej. »Dieser Handmann ist ein Dummkopf. Er hat einfach irgendwas gesagt, um Elena und mich zu verletzen.«

»Und danach?«, fragte Laurus. »Seid ihr wirklich sofort und auf dem kürzesten Weg nach Hause geritten?« Es wäre ein Einfaches gewesen, zu lügen. Andrej war davon überzeugt, dass Elena ihrem Mann die bekannte Version der Geschichte erzählt hatte, und auch, dass es genau das war, was Laurus in diesem Moment von ihm hören wollte. Aber es wäre falsch gewesen, jetzt die Unwahrheit zu sagen. »Vielleicht nicht auf dem kürzesten Weg und auch nicht sofort«, sagte er daher.

Laurus' Gesicht zeigte keinerlei Regung. »Sondern?«

»Elena ist in den Wald gelaufen. Sie war wütend über das, was Handmann gesagt hatte. Ich habe eine Weile gebraucht, um sie zu finden und zu beruhigen.«

»Und?«

»Nichts, und«, erwiderte Andrej gereizt. »Wir haben geredet und am Schluss hat sie sich beruhigt, und wir sind zurückgeritten.«

»Und sie hat mit niemandem sonst gesprochen?«

»Nur mit den Bäumen.« Andrej lachte auf. »Nein. Außer uns war niemand da.«

»Dann gibt es ja auch nichts, worüber wir uns den Kopf zerbrechen müssten«, meinte Laurus. »Und jetzt geh und bring diesen Pfaffen zurück in die Stadt. Nicht, dass er uns am Ende noch hier verblutet und man uns die Schuld dafür gibt. Und beeil dich. Wir haben heute Abend viel Arbeit.«

Während der guten Stunde, die er im Lager gewesen war, hatte sich Abu Dun nicht ein einziges Mal blicken lassen. Dafür kam er Andrej nun entgegen, kaum, da dieser sein Gespräch mit Laurus beendet und sich auf die Suche nach irgendeinem Wagen machen wollte, mit dem er Flock zurück in die Stadt bringen konnte. Doch mehr noch; der Nubier präsentierte ihm just den dafür vorgesehenen Wagen, auf dessen Ladefläche bereits ein behelfsmäßiges Bett aus Decken und mit Stroh gefüllten Säcken hergerichtet worden war.

Laurus' Entschluss, Flock möglichst rasch loszuwerden, war offensichtlich doch nicht so plötzlich gefasst worden wie er angenommen hatte. Vielleicht war es nicht einmal sein Entschluss gewesen. Andrej bedachte Abu Dun mit einem erstaunten Blick, aber es war ihm ebenso wenig möglich, in seinem Gesicht zu lesen wie in dem des Sinti-Oberhauptes.

Dafür fiel ihm etwas anderes auf. Abu Dun hatte nicht nur den Wagen für den Transport des Verletzten vorbereitet, sondern auch sein und Andrejs Pferd am Ende des Gefährts festgebunden. Auf seine entsprechende Frage hin lachte der Schwarze nur und sah ihn fast mitleidig an. »Willst du etwa den Leuten in der Stadt erklären, was hier passiert ist?«, fragte er spöttisch. »Nur zu! Aber dann nimm auch gleich das Reisig für den Scheiterhaufen mit. Das verkürzt die Sache.«

Vermutlich übertrieb Abu Dun, aber wohl nicht so sehr, wie Andrej sich in diesem Moment einredete. Er war auch aus anderen Gründen nicht sicher, ob es eine gute Idee war, wenn sie beide zusammen aufbrachen, um Flock in die Stadt zu bringen - Abu Dun schien nicht in Stimmung für einen freundlichen Plausch, und Andrej seinerseits hatte gehofft, auf dem Rückweg noch einmal allein mit Flock reden und möglicherweise mehr über die Ereignisse der vergangenen Nacht erfahren zu können. Aber er sprach nichts von alledem aus, sondern kletterte zu Abu Dun auf den Kutschbock. »Wenn du schon so sehr um mein Wohl besorgt bist«, sagte er, »dann wird es dir sicherlich nichts ausmachen, unseren Gast aus dem Zelt zu tragen. Immerhin hatte ich ihn das ganze Stück vom Wald bis ins Lager am Hals. Jetzt bist du an der Reihe. Das ist nur gerecht.«

Abu Dun starrte ihn einen Moment lang verblüfft an, dann zog er eine Grimasse, sprang wortlos vom Wagen und verschwand mit weit ausgreifenden Schritten in dem Zelt, in dem der junge Geistliche lag. In der gleichen Sekunde wurde Andrej klar, dass er abermals einen Fehler begangen hatte. Der Nubier war nicht unbedingt für seine Rücksicht bekannt, und in der Stimmung, in der er sich augenblicklich befand, war es gut möglich, dass er seinen Zorn an Flock ausließ und ihn unsanfter auf den Wagen beförderte als nötig.

Seine Befürchtungen erwiesen sich als unbegründet. Vielleicht hatte Abu Dun seinen kühlen Verstand zurückerlangt, den Andrej in den letzten Tagen zu oft bei ihm vermisst hatte; vielleicht verbot es ihm aber auch der Stolz, seine Wut an einem Hilflosen auszulassen: Überaus vorsichtig trug der Araber den Geistlichen aus dem Zelt, bettete ihn auf die Ladefläche des Wagens und deckte ihn sogar zu, damit die erbarmungslose Sonne seine geschundene Haut nicht auch noch verbrannte. Andrej ergriff die Zügel und ließ den Wagen anrollen, sodass Abu Dun gezwungen war, einen kurzen Spurt einzulegen, um dann mit einer alles andere als eleganten Bewegung zu ihm auf den Bock zu springen - was Andrej einen wütenden Blick des Nubiers einbrachte. Und damit war es dann auch gut mit den kleinen Schikanen. In eisigem Schweigen legten sie den Weg in die Stadt zurück. Und auch Andrejs Enttäuschung, nun doch nicht mehr mit Flock reden zu können, erwies sich im Nachhinein als grundlos. Der junge Prediger verlor zwar nicht das Bewusstsein, versank aber in einen Dämmerzustand, in dem er bisweilen den Kopf hin und her warf und unverständliche Worte stammelte. Als die ersten Häuser der Stadt in Sichtweite kamen, brachte Andrej den Wagen zum Stehen, reichte die Zügel wortlos an Abu Dun weiter und stieg nach hinten auf die Ladefläche, um Flock sanft wachzurütteln.

Er brauchte eine Weile, um den Geistlichen aus seinem Fieberwahn zu reißen. »Wir sind fast da«, sagte er. »Wie geht es Euch?«

Flock blinzelte. Seine Augen waren trüb, und jetzt, wo das Blut von seinem Gesicht gewaschen und die schlimmsten Wunden versorgt waren, sah er fast noch schrecklicher aus. Und dieser Anblick ist nichts gegen den, den er morgen oder gar in zwei oder drei Tagen bieten wird, dachte Andrej schaudernd. Die kreuzförmigen Schnitte auf Flocks Wangen waren dick angeschwollen und begannen sich offensichtlich zu entzünden. Er fieberte stark, und als Andrej nach seinem Handgelenk griff, registrierte er erschrocken, wie schnell sein Puls ging.

Trotzdem schüttelte Flock auf seine Frage hin den Kopf und setzte sich mühsam auf. »Es geht«, sagte er. »Ihr und Euer Freund habt gut für mich gesorgt.«

»Glaubt Ihr, Ihr schafft den Rest des Weges allein?«, fragte Andrej. Bevor Flock antwortete, drehte er mühsam den Kopf und fuhr sich mit seiner dick bandagierten Linken über die Augen, als könne er nicht klar sehen. Schließlich nickte er, aber es wirkte nicht besonders überzeugend. Vielleicht war Abu Duns Idee, so einleuchtend sie im ersten Moment geklungen hatte, doch nicht so gut gewesen. Wenn sie den schwer verwundeten Geistlichen persönlich in die Stadt brachten, würden sie eine Menge unangenehmer Fragen beantworten müssen - bestenfalls. Aber es war auch keinen Deut besser, ihn allein auf den Kutschbock zu setzen, wenn die Pferde hernach erst am Ende der Stadt zum Stehen kamen, weil die Zügel in den Händen eines Toten lagen.

»Vielleicht sollten wir Euch doch bis in die Stadt begleiten«, sagte er.

Diesmal wirkte Flocks Kopfschütteln fast panisch, und es kam auch deutlich schneller. »Nein!«, sagte er. »Macht Euch keine Sorgen. Ich werde allen erklären, was passiert ist. Aber im Augenblick ist es besser, wenn Ihr nicht in meiner Nähe seid.«

So unwohl sich Andrej dabei fühlte, er musste zugeben, dass Flock Recht hatte. Während Abu Dun bereits vom Wagen sprang und nach hinten eilte, um ihre Pferde loszubinden, half er Flock, sich umständlich aufzurichten und noch umständlicher auf den Kutschbock zu klettern. Die Hände des Geistlichen waren so dick bandagiert und angeschwollen, dass er Mühe hatte, die Zügel zu halten, und Andrej kamen erneut Zweifel an ihrem Vorhaben. Aber Flock ließ die Pferde antraben, noch bevor Andrej eine entsprechende Bemerkung machen konnte. Langsam setzte sich der Wagen in Bewegung. Obwohl die Straße hier bereits gut gepflastert war, schwankte der Priester auf dem ungepolsterten Kutschbock heftig hin und her. Andrej trat einen Schritt zurück und blieb dann reglos am Straßenrand stehen, bis sich das Fuhrwerk den ersten Häusern näherte. Erst, als er ganz sicher war, daß Flock die Stadt aus einer Kraft erreichen würde, ging er zu Abu Dun zurück und schwang sich in den Sattel. Der Nubier wollte sein Pferd auf der Stelle wenden und losreiten, aber Andrej verharrte abermals auf der Stelle.

»Worauf wartest du?«, fragte Abu Dun. »Mach dir keine Sorgen um deinen neunen Freund. Seine Schäfchen werden sich schon um ihn kümmern.«

Andrej dachte nicht daran, auf Abu Duns spöttische Worte einzugehen. Er warte erneut einige Minuten bis das Fuhrwerk mit seinem in sich zusammengesunkenen Lenker zwischen den ersten Gebäuden verschwunden war, dann griff auch er nach den Zügeln, dirigierte sein Pferd aber nicht in die Gegenrichtung, sondern herunter von der Straße, nach Osten.

»Was hast du vor?«, wollte Abu Dun wissen.

Andrej hatte wenig Lust zu antworten, aber das wäre nur Öl aufs Feuer gewesen, und schließlich hatte er sich fest vorgenommen, dieses kindliche Hickhack zu beenden - oder die Sache zumindest nicht noch weiter anzufachen. »Ich reite noch mal zur Mühle«, sagte er. »Ich will wissen, was da passiert ist.«

»Welche Mühle?«

»Lass den Unsinn, Sklavenhändler«, sagte Andrej entnervt. »Und erzähl mir nicht, du hättest nicht gelauscht. Das wäre das erste Mal seit wir zusammen reiten.«

»Nicht das allererste Mal«, widersprach Abu Dun. Aber plötzlich lachte er. »Außerdem war es nicht nötig zu lauschen. Dein Christenfreund hat laut genug gesprochen. Ich hätte mir schon die Ohren verstopfen müssen, um ihn nicht zu verstehen.«

»Dann wirst du auch verstehen, warum ich dorthin will.«

»Vielleicht fiele es mir leichter, wenn ich wüsste, was gestern Abend wirklich passiert ist«, antwortete Abu Dun.

»Nichts«, sagte Andrej zum tausendsten Male. »Elena und ich haben geredet, das ist alles.«

»Ihre Brüder schienen da anderer Meinung zu sein.«

Andrej zuckte mit den Schultern und ließ sein Pferd weitertraben. »Dann haben sich ihre Brüder eben getäuscht«, sagte er. »Und jetzt komm. Beeilen wir uns lieber. Es ist ein ziemlicher Umweg, wenn wir an der Mühle vorbei reiten, und wie ich unseren Gastgeber kenne, fällt unser Abendessen aus, wenn wir nicht pünktlich zur Vorstellung kommen und unseren Auftritt verpassen ... Ganz davon abgesehen, dass Basons empfindliche Künstlerseele nicht wieder gut zu machenden Schaden erleiden könnte.«

Er hatte den Weg unterschätzt.

Obwohl sie schnell ritten, brauchten sie fast eine halbe Stunde, ehe sie den Wald erreichten, in dem Handmanns Mühle lag, und dann verging noch einmal eine schier endlose Zeit, in der sie auf dem schmalen, unebenen Waldweg entlang ritten und Andrej darauf wartete, dass endlich die Flügel der uralten Mühle über den Baumwipfeln auftauchten.

Ihm kam erst jetzt zu Bewusstsein, was für ein sonderbarer Ort ein Wald für eine Windmühle war - obwohl sie auf einer Lichtung und auf der Kuppe eines Hügels lag, hätte er sich auf Anhieb ein Dutzend Flecken in der Umgebung vorstellen können, an denen eine Mühle besser platziert gewesen wäre. Aber dieser ganze Wald war ohnehin ... seltsam. Gestern Abend, nach dem Streit mit Handmann und vor allem nach seiner unheimlichen Begegnung im Hain, hatte er diesen Eindruck auf seine überspannten Nerven geschoben, aber der Wald wirkte auch jetzt, im hellen Tageslicht, düster und abweisend, eine dunkle, scheinbar undurchdringliche Mauer, die sich zu beiden Seiten des Weges erhob und der etwas Abweisendes anhaftete, ohne dass er das Gefühl in Worte fassen konnte. Er lauschte aufmerksam in sich hinein, tastete mit seinen scharfen Raubtiersinnen in die Dunkelheit, die hinter dem Dickicht lag, doch diesmal spürte er keine Bedrohung, nichts, was Abu Dun und ihn belauerte, nichts, was nicht hier sein sollte. Aber auch das, was hier sein sollte, war nicht da.

Gestern Abend hatte Elena gesagt, dass sie manchmal mit den Bäumen sprach, aber wenn dem so war, hatte sie mit toten Bäumen gesprochen. Dieser Wald wirkte grün und saftig, aber jener Teil Andrejs, der stets wach war und nach Beute suchte, spürte genau, wie falsch dieser Eindruck war. Ja, Abu Dun, er selbst und die beiden Pferde waren die einzigen lebenden Kreaturen in weitem Umkreis.

Endlich tauchten die Windmühlenflügel über den Baumwipfeln auf, doch auch ihr Anblick brächte keine wirkliche Erleichterung. Gestern Abend, in der Dunkelheit, hatte er sie nur als Schatten wahrgenommen, nun aber sah er, dass sie, auch bei Tageslicht betrachtet, nicht mehr als ein Skelett waren. Etliche der großen Streben waren gebrochen, und die Stoffbespannung bestand nur noch aus Fetzen, die schon vor Jahren so vermodert gewesen sein mussten, dass sie unter ihrem eigenen Gewicht zerrissen waren.

»Und das ist deine Mühle?«, fragte Abu Dun zweifelnd. »Wie wird sie denn betrieben? Durch fromme Wünsche und Gebete?«

Andrej lächelte gequält und sah von einer Antwort ab. Vielmehr konzentrierte er sich weiter auf die Umgebung. Doch es blieb dabei: Soweit seine unsichtbaren Fühler auch tasteten, er fand keine Spur von Leben. Er sah und hörte den Wald, er konnte ihn riechen und schmecken und fühlen, aber gleichzeitig hätte er sich ebenso gut in einer der großen Wüsten aufhalten können, von denen Abu Dun ihm erzählt hatte. Es war unheimlich, und es machte ihm auf eine Art Angst, die er nicht in Worte fassen konnte.

Abu Dun verfügte zwar nicht annähernd über so scharfe Sinne wie er, doch auch er schien zu spüren, dass diesem Fleckchen Erde etwas Unheimliches anhaftete, denn er sah sich immer öfter nervös um, und seine Hand ruhte die ganze Zeit in Nähe des Schwertgriffes.

Die Beklommenheit wich auch nicht von ihnen, als sie die Mühle erreichten. Andrej hatte nicht angenommen, Handmann oder ein Mitglied seiner Familie hier anzutreffen - nicht nach dem, was Flock erzählt hatte. Aber immerhin hatte der Geistliche von Ratten gesprochen, von vielen Ratten, genug, um die gesamten Vorräte aufzufressen und den Müller und die Seinen in Lebensgefahr zu bringen. Doch in dem großen, düsteren Gebäude, das aus der Nähe betrachtet mehr denn je wie eine Ruine wirkte, regte sich nichts.

Wäre Andrej allein gewesen, wäre er jetzt vermutlich einfach weiter geritten. Aber hätte er es getan, dann hätte er Abu Dun erklären müssen, warum sie diesen Umweg gemacht und dann nicht einmal einen Blick in das Gebäude geworfen hatten - aber aus irgendeinem Grund scheute er davor zurück. Er wusste nicht, was hier vor sich ging. Er spürte nur, dass es etwas Düsteres und Gefährliches war und etwas ihm vollkommen Unbekanntes.

»Das also ist Handmanns Mühle?«, fragte Abu Dun, als sie abstiegen. Er legte den Kopf in den Nacken und musterte die verrotteten Flügel über ihnen. »Wer immer hier lebt, muss ja verrückt werden.«

Andrej schwieg dazu und schritt in Richtung Eingang. Die Tür, die gestern Abend so massiv und abweisend auf ihn gewirkt hatte, entpuppte sich bei Licht betrachtet als ebenso windschief und marode wie das ganze Gebäude, und sie war nicht einmal verschlossen, sondern stand einen Spalt breit offen. Andrej drückte sie auf, trat jedoch nicht ein, sondern blieb unter dem Türsturz stehen und ließ seine Sinne zum Einsatz kommen. Nur eine Sekunde später war er sicher, dass die Mühle völlig verlassen war. Dann und wann hörte er ein Knacken im Gebälk, das Rieseln von Staub; die üblichen Geräusche, die dieses alte schlafende Gebäude von sich gab. Aber Leben gab es hier nicht - keinen Menschen und auch keine Ratten.

Als er schließlich über die Schwelle trat und sich im Innern umsah, kam er nicht umhin, Abu Duns Einschätzung zu teilen. Hatte die Mühle schon von außen heruntergekommen gewirkt, war ihr Inneres nur mehr als bessere Ruine zu bezeichnen.

Die Behausung bestand aus einem einzigen großen Raum, dessen Decke von einer Reihe schon halb vermoderter Balken gestützt wurde und der Handmann und seiner Familie offenbar als Wohn-, Schlaf, und Arbeitsraum gedient hatte. Es gab drei Betten, die an der gegenüberliegenden Wand standen, einen wuchtigen Schrank mit geschnitzten Türen, der vor einem Menschenalter oder mehr einmal prachtvoll gewesen sein musste, einen Tisch und drei Stühle sowie einen aus Bruchstein gemauerten Herd. Der Rest des großen Raumes wurde von Gerümpel sowie Kisten und aufgestapelten Säcken eingenommen, die ausnahmslos leer und zum Großteil zerrissen waren. Obwohl der Raum unerwartet sauber war, roch die trockene Luft so durchdringend nach Mehlstaub, dass Andrej nur mit Mühe ein Husten unterdrücken konnte. An der rechten Wald, die als einzige fensterlos war, führte eine geländerlose Treppe in steilem Winkel nach oben.

»Ratten?«, fragte Abu Dun und strich nervös über seinen Schwertgriff. »Wenn du mich fragst, dann hat dein neuer Freund im Fieberwahn geredet. Hier sind keine Ratten.«

Andrej kratzte sich unschlüssig am Kopf. Dass hier keine Ratten waren, sah er selbst aber was den zweiten Teil von Abu Duns Behauptung anging war er nicht so sicher. Im Moment war kein Tier zu sehen, das stimmte, aber der scharfe, unverwechselbare Gestank dieser Nager hing noch immer deutlich in der Luft, selbst für Abu Duns nicht annähernd so scharfe Sinne deutlich genug, und je länger er sich umsah, desto mehr Spuren des Dramas, dass sich hier abgespielt haben musste, gewahrte er. »Vielleicht oben.«

Sie gingen zur Treppe. Andrej blieb noch einmal stehen, drehte sich im Kreis und sah sich ein letztes Mal aufmerksam um - doch es blieb dabei: Hier unten war nichts. Wenn die Tiere tatsächlich da gewesen waren, dann hatten sie ihr Zerstörungswerk beendet und waren wieder verschwunden. Aber irgendetwas sagte ihm, dass es nicht so einfach war ... Mit klopfendem Herzen sah er zu der schweren hölzernen Klappe hoch, zu der die Stiege empor führte. Dicht gefolgt von Abu Dun und unwillkürlich mit jeder Stufe langsamer werdend stieg er nach oben und drückte die Klappe mit den Schultern auf.

Auf der Galerie war der trockene, zum Husten reizende Mehlgeruch noch stärker, dafür waren die Lichtverhältnisse besser; der obere Teil der Mühle besaß zwar keine Fenster, aber die Wände und das Dach waren so löchrig, dass reichlich Sonnenlicht hereinfiel. Sie sahen sich um. Dicht hinter Abu Dun war ein Teil der Wand eingebrochen, sodass man einen guten Ausblick auf den Hügel und den gegenüberliegenden Waldrand hatte.

Darüber hinaus bot der Dachraum genau den Anblick, den er erwartet hatte: Ein Großteil der Fläche wurde von einem riesigen Mühlrad und dem nicht minder gewaltigen Gestänge, das es antrieb, samt der dazugehörigen Zahnräder eingenommen. Auf dem Boden lag eine gut fingerdicke Schicht aus festgetretenem Mehl und Korn. Andrej konnte Spuren darin erkennen, aber es waren nur die Abdrücke menschlicher Füße.

»So viel zu deiner Ansicht, Bruder Flock sei ein ehrlicher Mann«, konstatierte Abu Dun. »Wenn du mich fragst, so trägt die einzige Ratte, die seit Jahren hier war, ein braunes Büßergewand und ein Kreuz um den Hals.«

»Aber warum sollte er lügen?«, murmelte Andrej.

»Warum lügen Menschen?«, fragte Abu Dun mit einem Achselzucken zurück. »Um einen Vorteil zu erlangen? Um andere in ein schlechtes Licht zu rücken? Es gibt tausend Gründe.«

»Aber das wäre dumm«, sagte Andrej. Er weigerte sich immer noch zu glauben, dass Abu Dun womöglich Recht hatte. »Jeder, der hierher kommt, würde doch sehen, dass die Geschichte nicht stimmt.«

»Vielleicht hat er ja gar nicht bewusst die Unwahrheit gesagt«, überlegte Abu Dun. »Vielleicht wurde er ja seinerseits belogen.«

Andrej dachte einen Moment darüber nach, schüttelte dann bestimmt den Kopf. Er traute Handmann eine so ungeheuerliche Lüge durchaus zu, aber selbst der Müller besaß genug Verstand, um zu wissen, dass dieser Vorfall, sofern er ihn denn erfunden hatte, nicht einmal einer flüchtigen Überprüfung standhalten würde. Wenn es ihm allein darum ging, Elena und die Sinti der Hexerei zu beschuldigen, dann hätte er sich ein Dutzend überzeugendere Geschichten ausdenken können.

»Lass uns gehen«, sagte er. »Ich -«. Ihm stockte der Atem. Vor ihnen, kaum eine Armlänge entfernt, saß eine Ratte. Eine Ratte, die sich nicht vom Fleck rührte und die sie aufmerksam ansah.

»Was?«, fragte Abu Dun verständnislos. Dann folgte er Andrejs Blick und zog die Augenbrauen zusammen, als er den grauen Nager gewahrte, der noch immer reglos da hockte und die beiden Eindringlinge ohne die geringste Spur von Furcht zu mustern schien.

»Was ist los?«, fragte der Nubier. »Das ist nur eine Ratte. Eine einzige Ratte.«

»Ja«, murmelte Andrej, aber sie sollte nicht hier sein. Er hätte sein Augenlicht darauf verwettet, dass dieses Tier vor einer Sekunde noch nicht da gewesen war. »Irgendwas stimmt hier nicht«, sagte er. »Verschwinden wir!«

Abu Dun rührte sich nicht und sah eher überrascht als alarmiert aus. »Sag nicht, du hast Angst vor einer Ratte.«

Die ehrliche Antwort auf diese Frage wäre ein unverhohlenes »Ja« gewesen. Aber es war nicht wirklich die Ratte, die Andrej mit wachsender Furcht erfüllte. Es war das, was dieses Tier war. Eine Herausforderung. Sie hockte da wie ein höhnisches, Fell und Fleisch gewordenes Grinsen.

Als der Nubier keine Antwort erhielt, wandte er sich zur Treppe, um den Rückweg anzutreten. Mitten in der Bewegung jedoch erstarrte er und sog scharf die Luft ein. Andrej war sicher, dass nun auch hinter ihnen Ratten aufgetaucht waren, die ihnen den Rückzug versperrten. Langsam drehte er sich um.

Hoch aufgerichtet und der sprichwörtlichen Salzsäule gleich stand Abu Dun da und starrte durch das Loch im Dach nach draußen. Andrej war mit zwei schnellen Schritten bei ihm, und was er sah, ließ ihn gleichermaßen überrascht und erschrocken zurückweichen.

Der Platz vor der Mühle war nicht mehr leer. Auf der anderen Seite, jenseits des schmalen Waldweges, und auf den ersten Blick kaum sichtbar - wie Nebelgespenster, die in der Morgendämmerung aus dem Boden stiegen -, standen vier schlanke Gestalten. Sie waren zu weit entfernt, als dass Andrej ihre Gesichter hätte erkennen können, aber das war auch nicht nötig. Vollkommen reglos standen sie da, mit in den Nacken gelegten Köpfen, und Andrej konnte ihre Blicke spüren wie die Berührung unsichtbarer, heißer Hände; eine körperlose Berührung zwar, die aber trotzdem mit unbarmherziger Kraft nach ihm griff.

»So ist das also«, murmelte Abu Dun. »Aber diesmal entkommen sie mir nicht - und wenn es das Letzte ist, was ich tue.« Er zog den Säbel, fuhr herum - und konnte einen überraschten Aufschrei nicht unterdrücken.

Als Andrej ebenfalls herumwirbelte, erging es ihm nicht anders.

Zwischen ihnen und der Treppe waren weitere Ratten aufgetaucht. Es war gut ein Dutzend großer, struppiger Tiere, die sie auf ebenso unheimliche Weise und mit ebenso unnatürlicher Ruhe anstarrten wie die erste Ratte.

Und noch während Andrej begriff, dass nichts von alledem, was sie hier erlebten, Zufall sein konnte, hörte er ein Rascheln hinter sich, das Scharren krallenbewehrter Pfoten auf dem Boden, ein rasendes, hartes Trippeln, das die Wände herunterkam, und er war nicht überrascht, dass plötzlich hinter ihnen weitere Ratten aufgetaucht waren. Keines der Tiere machte Anstalten, sich ihnen auf weniger als Armeslänge zu nähern, aber sie zeigten auch keine Scheu, wie es die Nager für gewöhnlich in der Nähe der Menschen tun.

Und es wurden immer mehr. Der Raum füllte sich stetig - lautlos und rasend schnell.

»Vielleicht ist es wirklich eine gute Idee, von hier zu verschwinden«, sagte Abu Dun. Seine Stimme zitterte, und seine rechte Hand hatte sich fester um den Schwertgriff geschlossen. Dann warf er mit einem Ruck den Kopf in den Nacken und stieß ein entsetztes Keuchen aus. »Bei Allah!«

Die zerbrochene Decke, aber auch die Wände, die Trägerbalken, Zahnräder und das uralte Gestänge der Windmühle schienen plötzlich zum Leben erwacht zu sein, wogendes, pelziges, huschendes Leben, das nur Gier und sinnlose Raserei kannte.

Auf einmal waren sie überall: kleine, graue, struppige Körper - scharrende Krallen, schnuppernde Schnauzen, schwarz glänzende Äuglein und dünne, nackte Schwänze -, die jede Handbreit des Raumes zu bedecken schienen und immer noch mehr wurden.

Es war Andrej unmöglich, auch nur zu schätzen, wie viele Tiere es waren, die buchstäblich aus dem Nichts auftauchten. Auch der Boden war nun von Hunderten, wenn nicht Tausenden von Ratten bedeckt, die durcheinander huschten und über- und untereinander herkrochen.

Schon bildeten die Tiere einen undurchdringlichen, weniger als drei Schritte messenden Kreis, in dessen Zentrum Abu Dun und er standen, und der immer kleiner zu werden schien; nicht etwa, weil sich die Nager entschlossen hatten, sie anzugreifen, sondern weil ihre Zahl stetig zunahm und der Raum einfach nicht genug Platz bot. Wie Abu Dun griff auch er nach seiner Waffe, obwohl er wusste, wie wenig sie gegen diesen Feind auszurichten vermochte.

»Nicht bewegen«, flüsterte Abu Dun. »Ganz vorsichtig! Eine hastige Bewegung, und sie fallen über uns her.«

Nervös fuhr sich Andrej mit der Zungenspitze über die Lippen. Die Luft schien noch trockener geworden zu sein, und der Rattengestank war unerträglich und brannte bei jedem Atemzug wie Sand in seiner Kehle. Sein Herz klopfte unter dem Ansturm einer Furcht, gegen die er hilflos war. Diese Tiere waren ein ernst zu nehmender Gegner - er war weder vollkommen unverwundbar noch unsterblich, wie er erst vor wenigen Tagen schmerzhaft am eigenen Leib erlebt hatte. Wenn sie Abu Dun und ihn tatsächlich angriffen, dann standen ihre Chancen, lebend hier herauszukommen, mehr als schlecht.

Aber Ratten tun so etwas nicht. Geschichten von Ratten, die über Menschen herfielen und diese töteten oder gar auffraßen, gehörten ins Reich der Legenden. Wenn sie die Nerven behielten und keine unvorsichtige Bewegung machten, die die Tiere vielleicht dazu brachte, sie aus nackter Angst anzugreifen, dann kamen sie vielleicht unversehrt hier heraus. Andrej widerstand der Versuchung, sich noch einmal umzudrehen und zu den vier Kindern hinabzusehen. Wozu auch? Er wusste, dass sie noch dastanden und mit vor Hass brennenden Augen zu ihnen heraufstarrten.

Er bedeutete Abu Dun, vorsichtig loszugehen, und der Nubier machte einen ersten, zögernden Schritt in Richtung der offen stehenden Klappe, hinter der die Treppe nach unten führte.

Wider Erwarten versuchten die Tiere immer noch nicht, näher zu kommen, sondern sie schienen sogar instinktiv vor Abu Dun zurückweichen zu wollen, nur konnten sie dies nicht, weil es dafür einfach keinen Platz mehr gab.

Abu Dun machte einen zweiten Schritt und blieb wieder stehen. Er war jetzt nur noch ein winziges Stück von der Treppe entfernt, aber zwischen ihm und der ersten Stufe wuselten gut zwei Dutzend Ratten umeinander. Der Nubier zögerte, nahm dann aber allen Mut zusammen und machte einen weiteren Schritt. Dabei hob er den Fuß nicht an, sondern schleifte ihn über den Boden und versuchte so, die Ratten behutsam mit der Stiefelspitze zur Seite zu schieben. Einige der Tiere protestierten quiekend, andere versuchten gar, nach seinem Fuß zu schnappen, aber es war kein Angriff, sondern lediglich ein Reflex auf die Berührung.

Und dann, langsam, widerwillig, aber doch stetig, teilte sich die quirlige, braun-graue Masse, und Abu Dun atmete erleichtert auf. Mit dem nächsten Schritt stand er auf der obersten Treppenstufe, dann auf der nächsten, und die Ratten griffen noch immer nicht an.

»Komm!«, raunte der Nubier.

Die Aufforderung wäre nicht nötig gewesen. Andrej folgte ihm in zwei Schritten Abstand und ebenso vorsichtig. Er konnte kaum noch atmen. Der Rattengestank war übermächtig, und er spürte die Mischung aus Verwirrung, Angst und uralter unstillbarer Gier, die die Armee der geistlosen kleinen Räuber ausstrahlte wie ein schleichendes Gift, das sich in seine Seele fraß und seine Gedanken verpestete. Und da war noch etwas. Etwas, das ebenso böse und ebenso unstillbar war, aber das nicht hierher gehörte.

Trotzdem erreichte er die Treppe so unbehelligt wie Abu Dun vor ihm. Der Nubier hatte mittlerweile gut die Hälfte der Stufen hinter sich gebracht, blieb dann jedoch plötzlich stehen und richtete sich erschrocken auf, soweit die niedrige Decke über ihm dies zuließ.

Auch der Raum im Erdgeschoss war voller Ratten. Die schmutzig-graue Schicht aus festgetretenem Mehl war unter einem zweiten, lebenden Boden verschwunden. Doch sie bedeckten nicht nur den Boden, sondern wuselten über die Möbel, Fenstersimse und Deckenbalken und krochen hier und da in ihrer Not sogar an den nackten Wänden empor, bevor sie den Halt verloren und wieder in die brodelnde Masse aus grau-braunen Körpern zurückstürzten. Kurzum: Der Weg zur Tür war ihnen versperrt.

Abu Dun warf Andrej einen, fragenden Blick zu, den dieser ebenso stumm beantwortete. Sie hatten keine Wahl - sie mussten da durch. Vielleicht wiederholt sich das Wunder ja, dachte Andrej, und die Tiere lassen uns auch jetzt unbehelligt passieren ...

Das Wunder wiederholte sich nicht.

Zwar wichen auch hier die Tiere zunächst vor ihnen zurück und versuchten, eine Gasse zu bilden, aber ihre Zahl war einfach zu groß.

Andrej, der Abu Dun in vier oder Stufen Abstand folgte, bot sich ein schauderhafter Anblick, als der Nubier fast bis in Wadenhöhe in der wirbelnden, braun-grauen Masse verschwand, in der er sich quälend langsam auf die Tür zu bewegte. Mehrere Ratten versuchten, an seinem Gewand empor zuklettern. Etliche gaben es wieder auf oder verloren den Halt und fielen herunter, doch eines der Tiere schaffte es bis auf seine Schulter und blieb dort hocken - aufgeregt schnüffelnd und aus kleinen, tückischen Augen gierig in Abu Duns Antlitz starrend. Erstaunlicherweise widerstand Abu Dun dem nur zu menschlichen Impuls, das Tier abzuschütteln, aber Andrej konnte sehen, wie sich seine Haltung noch mehr verspannte. Der Nubier litt Todesangst.

Und auch ihm selbst erging es nicht anders, als er das Ende der Treppe erreichte. Wie Abu Dun versuchte er - unendlich langsam, um die Tiere nicht durch eine überhastete Bewegung zum Angriff zu provozieren - in Richtung Tür zu schlurfen, und wie dem Nubier vor ihm gelang es ihm, einen Teil des Weges zurückzulegen. Auch an seinen Beinen kletterten Ratten empor, gruben sich Krallen in seine Hosenbeine und sein Hemd, berührten bebende Barthaare seine Haut...

Ein Gefühl unbeschreiblichen Ekels ergriff von ihm Besitz, und es fiel ihm immer schwerer, den Impuls zu unterdrücken, sich einfach mit dem Schwert den Weg zur Tür freizuhacken. Abu Dun vor ihm zitterte mittlerweile am ganzen Leib und hatte den Krummsäbel so fest mit beiden Händen ergriffen, dass Andrej hören konnte, wie das Leder, mit dem der Griff der Waffe umwickelt war, knirschte.

Aber es war nicht der Muselman, der die Katastrophe auslöste.

Die meisten Ratten, die an Andrej hochgeklettert waren, hatten längst das Interesse an ihm verloren und waren wieder zu Boden gefallen oder gesprungen. Nur eines der Tiere blieb auf seinem Unterarm sitzen und schnüffelte neugierig an seiner Hand. Dann biss es zu.

Es tat nicht einmal besonders weh. Die winzigen scharfen Zähnchen ritzten seine Haut kaum, und aus der nicht einmal Fingernagel breiten Wunde quoll nur ein einziger, glitzernder Blutstropfen.

Doch dann versagten seine Nerven. Andrej schrie markerschütternd auf, warf sich zurück und schlug mit der linken Hand nach dem Nager. Plötzlich war er erfüllt von Angst, die stärker war als jede Vernunft oder Beherrschung. Seine Faust traf die Ratte und zerschmetterte ihr Rückgrat, sodass sie mit einem jämmerlichen Quieken davon flog und irgendwo in der wirbelnden Masse ihrer Artgenossen verschwand. Bestürzt sah Andrej mit an, wie die Tiere sogleich über den verletzten Bruder herfielen und ihn bei lebendigem Leibe zu zerreißen begannen.

Und dann, als ihm klar wurde, was er getan hatte, wich seine Bestürzung dem blanken Entsetzen.

Die Zeit schien stehen zu bleiben. Andrej taumelte zurück, während Abu Dun mit einem entsetzten Keuchen herumfuhr und dann noch einmal aufstöhnte, als er sah, was geschehen war, aber ihre Bewegungen schienen hundertfach langsamer abzulaufen als sie sollten. Es war, als hätte ein böser Zauber die Zeit gedehnt - vielleicht war es aber auch nur, weil Andrejs Gedanken rasten. Er wusste weder, warum er das getan hatte, noch, was sie jetzt tun sollten. Und für einen unendlich kurzen und doch zugleich scheinbar endlosen Moment klammerte er sich noch an die widersinnige Hoffnung, dass nichts geschehen würde, dass der Blutdurst der Ratten vielleicht bereits gestillt war.

Aber diese Hoffnung wurde nicht erfüllt. Ein dünner, aber tief gehender Schmerz schoss durch seinen linken Fußknöchel, und dann spürte er zahllose, harte Krallen, die sich durch den Stoff seiner Hose in seine Haut bohrten, an seinen Waden und Schienbeinen hochzuklettern begannen und an seinen Kleidern zerrten, spürte rasiermesserscharfe Zähne, die sich in seine Haut und das Fleisch darunter vergruben ... Und dann nahm er aus den Augenwinkeln eine Bewegung, so etwas wie eine träge Welle wahr, die sich in der schier ungeheuerlichen Masse auf sie zubewegte. In einer Mischung aus Panik und blinder Wut schüttelte Andrej die Tiere, die an ihm hochzuklettern versuchten, ab, trat um sich und verschaffte sich auf diese Weise tatsächlich eine Sekunde Luft; eine zweite, indem er sein Schwert schwang und die Klinge wie eine Sense durch die brodelnde, braun-graue Masse vor sich pfeifen ließ und dabei Glieder abtrennte, Rückgrate zerschlug, ganze Körper zerteilte und Dutzende grausamer Wunden hinterließ.

Durchdringender Blutgestank erfüllte den Raum, und plötzlich begannen die Ratten zu quieken - schrill, zornig, ängstlich, wie aus einem einzigen, gewaltigen Maul.

Andrej sah, dass auch Abu Dun seinen Säbel schwang und wie besessen um sich schlug, und er hörte, dass der Freund ihm irgendetwas zuschrie, konnte die Worte aber nicht verstehen, denn das Pfeifen und Quieken wurde immer lauter. Zugleich nahm die wellenförmige Bewegung in der Masse aus pelzigen Körpern zu, als türme sich hinter ihnen eine Flutwelle auf - eine Flutwelle aus Fell, Zähnen und Krallen, die sie zu überrollen und verschlingen drohte.

Längst blutete er aus einem Dutzend tiefer Wunden, und seine Hosenbeine hingen in Fetzen. Das Blut, das er roch, war schon längst nicht mehr nur das der Ratten, und immer mehr Tiere versuchten, an ihm hochzuklettern oder sprangen ihm auf Brust, Schultern und Rücken. Wie durch ein Wunder gelang es Andrej noch einmal, sich der tobenden Nager zu entledigen und sich mit einem gewaltigen Hieb ein wenig Raum zu verschaffen - wobei es weniger die Verheerung war, die sein Schwert anrichtete, als vielmehr die Tatsache, dass die Ratten wie besessen über ihre eigenen verwundeten Brüder und Schwestern herfielen, um sie bei lebendigem Leib aufzufressen.

Aber all das würde sie nicht retten. So deutlich, wie Andrej spürte, dass der Vampyr in ihm zu erwachen begann und die uralte Gier aus ihrem Gefängnis am Grunde seiner Seele ausbrach, so deutlich spürte er den animalischen Blutdurst, den er geweckt hatte, und der nun von all diesen ungezählten Ratten Besitz zu ergreifen begann. Nein, sie würden sich nicht damit zufrieden geben, ihre verwundeten Artgenossen aufzufressen, solange reichere Beute in der Nähe war ... Keuchend fuhr er herum, schlug eine Ratte beiseite, die sich in seinem Hals verbissen hatte und deren Zähne nach dem warmen Blut gruben, das sie unter seiner Haut witterte, schwang seine Klinge erneut und taumelte auf Abu Dun zu. Der Nubier stand wie durch ein Wunder noch immer aufrecht neben ihm, hackte, schlug und stieß mit dem Krummsäbel um sich und versuchte mit der anderen Hand, die Ratten abzuwehren, die in immer größerer Zahl und immer wütender an ihm empor zuklettern trachteten. Hände und Gesicht waren blutüberströmt, und auch der schwarze Mantel hing in Fetzen. Aus den Augenwinkeln sah Andrej, wie sich plötzlich auch die Treppe mit hastenden, struppigen kleinen Körpern füllte, als sich eine braun-graue Welle durch die Klappe in der Zimmerdecke zu ergießen begann.

»Abu Dun!«, schrie er. »Zu mir!«

Er war nicht sicher, dass der Nubier ihn verstand, ja, er war nicht einmal sicher, ob er die Worte überhaupt gerufen hatte. Dann aber trat der Nubier mit einem taumelnden Schritt hinter ihn, stellte sich Rücken an Rücken zu ihm, eine Position, in der sie unzählige Male gekämpft und überlebt hatten, und schwang mit wütenden Schreien den Krummsäbel nach der heranwogenden pelzigen Flut, doch selbst auf diese Weise würden sie diesen Wahnsinn nur noch wenige Augenblicke überleben.

Es gab nur noch eines, was er tun konnte. Andrej ließ das Schwert sinken, schloss die Augen und entfesselte die Bestie in sich.

Nie zuvor war es ihm so leicht gefallen, der tobenden Gier seiner dunklen Seite nachzugeben. Und nie zuvor war er so wenig sicher gewesen, ob er sie noch einmal bezwingen konnte, wenn es vorbei war.

Mit einem lautlosen Kreischen vor Wut und unstillbarer Gier brach sich das Ding in ihm schließlich Bahn, griff nach der Lebenskraft einer Ratte, die sich in Andrejs Gesicht verbissen hatte, und verschlang sie. Das Tier erstarrte mitten in der Bewegung und fiel von seiner Schulter wie von einem unsichtbaren Blitz getroffen. Es war nun nicht mehr als ein weicher, blutloser Klumpen, der den gierig schnappenden Klauen und Zähnen seiner Artgenossen entgegenstürzte, einen Sekundenbruchteil später gefolgt von einer zweiten, dann dritten, vierten, fünften - nur einen Moment, nachdem Andrej die Augen geschlossen und sofort wieder geöffnet hatte, waren sämtliche Ratten, die sich an ihm festgeklammert und - gebissen hatten, tot. Und nur einen halben Atemzug später auch jene, die an Abu Dun hingen, auf seinen Schultern hockten und an seinem Turban oder seinem Gesicht zerrten.

Und das war erst der Anfang.

Andrej war nicht immer ganz sicher gewesen, ob es ihm gelingen würde, die Seelen von Geschöpfen auszusaugen, die möglicherweise keine hatten. Er hatte bereits die Lebenskraft von Tieren genommen, eines Wolfes, der halb wahnsinnig vor Hunger über Abu Dun und ihn hergefallen war, eines Bären, in dessen Höhle sie leichtsinniger Weise zu übernachten versucht hatten - aber noch niemals die Essenz so niedriger Wesen, Geschöpfe, die nicht zu bewusstem Denken und Handeln, sondern nur zu instinktivem Töten und Vernichten im Stande waren. Doch er konnte es. Noch bevor die letzte Ratte zu Boden fiel, begannen die ersten Tiere zu seinen und Abu Duns Füßen zusammenzubrechen, dann immer mehr und mehr und mehr. Wie Kreise eines ins Wasser geworfenen Steins brach sich der Tod durch die grauen Nager, lautlos und rasend schnell. Nur einen Moment später standen sie bereits im Zentrum eines perfekten Kreises aus Rattenkadavern, der bereits das halbe Zimmer einnahm, und sich mit unheimlicher Lautlosigkeit weiter ausdehnte. Noch während Abu Dun mit einem unendlich erleichterten Seufzer sein Schwert fallen ließ und im nächsten Moment auf die Knie sank, erreichte er die Tür und auch die gegenüberliegende Seite des Zimmers, begann nach oben zu suchen und dort die Ratten auszulöschen, die auf die Möbel und Fenstersimse hinaufgesprungen waren, dann die Treppe, raste die Stufen hinauf, und obwohl sie weder etwas sahen noch hörten, spürte Andrej, dass das Töten auch dort oben seinen Fortgang nahm.

Alles in allem verging nicht einmal eine Minute, bis es in der gesamten Mühle kein Leben mehr gab. Andrej ließ sein Schwert fallen, brach in die Knie, und begann mit einem gequälten Stöhnen zur Seite zu kippen. Er wäre mit dem Gesicht voran in der Masse der toten Ratten gelandet, hätte Abu Dun sich nicht hastig herumgedreht und ihn aufgefangen. Der Nubier sagte irgendetwas. Seine Stimme zitterte und war voller Panik, aber Andrej verstand ihn nicht. Alles drehte sich um ihn. In seinen Ohren war ein dumpfes, an- und abschwellendes Dröhnen, nichts anderes als das Geräusch seines eigenen, rasenden Herzschlages, und er spürte noch immer das Nagen dieser grässlichen, roten Gier. Einen Hunger, der durch all das Blut und all das unreine Leben, das er gerade in sich aufgenommen hatte, nicht gestillt, sondern nur noch weiter angefacht worden zu sein schien. Etwas griff nach seinen Gedanken und begann sie zu verwirren. Plötzlich war es ihm unmöglich, den Worten, die Abu Dun von sich gab, irgendeinen Sinn abzugewinnen, wirklich zu begreifen, wer es war, der da hinter ihm stand und ihn festhielt und zugleich mit immer schriller werdender Stimme auf ihn einschrie und ihn an den Schultern rüttelte. Er hatte nicht nur das Leben der Ratten genommen, nicht nur ihre Lebenskraft der seinen hinzu gefügt, sondern auch etwas von dem, was das Wesen dieser Geschöpfe ausmachte. Plötzlich war sein Bewusstsein erfüllt von dunklen Instinkten, der Gier nach warmem Fleisch und salzigem Blut, nach Fortpflanzung und einem dunklen Ort, an dem er sich verbergen konnte, nach sinnloser Zerstörung und rasender Gewalt.

Mehr. Die Bestie in ihm hatte getrunken, aber ihr Durst war nicht gestillt. Sie verlangte nach mehr, unendlich viel mehr. Aber da war nichts. In einem einzigen Akt der Raserei hatte er jedes Leben in dieser Mühle ausgelöscht, eine brodelnde weiße Sonne, die die ruhig flackernde Kerze seiner eigenen Lebenskraft um ein Hundertfaches überstrahlte und zu verzehren drohte, aber die Gier war nicht gelöscht. Er brauchte mehr. Mehr Lebenskraft. Mehr Blut. Aber da war nichts mehr. Das einzige Leben, das es noch in dieser Mühle gab, war sein eigenes.

Und das Abu Duns.

Mit einem Ruck richtete er sich auf, fuhr in der gleichen Bewegung herum und schlug Abu Duns Arm zur Seite. Er sah, wie sich das Gesicht des Nubiers vor Überraschung und Schrecken verzerrte, aber auch das war nur ein Bild, ein Anblick ohne Bedeutung. Beute.

»Andrej! Was tust du?«

Auch Abu Duns Worte ergaben keinen Sinn mehr. Geräusche, Laute, die etwas Lebendes von sich gaben. Leben bedeutete Beute. Fressen bedeutete Überleben.

Andrej stöhnte hörbar. Irgendwo tief in ihm, unendlich schwach und hilflos, war noch ein winziger Rest seiner Menschlichkeit geblieben, ein Funke, der gegen den lodernden Weltenbrand der fremden Lebenskraft anzukämpfen versuchte, und dieser Funke klammerte sich verzweifelt fest, kämpfte mit übermenschlicher Gewalt und Willenskraft darum, der Gier nicht nachzugeben, dieses warme, pulsierende Leben da vor ihm nicht zu nehmen. Aber er war zu schwach. Der Vampyr triumphierte, erlebte den Moment, auf den er all die Jahre unendlich geduldig gewartet und hingearbeitet hatte. Erfüllt von einem unendlichen Entsetzen und einem Grauen, das die Grenze körperlichen Schmerzes erreichte und überschritt, spürte Andrej, wie das Ding in ihm abermals hinausgriff und mit eisigen Spinnenfingern nach Abu Duns Seele tastete, einer Mahlzeit, die so unendlich viel köstlicher und zufriedenstellender war als die Ratten zuvor. Abu Duns Augen weiteten sich. Er öffnete den Mund, wie um zu schreien, aber kein Laut kam über seine Lippen. Er stand wie erstarrt da, dann füllten sich seine Augen mit einer unvorstellbaren Angst - und mit einem Gefühl der Verwirrung und Enttäuschung, das vielleicht noch größer war. Und das ihm vielleicht das Leben rettete. So wie Andrej. Er wäre der Bestie nicht mehr Herr geworden. Wenn er jemals stärker als sein uraltes Erbe gewesen war, dann hatte er diesen Vorteil aufgegeben, als er zuließ, dass sich das Ding in ihm an einer Beute weidete, die ebenso düster und grausam war wie er selbst. Es war nicht mehr sein Wille, nicht mehr sein Gewissen, nicht mehr sein logisches, menschliches Denken, das ihm die Kraft gab, den Vampyr zu besiegen. Es war das, was er in Abu Duns Augen las. Andrej schrie wie unter unerträglicher körperlicher Pein auf, warf sich zurück und schlug beide Hände vor das Gesicht. Die unsichtbare Kralle, die nach Abu Duns Seele gegriffen und sich ihrer schon fast bemächtigt hatte, erstarrte, und dann ertönte in seinem Kopf ein zweiter, noch viel lauterer zorniger Schrei, das Brüllen der Bestie, die sich um ihr Opfer betrogen sah und sich in ihrer Wut gegen ihn wandte.

Aber es war zu spät. Andrej stürzte hilflos nach hinten, krümmte sich am Boden und schlug immer wieder mit beiden geballten Fäusten auf sein Gesicht und seine Stirn ein, wie um das Ding, das sich darin eingenistet hatte, auf diese Weise aus sich heraus zu prügeln, raffte das letzte bisschen Kraft, das er in sich fand, zusammen und drängte die Gier zurück.

Es gelang ihm. Abu Dun erzählte ihm später irgendwann einmal, dass es nur wenige Augenblicke gedauert hatte, aber für Andrej verging eine Ewigkeit, in der er durch die Hölle ging. Es war ein Ringen, das mit Worten nicht zu beschreiben war, der schlimmste und härteste Kampf seines Lebens; und vermutlich der letzte dieser Art, den er gewinnen konnte. Noch einmal, vielleicht zum allerletzten Mal, gelang es ihm, die Bestie zu bezwingen, den Vampyr Schritt für Schritt zurückzudrängen und schließlich wieder in sein Gefängnis, in den tiefsten Kerkern seiner Seele, einzusperren.

Als es vorbei war, verlor er das Bewusstsein.

Allerdings nicht für lange. Anders als sonst, wenn er aus einer Ohnmacht erwachte, hatte er eine genaue Erinnerung an die verstrichene Zeit, wenn auch nur an die Zeit, nicht an das, was währenddessen geschehen war. Er lag nicht mehr auf der Seite, sondern auf dem Rücken, unter seinen Schultern und dem Kopf eine widerlich weiche Decke aus Fell und leblosen Körpern, und Abu Dun hockte ein kleines Stück neben ihm auf den Knien und sah auf ihn herab. Sein Gesicht war blutüberströmt und von zahllosen winzigen Rissen und Bisswunden übersät, aber die Angst, die Andrej in seinen Augen las, hatte nichts mit diesen Verletzungen zu tun oder der Todesfurcht, die er gerade ausgestanden hatte. Als Andrej die Augen öffnete, fuhr Abu Dun fast unmerklich zusammen und bewegte sich beinahe noch unmerklicher ein winziges Stück zurück. Seine Hand schloss sich um den Schwertgriff, und seine ganze Haltung versteifte sich.

»Andrej?«, fragte er.

Andrej war zu schwach um zu antworten. Er deutete nur ein Nicken mit den Augen an.

»Bist du ... ich meine ...?«

»Ich bin wieder ... ich selbst«, murmelte Andrej.

Die Erleichterung in Abu Duns Augen war nicht echt. Sie war da, aber das Misstrauen dahinter blieb und schien eher noch zuzunehmen. »Bei Allah! Was ist passiert?«, murmelte Abu Dun verstört.

Andrej schüttelte nur den Kopf. Er hatte nicht die Kraft, Abu Dun zu erklären, was geschehen war, und hätte er sie gehabt, hätte er es vermutlich nicht gewollt. Er wollte nicht darüber reden, nicht einmal daran denken, denn er war plötzlich von der absurden Vorstellung erfüllt, dass schon die Tatsache allem, über das Ding in sich zu sprechen, ausreichte, um es wieder erwachen zu lassen.

»Und du bist sicher, dass mit dir alles in Ordnung ist?«, fragte Abu Dun.

»Ja«, flüsterte Andrej; in einer Tonlage, die das Wort zu einer Farce werden ließ. »Ich brauche nur ... einen Moment Ruhe. Ich muss zu Kräften kommen.«

Abu Dun riss die Augen auf. »Zu Kräften?« Fassungslos sah er sich um. Er sagte nichts, aber Andrej wusste nur zu gut, was er gesagt hätte.

»Frag' nicht«, flüsterte er. »Es gibt Dinge, die sollte man besser nicht anrühren, weißt du?«

Abu Dun nickte ernst. Er schwieg noch eine ganze Weile, in der er ihn nachdenklich anblickte, und auf eine Art, die Andrej erschaudern ließ.

»Also gut«, sagte er schließlich. Er fuhr sich mit dem Unterarm über das Gesicht, betrachtete anschließend seinen Ärmel und runzelte die Stirn, als verstünde er nicht genau, was das Blut auf dem schwarzen Stoff seines Mantels zu bedeuten hatte. Dann machte sich ein grimmiger Ausdruck auf seinen Zügen breit. Er drehte den Kopf nach links und sah zur Tür.

»Ruh' dich noch einen Moment aus. Ich habe noch eine Verabredung. Draußen.«

»Nein!«, murmelte Andrej erschrocken. Er wollte sich aufrichten, den Arm ausstrecken, um Abu Dun zurückzuhalten, aber die Kraft reichte nicht. Mit einem wimmernden Laut sank er wieder zurück. Nie zuvor hatte er sich nach einer Erneuerung so hilflos, ausgebrannt und schwach gefühlt wie jetzt. Die Lebenskraft, die er den Ratten gestohlen hatte, hatte ihn nicht gestärkt, sondern vergiftet.

Abu Dun zögerte tatsächlich, allerdings nur für einen ganz kurzen Moment, dann verzog er die Lippen zu einem kalten, bösen Lächeln, stand vollends auf und hob sein Schwert.

»Abu Dun, bitte!«, flehte Andrej. »Sie werden dich töten.«

»Wäre nicht das erste Mal, dass das jemand versucht«, sagte Abu Dun abfällig.

»Aber sie können es«, sagte Andrej. »Sei vernünftig. Und wenn nicht das, dann tu es um meinetwillen. Geh' nicht hinaus. Es wäre dein Tod. Vielleicht Schlimmeres.«

Er hatte selbst nicht damit gerechnet - aber der Nubier zögerte tatsächlich. In die grimmige Entschlossenheit in seinem Blick mischte sich eine Spur von Unsicherheit - Andrej hätte es als Furcht bezeichnet, hätte er nicht gewusst, dass Abu Dun dieses Gefühl gar nicht kannte -, und er drehte sich wieder halb in seine Richtung und ließ die Waffe sinken.

Von draußen war ein halblauter, krächzender Ruf und dann das unwillige Wiehern eines Pferdes zu hören; eine halbe Sekunde später ein zweiter, lauterer Ruf. Andrej konnte die Worte nicht verstehen, aber es war eindeutig nicht die Stimme eines Kindes, sondern eines Mannes.

Abu Dun runzelte die Stirn, sah noch einmal und nachdenklicher zur Tür und machte dann mit der linken Hand eine Geste in Andrejs Richtung, zurückzubleiben. Als ob er überhaupt in der Lage gewesen wäre, ihm zu folgen!

Der Nubier verließ die Mühle. Andrej versuchte in dem kurzen Moment, in dem er die Tür öffnete, einen Blick nach draußen zu erhaschen, sah aber nur flirrendes Licht und die braun und grün gemusterten Schatten des Waldes auf der anderen Seite. Einen Moment später hörte er wieder die Männerstimme, auch diesmal, ohne dass er sie verstehen konnte, dann den Hufschlag von mindestens zwei, wenn nicht drei Pferden und den überraschten Ausruf einer anderen Stimme.

Er schloss die Augen, konzentrierte sich und suchte nach den verborgenen Kräften, die ihm schon so oft das Leben gerettet hatten. Sie waren da, all die Lebenskraft und Energie der anderen Seelen, die er im Laufe seines Lebens seiner eigenen hinzu gefügt hatte, aber es fiel ihm seltsam schwer, sie zu erwecken.

Mit einem Mal erinnerte er sich an das Unwohlsein, mit dem er aufgewacht war, den Kopfschmerz und das Gefühl von überstandenem Fieber und Albträumen, dieser völlig neuen und erschreckenden Erfahrungen, die dieser Morgen gebracht hatte. Er war niemals zuvor krank gewesen - er konnte nicht krank werden! -, aber er hatte diesen Dingen vielleicht nicht die Bedeutung zugemessen, die ihnen zustand. Was, wenn mit ihm wirklich etwas geschah? Was, wenn nicht nur die Bestie in ihm stärker wurde, sondern die andere, hellere Seite seiner Seele begann, ihre Kräfte einzubüßen? Andrej verscheuchte diesen Gedanken, versuchte trotzig, sich noch einmal aufzurichten und stellte überrascht fest, dass es ihm tatsächlich gelang - wenn auch erst beim dritten Versuch und mit zittrigen Bewegungen, die von Schmerzen und gelegentlichen Muskelkrämpfen begleitet wurden.

Nach etwa einer Minute hatte er es geschafft, sich auf die Füße zu kämpfen, machte einen taumelnden Schritt und hob dann sein Schwert auf. Die Klinge war blutig. Er wischte sie an seiner zerfetzten Hose ab, versuchte sie in seinen Gürtel zu schieben und musste die zweite Hand zu Hilfe nehmen, um diese einfache Aufgabe zu bewältigen. Dabei zitterte er so heftig, dass er sich an der rasiermesserscharfen Schneide des Damaszenerschwertes verletzte. Er blutete stark. Andrej hob die linke Hand, betrachtete seine Finger und wartete darauf, dass sich die feinen, aber bis zu den Knochen reichenden Schnitte schlossen. Sie taten es, aber sehr viel langsamer als sie sollten, und erst, als er sich bewusst auf diese Aufgabe konzentrierte und einen Gutteil seiner ohnehin kaum vorhandenen Kräfte darauf verwandte, Gefäße, Nerven und das verletzte Fleisch sich wieder zusammenfügen zu lassen. Ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Irgendetwas ging vor. Mit ihm.

Fast erschrocken verdrängte er den Gedanken, drehte sich mühsam herum und schlurfte durch die leblosen Rattenkörper zur Tür. Ihr Öffnen bereitete ihm ungeahnte Mühe, und das Sonnenlicht traf seine an das in der Mühle herrschende Halbdunkel gewöhnten Augen mit solcher Wucht, dass er im ersten Moment fast blind war.

Immerhin konnte er hören. Da waren Abu Duns Stimme und die von zwei anderen Männern, die er nicht kannte, und auch, wenn er die Worte nicht sofort verstand, so sprach ihr Ton doch Bände: Er lauschte keiner freundschaftlichen Unterhaltung.

Andrej blinzelte, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht - es war blutüberströmt wie das Abu Duns, aber es war nur das Blut der Ratten, die er erschlagen hatte, nicht mehr sein eigenes -, und als er die Augen wieder öffnete, fügten sich die flackernden Schemen langsam zu Bildern zusammen.

Er hatte sich nicht getäuscht. Es waren nicht die unheimlichen Kinder, die er gehört hatte, sondern drei Männer zu Pferde, die sich der Mühle aus der gleichen Richtung genähert hatten wie Abu Dun und er. Zwei von ihnen waren abgestiegen, während der Dritte hoch oben im Sattel saß und sowohl Abu Dun als auch ihn misstrauisch beäugte. Andrej kannte weder ihn noch den zweiten Mann, mit dem der Nubier sprach, den dritten dafür kannte er umso besser. Es war Handmann.

Im gleichen Moment, in dem Andrej den Müller erkannte, erkannte Handmann ihn. Er unterbrach sein Gespräch mit Abu Dun, fuhr zornig herum und machte einige Schritte in Andrejs Richtung, blieb aber dann ebenso abrupt wieder stehen, als Abu Dun den Arm ausstreckte.

»Da ist ja einer von diesen verdammten Hexenmeistern!«, sagte er. Seine Augen flammten vor Hass. »Seid Ihr zurückgekommen, um Euch davon zu überzeugen, dass Eure Zauberei zum Erfolg geführt hat?«

Andrej konnte sehen, dass Abu Dun zu einer wütenden Antwort ansetzte, aber der Mann auf dem Pferd kam ihm zuvor. »Gib Acht, was du sagst, Handmann«, sagte er, in einem Tonfall, der Andrej sofort klar machte, dass dieser kein Freund des Müllers war. Wenn er allerdings den Blick, mit dem der Reiter ihn und Abu Dun maß, richtig deutete, war der Fremde aber ihr Freund auch nicht. »Voreilige Anschuldigungen haben schon großes Unheil angerichtet.«

Andrej atmete tief und langsam ein, bevor er weiterging. Seine Kräfte kehrten jetzt rasch zurück; zumindest seine körperlichen Kräfte, dennoch ging er langsamer, als notwendig gewesen wäre. Seine Knie schlotterten noch immer, und er hatte die rechte Hand hauptsächlich deshalb auf dem Schwertgriff liegen, damit niemand sah, wie stark sie zitterte. Die Genugtuung, wortwörtlich vor Handmann auf die Knie zu fallen, wollte er diesem Fanatiker ganz bestimmt nicht verschaffen.

»Was sucht Ihr hier?«, fragte Handmann zornig, als Andrej bei ihm angelangt war.

»Wenn wir einen verrückten Verleumder suchen würden, hätten wir ihn jetzt gefunden«, sagte Abu Dun lächelnd. Handmann funkelte ihn an, aber er sagte nichts, was möglicherweise daran liegen mochte, dass Abu Dun gerade einen Schritt vor ihm stand und ihn um gut zwei Köpfe überragte; und dass sein ohnehin nicht besonders Vertrauen erweckendes Gesicht im Moment eine Maske aus Verletzungen, Schorf und Blut - vor allem Blut - war.

Bevor Handmann antworten konnte, sagte der Reiter: »Du sprichst unsere Sprache gut, Muselmann. Verstehst du sie auch ebenso gut? Wenn ja, dann solltest du die Frage besser beantworten.«

»Wir wollten nachsehen, was hier geschehen ist«, sagte Andrej rasch.

»Nachsehen?«

Andrej machte eine Kopfbewegung zur Mühle, dann in die Richtung, aus der die Reiter gekommen waren. »Pater Flock ist heute Morgen in unser Lager gekommen. Er hat uns erzählt, was hier angeblich vorgefallen ist. Wir wollten uns mit eigenen Augen davon überzeugen.«

»Wovon?«, fragte Handmann aufgebracht. »Dass Eure Hexerei gewirkt hat? Wie Ihr seht, ist Euer Plan nicht ganz aufgegangen. Eure Ratten haben vielleicht all mein Korn aufgefressen, aber ich und meine Familie sind noch immer am Leben.«

Andrej maß ihn nur mit einem fast mitleidigen, zugleich aber auch verächtlichen Blick und wandte sich dann wieder an den Reiter. Er wusste nicht, wer der Mann war, aber er strahlte eine so spürbare Aura von Autorität und Ruhe aus, dass es sich mit Sicherheit um einen der Amtsträger der Stadt handelte. »Euer Pfarrer ist ein sehr vernünftiger Mann«, sagte er. »Er hat uns erzählt, was Handmann gesagt hat.« Er deutete in Richtung Mühle. »Offenbar scheint es wirklich die Wahrheit zu sein. Aber ich kann Euch versichern, dass weder Elena noch ich noch einer der anderen etwas damit zu tun haben.«

»Handmann behauptet, das Zigeunerweib hätte ihm gedroht, dass er und seine Familie von Ratten aufgefressen würden, wenn er Euch keine Ware verkauft.«

»Ganz so war es nicht«, erwiderte Andrej und gab dann wahrheitsgemäß und wörtlich den kurzen Disput zwischen Elena und Handmann wieder. »Ein Wort ergab das andere«, schloss er seinen Bericht. »Elena mag sich vielleicht nicht besonders klug verhalten haben, das will ich gern eingestehen, aber ich gebe Euch mein Wort, dass sie weder eine Hexe ist, noch irgendetwas mit Zauberei zu tun hat.«

»Das Wort eines Zigeuners!«, sagte Handmann verächtlich.

»Seid Ihr das?«, fragte der Berittene. »Ein Zigeuner?« Andrej schüttelte den Kopf. »Wir gehören nicht zu Elenas Familie«, sagte er. »Wir sind erst vor einigen Tagen zu ihnen gestoßen und werden bald wieder unserer Wege gehen.«

»Warum sollte ich Euch glauben, Andreas?«, fragte der Reiter.

Andrej konnte sich nicht erinnern, ihm seinen Namen genannt zu haben, weder seinen wirklichen, noch den angenommenen, unter dem er in diesem Teil der Welt reiste. Also hatte der Mann schon mit jemandem über ihn und vermutlich auch Abu Dun und die anderen gesprochen. »Vielleicht gerade, weil ich nicht zu ihnen gehöre«, sagte er. »Warum sollte ich für Leute lügen, die ich kaum kenne?«

»Glaub' ihm kein Wort!«, rief Handmann. »Gestern Nacht hat er ganz anders geredet! Er gehört zu ihnen! Er ist ein Hexer wie sie! Vielleicht der schlimmste überhaupt!«

Der grauhaarige Mann im Sattel wiegte nachdenklich den Kopf. »Vater Flock sagt etwas anderes über ihn«, sagte er. »Er hält ihn für vertrauenswürdig.«

»Ja, und jetzt ist er mehr tot als lebendig«, knurrte Handmann. Er deutete anklagend auf die Mühle. »Was haben sie dort gesucht, wenn nicht den Beweis dafür, dass ihr Plan aufgegangen ist?«

»Wie gesagt«, sagte Andrej. »Wir wollten uns mit eigenen Augen überzeugen, was geschehen ist. Zumindest, was die Ratten angeht, scheinst du ja die Wahrheit gesagt zu haben.« Handmann runzelte die Stirn, und auch auf dem Gesicht des Grauhaarigen erschien ein fragender Ausdruck. Der dritte Mann, der bisher schweigend neben Handmann gestanden und abwechselnd Abu Dun und Andrej angeblickt hatte, machte sich plötzlich mit schnellen Schritten in Richtung Mühle auf. Fast instinktiv wollte Andrej ihn zurückhalten, erkannte aber im letzten Moment, dass das keine kluge Idee gewesen wäre. Ganz egal, was sie sagten oder nicht, die Männer waren misstrauisch. Und von ihrem Standpunkt aus betrachtet, vermutlich sogar zu Recht.

»Ratten tun so etwas aber normalerweise nicht«, sagte der Berittene.

»Das stimmt«, sagte Andrej. Er machte eine unschlüssige Handbewegung. »Deswegen sind wir ja auch hier. Um ehrlich zu sein, haben wir die Geschichte nicht geglaubt. Aber wir konnten uns mit eigenen Augen davon überzeugen, dass der Müller die Wahrheit gesagt hat. Aber das hat nichts mit Zauberei zu tun. Ich vermute, die Tiere waren krank.«

»Krank?«, fragte Handmann. »Gestern Abend kamen sie mir höchstlebendig vor!«

»Ja, und jetzt sind sie höchsttot«, antwortete Andrej.

Handmann riss die Augen auf, und auch der Mann auf dem Pferd sah überrascht und ein wenig ungläubig drein.

»Sie sind alle tot«, sagte Andrej noch einmal. »Sie sind da drinnen im Haus. Wir haben sie gefunden.«

Der Grauhaarige musterte erst ihn, dann und deutlich länger Abu Dun, sein misshandeltes Gesicht, seine zerrissenen Kleider und all das Blut auf seinem Mantel und an seinen Händen. Dann sagte er: »Eurem Aussehen nach zu schließen, vielleicht nicht alle.«

»Das stimmt«, sagte Andrej. »Einige waren noch am leben. Wir haben sie erschlagen.« Er lachte leise. »Ich bin froh, dass es nicht mehr sehr viele waren. Sie haben mehr wie Wölfe gekämpft, als wie Ratten.«

Hinter ihm fiel die Tür der Mühle ins Schloss, und der dritte Mann kam zurück. »Er sagt die Wahrheit«, sagte er, an den Mann im Sattel gewandt. »Der ganze Raum ist voller toter Ratten. Es müssen Tausende sein.«

»Und woran sind sie gestorben?«

Der Mann hob die Schultern. »Etliche sind erschlagen worden, so wie es aussieht. Aber die meisten sind ... einfach tot.« Er wirkte ein bisschen hilflos, und auf seinem Gesicht war deutlich Furcht zu erkennen. »Vielleicht waren sie ja ... krank.«

»Krank?«, fragte Handmann.

»Das nehme ich auch an«, sagte Andrej, ohne dem gehässigen Ton in Handmanns Stimme auch nur die geringste Beachtung zu schenken. »Ich habe niemals gehört, dass sich Ratten so benehmen. Sie fressen normalerweise alles auf, was sie finden, das ist richtig, aber sie überfallen keine Mühlen, und sie vertreiben schon gar nicht deren Bewohner.«

Handmann sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Was willst du damit andeuten?«

»Nicht, wenn sie gesund und nicht gerade halb wahnsinnig vor Hunger sind«, fuhr Andrej unbeirrt und noch immer an den Mann im Sattel gewandt, fort. »Die Tiere dort drinnen sehen gut genährt aus, und zumindest die, die Abu Dun und mich angegriffen haben, waren auch ziemlich kräftig.«

»Das ist doch Unsinn!«, sagte Handmann. »Du wirst diesem dahergelaufenen ... Zigeuner doch nicht etwa glauben, Schulz?!«

Der grauhaarige Mann im Sattel warf Handmann einen Blick zu, mit dem man vielleicht einen kläffenden Köter mustern mochte und dem man nur aus dem Grund keinen Tritt versetzte, weil man es sich mit seinem Besitzer nicht verderben wollte. Er deutete ein Achselzucken an und wandte sich wieder an Andrej. »Dennoch ist es eine sehr ... seltsame Geschichte. Dergleichen ist noch nie vorgekommen.«

»Ich habe so etwas auch noch nie erlebt«, antwortete Andrej. »Ich verstehe nicht viel davon, aber ich bin sicher, dass die Ratten krank waren. Vielleicht hatten sie die Tollwut oder irgendetwas Ähnliches. Aber was immer es war, es scheint seine Wirkung ziemlich schnell zu tun. Die allermeisten Tiere waren schon tot, als Abu Dun und ich eintrafen.«

»Vielleicht hatten sie ja zuviel von deinem guten Korn gefressen«, sagte Abu Dun mit einem höhnischen Grinsen in Handmanns Richtung. Der Müller wollte auffahren, aber Schulz brachte ihn mit einer herrischen Geste zum Verstummen.

»Wäre es anders gewesen, hättet Ihr diese Begegnung vermutlich auch nicht überlebt«, sagte er. »Ihr seht schlimm aus. Wir haben einen Arzt in der Stadt - Ihr solltet uns begleiten und Eure Wunden von ihm versorgen lassen. Mit Rattenbissen ist nicht zu spaßen.«

Andrej konnte musste sich zwingen, um nicht einen Schritt zurückzutreten und hastig den Blick zu senken. Falls Schulz oder einer der anderen zu genau hinsah, dann würde ihnen auffallen, dass seine Kleider zwar ebenso zerrissen und Gesicht und Arme ebenso mit Blut besudelt waren wie die Abu Duns, die Haut darunter jedoch nicht einen einzigen Kratzer aufwies. Doch offensichtlich hatte der Anblick des Nubiers Schulz und die beiden anderen vom Wahrheitsgehalt ihrer Behauptung überzeugt. »Wir haben jemandem im Lager, der sich um unsere Verletzungen kümmern kann«, sagte Andrej hastig. »Aber ich danke Euch für Euer Angebot. Wo wir schon einmal dabei sind: Wie geht es Vater Flock?«

»Das solltet Ihr doch am besten wissen«, sagte Handmann gehässig, noch bevor Schulz darauf antworten konnte.

»Seine Verletzungen sind nicht so schlimm, wie es im ersten Moment den Anschein hatte«, sagte Schulz. »Immerhin war er noch genug bei Kräften, um mich davon zu überzeugen, dass Ihr und Eure Zigeunerfreunde nichts mit dem heimtückischen Überfall auf ihn zu tun habt.«

»Wahrscheinlich haben sie ihn genau so verhext wie die Ratten, damit er das sagt«, geiferte Handmann.

»Das reicht!«, sagte Schulz in einem Ton, der keinen Zweifel daran ließ, dass seine Geduld nun endgültig erschöpft war. Andrej sah sich in seiner Einschätzung bestätigt, dass der Grauhaarige wohl nicht nur irgendein Bekannter des Müllers war, der ihn begleitet hatte, sondern ein einflussreicher und mächtiger Mann. An Andrej gewandt und in sachlicherem, aber keineswegs versöhnlichem Tonfall fuhr Schulz fort: »Dennoch werden wir den Vorfall natürlich untersuchen müssen. Bisher war dies eine Gegend, in der sich ein Mann auch unbewaffnet und allein sicher fühlen konnte und keine Angst haben musste, grundlos überfallen oder gar umgebracht zu werden. Ich nehme an, ihr bleibt noch ein paar Tage in der Nähe von Honsen?«

»Vielleicht eine Woche«, sagte Andrej. »Aber das habe ich nicht zu entscheiden. Das müsstet Ihr schon Laurus fragen.«

»Laurus ist Euer Anführer?«

»Der Anführer der Sinti, ja«, bestätigte Andrej.

Schulz lächelte flüchtig, aber kalt. »Dann werde ich das tun«, sagte er. »Ich nehme an, Ihr reitet jetzt in Euer Lager zurück. Dann richtet diesem Laurus aus, dass ich morgen Abend zu ihm kommen werde, um mit ihm zu reden.«

Andrej nickte nur.

»Und was diese Ratten angeht«, fuhr Schulz fort, »so glaubt Ihr also, sie wären krank gewesen?«

»Krank oder von Tobsucht und Raserei befallen, ja«, sagte Abu Dun.

Schulz wandte sich im Sattel um und sah mit besorgtem Gesicht zur Mühle hoch. »Wenn das wirklich stimmt, dann müssen wir den ganzen Wald durchsuchen, um sicher zu sein, dass keines der Tiere mehr am Leben ist. Wenn es wirklich eine Krankheit ist, so könnten sie andere damit anstecken. Vielleicht nicht nur Ratten.«

»Vielleicht wäre es das Beste, die Mühle niederzubrennen«, sagte Abu Dun.

Handmann schnappte keuchend nach Luft, und Andrej musste sich beherrschen, um ein Grinsen zu unterdrücken. »Ich werde darüber nachdenken«, sagte Schulz. »Nun geht. Und vergesst nicht, diesem Laurus auszurichten, dass ich ihm morgen einen Besuch abstatten werde.«

Sie waren auf dem schnellsten Weg zurück ins Lager geritten, und zu Andrejs Erleichterung - aber auch Überraschung - hatte Abu Dun während der gesamten Strecke kaum ein Wort mit ihm gewechselt und vor allem das, was in der Mühle passiert war, mit keiner Silbe erwähnt. Nach allem, was sie bisher miteinander erlebt hatten, kam das Andrej so ungewöhnlich vor, dass er Abu Dun beinahe von sich aus darauf angesprochen hätte, aber dann kam er zu dem Schluss, dass der Nubier vermutlich all seine Kraft brauchte, um sich überhaupt noch im Sattel, und dies einigermaßen würdevoll, halten zu können. Auch wenn Abu Dun nicht den geringsten Schmerzenslaut hatte hören lassen und kein Wort der Klage über seine Lippen kam, so war Andrej doch klar, dass der Freund erhebliche Schmerzen leiden musste. Obwohl der grässliche Angriff nur wenige Augenblicke gedauert hatte, musste er Dutzende von Bissen und Kratzwunden davongetragen haben, und vermutlich hatten sich etliche bereits entzündet. Mit großer Sicherheit würde Abu Dun fiebern, noch bevor der Tag zu Ende war, und Andrej beneidete ihn nicht um die Nacht, die vor ihm lag. Basons neuer Hauptdarsteller würde gleich am Abend der Premiere ausfallen. Erst kurz bevor sie das Lager erreichten, sprach Andrej Abu Dun von sich aus auf den Zwischenfall in der Mühle an, und sie einigten sich im Großen und Ganzen auf die gleiche Version, die sie auch schon Schulz und den beiden anderen erzählt hatten.

Trotz Abu Duns Zustand machten sie einen kleinen Umweg, um einen Bogen um Honsen zu schlagen und sich dem Sinti-Lager aus der entgegen gesetzten Richtung zu nähern. Es begann bereits zu dunkeln, und im Schein der zahlreichen Feuer, die das Lager erhellten, konnte Andrej sehen, dass eine Menge Fremde gekommen waren - Männer, Frauen und Kinder aus Honsen, aber sicher auch etliche aus der nahe gelegenen Stadt, und niemand musste ihn und den Nubier sehen, wie sie blutüberströmt und vor Erschöpfung im Sattel wankend zurückkamen. Musik schlug ihnen entgegen, der Duft von gebratenem Fleisch und Gelächter, und auf der hell erleuchteten Bühne im Zentrum des Lagers war einer der Sinti dabei, mit einem halben Dutzend blitzender Messer gleichzeitig zu jonglieren. Zweifellos wartete der Großteil der Zuschauer, die er damit angezogen hatte, nur darauf, dass er daneben griff und sich eines der Messer in seinen Fuß, seine Hand oder besser gleich in seinen Hals bohrte, aber Andrej war diese Ablenkung nur Recht. Sorgsam den Schein der größten Feuer vermeidend, lenkte er ihre beiden Pferde zur Koppel, stieg ab und streckte die Hand aus, um auch Abu Dun beim Absteigen behilflich zu sein. Er hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass der Nubier seine Hilfe annahm, aber Abu Dun griff nicht nur dankbar nach seinem Arm, sondern stützte sich auch so schwer auf seine Schulter, dass Andrej unter seinem Gewicht ächzte und halbwegs in die Knie brach. Er erschrak, als er spürte, wie heiß und trocken sich Abu Duns Haut anfühlte, und wie schlecht sein Atem roch. Was, dachte er schaudernd, wenn die Geschichte, die sie sich ausgedacht hatten, gar keine Geschichte war, sondern vielleicht die Wahrheit? Möglicherweise waren diese Ratten ja doch krank gewesen, von der Tollwut oder einer ähnlich gefährlichen Pestilenz befallen, die sich nun auch in Abu Duns Körper grub und ihn von innen heraus verzehrte?

»Andreas! Abu Dun! Wo seid Ihr -« Der Rest des Satzes ging in einem erschrockenen Keuchen unter, dann trat Bason mit einem hastigen Schritt an Andrejs Seite und griff wortlos nach Abu Duns anderem Arm, um ihn sich um die Schulter zu legen. Der Nubier sackte endgültig in sich zusammen, und nicht nur Andrej, sondern auch Bason wankten, als plötzlich sein ganzes gewaltiges Gewicht auf ihren Schultern lastete.

»Was ist passiert?«, fragte Bason erschrocken.

»Später«, antwortete Andrej. »Jetzt müssen wir uns um Abu Dun kümmern.«

Er wollte sich nach links wenden, in Richtung des Zeltes, in dem sie schon am Mittag die Wunden des jungen Geistlichen versorgt hatten, aber Bason schüttelte rasch den Kopf und deutete in die entgegengesetzte Richtung. »Das sieht schlimm aus«, sagte er. »Elena wird sich um ihn kümmern.«

Elena? Andrej sah den jungen Sinti überrascht an. Er konnte sich Elena bei einer Menge verschiedener und unerwarteter Tätigkeiten vorstellen, aber kaum dabei, einen Verwundeten zu pflegen. Dennoch widersprach er natürlich nicht, sondern legte sich Abu Duns Arm unauffällig so um die Schulter, dass er den Großteil seines Gewichtes trug, und ging dann gehorsam neben Bason her in Richtung des großen Wagens, in dem Elena und Laurus wohnten. Unterwegs begegneten ihnen zwei weitere Sinti, denen Bason knapp und in einer Andrej unbekannten Sprache Befehle erteilte, woraufhin sie hastig wieder davon eilten. Er fragte nicht danach, und die Bedeutung von Basons Worten wurde ihm auch klar, als sie den Wagen erreichten. Sie waren noch nicht einmal ganz angelangt, da tauchten auch Elena und einen Herzschlag später Laurus aus verschiedenen Richtungen aus der Dunkelheit auf und kamen ihnen entgegen.

»Was ist passiert?«, fragte Laurus.

Elena verschwendete weniger Zeit. Sie maß Abu Duns Gesicht nur mit einem einzigen, knappen Blick, machte dann eine Kopfbewegung zum Wagen und sagte: »Bringt ihn hinein. Und ich brauche heißes Wasser und Verbandszeug.«

Sie gehorchten. Laurus stellte seine Frage ein zweites Mal, und auch jetzt, ohne eine Antwort zu bekommen, und die nächste halbe Stunde verbrachten Elena und er gemeinsam damit, Abu Duns Wunden zu reinigen und zu verbinden, nachdem sie ihn die kurze Leiter in den Wagen hinauf bugsiert und aus seinen zerrissenen Gewändern gewickelt hatten. Andrej musste seine Meinung über Elena revidieren; sie ging vielleicht nicht so besonders sanft mit ihrem Patienten um, aber was sie tat, zeugte von großer Sachkunde. Es war ganz eindeutig nicht das erste Mal, dass sie sich um einen Verwundeten kümmerte.

Als sie endlich fertig waren, wollte sich Andrej erschöpft zurücklehnen, aber Elena drehte sich mit einem befehlenden Kopfschütteln in seine Richtung und sagte: »Jetzt du!«

»Mir fehlt nichts«, sagte Andrej. »Vielleicht ein paar Stunden Schlaf, aber das ist auch alles.«

»Mach' dich nicht lächerlich«, antwortete Elena. »Oder gehörst du auch zu denjenigen, die Dummheit mit Tapferkeit verwechseln?«

»Mir ist wirklich nichts passiert«, versicherte Andrej. Da er in Elenas Augen las, dass sie ihm kein Wort glaubte, tauchte er die Hände in die Schale mit warmem Wasser, die neben Abu Duns Bett stand, wusch sich die Finger und benutzte anschließend einen der überzähligen Verbände, um sich auch das Gesicht sauber zu wischen.

Elena riss überrascht die Augen auf. »Du hast nicht einen Kratzer!«

»Ich hatte Glück«, antwortete Andrej. Leiser und mit einem stirnrunzelnden Blick in Abu Duns Richtung fügte er hinzu: »Jedenfalls mehr als er. Wird er es überleben?«

»Rattenbisse sind nicht ungefährlich«, erwiderte Elena. »Ich fürchte, er wird ein paar Tage Fieber haben, vielleicht sogar länger. Aber er ist stark.«

»Und du bist wirklich unverletzt?«, fragte Laurus. Er hatte die ganze Zeit schweigend dabeigestanden und ohne ein Wort oder irgendeine Frage zu stellen zugesehen, aber sein Gesichtsausdruck hatte sich mehr und mehr verfinstert. Vermutlich war es auch nicht besonders schwer gewesen, zu raten, was geschehen war; sie hatten zahlreiche abgebrochene Krallen und Fellbüschel aus Abu Duns Wunden entfernt, aus einer sogar einen abgebrochenen Rattenzahn, und als sie ihn ausgezogen hatten, war der abgerissene Hinterlauf eines der kleinen Ungeheuer aus den Fetzen seiner Kleidung gefallen.

»Ich hätte weniger Glück gehabt, wenn Abu Dun mich nicht beschützt hätte«, antwortete Andrej - eine erbärmliche Lüge, aber das Erste, was ihm einfiel, und darüber hinaus vermutlich das, was einer glaubhaften Ausrede noch am nächsten kam.

»Was ist passiert?«, wollte Laurus wissen. »Wenn du nicht verletzt bist, dann wirst du ja wenigstens die Kraft haben, mir jetzt auf diese Frage zu antworten.«

Andrej schluckte die scharfe Antwort herunter, die ihm auf der Zunge lag. Stattdessen erzählte er Laurus die Geschichte, auf die Abu Dun und er sich geeinigt hatten. Laurus musste dazu nichts sagen, damit Andrej erkannte, dass er ihm kein Wort glaubte. Als er von ihrer Begegnung mit Handmann und den beiden anderen berichtete, umwölkte sich die Stirn des Sinti noch mehr.

»Wer war dieser ... Schulz?«

»Mehr als seinen Namen weiß ich auch nicht«, antwortete Andrej wahrheitsgemäß. »Aber ich hatte das Gefühl, dass er ein Mann von großem Einfluss ist.«

»Ja, das fürchte ich auch«, murmelte Laurus. »Das hätte nicht passieren dürfen. Ihr hättet nicht dorthin gehen sollen.«

»Wäre es dir lieber gewesen, dieser Narr hätte seine Geschichte überall in der Stadt herum erzählt?«, fragte Elena.

»Du weißt es selbst«, antwortete Laurus kühl. »Er ist ein Narr. Und nach dem, was Andreas erzählt, scheinen das auch alle zu wissen.« Er wandte sich wieder an Andrej. »Du meinst also, diese Ratten waren irgendwie krank?«

»Eine andere Erklärung für ein so sonderbares Verhalten fällt mir nicht ein«, antwortete Andrej. Für einen kurzen Moment tauchte der Anblick vierer, schlanker, kleinwüchsiger Gestalten vor seinem geistigen Auge auf, die reglos vor dem schwarz-grünen Hintergrund des Waldes standen und zu ihnen heraufblickten. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken. »Wenn die meisten nicht schon tot gewesen wären, dann hätten wir keine Chance gehabt. Sie haben sich wie toll gebärdet und uns völlig grundlos angegriffen.«

»Dann hat dieser Narr von Müller also sogar die Wahrheit gesagt«, murmelte Laurus besorgt. »Das ist nicht gut. Ich hoffe, dieser Schulz ist wirklich ein so vernünftiger Mann, wie du behauptest.«

»Du kannst dich selbst davon überzeugen«, sagte Andrej. »Ich soll dir ausrichten, dass er morgen Abend hierher kommt, um mit dir zu reden.«

»Was für eine Überraschung«, sagte Laurus halblaut. Er atmete hörbar ein. »Gut. Der Schaden ist einmal angerichtet, und nicht rückgängig zu machen. Versuchen wir, ihn so gering wie möglich zu halten. Dein Freund kann heute Nacht hier bleiben. Es ist besser, wenn Elena in seiner Nähe ist, um sich um ihn zu kümmern, falls sein Fieber steigen sollte. Und was dich angeht, Andreas, ich sage es dir nur einmal: Wenn ihr bei uns bleiben wollt, dann tust du in Zukunft das, was ich dir sage, nicht weniger, aber auch nicht mehr.« Er drehte sich auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Wagen, noch bevor Andrej etwas darauf erwidern konnte.

Er war noch eine Weile geblieben, vorgeblich, um sich davon zu überzeugen, dass es Abu Dun den Umständen entsprechend gut ging und dass es nichts mehr gab, was er im Moment für ihn tun konnte. In Wahrheit aber blieb er wohl eher, weil ein Teil von ihm gehofft hatte, mit Elena zu sprechen und von ihr vielleicht zu erfahren, was an diesem Tag wirklich geschehen war. Elena bemühte sich jedoch nach Kräften, seine Anwesenheit zu ignorieren, und bevor die Situation noch peinlicher werden konnte, ging auch Andrej und kehrte in den heruntergekommenen Wagen zurück, den Laurus ihm zur Verfügung gestellt hatte.

Da die Sonne schon vor Stunden untergegangen war und seine Unterkunft nicht über einen Luxus wie eine Lampe verfügte, hatte sich barmherzige Dunkelheit über das schäbige Innere des Wagens gelegt. Selbst Andrejs scharfe Augen nahmen nur Umrisse und vage, verschwommene Schatten wahr, die aber ausreichten, dass er sich zum Bett vortasten und darauf ausstrecken konnte, ohne dass er sich die Mühe gemacht hätte, seine zerrissenen Kleider auszuziehen.

Natürlich fand er keinen Schlaf. Er war nach wie vor in Sorge um Abu Dun. Elena hatte Recht: Der Nubier war stark, aber er war letzten Endes nur ein Mensch aus Fleisch und Blut, dessen Kräfte begrenzt waren, und der verwundet und getötet werden konnte wie jeder andere auch. Und es war erst zwei Tage her, dass er schon einmal schwer verletzt worden war.

Und dazu kam das, was er, Andrej, ihm angetan hatte.

Andrej schauderte, als ihm wieder und diesmal mit voller Wucht zu Bewusstsein kam, was er um ein Haar getan hätte. Er lauschte in sich hinein, tastete vorsichtig nach der Bestie, die irgendwo tief in ihm verborgen lauerte. Er fand, keine Spur von ihr, aber er wusste, dass sie noch da war, geduldig wie eine Spinne in ihrem unsichtbaren Netz auf den Moment lauernd, in dem sie über ihn herfallen und vielleicht endgültig die Macht über sein Denken und Handeln erringen konnte. Noch vor wenigen Stunden war Andrej sicher gewesen, dass dies niemals geschehen würde, aber die Geschehnisse in der Mühle hatten ihn eines Besseren belehrt. Der Vampyr war da, längst begriffen hatte, dass es die einzig mögliche Alternative war.

Er verscheuchte auch diesen Gedanken - der im Grunde nichts anderes war als die Fortsetzung des ersten, nur, dass er sich jetzt durch die Hintertür hatte einzuschleichen versucht - richtete sich wieder auf und blieb eine Weile nach vorne gebeugt und mit hängen Schultern auf der Bettkante sitzen. Er war müde und erschöpft, aber ihm war auch klar, dass er keinen Schlaf finden würde - und, dass er im Grunde Angst davor hatte, einzuschlafen. Zugleich aber war ihm auch der Gedanke, jetzt wieder hinauszugehen und sich wieder unter all diese lachenden, fröhlichen Menschen zu mischen und so zu tun, als wäre nichts geschehen, zutiefst zuwider. Irgendwie wäre es ihm wie Verrat an Abu Dun vorgekommen.

Nun, ganz plötzlich, wusste er, was er zu tun hatte. Es gab nur einen Menschen hier, der ihm sagen konnte, ob es einen Ausweg für ihn gab und ob das, was er Abu Dun um ein Haar angetan hätte, die Antworten wert war, derentwegen er hergekommen war.

Er stand auf, tastete im Halbdunkel nach den Satteltaschen, die er am Morgen aus dem Zelt geholt und achtlos in eine Ecke geworfen hatte, und suchte mit einiger Mühe sein zweites Paar Kleider heraus, das genau genommen jetzt sein einziges war, denn das, was die Ratten übrig gelassen hatten, waren im Grunde nicht mehr als Fetzen. Aus einem unerfindlichen Grund zögernd, schnallte er sein Schwert ab, lehnte es neben dem Bett an die Wand und verließ dann den Wagen.

Wie vorhin, als Abu Dun und er gekommen waren, nahm er einen Umweg in Kauf, um nicht mitten durch das Lager hindurchmarschieren zu müssen. Unweit der Pferdekoppel gab es einen schmalen, aber kristallklaren Bach, in dem er sich ausgiebig wusch, um das eingetrocknete Blut zu entfernen, aber auch, weil er sich noch immer auf eine schwer greifbare Art besudelt und beschmutzt fühlte, von etwas berührt, von dem kein lebendes Geschöpf auf dieser Welt berührt werden sollte.

Der Bach war nicht nur klar und reißend, sein Wasser war auch eiskalt, trotz der seit Wochen anhaltenden Hitzewelle. Als Andrej endlich das Gefühl hatte, sich zumindest den körperlichen Schmutz vom Leib gewaschen zu haben und nackt und frierend wieder aus dem Wasser trat, da zitterten seine Hände vor Kälte und sein Atem dampfte. Er blieb lange genug reglos in der Dunkelheit stehen, bis der warme Nachtwind seine Haut getrocknet hatte. Dann zog er seine sauberen Kleider an und durchsuchte noch einmal die Fetzen seiner alten Hose und des Hemdes, um sich davon zu überzeugen, dass nichts in den Taschen zurückgeblieben war. Er fand nichts, abgesehen von etwas, das er im ersten Moment für ein Fellbüschel hielt, das sich jedoch als abgerissenes Rattenohr entpuppte. Angewidert schleuderte er es in die Dunkelheit.

Die Fetzen seiner Kleidung schienen des Mitnehmens mehr wert, aber Andrej wollte auch nicht, dass sie irgendjemand fand und überflüssige Fragen stellte und sich vielleicht noch ein paar Gedanken machte. Seine Behauptung, wie durch ein Wunder ohne einen einzigen Kratzer davongekommen zu sein, während Abu Dun dem Tod näher war als dem Leben, war ohnehin dünn genug. Also nahm er die Kleider auf, rollte sie zu einem Ball zusammen und ging mit gesenktem Blick und möglichst beiläufig wieder zum Lager zurück, um das Bündel in eines der zahlreichen Feuer zu werfen, die weniger brannten, um die Dunkelheit zu vertreiben, als mehr, um die Stimmung unter den Gästen anzuheizen und dafür zu sorgen, dass sie Wein und Bier ausreichend zusprachen und ihre Geldbörsen entsprechend locker saßen. Zu seiner Erleichterung sprach ihn niemand an. Elena war vermutlich noch im Wagen und bei Abu Dun, von Laurus war keine Spur zu sehen, und Bason und Rason entdeckte er oben auf der Bühne, wo sie ihr Bestes taten, um sich zum Narren zu machen. Natürlich kannte ihn jeder hier im Lager, auch wenn er, abgesehen von den vier Vorgenannten, mit keinem der Sinti bisher mehr als ein paar belanglose Worte gewechselt hatte, aber die Zigeuner schienen ausnahmslos beschäftigt, und er baute darauf, dass er, noch dazu mit veränderter Kleidung, einfach in der Menge der Besucher untergehen würde, sodass ihm niemand einen zweiten Blick schenkte. Rasch, aber ohne sichtbare und verräterische Hast, zog er sich wieder aus dem Lichtkreis des Feuers zurück und ging zum anderen Ende des Lagers.

Diesmal näherte er sich Ankas Wagen nicht direkt, sondern blieb im Schutze eines der anderen Karren stehen und tastete die nähere Umgebung sowohl mit seinen Blicken als auch mit seinen anderen Sinnen ab. Er hatte die schattenhafte Gestalt nicht vergessen, die am ersten Abend, als Abu Dun und er hier gewesen waren, in einer Ecke gestanden hatte und den Wagen beobachtete. Heute aber gab es eindeutig niemanden, der Ankas Wagen bewachte.

Hinter den unter der Last der Jahre schon halb auseinander gebrochenen Fensterläden brannte kein Licht, und auch als Andrej vorsichtig näher ging, hörte er nicht das mindeste Geräusch. Aber wozu brauchte eine blinde Frau Licht? Vermutlich schlief die Puuri Dan längst, und Andrej erinnerte sich jetzt auch an mehr als nur eine Bemerkung Basons, wonach die Hundertjährige dem Wein offensichtlich mehr zugetan war, als man bei einer Frau ihres Alters erwarten mochte. Er zögerte, als er die drei Stufen zur Treppe hinaufstieg, schob dann aber die letzten Bedenken beiseite und öffnete die Tür.

Dahinter war es vollkommen dunkel. Andrej blieb einen Moment reglos stehen und lauschte auf Ankas Atemzüge oder irgendein anderes Lebenszeichen, aber die Stille war ebenso vollkommen wie die Dunkelheit, die ihn umgab. Vorsichtig, mit tastend vorgestreckten Händen, um nicht in der Dunkelheit gegen ein Hindernis zu stoßen oder ein verräterisches Geräusch zu verursachen, suchte er sich seinen Weg zur jenseitigen Wand des Raumes und der Tür, die er darin gesehen hatte, öffnete auch sie und blieb noch einmal stehen, um erneut und noch konzentrierter zu lauschen. Aber auch hier war niemand. Selbst wenn er die Anwesenheit der alten Frau nicht gespürt hätte, so hätte er doch wenigstens ihre Atemzüge hören müssen, in der vollkommenen Stille, die hier drinnen herrschte. Aber er hörte nichts, er fühlte nichts. Anka war nicht da.

Irritiert blieb Andrej noch eine Weile genau da stehen, wo er sich befand, und versuchte, diese Entdeckung richtig zu bewerten. Dass die alte Frau ihren Wagen verlassen hatte, war an sich nichts Ungewöhnliches, wohl aber, dass sie es zu dieser Zeit tat. Und noch dazu an einem Abend wie heute, an dem es im Lager von Fremden nur so wimmelte. Auch jemand, der nicht über Andrejs besondere Sinne verfügte, konnte unmöglich übersehen, dass es sich bei der Puuri Dan vermutlich um den ältesten Menschen handelte, der jemals gelebt hatte - und wenn Laurus im Moment an einem gelegen sein musste, dann daran, kein Aufsehen zu erregen und vor allem keinen Anlass zu neugierigen Fragen zu geben. Ein weiterer Mosaikstein in dem Bild, das Andrej allmählich sah, ohne dass es indes bisher irgendeinen Sinn zu ergeben schien.

Andrej blieb eine geraume Weile unter der geöffneten Tür stehen und versuchte, seine Gedanken zu ordnen. Schließlich aber verließ er den Wagen wieder und sah sich draußen unschlüssig um. Gegen Laurus' ausgesprochenen Willen hierher zu kommen, um mit der Puuri Dan zu reden, war eine riskante Idee gewesen, denn spätestens Laurus' Auftritt von vorhin hatte ihm klar gemacht, dass der Sinti nur noch nach einem Vorwand suchte, um Abu Dun und ihn davonzujagen. Aber es widerstrebte ihm, so einfach aufzugeben, gerade weil er so viel riskiert hatte. Er überlegte einen Moment, sich an Bason oder seinen Bruder zu wenden, entschied sich aber dann dagegen und machte sich wieder auf den Weg zu Laurus' Wagen. Wenn Elena und Abu Dun allein waren, dann würde er diesmal darauf bestehen, von Elena gewisse Antworten zu bekommen, und sollte Laurus wieder zurückgekehrt sein, würde er einfach behaupten, er wäre noch einmal gekommen, um nach Abu Dun zu sehen.

Er musste diesmal keinen Umweg machen, um das Lager zu umgehen, denn der Wagen, den Laurus und Elena bewohnten, befand sich nur ein knappes Dutzend Schritte entfernt. Trotzdem ging Andrej nicht auf direktem Wege dorthin, sondern huschte lautlos von Schatten zu Schatten und nutzte die Deckung der anderen Wagen aus, um sich ungesehen zu nähern. Ihm war klar, welches Misstrauen dieses Benehmen wecken musste, sollte ihn jemand zufällig beobachten, aber er hatte dennoch das sichere Gefühl, dass es besser war, nicht gesehen zu werden.

Und dieses Gefühl sollte ihn nicht täuschen. Wie zuvor blieb er auch diesmal im Schlagschatten seines Wagens stehen, um den bunt bemalten, vierrädrigen Karren zu beobachten, bevor er sich ihm endgültig näherte. Auch vor seinen Fenstern waren die Läden vorgelegt, aber durch die dünnen Ritzen schimmerte gelbes Licht, und nachdem er einen kurzen Moment gelauscht hatte, vernahm er Stimmen. Sie waren zu leise, um sie eindeutig zu identifizieren, aber er glaubte, zumindest die Elenas zu erkennen, und dazu noch zwei, vielleicht sogar drei andere, die aufgeregt miteinander diskutierten, sich möglicherweise sogar stritten.

Andrej war unschlüssig, was er nun tun sollte. Sein Gespräch mit Laurus heute Mittag und die Blicke, die der Sinti vorhin Elena zugeworfen hatte, erzählten eine eigene und eindeutige Geschichte, und je länger er lauschte, desto sicherer war er, Zeuge eines heftiges Streites zu werden, auch wenn er die Worte immer noch nicht verstand. Die Vorstellung, dass Elena und Laurus miteinander stritten, machte ihn nervöser als sie sollte. Was immer zwischen diesen beiden vorging, ging ihn nichts an. Trotzdem hatte er das absurde Gefühl, Elena gegenüber in der Pflicht zu sein, sie immer und unter allen Umständen zu verteidigen, ganz egal, ob sie im Recht war oder nicht.

Er war gerade zu dem Entschluss gekommen, näher an den Wagen heranzugehen, um vielleicht besser verstehen zu können, was hinter der geschlossenen Tür gesprochen wurde, als er einen wütenden Schrei hörte und gleich darauf das typische Klatschen eines Schlages. Nur einen Augenblick später wurde die Tür aufgerissen, und Laurus stürmte heraus. Mit einem einzigen Satz überwand er die paar Stufen bis zum Boden und entfernte sich mit weit ausgreifenden, zornigen Schritten. Andrej sah ihm verwirrt und alarmiert zugleich nach, wandte sich dann aber wieder dem Wagen zu. Die Tür hatte sich hinter Laurus nicht geschlossen, und er sah flackerndes, gelbes Licht und Schatten, die sich hektisch zu bewegen schienen. Die Stimmen waren nun deutlicher, aber er konnte sie immer noch nicht verstehen, denn sie sprachen wieder in jenem fremden und zugleich doch so sonderbar vertraut erscheinenden Dialekt, den er schon ein paar Mal in diesem Lager gehört hatte und der vermutlich die Muttersprache dieser Sinti-Familie war. Dann erschien Elena unter der Tür. Obwohl er sie nur als schwarzen Umriss vor dem hell erleuchteten Hintergrund erkennen konnte, war nicht zu übersehen, wie aufgelöst und zornig sie war. Sie sprang nicht die Stufen hinab wie Laurus vor ihr, überwand sie aber genauso schnell, sodass es kaum einen Unterschied machte, und obwohl sie nach zwei Schritten bereits wieder stehen blieb und sich zum Wagen herumdrehte, machte es im ersten Moment trotzdem den Anschein, als ob sie hinter ihrem Mann herstürmen und ihn aufgebracht zur Rede stellen wollte. Er hatte sich nicht getäuscht. Er war Zeuge eines Streites geworden. Eines sehr heftigen Streites offensichtlich.

Alles in Andrej schrie danach, aus seinem Versteck herauszutreten und Elena zu fragen, was passiert war und ob sie Hilfe benötigte. Stattdessen zog er sich jedoch ein winziges Stückchen tiefer in die Schatten zurück und beobachtete aufmerksam, was weiter geschah. Elena rief etwas zu jemandem, der sich noch im Wagen aufhalten musste, bekam eine Antwort in der gleichen, unverständlichen Sprache, und nur einen Herzschlag später erschien einer ihrer Brüder unter der Tür - ob Rason oder Bason, konnte Andrej bei dem schlechten Licht nicht sagen; die beiden waren ja schon im hellen Sonnenschein so gut wie nicht auseinander zu halten. Zusammen mit einer zweiten, deutlich kleineren und gebückt gehenden Gestalt, die sich so unsicher bewegte, dass er sie auf jeder Stufe stützen musste, verließ auch Elenas Bruder den Wagen, und dicht hinter ihm und seiner Begleitung tauchte ein dritter, fast identischer Umriss unter der Tür auf; der andere Zwilling.

Bei der Gestalt, die er und sein Bruder zwischen sich führten, handelte es sich um niemand anderes als Anka. Das Licht, das aus dem Wagen nach draußen fiel, war zu schwach, um ihr Gesicht zu erkennen, aber Andrej identifizierte eindeutig ihre schmale, gebückte Gestalt, das strähnige Haar, und er konnte sogar schwach ihre Ausdünstung wahrnehmen; jener typische Geruch, der nur wirklich alten Menschen anhaftet und die Lebenden daran erinnert, wie kurz die Spanne ist, die ihnen noch bleibt. Nun, wenigstens wusste er jetzt, warum die Puuri Dan nicht in ihrem Wagen gewesen war.

Elena und Anka wechselten noch einige Worte in jener Andrej unverständlichen Sprache: Elena sprach laut, erregt, fast aggressiv, Anka in einem vollkommen anderen, zugleich besänftigenden wie gebieterischen Tonfall. Schließlich machte Elena eine zornige Kopfbewegung, und ihre beiden Brüder nahmen die alte Zigeunerin in die Mitte und führten sie langsam in Richtung ihres Wagens davon. Elena blieb reglos und hoch aufgerichtet stehen und sah ihnen nach. Sie machte keine Anstalten, in den Wagen zurückzugehen oder sich vielleicht in die entgegengesetzte Richtung zu wenden, um Laurus zu folgen.

Andrej wartete, bis die Schritte in der Dunkelheit verklungen waren, dann trat er lautlos aus seinem Versteck hervor und ging auf Elena zu. Die Sinti blickte immer noch in die Richtung, in der ihre Brüder und die Puuri Dan verschwunden waren, und obwohl sich Andrej keine Mühe gab, leise zu sein, bemerkte sie ihn erst, als er gerade noch zwei Schritte von ihr entfernt war. Sie fuhr deutlich zusammen und prallte einen Schritt zurück, und für die winzige Zeitspanne, die sie für diese Bewegung brauchte, breitete sich ein Ausdruck von Erschrecken auf ihrem Gesicht aus, den Andrej nicht mehr verstand, und der fast an Entsetzen grenzte. Dann hatte sie sich wieder in der Gewalt.

»Andreas?«, murmelte sie mit gespielter Überraschung. »Was ... wie lange bist du schon hier?« Andrej machte noch einen weiteren Schritt auf sie zu und blieb dann abrupt wieder stehen. Er war jetzt nahe genug, um Elenas Gesicht deutlich erkennen zu können - zumindest nahe genug, um zu sehen, dass dessen linke Hälfte gerötet war und ihr Auge und der Wangenknochen darunter bereits anzuschwellen begannen.

»Lange genug«, sagte er. »Das war Laurus, habe ich Recht?« Elena machte eine erschrockene Bewegung, wie, um die Hand vor das Gesicht zu heben, führte sie aber nicht zu Ende, sondern ließ den Arm auf eine sonderbar schuldbewusste Art wieder sinken. »Wieso ... was?«

»Hör mit dem Theater auf«, sagte Andrej grob. »Ich bin weder blind noch taub. Hat er dich geschlagen, oder war es einer deiner Brüder?«

Die Art, in der er das Wort Brüder betonte, erschreckte ihn beinahe selbst.

»Und wenn?« Elena hatte ihre Selbstbeherrschung jetzt endgültig zurückgewonnen. Sie sah nicht mehr erschrocken oder verlegen aus. Ganz im Gegenteil blitzten ihre Augen zornig, und der einzige Ausdruck, den er jetzt noch auf ihren Zügen las, war eine Mischung aus Trotz und gespielter Herablassung. »Und wenn es so wäre? Würdest du ihm nacheilen und ihm die Kehle durchschneiden?«

»Nein«, antwortete Andrej ehrlich. »Aber vielleicht würde ich dafür sorgen, dass sie morgen früh wissen, wie du dich jetzt fühlst.«

Elena blinzelte. Im ersten Moment schien sie mit dieser Antwort nichts anfangen zu können, dann aber lachte sie ganz leise. »Das ist eine interessante Formulierung. Ich werde sie mir merken und bei Gelegenheit selbst benutzen - wenn du gestattest.«

»Das ist keine Antwort auf meine Frage«, sagte Andrej. »Wer war das?«

»Ich wüsste nicht, was dich das angeht, Andreas«, sagte Elena. Ihre Stimme klang spröde, aber das Flackern in ihren Augen strafte diesen Ausdruck Lügen. Ihre Sicherheit war nur aufgesetzt, und das nicht einmal besonders überzeugend. Andrej spürte, welches Chaos hinter ihrer Stirn tobte.

»Laurus«, sagte er.

Elena antwortete nicht, aber ihr Schweigen war auch schon Antwort genug.

»War es meine Schuld?«, fragte er.

Elena zögerte gerade lange genug, um ihrem Kopfschüttelnd endgültig die Glaubwürdigkeit zu nehmen. »Nein«, sagte sie.

»Du brauchst keine Rücksicht auf mich zu nehmen«, sagte er. »Und du musst auch keine Angst haben. Ich werde ihn nicht zur Rede stellen, oder sonst irgendetwas Dummes tun. Nicht, wenn du es nicht willst.«

»Warum sollte ich wollen, dass du etwas Dummes tust?«

»Erwarten Frauen das nicht immer von Männern?«

»Nein«, antwortete Elena. »Wir erwarten es keineswegs. Aber wir sind es gewohnt.«

Andrej starrte sie eine Sekunde lang verwirrt an, dann musste er gegen seinen Willen lachen, und nach einem weiteren Augenblick stimmte auch Elena in dieses Lachen ein, auch wenn es nicht sehr laut war und nicht besonders lange anhielt. Aber der peinliche Moment war vorüber; der Punkt, an dem einer von ihnen eine Grenze überschreiten würde, die er im Grunde nicht überschreiten wollte, vermieden. »Du hast Recht«, gestand sie, während sie nun doch die Hand hob und mit spitzen Fingern ihr Gesicht betastete, wenn auch auf eine Art, die die Bewegung eher aussehen ließ, als würde sie ihre geschwollene Wange verbergen. »Es war Laurus. Aber es ist nicht schlimm.«

»Und es war meine Schuld«, vermutete Andrej. Erst, als er die Worte ausgesprochen hatte, wurde ihm klar, dass er die Frage aus dem einzigen Grund stellte, ein eindeutiges Nein als Antwort hören zu wollen. Elena tat ihm diesen Gefallen jedoch nicht, sondern schwieg eine quälende, kurze Ewigkeit lang und zuckte schließlich nur mit den Schultern.

»Nein«, sagte sie. »Ja ... es ist eben passiert.«

»Was?«

»Er war wütend, weil dein Freund und du zur Mühle geritten seid. Er sagt, ihr wäret schlecht für uns, würdet nur Ärger bringen ...« Sie zuckte mit den Schultern. »Und ich habe den Fehler gemacht, ihm zu widersprechen.«

»Und das gibt ihm das Recht, dich zu schlagen?« Die Frage schien Elena zu verwirren. Sie sah ihn verständnislos an. »Laurus ist nicht schlecht«, sagte sie schließlich. »Das darfst du nicht glauben.«

»Natürlich nicht«, sagte Andrej sarkastisch. »Ich nehme an, er schlägt dich nicht oft. Und wenn, dann hast du es wahrscheinlich auch verdient.«

Das kurze Aufblitzen in Elenas Augen sagte ihm nicht nur, dass sie seinen Sarkasmus nicht verstanden hatte, sondern auch, dass sie seine Bemerkung wohl genau anders herum aufnahm, als sie gemeint war. »Ihr habe ihn gereizt«, sagte sie, eine Spur, aber doch eine hörbare Spur, kühler.

»Das ist kein Grund, dich zu schlagen.«

»Wenn ein Mann dich reizt, schlägst du ihn dann nicht, Andreas?«

»Das ist ein Unterschied«, erwiderte Andrej verärgert. »Ich würde niemals eine Frau schlagen. Ein Mann kann sich wehren.«

»Und wer sagt dir, dass eine Frau das nicht kann?« In Elenas Augen blitzte es spöttisch auf, und Andrej schluckte die Antwort, die ihm auf der Zunge lag, herunter. Das Gespräch begann sich in eine Richtung zu entwickeln, die ihm nicht behagte. Nicht jetzt, und nicht hier.

»Du hast meine Frage nicht beantwortet«, sagte er. »Schlägt er dich oft?«

»Nein«, antwortete Elena. Sie schürzte die Lippen. »Vermutlich nicht öfter, als andere Männer ihre Frauen schlagen.« Sie hob die Stimme, als sie sah, dass er antworten wollte. »Wie gesagt: Es war meine eigene Schuld. Ich habe ihn gereizt. Und ich wusste, was passiert, wenn ich es übertreibe.«

»Es ging um mich, habe ich Recht?«, fragte Andrej. »Gestern Nacht im Wald, da wollte ich nicht -«

»Um dich?« Die Überraschung in Elenas Stimme war so echt, dass Andrej mitten im Satz abbrach und sie nur verständnislos ansah. Plötzlich hatte er das Gefühl, etwas ziemlich Dummes gesagt zu haben. »Ich glaube, du nimmst dich zu wichtig, Andreas. Laurus weiß nichts von gestern Nacht, aber selbst wenn er es wüsste wäre das kein Grund für ihn, wütend zu werden, weder auf dich noch auf mich. Und schon gar nicht, mich zu schlagen.«

»Warum war Anka dann in eurem Wagen?« Elena hob die Schultern. »Ich muss gestehen, es fällt mir ein wenig schwer, deinem Gedankengang zu folgen, Andreas - aber in diesem Fall kommst du der Wahrheit wenigstens nahe. Ich hatte Rason geschickt, um Anka zu holen, damit sie nach deinem Freund sieht.«

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