DIE CHRONIK DER UNSTERBLICHEN



DER UNTERGANG


Alessa stand im Wasser des Flusses, das an dieser Stelle tief genug war, um ihr bis an die Kniekehlen zu reichen, und reißend genug, um kleine, schaumige Wirbel hinter ihren Beinen zu bilden. Sie hatte sich weit nach vorne gebeugt, damit sie sich mit beiden Händen Wasser ins Gesicht schöpfen konnte.

Ihre Haltung erfüllte Andrej mit leiser Sorge. Vermutlich war der Flussgrund mit glatt polierten Steinen bedeckt. Steine, auf denen ein einziger Fehltritt oder eine unbedachte Bewegung fast unweigerlich zu einem Sturz führen mussten. Das Wasser war nicht tief, weder dort, wo das Mädchen stand, noch weiter zur Mitte hin. Andrej konnte deutlich Steinformationen ausmachen, die in regelmäßigen Abständen aus dem Wasser ragten - offenbar eine von Menschenhand angelegte Furt, auf der man das Gewässer mit ein wenig Geschick trockenen Fußes überqueren konnte. Aber der Fluss besaß an dieser Stelle auch eine gefährliche Strömung, und Alessa war keine besonders gute Schwimmerin. Ich sollte hinunter gehen und sie warnen, dachte er, oder besser gleich ... »Andrej?« Abu Duns Stimme riss ihn aus seinen Gedanken.

Das Mädchen dort unten war nicht Alessa. Alessa war seit mehr als einem Jahr tot, und er sollte endlich aufhören, in jeder jungen Frau, die ihr auch nur entfernt ähnelte, die junge Unsterbliche zu sehen. Das Mädchen dort unten hatte nicht einmal Ähnlichkeit mit ihr. Es war deutlich jünger; ein Kind, das bald zur Frau werden würde. Es hatte glattes, bis auf die Schultern fallendes, rabenschwarzes Haar, während Alessa...

Andrej runzelte die Stirn. Er versuchte, sich an die Farbe von Alessas Teint zu erinnern, aber es gelang ihm nicht. Ebenso wenig, wie er sich an ihr Gesicht erinnern konnte. »Andrej, was treibst du da? Seit wann findest du Gefallen daran, dich im Gebüsch zu verstecken, um nackten Bauernmädchen beim Baden zuzusehen?«

»Sie ist nicht nackt!«, antwortete Andrej. Nach einem Moment fügte er seufzend hinzu: »Und nenn mich nicht Andrej!«

Abu Duns ebenholzfarbenes Gesicht verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. »Ganz wie Ihr befehlt, Herr. Oder wäre Euch Sahib lieber?« Für einen Moment wurde sein Grinsen noch breiter, dann trat er an Andrejs Seite und sah mit gespielter Konzentration zum Fluss hin. »Ihr habt Recht, oh allergnädigster Herr und Meister. Sie ist nicht nackt.«

»Andreas«, sagte Andrej, ohne auf Abu Duns Worte einzugehen. »Wir hatten uns doch geeinigt, dass ich ab sofort Andreas heiße.«

»Ganz wie Ihr befehlt, oh Bewunderungswürdiger.« Abu Dun neigte demutsvoll das Haupt und tat so, als griffe er nach Andrejs Hand, um sie zu küssen. »Und wie habt Ihr in Eurer unermesslichen Weisheit beschlossen, mich in Zukunft zu nennen, oh Herr? Marianne vielleicht? Oder Theresa?«

»Auf jeden Fall werde ich nur respektvoll von dir sprechen«, erwiderte Andrej. »Du weißt doch: Man spricht nicht schlecht über Tote.«

Abu Dun feixte unbeeindruckt weiter, und Andrej ermahnte sich, das sinnlose Spiel nicht fortzuführen. Er konnte dabei nur verlieren.

Es war mehr als einen Monat her, dass er sich entschieden hatte, nicht mehr seinen ursprünglichen Namen zu benutzen, sondern die hier zu Lande gebräuchliche Form. Fremde erweckten in diesen Zeiten, die denkbar schlecht waren, deutlich mehr Misstrauen als Neugier. Und fremden Kämpfern, die aus dem Osten kamen - der Richtung, aus der sich der Krieg in das Land hineinfraß - wurde erst recht mit Argwohn begegnet. So war Andrej aus der Rolle des Kriegers, der durch das Land zog, in die des fahrenden Händlers und Kaufmanns geschlüpft; eine Verkleidung, die ebenso einfach wie unerwartet erfolgreich gewesen war. Was Abu Dun aber nicht daran hinderte, ihn deswegen zu verspotten.

»Wir sollten das Mädchen fragen«, sagte Andrej. »Vielleicht hat es was von den Zigeunern gehört. Sie müssen hier irgendwo sein!«

Ein ganzes Jahr suchten sie jetzt schon nach der Sinti-Sippe, von der Alessa erzählt hatte, ohne ihr bisher auch nur nahe gekommen zu sein. Sie hatten fast ein Dutzend Zigeunerfamilien gefunden, aber in keiner von ihnen lebte die Puuri Dan, die Alessa erwähnt hatte. Vielleicht jagten sie einem Phantom hinterher. Und manchmal fragte sich Andrej gar, ob es Alessa je gegeben hatte.

»Und warum?«, unterbrach Abu Dun seine Gedanken. »Wieso müssen sie in der Nähe sein, Andreas?« Er sprach den Namen wie Andreasch aus, zweifellos um ihn zu ärgern. »Allein, weil Ihr es so wünscht, oh Allererleuchtetster?«

Andrej schwieg dazu. Er hätte die Frage ohnehin nicht beantworten können. Jedenfalls nicht, ohne eingestehen zu müssen, dass Abu Dun Recht hatte. Stattdessen warf er dem riesenhaften Nubier einen verärgerten Blick zu und begann, den steinigen Hang hinabzugehen, der den Waldrand vom eigentlichen Flussufer trennte. Als er aus dem Schatten der Bäume hervortrat, spürte er die Berührung des Sonnenlichtes wie das Streicheln einer zarten Hand auf dem Gesicht. Obwohl es bald dunkel werden würde, hatte die Sonne noch Kraft, und es würde wahrscheinlich lange dauern, bis die Temperaturen auch nur auf ein halbwegs erträgliches Maß sinken würden. Der Sommer war noch entfernt, doch die Tage wurden jetzt schon fast unerträglich heiß. Das Mädchen stand gewiss nicht nur dort unten im Wasser, um im Spiel herumzuplantschen.

Andrej hatte sich dem Fluss bis auf weniger als fünf Schritte genähert, als das Mädchen seine Anwesenheit bemerkte. Dessen Reaktion fiel jedoch anders aus, als Andrej erwartet hätte. Die meisten Menschen, auf die er und Abu Dun trafen, reagierten misstrauisch, wenn nicht erschrocken oder gar mit offener Feindseligkeit auf ein unbekanntes Gesicht. Gastfreundschaft wurde auch in diesem Land hochgehalten, aber, das hatten Abu Dun und er schmerzlich erfahren müssen, einem Fremden Obdach zu gewähren und ihm zu vertrauen, das war nicht dasselbe. So hatten sie es schon mehr als einmal vorgezogen, unter freiem Himmel zu nächtigen, statt in einem Haus, dessen Bewohner keinen Hehl daraus machten, dass sie die Gäste lieber gehen als kommen sahen.

Das schwarzhaarige Mädchen jedoch zeigte keine Furcht. Als es auf das Geräusch seiner Schritte aufmerksam wurde, fuhr es hoch und sah für einen kurzen Moment gleichermaßen verlegen wie ertappt aus. Dann jedoch erschien ein neugieriges Funkeln in seinen Augen, und ein Lächeln auf seinem Gesicht, in dem Andrej vergeblich nach einer Spur von Scheu suchte.

»Oh!«, sagte es schließlich. »Ich habe Euch gar nicht kommen hören.«

Mehr noch als sein Aussehen, machte die Stimme des Mädchens Andrej klar, dass er tatsächlich noch ein Kind vor sich hatte. Elf, allerhöchstens aber zwölf Jahre alt, vermutlich sogar jünger. Sein Körper, der unter dem vollkommen durchnässten Kleid deutlich zu erkennen war, zeigte schon die ersten weiblichen Rundungen, aber sein Gesicht, und vor allem seine Stimme, gehörten eindeutig einem Kind.

Andrej wurde sich der Tatsache bewusst, dass er das Mädchen seit einer geraumen Weile anstarrte. Rasch räusperte er sich und knüpfte - wenn auch mit einiger Verspätung - an ihre Worte an. »Das habe ich bemerkt. Du solltest vorsichtiger sein.«

»Vorsichtiger?«

»Nicht alle Fremden, denen man begegnet, sind unbedingt vertrauenswürdig«, erklärte Andrej und zweifelte gleich da - an seinem Geisteszustand. Gerade noch hatte er selbst bedauert, wie wenig Vertrauen unter den Menschen herrschte und jetzt bediente er sich der Argumente derer, denen diese bitteren Gedanken galten.

Das Mädchen schüttelte aber auch jetzt nur den Kopf, und sein Lächeln wurde noch herzlicher. »Ihr seht nicht aus wie jemand, vor dem ich mich fürchten müsste. Und Euer großer Freund dort hinten auch nicht.«

Andrej wandte kurz den Blick und sah, dass Abu Dun mit einigem Abstand und sehr langsam herankam. Eigentlich, dachte er, sieht Abu Dun durchaus aus wie jemand, vor dem man sich fürchten sollte. Er trug zwar ebenso wenig wie Andrej eine Waffe - zumindest nicht sichtbar -, aber dank seiner riesigen, massigen Gestalt, seiner ganz in Schwarz gehaltenen Kleidung - und noch dazu mit einem riesigen Turban ausgestattet, der ihn noch gewaltiger erscheinen ließ - sah er alles andere als Vertrauen erweckend aus.

»Du hast natürlich Recht«, beeilte er sich zu sagen. »Wir sind einfach nur zwei müde Reisende, die auf der Suche nach einem Gasthof oder einem anderen Schlafplatz sind. Kannst du uns sagen, wo das nächste Dorf liegt?«

Das Mädchen machte eine vage Kopfbewegung zum anderen Flussufer. »Dort. Ist nicht sehr weit. Eine halbe Stunde zu Fuß. Viel weniger zu Pferde.«

Andrej blinzelte. »Woher weißt du, dass wir Pferde dabeihaben?«

»Ihr tragt Reithosen«, antwortete das Mädchen. »Und ich kann Eure Tiere riechen. Ihr Geruch haftet Euch noch an.«

Nun war Andrej wirklich überrascht. Er hatte sich in den zurückliegenden Jahren so sehr daran gewöhnt, über die scharfen Sinne eines Raubtiers zu verfügen, dass es ihm Selbstverständlich erschien, riechen zu können, ob und wann jemand im Sattel gesessen hatte, was seine letzte Mahlzeit gewesen war, oder ob er in der vergangenen Nacht keusch gewesen war. Einem normalen Menschen war das allerdings nicht möglich.

»Das stimmt«, gab er überrascht zu. »Unsere Pferde sind oben im Wald. Du hast ... sehr scharfe Sinne.«

»Das sagt meine Mutter auch immer«, antwortete das Mädchen lachend, gleichzeitig schüttelte es so heftig den Kopf, dass seine nassen Haare gegen seine Schultern klatschten.

Und für einen unendlich kurzen Moment veränderte es sich. Für jene, weniger als einen Atemzug währende Spanne, in der Andrej sein Gesicht eingerahmt von wehendem nassem Haar und unzähligen, stiebenden Wassertröpfchen sah, die im Gegenlicht der untergehenden Sonne wie Rubinstaub leuchteten, war es nicht mehr das Gesicht eines Kindes. Auch nicht das einer Frau oder überhaupt eines Menschen. Die Züge des Mädchens hatten sich nicht wirklich verändert, und doch wirkten sie plötzlich ... schärfer, härter, bösartiger ... Wen hatte er da vor sich? Ein Ding, das vorgab, ein Mensch zu sein?

Andrej blinzelte, und die Illusion verschwand so rasch wie sie gekommen war. Vor ihm stand ein elf- oder zwölfjähriges Mädchen, das sein Erschrecken bemerkt zu haben schien, denn es sah ihn mit verwirrtem Blick an, fuhr aber trotzdem fort: »Aber es stimmt nicht. Ich liebe Pferde und verbringe fast mehr Zeit im Stall als sonst wo. Deshalb kenne ich ihren Geruch so gut.«

»Das ist ... sehr interessant«, murmelte Andrej. Es fiel ihm schwer, überhaupt zu sprechen, und er war auch nicht sicher, ob er die Worte des Mädchens richtig verstanden hatte. Sein Herz raste. Alles in ihm befand sich in Aufruhr. Er spürte, wie seine Finger zu zittern begannen, ohne dass er etwas dagegen tun konnte. Aus aufgerissenen Augen starrte er das Mädchen an. Er suchte nach etwas in ihrem Blick.

Nichts. Er hatte sich getäuscht. Seine Nerven hatten ihm einen bösen Streich gespielt, wie so oft in letzter Zeit. Dieses Kind war ein Kind, nichts anderes.

Dennoch schloss er für einen Moment die Augen und lauschte in sich hinein. Er tastete mit seinen geheimen Sinnen nach der Seele seines Gegenübers, jenen unsichtbaren und unheimlichen Kräften, die er selbst kaum besser verstand als Abu Dun oder die wenigen anderen Menschen, denen er sein Geheimnis jemals offenbart hatte; jenes Geheimnis, das für ihn Segen und Fluch zugleich war. Aber er fühlte nichts.

»Herr?«

Andrej öffnete die Augen, blinzelte ein paar Mal und zwang schließlich ein verunglücktes Lächeln auf seine Züge. »Es ist nichts«, beteuerte er. »Entschuldige, wenn ich dich erschreckt habe. Ich war in Gedanken. Du brauchst dich nicht zu fürchten.«

»Aber das tue ich nicht«, versicherte das Mädchen. Es schüttelte wieder den Kopf, diesmal aber, ohne dass sich seine Züge veränderten. »Mein Vater hat mir gezeigt, wie man sich verteidigt, wenn es sein muss.«

»Dann scheint mir dein Vater kein sehr kluger Mann zu sein«, sagte Abu Dun, der mittlerweile ganz herangekommen war und den letzten Teil des Gesprächs mitangehört hatte. Andrejs sonderbares Benehmen schien ihm ebenfalls nicht entgangen zu sein, denn er sah ihn mit einer Mischung aus Neugier und leiser Besorgnis an, fuhr aber dann, sich an das Mädchen wendend, fort: »Er hätte dir lieber beibringen sollen, wie man rechtzeitig wegläuft.«

»Weglaufen? Aber wozu? Wenn ich der Meinung gewesen wäre, dass Ihr mir Übles wollt, dann hätte ich Euch längst getötet.« Die Hand des Mädchens verschwand hinter seinem Rücken und kam mit einem kurzen, zweischneidig geschliffenen Dolch wieder zum Vorschein. »Ich habe eine Waffe. Hier, seht Ihr?«

Abu Duns Gesicht verdüsterte sich. »Ich muss mich korrigieren«, sagte er. »Dein Vater ist ein Dummkopf.«

»Das sagt meine Mutter auch manchmal«, kicherte das Mädchen. »Aber nur, wenn er es nicht hört.«

»Interessant«, murmelte Andrej. »Aber jetzt müssen wir weiter. Ich danke dir, dass du uns den Weg gewiesen hast.« Ruckartig drehte er sich um und machte dabei eine fast herrische Handbewegung in Abu Duns Richtung. »Komm!«

Der Nubier sah ihn verblüfft an, zuckte dann aber nur die Achseln und folgte ihm. Als sie einige Schritte gegangen waren fragte er: »Was ist los?«

»Nichts«, antwortete Andrej ausweichend. »Es ist nur ...«

»Ihr Haar?«

»Dieses Mädchen«, gestand Andrej, »ist mir unheimlich. Irgendetwas stimmt nicht mit ihr.«

Abu Dun sog hörbar die Luft zwischen den Zähnen ein. »Ist sie ...?«

»Nein, das nicht«, unterbrach ihn Andrej so scharf und erschrocken, als fürchte er, dass etwas Schreckliches geschehen müsste, wenn Abu Dun den Gedanken ausspräche, den er nicht einmal zu denken wagte. »Sie ist nur ein Mädchen. Und ich mag sie nicht, das ist alles.«

Darauf antwortete Abu Dun nicht. Aber sein Schweigen war beredt genug. Andrej beschleunigte seine Schritte. Er hatte Abu Dun nicht ganz die Wahrheit gesagt. Das Mädchen war ihm nicht unheimlich.

Das Mädchen machte ihm Angst.

Sie hatten gerade einmal den halben Weg den Hang hinauf zurückgelegt, als sie erneut seine Stimme vernahmen: »Ihr Herren?«

Am liebsten wäre Andrej einfach weitergegangen. In Anwesenheit des Nubiers jedoch wäre ihm dieses Eingeständnis seiner eigenen Schwäche unangenehm gewesen, und so blieb er widerwillig stehen und drehte sich zu dem Mädchen um. »Was ist denn noch?«

Das Mädchen war aus dem Fluss herausgetreten und stand am Ufer. Seltsam: Im roten Gegenlicht der Sonne sah es so aus, als wären seine Kleider bereits wieder getrocknet, und auch sein Haar klebte nicht mehr nass am Kopf.

»Ich habe es mir überlegt«, sagte es. »Ich glaube, ich werde Euch doch töten.«

Andrej presste die Lippen aufeinander, und Abu Dun zog die Stirn in Falten. »Du solltest vorsichtig mit solchen Scherzen sein«, grollte er. »Nicht jeder ist so geduldig wie wir. So etwas könnte dir eine gehörige Tracht Prügel einbringen.«

»Ich scherze nie«, antwortete das Mädchen. »Und meine Geschwister auch nicht.«

Die Hand, die eben noch den Dolch gehalten hatte, deutete an Andrej vorbei zum Waldrand hinauf. Alarmiert fuhr er herum.

Und hätte um ein Haar laut aufgeschrien.

Über ihnen waren drei weitere schmächtige Gestalten aus dem Unterholz getreten. Drei Knaben, von denen zwei kaum älter sein konnten als das Mädchen. Der Dritte aber war annähernd so groß wie Andrej, und vielleicht fünfzehn oder sechzehn Jahre alt. Alle drei waren ähnlich gekleidet wie das Mädchen - ihre Schwester, wenn sie die Wahrheit gesagt hatte. Sie trugen dünne Sandalen und einfache, sackleinene Hemden, die anstelle eines Gürtels nur von groben Stricken zusammengehalten wurden. Alle drei hatten dasselbe pechschwarze Haar. Andrej schauderte, als er der Kälte in ihren Augen gewahr wurde.

»Was zum Teufel bedeutet das?«, murmelte Abu Dun.

Andrej schüttelte langsam den Kopf. »Nichts Gutes.«

Der hünenhafte Nubier schlug seinen Mantel zurück und legte vorsorglich die Hand auf den Griff des Krummsäbels, den er darunter trug. Langsamer, deutlich langsamer als zuvor, setzten sie sich wieder in Bewegung. Andrejs Herz begann wieder zu rasen. Es waren nur Kinder, aber irgendetwas stimmte hier nicht.

Der älteste der drei Jungen, von dem Andrej annahm, dass er zugleich auch den Anführer darstellte, löste sich von seinem Standort und kam ihnen entgegen, während sich die beiden anderen nach rechts und links entfernten. Andrej musste sich nicht umsehen, um zu wissen, dass sich auch das Mädchen von seinem Platz fortbewegt hatte und ihnen folgte. Kein Zweifel: Diese vier Kinder waren dabei, sie einzukreisen.

Doch waren es wirklich Kinder?

Plötzlich blieb der ältere der Jungen stehen und zog etwas hinter seinem Rücken hervor. Andrej riss ungläubig die Augen auf, als er erkannte, dass es sich um ein schlankes, mehr als einen Meter langes Schwert handelte, das in einer reich verzierten Scheide aus schwarzem Leder steckte. Auch die Klinge war mit kunstvollen Gravuren verziert, und die Blutrinne hatte die Form einer gewundenen Schlange. Andrej wusste das.

Schließlich war es sein Schwert.

»Guten Tag, die Herren«, sagte der Junge. Seine Stimme war so weich und kindlich wie die seiner Schwester, aber es lag etwas darin, das Andrej schaudern ließ. Ebenso wie der Ausdruck in seinem Gesicht. Es war nichts Sichtbares. Der Junge hatte ein fein geschnittenes, fast hübsches Antlitz, aber unter dieser schönen Maske war noch etwas. Etwas Grässliches, Lauerndes.

»Wie kommst du an dieses Schwert?«, fragte Andrej scharf.

Der Junge lächelte. »Es gehört Euch, vermute ich? Eine wirklich prachtvolle Waffe. Schade nur, dass Ihr sie nicht mehr brauchen werdet.«

Er warf das Schwert mit einer achtlosen Bewegung ins Gras. Seine Augen wurden schmal. »Ein toter Mann benötigt keine Waffe mehr, oder?«

»Das reicht jetzt!«, zischte Abu Dun. »Treibt es lieber nicht zu weit, oder ich verpasse euch die schlimmste Tracht Prügel eures Lebens!«

»Ach?«, antwortete der Junge. »Tust du das, schwarzer Mann?« Er kicherte.

Abu Dun starrte ihn einen Moment lang drohend an, dann löste sich sein Blick vom Gesicht des Jungen und suchte misstrauisch den Waldrand über ihm ab. Andrej wusste, wonach er Ausschau hielt: Eine verräterische Bewegung, Schatten, die sich im Dickicht verbargen ... irgendeinen Hinweis auf den Hinterhalt, den er zweifellos vermutete. Was sonst sollte das irrsinnige Benehmen dieser Kinder zu bedeuten haben, wenn nicht die Ablenkung von etwas anderem, sehr viel Gefährlicherem?

Andrej konnte das Gefühl nicht begründen, aber er wusste plötzlich, dass dies kein Hinterhalt war. Keineswegs hatten sie es mit einer Räuberbande zu tun, die sich auf die Lauer gelegt hatte und ihre eigenen Kinder als Köder benutzte. Die Gefahr ging einzig von diesen vier Kindern aus.

»Ich bitte dich, hör mit dem Unsinn auf, Junge«, sagte er. »Ihr habt euren Spaß gehabt, aber nun muss es gut sein.« Als der Junge nicht antwortete, ging Andrej weiter und bückte sich nach dem Schwert. Er rechnete damit, dass er und die drei anderen versuchen würden, ihn daran zu hindern, doch er kehrte unbehelligt an Abu Duns Seite zurück und befestigte die Waffe an seinem Gürtel.

»Jetzt fühlt Ihr Euch gewiss stärker, wie?«, fragte der Junge spöttisch.

Andrej antwortete nicht, sondern legte die Hand auf den Schwertgriff und drehte sich langsam um die eigene Achse. Die Kinder hatten sie mittlerweile umringt und waren in drei oder vier Schritten Abstand stehen geblieben. Sie sahen aufmerksam zu ihnen auf, und auf ihren Gesichtern war nicht die mindeste Spur von Furcht zu erkennen.

Dafür machte sich umso mehr davon in Andrejs Herzen breit, als ihm lieb war. Fast verzweifelt lauschte und witterte er in den Wald hinein, aber dort war niemand. Er hätte es gespürt, hätte sich dort oben jemand versteckt. Die Angst, die immer heftiger in seinen Eingeweiden wühlte, wurde eindeutig von diesen vier Kindern verursacht. Von Kindern?

»Jetzt ist es aber endgültig genug!«, rief Abu Dun wütend. Mit einer einzigen Bewegung schlug er seinen Mantel vollends zurück und riss das Schwert aus der Scheide. Gleichzeitig trat er auf den Jungen zu. »Nimm die Beine in die Hand und lauf, so schnell du kannst, du ungehobelter Bengel, oder...«

»Oder?«, unterbrach ihn der Junge. »Wirst du dein großes Messer nehmen und mich damit schneiden?« Grinsend legte er den Kopf in den Nacken und bot Abu Dun seine Kehle dar. »Nur zu, schwarzer Mann. Versuch es ruhig.«

Abu Dun war verblüfft stehen geblieben, und sein Blick wanderte von dem Jungen zu der Klinge in seiner Hand. Der Kleine spielte ein gefährliches Spiel. Natürlich würde Abu Dun ihm nicht die Kehle durchschneiden, ganz gleich, wie sehr ihn der Knabe reizte, aber der Nubier war auch nicht zimperlich und würde nicht zögern, ihm eine Lektion zu erteilen, die er lange Zeit nicht vergessen würde.

Abu Dun zögerte. Ein gequälter Ausdruck erschien auf seinem Gesicht. Abwechselnd starrte er das Schwert und den Jungen an, dann wieder das Schwert und noch einmal den Jungen - und schließlich ließ er die Waffe mit einem Laut sinken, der wie ein erstickter Schrei klang.

»Siehst du, schwarzer Mann?«, sagte der Junge lächelnd. »Du kannst es nicht. Eine Waffe allein nutzt gar nichts. Man muss auch bereit sein, sie zu benutzen. Wie ich zum Beispiel.«

Damit trat er ganz dicht an Abu Dun heran, riss den Dolch des Nubiers aus dessen Gürtel und zog ihm die Klinge in aller Seelenruhe über die rechte Hand. Der Nubier schrie gellend auf und starrte fassungslos auf den klaffenden, heftig blutenden Schnitt, der auf seinem Handrücken prangte.

Andrej riss sein Schwert aus der Scheide und spürte gleichzeitig, wie nutzlos diese Maßnahme war. Der Junge zeigte sich auch nicht im Geringsten beeindruckt, sondern bedachte ihn nur mit einem verächtlichen Blick, wandte sich um und ließ den Dolch fallen.

»Ihr seid langweilig«, beschwerte er sich. »Fällt Euch nichts Besseres ein?«

»Du wirst gleich sehen, was mir alles einfällt, du kleine Kröte!«, brüllte Abu Dun. Mit einem einzigen Satz war er bei dem Jungen, riss ihn in die Höhe und schüttelte ihn so wild, dass die Zähne aufeinander schlugen. Der Junge keuchte vor Schmerz und Schreck, und Abu Dun ließ ihn wieder los, wich zurück und starrte bestürzt auf seine eigenen Hände. Seine Rechte blutete noch immer, aber nicht sehr heftig. Der Schnitt, den ihm der Junge zugefügt hatte, war nicht besonders tief.

Allmählich wurde Andrejs Furcht von nackter Panik abgelöst. Er war unendlich weit davon entfernt zu verstehen, was hier vor sich ging, aber die Bedrohung, die von diesen vermeintlichen Kindern ausging, hing in der Luft wie übler Gestank. Es war keine Gefahr irgendeiner natürlichen Art.

Andrej ließ das Schwert sinken. Einen Moment lang blickte er die Waffe noch unschlüssig an, dann schob er sie in die Scheide zurück und versuchte, den Blick des Jungen einzufangen.

»Ich weiß nicht, wer ihr seid, oder was ihr seid«, begann er ruhig. »Aber wir sollten damit aufhören. Wir sind nicht wie die anderen, mit denen ihr es bisher vielleicht zu tun gehabt habt, glaubt mir.«

»Das stimmt«, sagte der Junge gehässig. »Ihr wimmert, statt euch zu wehren.«

»Das könnten wir«, antwortete Andrej ernst. »Glaub mir, wir haben Möglichkeiten, uns zu wehren, die du dir nicht einmal vorstellen kannst. Aber ich will dich nicht verletzen und deine Geschwister auch nicht.«

»Verletzen?« Der Junge lachte schrill. »Du kannst mich nicht verletzen, alter Mann. Niemand kann das. Niemand kann uns wehtun, weißt du?« Wieder lachte er böse. Dann fuhr er sich mit dem Handrücken über den Mund. Abu Dun hatte ihn so derb hin und her geschüttelt, dass seine Nase zu bluten begonnen hatte. Offensichtlich hatte er es bisher noch gar nicht bemerkt, denn nun blickte er den schmierigen Fleck auf seinem Handrücken überrascht an.

»Ich blute«, murmelte er. Dann begann er zu schreien: »Du hast mir die Nase blutig geschlagen! Schlagt sie tot! Schlagt die Schweine tot!«

Andrej spannte sich, als die vier Kinder gleichzeitig auf sie losstürmten. So wenig wie Abu Dun hatte er bisher wirklich begriffen, wer sie waren, und vor allem, was sie waren. Und so wenig wie der Freund wusste er, was er tun sollte. Das mit Abstand stärkste Gefühl, das er neben seiner Furcht empfand, war Verwirrung.

Es waren das Mädchen und einer der beiden jüngeren Knaben, die sich auf ihn stürzten, während ihre beiden Brüder Abu Dun attackierten. Der Araber allein war schwerer als diese vier Kinder zusammen. Unbewaffnet konnten sie also nicht einmal den Hauch einer Bedrohung darstellen. Unglückseligerweise war zumindest das Mädchen nicht unbewaffnet. Es hatte noch seinen Dolch, und im Gegensatz zu seinem Bruder dachte es auch nicht daran, die Waffe fortzuwerfen.

Andrej blickte den Jungen, der sich mit beiden Armen an seine Knie geklammert hatte, um ihn zu Fall zu bringen, noch verstört an, da hörte er auch schon das Reißen von Stoff. Im gleichen Moment spürte er den grässlichen Schmerz, als sein Rücken vom Nacken bis hinunter zu den Nieren aufgeschlitzt wurde. Andrej brüllte vor Qual, kippte nach vorn und versuchte noch im Fall sich zu drehen, um nicht aufs Gesicht zu stürzen und einem weiteren heimtückischen Angriff hilflos ausgeliefert zu sein.

Es gelang ihm nicht. Er fiel auf die Seite. Aber es war dennoch ein glücklicher Sturz, denn der Junge, der sich an sein Bein geklammert hatte, wurde davon geschleudert und landete in einem Gebüsch. Und auch das Mädchen setzte nicht sofort nach, um die Sache zu Ende zu bringen, sondern ließ ihren Arm sinken und blickte ihn nachdenklich an. Andrej konnte nicht sehen, was sie ihm an Verletzungen zugefügt hatte, aber dem Schmerz nach zu urteilen, musste die Wunde schlimm genug sein, um jeden normalen Menschen kampfunfähig zu machen, wenn nicht zu töten. Vermutlich hatte sie ihn gar nicht kurzerhand ausschalten wollen, sondern wünschte zuzusehen, wie er sich quälte und dabei allmählich verblutete.

Andrej schloss für einen Moment die Augen und konzentrierte sich darauf, den Schmerz in seinem Rücken abzuschalten. Dann rollte er mit einem übertrieben qualvollen Stöhnen herum. Erst jetzt brachte er die Blutung zum Stillstand und befahl dem zerrissenen Fleisch in seinem Rücken, sich wieder zusammenzufügen. Die Heilung setzte augenblicklich ein. Doch obwohl keine lebenswichtigen Organe verletzt worden waren, war die Wunde groß, und es würde mehrere Minuten dauern, bis er wieder gänzlich genesen war.

Doch genau in diesem Moment schien das Mädchen den Entschluss gefasst zu haben, dass es an der Zeit war, das grausame Spiel zu beenden. Es sprang vor.

Andrej hatte genügend Messerattacken erlebt, um zu erkennen, dass der Stich genau auf sein Herz zielte, und es wäre ihm trotz seiner Verletzung ein Leichtes gewesen, den Arm schützend vor die Brust zu legen und den Angriff abzuwehren.

Doch er tat es nicht. Nicht, dass er es nicht konnte. Da waren keine unsichtbaren Fesseln, die ihn hielten, kein übermächtiger Wille, der den seinen blockierte.

Er tat es nicht, und das schwarzhaarige Mädchen stieß ihm die Messerklinge direkt ins Herz.

Andrej entfuhr ein entsetztes Röcheln. Kurz starrte er das Messer, das aus seiner Brust ragte, mit der gleichen Fassungslosigkeit an, mit der Abu Dun zuvor seine eigenen Hände betrachtet hatte, dann wurde es schwarz um ihn.

Er starb. Allerdings nur in dem Maß, in dem es einem Geschöpf wie ihm möglich war. Und so dauerte es nicht lange, bis das Leben in seinen Körper zurückkehrte. Und wie immer war das Erwachen eine Qual. Der Schmerz war nicht das Schlimmste. Er war im Laufe seines Lebens so oft verletzt worden, dass es ihm kaum noch etwas ausmachte. Aber die seelische Folter, die damit einherging, schien von Mal zu Mal unerträglicher zu werden. Er hatte die Schwelle berührt - wie oft nun schon? -, und er hatte gespürt, was dahinter lag: Das Versprechen eines allumfassenden Friedens und immerwährender Ruhe, nach der er sich mehr sehnte als nach allem anderen. Diesmal war er der Schwelle so nahe gekommen wie nie zuvor. Nahe genug, um das verlockende Flüstern dahinter zu hören und das Licht zu spüren, das auf ihn wartete.

Und wieder war er zurückgerissen worden. Vielleicht war das seine Strafe: Diesen ewigen Frieden stets nur erahnen, ihn aber niemals erlangen zu dürfen.

Andrej öffnete die Augen und drehte vorsichtig den Kopf. Er konnte nicht allzu lange bewusstlos gewesen sein, denn der Kampf, den sich Abu Dun mit den vier Kindern lieferte, war noch immer in vollem Gange. Abu Dun keuchte vor Anstrengung und blutete aus mehr als einem halben Dutzend - allerdings ausnahmslos harmloser - Wunden.

Andrej begriff, dass sich Abu Dun in höchster Gefahr befand. Die vier Kinder attackierten den riesigen Nubier ohne Unterlass, schlugen nach ihm, versuchten, ihn zu treten und zerkratzten ihm mit den Fingernägeln Gesicht und Hände. Und Abu Dun tat nicht das Geringste, um sich zu wehren! Es wäre ihm ein Leichtes gewesen, die vier der Reihe nach niederzuschlagen, auch ohne sie dabei schwer zu verletzen. Aber er unternahm nicht einmal den Versuch, sich zu verteidigen. Stattdessen beschränkte er sich so gut es eben ging darauf, den Hieben, Tritten und Fauststößen auszuweichen. Und obwohl er dabei eine schier unglaubliche Behändigkeit an den Tag legte, wurde er oft genug getroffen. Nicht nur von Fäusten, Füßen und Ellbogen, sondern auch von dem Messer, das dass Mädchen immer noch schwang. Früher oder später würde sie es nicht bei einem harmlosen Schnitt oder einem kleinen Stich bewenden lassen.

Andrej sah dem grausamen Spiel noch einen Augenblick lang zu, dann fasste er einen Entschluss. Wäre er allein gewesen, dann hätte er einfach die Augen geschlossen und sich tot gestellt, bis diese mörderische Kinderbande verschwunden war. Aber es ging nicht nur um ihn. Jetzt, da sie ihn für tot hielten, konzentrierten sich die vier Angreifer ganz auf Abu Dun, und anders als Andrej würde der Nubier tot bleiben, wenn er es einmal war. Er musste ihm helfen, auch wenn das, was er dazu tun musste, so schlimm war, dass ihm allein bei dem Gedanken daran übel wurde.

Wie um Andrejs letzte Zweifel zu vertreiben, sprang das Mädchen in diesem Moment vor und stieß mit dem Messer zu. Mit einer hastigen Bewegung wollte Abu Dun dem Angriff ausweichen, aber er war nicht schnell genug. Tief grub sich die Klinge in seine Wade, und der Nubier sank keuchend auf die Knie. Sofort trat einer der beiden kleineren Jungen von hinten an ihn heran und schmetterte ihm einen Stein auf den Schädel. Abu Duns überdimensionaler Turban nahm dem Hieb zwar die größte Wucht, sodass er ihm vermutlich nicht den Schädel zertrümmert hatte, aber er reichte aus, um ihm auf der Stelle das Bewusstsein zu rauben. Haltlos kippte er nach vorn. Das war der Augenblick, in dem Andrej aufsprang und das Schwert aus dem Gürtel riss.

»Aufhören!«, schrie er.

Die Faust mit dem zweischneidigen Dolch und mehrere mit Steinen bewaffnete Hände, die bereits zum entscheidenden Schlag erhoben waren, erstarrten mitten in der Bewegung. Die Kinder wandten sich in seine Richtung.

»Ich dachte, du bist tot«, entfuhr es dem älteren Jungen.

»Das dachte ich auch«, pflichtete ihm seine Schwester bei. »Ich war sogar sicher, dass er tot ist ... Er ist zäh, das muss man ihm lassen.«

»Ihr solltet jetzt wirklich damit aufhören«, sagte Andrej ernst. »Ihr könnt mich nicht töten, aber ich euch schon. Zwingt mich nicht, es zu tun.«

»Uns töten?« Der Junge deutete auf Andrejs Schwert. »Damit?«

Während er sprach, kamen er und seine Schwester langsam näher, und plötzlich blitzte auch in seiner Hand ein kurzer, gefährlich scharfer Dolch. Die beiden jüngeren Brüder, noch immer mit faustgroßen Steinen bewaffnet, rührten sich nicht von der Stelle.

»Nein, nicht damit«, erwiderte Andrej und zielte weiter mit dem Schwert auf den Jungen. Das vertraute Gewicht der Klinge aus hundertfach gefaltetem Damaszener-Stahl gab ihm Sicherheit. Er wollte es nicht tun. Großer Gott, er konnte doch keine Kinder töten, ganz egal, wie bösartig und gefährlich sie auch waren. Aber er hatte keine Wahl. Wenn er es nicht tat, starb Abu Dun.

Andrej presste die Kiefer so fest aufeinander, dass seine Zähne knirschten, schloss die Augen und griff mit seinen Vampyrkräften nach der Seele des Jungen, um dessen Lebensenergie auszusaugen und sie seiner eigenen hinzuzufügen.

Nichts geschah. Ungläubig riss Andrej die Augen wieder auf. Die beiden Angreifer kamen immer näher, die Dolche zum Zustoßen bereit erhoben, aber sie bewegten sich mit äußerster Vorsicht. Zumindest das Mädchen schien zu spüren, dass Andrej tatsächlich nicht war wie all die anderen, die sie möglicherweise schon getötet hatten.

Er konzentrierte sich und versuchte es noch einmal. Doch wo seine tastenden Fühler nach der Seele des Jungen suchten war nichts. Nur Leere. Und eine unvorstellbar grausame Kälte.

Andrej wich einen halben Schritt zurück, löste den Blick vom Gesicht des Jungen und konzentrierte sich auf dessen Schwester.

Auch diesmal geschah nichts. Seine Gedanken griffen ins Leere, landeten im Nichts, weil es in diesen Kindern nichts gab. Es war, als hätten sie keine Seele, sondern ...

Der Stein, den der Junge schleuderte, traf ihn zielsicher und mit solch verheerender Wucht am Schädel, dass er spürte, wie der dünne Schläfenknochen über seinem rechten Auge brach. Andrej ließ das Schwert fallen, brach mit einem erstickten Keuchen in die Knie und hob die Hände an den Kopf. Die beiden Älteren sprangen gleichzeitig vor und stießen zu. Der Dolch des Mädchens bohrte sich in seine Kehle, der des Jungen tief in sein Herz.

Andrej kippte zur Seite. Der Schmerz war nicht so schlimm, wie er erwartet hätte, aber sein Herz schlug nicht mehr, und sein Rachen füllte sich rasch mit seinem eigenen Blut.

Während Andrej das letzte bisschen Kraft, das er noch in seinem Körper fand, darauf verwandte, sich zusammenzukrümmen und schützend die Arme über den Kopf zu heben, sausten die Messerklingen wieder auf ihn herab, dann Steine und wieder beißender, glatter Stahl und dann nichts mehr.

Es dauerte lange, bis er wieder zu sich kam.

Kälte und Dunkelheit hüllten ihn ein, und die rechte Seite seines Gesichts glühte vor Hitze. Er hörte das Knistern von Holz und aus der Entfernung das Schnauben und Hufscharren von Pferden, die unruhig zu sein schienen, Stimmen, ab und an Gelächter ... Selbst seine normalen menschlichen Sinne hätten ihm verraten, dass er sich in einer Art Lager befand und dicht bei einem Feuer lag. Als er versuchte, sich zu bewegen, stellte er fest, dass er an Händen und Füßen gefesselt war. Er öffnete die Augen und starrte direkt auf die Spitze eines Dolches, die auf sein Gesicht zielte. Darüber blickte ihn ein dunkles, sehr misstrauisches Augenpaar an.

»Das ist nicht notwendig«, sagte Andrej. »Ich bin nicht dein Feind.«

»Das wird sich zeigen.« Die Messerklinge hob sich lediglich ein Stück, aber das misstrauische Flackern in den Augen blieb. Andrej dachte daran, sich aufzusetzen - er lag so nahe beim Feuer, dass sich eine unangenehme Hitze auf seinen Wangen ausbreitete, zudem in sehr unbequemer Haltung -, blieb aber dann doch liegen. Das Gesicht, das auf ihn herabsah, wirkte trotz aller Vorsicht durchaus freundlich, aber er wollte keine unbedachte Reaktion hervorrufen.

»Wer bist du?«, fragte er.

Die Messerklinge entfernte sich noch ein bisschen weiter von seinem Gesicht. »Niemand, den du zum Feind haben willst, glaube mir.«

Andrej unterdrückte ein Lächeln. Er erkannte jetzt, dass der Bursche, der neben ihm kniete, sehr jung, ja, fast noch ein Kind war. Der grimmige Ausdruck, den er auf sein Gesicht gezwungen hatte, ließ ihn sonderbarerweise noch jünger erscheinen, und alles Misstrauen in seinen Augen konnte nicht über den freundlichen Ausdruck hinwegtäuschen, der normalerweise darin wohnte. Wer oder was auch immer dieser Bursche war - er war Andrej auf Anhieb sympathisch.

»Nein, das will ich wirklich nicht«, antwortete er. »Ich möchte eigentlich niemanden zum Feind haben, wenn ich es mir recht überlege, weißt du?« Er bewegte sich ein wenig. »Hast du etwas dagegen, wenn ich mich aufsetze? Es ist nicht sehr bequem so.«

Zögernd ließ der Junge die Hand mit dem Messer sinken, dann nickte er. »Meinetwegen, aber mach keine Dummheiten. Und frag erst gar nicht - ich werde dich ganz bestimmt nicht losbinden.«

Das war auch nicht nötig. Andrej hatte längst mit den Fingerspitzen über seine Fesseln getastet und festgestellt, dass die Stricke zwar fest, aber mit einem herkömmlichen Knoten zusammengebunden waren. Abu Dun hatte ihm schon vor Jahren gezeigt, wie man eine solche Fessel mit ein paar geschickten Bewegungen und einem entschlossenen Ruck abstreifen konnte. Andrej spielte den Enttäuschten, während er sich - umständlicher als nötig - aufsetzte und ein kleines Stück vom Feuer wegrutschte. Zugleich sah er sich verstohlen um.

Wie erwartet befand er sich in einem Lager, in dem gleich mehrere Feuer brannten. Die flackernden roten Inseln aus Licht vertieften die Dunkelheit noch, sodass selbst er nur Schatten und vage Umrisse wahrnehmen konnte. Immerhin erkannte er, dass das Lager deutlich größer war, als er im ersten Moment angenommen hatte. Er sah eine Anzahl von Zelten und einige schwere, hohe Wagen mit fast mannsgroßen Rädern. In einigen wenigen brannte Licht, die meisten aber waren dunkel. Der Himmel war bewölkt, sodass der Mond nicht zu erkennen war, aber Andrej spürte, dass Mitternacht längst vorüber sein musste. Weit entfernt gewahrte er eine improvisierte Pferdekoppel, auf der mindestens zwei Dutzend Tiere untergebracht waren.

»Wo bin ich hier?«, fragte er. »Abgesehen davon, dass ich bei Leuten bin, die ich nicht zu Feinden haben möchte?«

Er konnte sehen, wie schwer es seinem Gegenüber fiel, ihn weiter grimmig anzustarren. »In unserem Lager.«

»Und wer seid Ihr?«, präzisierte Andrej seine Frage. »Bin ich unter Freunden oder Feinden?«

»Das kommt ganz auf dich an«, erwiderte sein Gegenüber. Anscheinend liebte er es, sich kryptisch auszudrücken.

»Also, wenn ich die Wahl habe, fällt mir die Entscheidung nicht schwer.« Andrej zog eine Grimasse und rückte ein kleines Stückchen weiter vom Feuer weg. Die Hitze begann allmählich wirklich unangenehm zu werden. »Verrätst du mir wenigstens deinen Namen?«, fragte er.

»Ich bin Rason«, antwortete der Bursche. »Und jetzt hör auf, so viele Fragen zu stellen. Ich bringe dich gleich zu jemandem, der dir alles sagen wird, was du wissen musst.« Er beugte sich so überraschend vor, dass Andrej die Bewegung um ein Haar als Angriff missverstanden und entsprechend reagiert hätte. Ein Dolch blitzte auf, und Andrejs Füße waren frei. »Komm.«

Andrej erhob sich und stampfte ein paar Mal mit den Füßen auf, um die Blutzirkulation wieder in Gang zu bringen.

»Rason, soso. Und was ist mit meinem Freund?«

»Der Muselmann?« Rason grinste, und Andrej war klar, dass er dieses Wort bewusst gewählt hatte. In der Dunkelheit schimmerten seine Zähne fast unnatürlich weiß. »Der ist ein bisschen zerrupft, aber es geht ihm gut, glaube ich. Er wartet auf dich.«

Irgendwo in der Dunkelheit nahe der Pferdekoppel wurden plötzlich Stimmen laut. Andrej verstand die Worte nicht, aber es klang wie ein Streit. Er sah einen Moment lang mit gerunzelter Stirn in die Richtung, aus der der Lärm kam, dann wandte er sich wieder zu Rason um.

»Mach mich los«, verlangte er. »Das ist albern. Und ziemlich unbequem.«

»Warum sollte ich das tun?«

»Du hast doch selbst gesagt, dass es meine Entscheidung ist, ob wir Freunde oder Feinde sind«, antwortete Andrej. »Nun, ich habe gerade entschieden, dass wir keine Feinde sind.«

Diesmal grinste Rason nicht. Er sah eher erschrocken aus. Einige Herzschläge lang schien er über die Worte nachzudenken, dann trat er zu Andrejs Überraschung hinter ihn und durchtrennte auch die Stricke um seine Handgelenke. Verblüfft starrte Andrej den schwarzhaarigen Burschen an, während er damit begann, seine Unterarme zu massieren.

»Wie du gesagt hast«, bemerkte Rason. »Es ist deine Entscheidung.«

»Ich werd nicht schlau aus dir«, murmelte Andrej. »Und ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass das deine Absicht ist.«

Ein Grinsen schlich sich in Rasons Gesicht. Er schob den Dolch unter die breite Schärpe, die er anstelle eines Gürtels trug, und machte eine einladende Geste. »Wollen wir hier herumstehen bis es hell wird, oder willst du stattdessen deinen Freund sehen?«

Andrej kapitulierte. Ob Rason nun einfach dumm war oder ihn auf den Arm nahm, das Ergebnis blieb dasselbe: Sie verschwendeten ihre Zeit. Wortlos setzte er sich in Bewegung und warf Rason dabei einen fragenden Blick zu.

Das Lager wurde gebildet aus zwei ineinander liegenden Kreisen, von denen der äußere aus Zelten, der Pferdekoppel und einer Anzahl hölzerner Gestelle bestand, auf denen Felle und Decken zum Trocknen aufgespannt worden waren, und der innere aus gut einem Dutzend der schweren vierrädrigen Karren, die Andrej schon gesehen hatte. Die Nacht hatte fast alle Farben ausgelöscht, doch Andrejs überscharfe Augen verrieten ihm, dass die meisten Fuhrwerke kunterbunt sein mussten.

Und plötzlich wusste er, wo er war. Verblüfft blieb er stehen. »Ihr seid Zigeuner!«

Auch Rason hielt mitten im Schritt inne und sah ihn stirnrunzelnd an.

»Entschuldige«, sagte Andrej rasch. »Ich weiß, ihr hört dieses Wort nicht gern, aber ...«

Rason unterbrach ihn mit einer Geste. »Jedermann nennt uns so, also warum nicht auch du? Ich wundere mich nur über dein Erstaunen. Wo ihr doch so lange nach uns gesucht habt.«

»Woher weißt du das?«

Der ernste Ausdruck verschwand schlagartig von Rasons Gesicht und machte wieder dem gewohnten Grinsen Platz. »Weißt du denn nicht, dass wir Zigeuner über das Zweite Gesicht verfügen?«, fragte er. »Natürlich nur die von uns, die nicht den Bösen Blick haben.«

»Oh ja«, antwortete Andrej. »Das hatte ich fast vergessen.«

Sie gingen weiter. Rason führte ihn an den Wagen vorbei, fast bis ans andere Ende des Lagers, wo es einen besonders großen, allerdings sehr schlicht gehaltenen Karren gab, der anstelle der üblichen vier über sechs Räder verfügte. Hinter einem schmalen, vergitterten Fenster in der Tür, zu der eine dreistufige Trittleiter hinaufführte, flackerte dunkelgelbes Licht. Im Schatten auf der anderen Seite des Wagens verbargen sich mindestens zwei Personen. Andrej konnte ihre Atemzüge hören und auch das Geräusch von Metall, das an Stoff oder Leder scheuert. Anscheinend waren Rasons Leute doch nicht so vertrauensselig, wie er selbst den Anschein zu erwecken versuchte.

»Dein Freund ist im Wagen.« Rason deutete zur Tür. »Ich warte hier draußen.«

»Zusammen mit deinen Kameraden, nehme ich an.« Die Worte taten Andrej bereits Leid, bevor er sie ausgesprochen hatte. Mittlerweile war er überzeugt davon, dass diese Leute ihm nichts Böses anhaben wollten. Er lächelte, um dem Gesagten wenigstens etwas von seiner Schärfe zu nehmen, dann ging er rasch die drei Stufen hinauf und betrat den Wagen.

Der warme Schein zweier fast heruntergebrannter Kerzen und ein verwirrendes Gemisch aus unterschiedlichsten Gerüchen empfingen ihn. Es duftete nach Kräutern und Öl, aber auch nach gebratenem Fleisch und frischem Obst. Ganz schwach mischte sich etwas Säuerliches, nicht sehr Angenehmes, darunter. Wer immer diesen Wagen bewohnte, legte entweder keinen besonderen Wert auf Reinlichkeit, oder er war sehr alt.

Die beiden einzigen Personen jedoch, die Andrej erblickte, waren Abu Dun und ein weiterer Sinti, der kaum älter sein konnte als Rason. Die beiden unterhielten sich, als Andrej eintrat, unterbrachen ihr Gespräch aber sofort und wandten sich zu ihm um. Andrej nickte dem jungen Mann flüchtig zu, dann konzentrierte er sich ganz auf Abu Dun.

Der Nubier bot einen Anblick, von dem Andrej nicht sagen konnte, ob er nun Mitleid erregend oder lächerlich war. Er hatte seinen schwarzen Kaftan und auch das Hemd ausgezogen und saß, nur mit seinen schwarzen Pluderhosen und Halbstiefeln bekleidet, auf der einen Seite eines niedrigen Tischchens, auf dem außer den beiden Kerzen ein bauchiger Weinkrug und zwei Becher standen. Seine gewaltigen Muskelpakete glänzten im Licht der beiden Kerzen wie frisch geöltes Leder, aber Andrej sah auch die zahllosen Kratzer, Schrammen und Schnitte, die Abu Dun davongetragen hatte. Die meisten waren bereits verschorft, was ihm sagte, dass er selbst tatsächlich ungewöhnlich lange ohne Bewusstsein gewesen sein musste. Sowohl um Abu Duns Unterarme als auch um seinen Bauch spannten sich saubere, straff angelegte Verbände. Ein weiterer Wickel nahm die Stelle des obligatorischen schwarzen Turbans ein. Den ungewöhnlichsten Anblick aber bot seine Nase. Ohnehin alles andere als klein, war sie nun unförmig und fast auf das Doppelte ihrer ursprünglichen Größe angeschwollen.

»Oh Allah, ein Wunder ist geschehen!«, rief Abu Dun.

»Und ich dachte schon, du wolltest bis zum Frühjahr durchschlafen.« Er sprach mit hörbar schwerer Zunge. Der Becher Wein, den er in der verbundenen Rechten hielt, schien nicht der erste zu sein.

»Wie geht es dir?«, fragte Andrej ernst.

Der junge Sinti, der zusammen mit Abu Dun am Tisch saß, leerte seinen Weinbecher in einem einzigen Zug und stand auf, um zu gehen.

»Bleib doch!«, bat Andrej. »Ich würde gern mit jemandem reden.«

»Das kannst du doch mit mir«, meinte Abu Dun.

»Mit jemandem, der nüchtern ist«, erklärte Andrej. »Und bei dem ich mich bedanken kann.«

»Es ... es ist besser, wenn ich draußen warte«, antwortete der Zigeuner. Er hatte ein ebenso offenes Gesicht wie Rason, aber anders als bei diesem, spürte Andrej eine gewisse Zurückhaltung - und auch einen Hauch von Furcht. So ließ er die Hand, die er bereits ausgestreckt hatte, um ihn zurückzuhalten, wieder sinken und trat einen Schritt zur Seite, um dem Sinti Platz zu machen. Stirnrunzelnd blickte er ihm nach, dann ging er zum Tisch und ließ sich Abu Dun gegenüber auf einen Stuhl sinken.

»Wie geht es dir?«, fragte er noch einmal.

Abu Dun trank einen gewaltigen Schluck Wein und griff nach dem Krug, um seinen Becher neu zu füllen, bevor er antwortete. »Gut! Es braucht schon etwas mehr als ein paar vorlaute Bälger, um Abu Dun umzubringen. Jedenfalls geht's mir nicht so schlimm, wie ich aussehe.«

Er nahm einen weiteren Schluck, und Andrej runzelte missbilligend die Stirn. Abu Dun war den Freuden des Weines nie abgeneigt gewesen, und auch Andrej wusste einen guten Schluck dann und wann zu schätzen. Aber jetzt war nicht der Moment dazu.

»Was übrigens nicht dein Verdienst ist«, fügte Abu Dun hinzu, nachdem er einen weiteren Becher mehr als zur Hälfte geleert hatte. »Vielen Dank auch für deine Hilfe.«

Die Bemerkung ärgerte Andrej. »Ich bitte untertänigst um Vergebung«, antwortete er spitz. »Ich war abgelenkt. Das ist unverzeihlich, ich weiß, aber ich war gerade mit dem Sterben beschäftigt.«

Abu Dun stürzte den Rest seines Weins hinunter, griff nach dem Krug und sah Andrej aus verschleierten Augen an. »Wo wir gerade beim Sterben sind ... wieso lebst du eigentlich noch?«

Abu Dun deutete auf Andrejs Brust. »Du hattest einen Dolch im Herzen, wenn ich mich nicht irre. Hast du mir nicht immer erzählt, ein Stich ins Herz würde selbst dich umbringen?«

»Vielleicht hab ich ja nicht die Wahrheit gesagt«, knurrte Andrej. Gleichzeitig ermahnte er sich zur Mäßigung. Abu Dun hatte völlig Recht. Neben offenem Feuer war ein gezielter Stich ins Herz eine von wenigen Möglichkeiten, einen Vampyr wirklich zu töten. Und er hatte gespürt, wie der Dolch in sein Herz eindrang und es zerschnitt. Ja, wieso lebte er eigentlich noch?

In etwas versöhnlicherem Ton sagte er: »Ich weiß es nicht.«

»Aber ich«, verkündete Abu Dun triumphierend.

»Du?«

Abu Dun genoss Andrejs Überraschung. »Man muss die Waffe stecken lassen, weißt du? Nicht herumdrehen oder besonders tief hineinstoßen oder sonst irgendwas, einfach nur stecken lassen. Der Stahl verhindert, dass sich die Wunde schließt, und das Blut fließt aus deinem Herzen heraus. Schneller, als deine Zauberkräfte es ersetzen können. Es dauert eine Weile, aber am Ende verblutest du. Wie ein ganz normaler Mensch.«

»Woher weißt du das?«, fragte Andrej.

Abu Dun grinste breit, schenkte sich nach und nahm einen tiefen Zug. Er schwieg. Andrej starrte ihn zornig und verwirrt zugleich an. Er kannte Abu Dun gut genug, um zu wissen, dass der Nubier seine Rolle viel zu sehr genoss, um mit etwas anderem als rätselhaften Andeutungen rauszurücken.

Nachdenklich griff er nach dem Becher, den der junge Sinti stehen gelassen hatte, roch daran und schenkte sich schließlich ebenfalls aus dem Krug ein, den er Abu Dun fast mit Gewalt entreißen musste. Der Wein hatte einen vollen, exotischen Geschmack, und er war so schwer, dass Andrej Abu Duns schleppende Sprechweise sofort verstand. Ihm selbst hätte wahrscheinlich ein einziger Becher gereicht, um seine Sinne zu betäuben. So nippte er nur kurz an dem Getränk und nutzte die Zeit, um sich aufmerksam umzusehen.

Die beiden Kerzen erfüllten das Wageninnere mit mehr Schatten als Licht, sodass er nur vage Umrisse erkennen konnte. Es gab einen niedrigen Diwan, der mit zahllosen, bunt bestickten Decken und Kissen belegt war, und an den Wänden hingen Bilder, Stickereien und geschnitzte Heiligenfiguren. Der Raum war deutlich kleiner, als Andrej beim Anblick des Wagens vermutet hätte, und es dauerte eine ganze Weile, bis er die Umrisse einer Tür in der rückwärtigen Wand entdeckte. Offensichtlich führte sie zu einem zweiten Raum.

Andrej lauschte. Nicht nur mit seinen menschlichen Sinnen. Er hätte gespürt, wenn außer ihnen noch jemand im Wagen gewesen wäre. Und für einen Moment schien es, als nehme er etwas in dieser Richtung wahr. Doch dann kam er zu dem Schluss, dass er sich geirrt haben musste. Sie waren allein.

»Abu Dun, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt«, sagte er schließlich ruhig. »Wo sind wir hier? Was sind das für Leute? Und wieso haben sie uns geholfen?«

»Das fragst du sie am besten selbst«, kicherte Abu Dun.

»Was zum Teufel... ?«

In diesem Moment wurde die Tür des zweiten Raums geöffnet und eine schmale, gebeugte Gestalt trat ein. Andrej fuhr so erschrocken zusammen, dass er etwas von seinem Wein verschüttete. Blutrot glitzerten die Tropfen auf der fleckigen Tischplatte, und sein Herz begann zu hämmern.

Was er sah, konnte unmöglich sein. Bei der Person, die hereingekommen war, handelte es sich offensichtlich um eine Frau, obwohl sie so gebückt ging, dass er ihr Gesicht nicht erkennen konnte. Aber sie hätte nicht da sein dürfen! Er hätte es spüren müssen, dass außer ihnen noch jemand im Wagen war. Und doch nahm er die Anwesenheit der Alten noch nicht einmal jetzt wahr, da er sie mit eigenen Augen sah!

Er wollte aufstehen, aber die alte Frau schüttelte den Kopf und kam mit schlurfenden Schritten näher. Erst, als sie den Tisch erreicht hatte, wurde ihr Antlitz vom flackernden Lichtschein der Kerzen erhellt, und Andrej erblickte die Züge des ältesten Menschen, dem er jemals begegnet war.

Obwohl ihr Haar, das ihr in langen, dünnen Strähnen ins Gesicht und bis weit auf die Brust fiel, noch immer von satter, schwarzer Farbe war, schätzte Andrej ihr Alter auf mindestens hundert Jahre. Ihr Gesicht war eine Landschaft aus Runzeln und so tiefen Falten, dass sie wie Messerschnitte wirkten. Die Lippen waren nicht mehr als solche auszumachen, und in dem eingefallenen Mund waren wahrscheinlich schon seit Jahrzehnten keine Zähne mehr. Ihr Gesicht musste in jungen Jahren voll gewesen sein, doch jetzt stachen die Jochbeine durch die trockene Pergamenthaut über ihren hohlen Wangen hervor, und die scharfe Hakennase musste im Laufe ihres Lebens gleich mehrmals gebrochen gewesen sein.

Das Schlimmste aber waren die Augen. So wenig, wie Andrej einen Lebensfunken in der alten Frau spürte, so wenig konnte er irgendetwas in den trüben, grauen Spiegeln ihrer Seele sehen. Die alte Zigeunerin war blind. »Hast du mich jetzt lange genug angestarrt, Andrej Delany?«, fragte die Greisin. Ihre Stimme war so dünn und trocken wie die Haut auf ihren Händen.

»Du ... kennst meinen Namen?«, fragte Andrej stockend. Er hatte Mühe, überhaupt zu sprechen. Irgendetwas ging von dieser blinden Zigeunerin aus, das ihn frösteln ließ.

»Dein Freund da hat ihn mir verraten.« Eine dürre Klaue deutete auf Abu Dun. »Er hat mir auch verraten, dass du mir eine Menge Fragen stellen willst. Also hör auf, mich anzustarren. Ich weiß selbst, wie hässlich ich bin. Mit einhundertundacht Jahren muss man nicht mehr schön sein. Jetzt gieß mir einen Becher Wein ein, und dann frage, was du zu fragen hast.«

»Fragen?« Andrej warf Abu Dun einen verwirrten Blick zu, erntete aber nur ein weiteres, schadenfrohes Grinsen.

»Ich nehme doch an, dass du etwas von mir wissen willst«, bestätigte die Alte. »Warum sonst habt ihr so lange nach mir gesucht?«

»Nach dir?« Andrej sog scharf die Luft zwischen den Zähnen ein. »Du bist...«

»Ich bin Anka«, sagte die Zigeunerin.

Die Puuri Dan hatte sich gesetzt - nicht auf den mit Kissen und Decken überladenen Diwan, wie Andrej erwartet hatte, sondern auf einen Stuhl, den Abu Dun auf ihr Geheiß hin herbeigeholt hatte - und ihre Bitte um Wein wiederholt. Erst, nachdem sie einen gewaltigen Schluck von dem starken Getränk zu sich genommen hatte, wandte sie sich wieder in Andrejs Richtung, und ein Lächeln erschien auf ihrem vom Alter gezeichneten Gesicht.

»Manchmal bedaure ich es, nicht sehen zu können«, sagte sie.

Andrej war froh, dass sie es nicht konnte. Er war nicht nur vollkommen überrascht, sondern noch immer auf eine Art beunruhigt und alarmiert, die sich nur schwer in Worte fassen ließ. Tief im Innern spürte er eine Furcht, die ebenso unerklärlich wie quälend war.

»Bitte entschuldige, Anka. Vermutlich waren wir einfach schon so lange auf der Suche, dass ich gar nicht mehr damit gerechnet habe, euch noch irgendwann zu finden«, sagte er schließlich.

»Beeindruckend«, spottete Anka.

»Was?«

»Dieser wohlfeile Satz«, antwortete Anka. »Kannst du auch mit mir sprechen wie mit einem normalen Menschen?«

»Er meint, dass wir ziemlich lange nach euch gesucht haben«, sprang Abu Dun ein. »Und bisher vergeblich.«

»Nun habt ihr mich ja gefunden.« Anka trank einen weiteren Schluck Wein. Ihre blinden Augen fixierten Andrej auf eine Art, die ihn schaudern ließ. Ein einzelner Tropfen Wein glitzerte auf ihren eingefallenen Lippen. Er sah aus wie Blut. »Ihr kommt aus dem Osten, nicht wahr?«

»Siebenbürgen«, bestätigte Andrej. Seine Gedanken überschlugen sich. Er hatte die Wahrheit gesagt, als er behauptet hatte, die Hoffnung schon fast aufgegeben zu haben, die Puuri Dan und ihre Sippe jemals zu finden. Tausendmal hatte er sich ausgemalt, wie es sein würde, wenn er ihr endlich gegenüberstand, dem vielleicht einzigen Menschen auf der Welt, der ihm sagen konnte, wer er wirklich war. Zumindest sollte dieser Moment etwas Erhabenes haben, dachte er.

»Siebenbürgen?«, wiederholte Anka. Sie nickte. »Seid ihr dort auf Alessa getroffen?«

»Alessa?« Andrej sah überrascht zu Abu Dun. Der ehemalige Sklavenhändler neigte zur Redseligkeit, wenn er trank, und in dieser Nacht hatte er eindeutig zu viel getrunken.

»Ich weiß, dass sie tot ist«, sagte Anka. »Dein Freund hat's mir erzählt. Nicht freiwillig. Zürne ihm nicht oder denke, er wäre so redselig. Ich hab's an der Art gespürt, wie er ihren Namen ausgesprochen hat.«

»Es tut mir Leid«, sagte Andrej aufrichtig. »Ich wollte nicht, dass du es auf diese Weise erfährst.«

»Wie sonst?«, fragte Anka. »Schonender?« Sie schüttelte den Kopf. »Das ist nicht notwendig. Wenn man so alt geworden ist wie ich, dann gewöhnt man sich daran, dass Menschen sterben. Fast alle, deren Geburt ich miterlebt habe, sind schon lange tot.«

»Aber Alessa war ...«

»Alessa«, unterbrach ihn die alte Frau hart »war nicht meine Tochter. Nur ein Mädchen, das ich gekannt habe. Und mehr war sie auch nicht für dich, Unsterblicher.«

Andrej versteifte sich. »Das stimmt nicht«, sagte er mit Nachdruck. »Sie war etwas Besonderes.«

»Weil sie der erste Mensch war, der so war wie du«, sagte Anka. »Und deshalb glaubst du, sie wäre etwas Besonderes gewesen? Wahrscheinlich glaubst du auch, du wärest in sie verliebt gewesen!«

»Das war ich.«

»In ein Mädchen, das du nur ein paar Stunden lang gekannt hast?« Anka machte eine abwehrende Geste. »Eure Bekanntschaft hat darin bestanden, dass sie in deinen Armen gestorben ist, du Narr.«

»Abu Dun, du redest zu viel«, zischte Andrej. Er hatte nur geflüstert, aber Anka verfügte über das scharfe Gehör der Blinden und mischte sich ein.

»Ich höre auch Dinge, die nicht ausgesprochen werden«, sagte sie. »Meistens sind das die Interessanteren. Red dir nur weiter ein, dass du dieses dumme Ding geliebt hast. Und? Sie ist tot, oder etwa nicht? Hat der Tod für euch Unsterbliche mehr Gewicht, als für andere Menschen?«

Andrej horchte auf. »Euch Unsterbliche?«, wiederholte er ungläubig.

»Du hast richtig gehört.« Anka nickte zufrieden. »Ich gehöre nicht zu euch.«

»Aber du bist doch ...«

»Sehr alt«, unterbrach ihn Anka. »Gott hat mir ein langes Leben geschenkt, das ist wahr. Ich bin einhundertundacht Jahre alt, und wenn ich die nächste Wintersonnenwende noch erlebe, sogar einhundertundneun. Aber viel mehr Jahre werden es wohl nicht mehr werden. Und das ist gut so.«

»Gut?«, wiederholte Abu Dun. »Was soll gut daran sein, sterben zu müssen?«

»Es gibt nur eine endliche Anzahl von Dingen, die du tun kannst, Sarazene«, antwortete die Zigeunerin. »Und nur eine endliche Anzahl von Dingen, die du erleben kannst. Irgendwann fängt alles an, sich zu wiederholen, und aus Aufregung wird am Schluss Gewohnheit. Wenn Gott gewollt hätte, dass wir unendlich lange leben, dann hätte er's auch so eingerichtet.«

»Bei manchen hat er es getan«, sagte Andrej leise.

Ankas blinde Augen wandten sich wieder in seine Richtung. »Wer sagt dir, dass es Gottes Wille war, Unsterblicher?«

»Ich hatte gehofft, dass du mir diese Frage beantworten könntest«, erwiderte Andrej.

»Dann muss ich dich enttäuschen«, sagte Anka. »Wenn ihr nur deshalb den langen Weg auf euch genommen habt, dann habt ihr ihn umsonst gemacht. Dein Freund aus dem Morgenland hat mir alles erzählt, was in jener Nacht geschehen ist. Und was Alessa dir erzählt hat, das war auch schon fast alles, was ich dir darüber erzählen könnte.«

»Aber Alessa hat...«

»... im Fieber gesprochen. Demselben Fieber, das ihre Familie dahingerafft hat. Du hast dieses Fieber auch gehabt, nicht wahr?«

»Ich? Nein. Ich war nie krank«, antwortete Andrej.

»Niemals? Auch nicht als Kind?« Anka wiegte nachdenklich den Kopf. »Du wirst es vergessen haben. Es beginnt immer mit einem Fieber. Fast alle sterben daran. So wie Alessa.«

»Und meine ganze Familie«, murmelte Andrej nachdenklich.

»So, so«, machte Anka.

»Ich habe sie nie kennen gelernt«, erklärte Andrej. »Man hat es mir nur erzählt. Sie sind alle am Fieber gestorben, als ich noch ein Säugling war.«

»Und du hast als Einziger überlebt«, fuhr Anka fort. »So fängt es immer an. Eine Linie endet, damit einer von ihnen länger leben kann. Aber länger leben bedeutet nicht ewig.«

»Du weißt also doch etwas darüber«, stellte Andrej fest.

»Wenn man so lange lebt wie ich, dann erfährt man viel«, antwortete Anka. »Und die Puuri Dan sind die Bewahrerinnen des alten Wissens.«

»Wissen über Menschen, die so sind wie ich?«

»Vampyre, meinst du?« Anka lachte, als hätte sie sein Erschrecken gesehen. »Sprich das Wort ruhig aus. Oder fürchtest du dich davor?«

»Vielleicht«, gestand Andrej.

»Wenn ja, dann tust du gut daran«, sagte Anka. Ihre Stimme wurde spröde. »Ich weiß, was ihr seid. Wozu ihr am Ende werdet. Die wenigen von euch, die den Weg so weit gehen wie du. Ich weiß, womit ihr euch eure Unsterblichkeit erkauft. Es ist gestohlenes Leben. Wie viele Menschen mussten schon sterben, damit dein Leben andauert, Andrej? Du hast die Stimme und den Geruch eines jungen Mannes, aber wie alt bist du wirklich? So alt wie ich, oder doppelt so alt?«

»Ich bin nicht viel älter, als ich aussehe«, antwortete Andrej.

»Eine wahrlich erhellende Antwort«, sagte die blinde Frau spöttisch.

Abu Dun lachte. »Dreißig, würde ich sagen, kaum älter.«

»Und wie viele Leben hast du genommen, um so alt zu werden?«, fragte Anka. Sie kicherte, trank einen weiteren Schluck Wein und lachte dann schrill. »Oh, wusstest du das nicht? Habt ihr einmal damit angefangen, euch von gestohlenem Leben zu nähren, dann könnt ihr nie wieder damit aufhören.«

Ein weiterer Schluck Wein hinterließ eine Spur aus winzigen roten Tröpfchen auf ihren Lippen und ein feines Rinnsal auf ihrem Kinn. Für einen Moment sah es so aus, als wäre sie der Vampyr in diesem Raum. »Also sag mir: Wie viele Leben hast du schon genommen, um deines zu behalten?«

»Ich habe getötet, das ist richtig«, gestand Andrej. »Aber nur, um mich zu verteidigen. Ich habe nie jemanden getötet, der es nicht verdient hätte.«

»Und wer hat dich zum Richter über jene gemacht, die den Tod verdient haben?«, fragte Anka böse.

»Sie selbst«, antwortete Abu Dun an Andrejs Stelle. Er hatte Mühe, seine Zunge unter Kontrolle zu halten, aber sonderbarerweise schien das seinen Worten mehr Gewicht zu verleihen. »Jeder Einzelne von ihnen, altes Weib, indem sie das Schwert gegen ihn erhoben haben.«

»Das mag sein«, erwiderte Anka ungerührt. »Doch wie lange wird das so bleiben? Weitere dreißig oder vierzig Jahre? Hundert? Sag mir, Andrej, wird denn immer im richtigen Moment ein Mensch zur Stelle sein, der den Tod verdient hat, weil er dir nach dem Leben trachtet? Wann wirst du die erste Ausnahme machen?«

»Niemals!«, antwortete Andrej. »Ich würde eher sterben, bevor ich einen Unschuldigen töte.«

»Und im Moment glaubst du das sogar selbst«, sagte Anka grimmig. Sie schüttelte den Kopf. »Aber was wird in hundert Jahren sein? Nein, das alles kann nicht Gottes Wille sein. Ich will damit nichts zu tun haben, und ich will nichts davon wissen. Ich hab euch gesagt, was ich euch sagen kann, und das ist schon mehr, als ich wollte. Ich werde bald vor unseren Schöpfer treten, und vielleicht werden mir dann Fragen gestellt, die ich reinen Gewissens beantworten möchte.«

»Dann ist es vielleicht besser, wenn wir gehen!« Andrejs Stimme klang bitter. Die Enttäuschung saß so tief, dass sie fast körperlich schmerzte.

»Unsinn! Dein Freund ist verwundet. Er ist zu stolz, um es zuzugeben, aber er kann nicht gehen, und schon gar nicht reiten.«

»Das ist ... ist nicht wahr«, lallte Abu Dun. »Ich brauche nur noch ... einen Schluck von diesem ... köstlichen Beerensaft, um ...«

»... vom Stuhl zu fallen und dir auch noch das letzte bisschen Verstand aus dem Schädel zu schlagen, ich weiß.« Andrej beugte sich über den Tisch und nahm Abu Dun den Weinkrug weg. Der Nubier sah enttäuscht aus, sagte aber nichts.

»Ihr habt so lange nach mir gesucht, da ist es nur recht und billig, wenn ihr so lange hier bleibt, bis der Araber sich erholt hat«, fuhr Anka ungerührt fort. »Zwei oder drei Tage werden genügen. Danach mögt ihr eurer Wege gehen.«

»Danke«, sagte Andrej.

»Bedanke dich, nachdem Rason dir gesagt hat, was du dafür tun musst«, kicherte Anka. »Bei uns findet jeder Obdach, aber es ist nicht umsonst. Und jetzt bring deinen betrunkenen Freund nach draußen. Rason wird euch zeigen, wo ihr schlafen könnt.«

Die Enttäuschung hatte ihn bis in seine Träume hinein verfolgt, und ihm für den Rest der Nacht einen unruhigen Schlaf beschert. Abu Dun, der mehr getrunken zu haben schien als nur einen Krug Wein, war zwar auf der Stelle eingeschlafen, warf sich jedoch stöhnend von einer Seite auf die andere und schnarchte, dass es Andrej das letzte bisschen Schlaf raubte.

Gegen Sonnenaufgang, als das Lager langsam zum Leben erwachte, kroch er ans Tageslicht.

Rason hatte ihnen ein Zelt weit am Rande des Lagers zugewiesen, ob zufällig oder mit Bedacht, konnte Andrej nicht sagen. Das Vertrauen der Sinti in ihre unbekannten Gäste schien jedoch nicht so vorbehaltlos zu sein, wie Rason sich den Anschein gegeben hatte. Zwar konnte Andrej keinen Wachposten ausmachen, als er das Zelt verließ und sich aufrichtete, aber er spürte, dass vor wenigen Momenten noch jemand hier gewesen war. Er musste nicht lange suchen, bis er die Spuren von zwei Männern im Gras entdeckte. Vermutlich die beiden, die auch hinter Ankas Wagen Wache gestanden hatten. Andrej registrierte die Entdeckung mit Genugtuung. So verhasst ihm überzogenes Misstrauen war, so wenig schätzte er Menschen, die zu vertrauensselig waren. Sie brachten damit oft genug nicht nur sich selbst, sondern auch andere in Gefahr.

Bald würde es hell werden. Andrej schlug fröstelnd die Arme um den Oberkörper, drehte sich halb um seine eigene Achse und ging dann auf die nächstgelegene Feuerstelle zu. Die Flammen waren im Laufe der Nacht erloschen, aber in der Asche gab es noch genügend Glut. Er brauchte nur ein paar trockene Zweige und zwei oder drei Lungen voll Luft, um das Feuer wieder anzufachen.

»Du machst dich nützlich«, hörte er eine Stimme hinter sich. »Das ist gut.«

Andrej drehte sich um und erkannte Rason, der lautlos wie ein Schatten herangekommen war.

»Ich bin hungrig«, antwortete er lächelnd. »Und eure Anführerin hat mir klargemacht, dass ich arbeiten muss, wenn ich essen will.«

»Damit hat sie zwar Recht, aber Anka ist nicht unsere Anführerin«, erwiderte Rason kopfschüttelnd. »Du darfst sie nicht zu ernst nehmen. Sie ist alt und manchmal seltsam. Wir haben für jeden ein Stück Brot und einen Becher Wasser, der darum bittet.«

»Wir stehen schon viel zu tief in eurer Schuld«, beharrte Andrej. »Wenn ihr nicht gekommen wärt, dann wären wir jetzt wahrscheinlich tot. Abu Dun zumindest.«

Rasons Gesicht spiegelte völlige Verständnislosigkeit. »Tot?«

»Wegen dieser Kinder«, erklärte Andrej. Wenn es denn Kinder waren.

»Kinder?« Rason runzelte die Stirn. »Ich habe keine Kinder gesehen.«

»Aber...«

»Mein Bruder und ich haben euch unten am Bach gefunden«, fuhr Rason fort. »Bewusstlos. Aber da waren keine Kinder. Was soll mit ihnen gewesen sein? Haben sie euch bestohlen?«

Andrej starrte den jungen Zigeuner durchdringend an. Es war nicht so, dass er Gedanken lesen konnte, aber seine scharfen Sinne machten es ihm leicht zu erkennen, ob ihn jemand belog. Bei Rason spürte er nichts dergleichen.

»Sprich weiter.«

»Da gibt's nicht mehr viel zu sagen«, antwortete Rason. »Ihr wart bewusstlos. Beide. Wir haben uns ein wenig umgesehen und eure Pferde und euer Gepäck gefunden. Es sah aus, als hätte man versucht, euch zu bestehlen.« Erneut zuckte er die Achseln. »Wir waren der Meinung, ihr hättet die Diebe überrascht und verfolgt, und dabei wäre es zum Kampf gekommen.« Er blinzelte. Die Andeutung eines spöttischen Lächelns erschien in seinen Augen. »Ihr seid von Kindern überfallen worden?«

»Ganz so war es nicht«, antwortete Andrej ausweichend und rettete sich schließlich in ein verlegenes Grinsen. »Ich habe einen Schlag auf den Kopf bekommen. An alles andere erinnere ich mich nicht mehr so genau.«

»So was kommt vor«, bestätigte Rason. Er schmunzelte. »Aber immerhin haben wir eure Pferde. Und euer Gepäck auch. Ich glaube nicht, dass etwas von Wert fehlt.«

»Ihr habt unsere Sachen durchsucht?«

»Selbstverständlich«, erwiderte Rason ungerührt. »Man muss doch wissen, mit wem man es zu tun hat. Ihr habt eine Menge Geld bei euch. Mit so was sollte man vorsichtig sein. Sonst muss man sich nicht wundern, wenn man überfallen wird.«

Irgendetwas an diesen Worten störte Andrej. Sie enthielten eine versteckte Kritik. Irritiert fragte er: »Habt ihr zufällig auch ein Schwert gefunden?«

»Es liegt in meinem Wagen«, antwortete Rason. »Eine prachtvolle Waffe - vor allem für einen einfachen Händler und Kaufmann. Ich gebe zu, ich war in Versuchung, sie zu behalten. Aber nur kurz.«

Andrej beschloss, die beiden letzten Sätze nicht gehört zu haben. »Es ist ein prachtvolles Schwert«, bestätigte er. »Ich habe es von einem Söldner gekauft, der seine Zeche nicht bezahlen konnte.«

»Ein gutes Geschäft.«

»Ich konnte mich bisher nicht davon trennen, obwohl es gute Angebote gab. Außerdem wird man respektiert, wenn man eine solche Waffe trägt.«

»Ja«, sagte Rason trocken. »Oder überfallen.« Er lachte. »Jetzt geh und weck deinen Freund. Gleich gibt's was zu essen, und danach beraten wir, was weiter mit euch geschieht.«

Abu Dun zu wecken, erwies sich als schwieriger, als Andrej ohnehin schon befürchtet hatte. Endlich erwacht konnte oder wollte sich der Nubier nicht mehr genau an das Gespräch mit Anka erinnern, und das, was Andrej ihm über seine Unterhaltung mit Rason erzählte, bedachte er nur mit einem Achselzucken. Schließlich gab Andrej auf und verließ das Zelt.

Obwohl nicht viel Zeit vergangen war, hatte sich das Lager vollkommen verändert. Überall, auch in den meisten Wagen, brannten Feuer. Andrej schätzte die Zahl der Männer und Frauen, die er sah, auf mehrere Dutzend. Die Sippe war größer, als er angenommen hatte.

Rason saß zusammen mit drei weiteren Zigeunern um das Feuer herum, an dem Andrej ihn zurückgelassen hatte, und winkte ihn zu sich heran. »Und?«, fragte er. »Wie geht's deinem Freund?«

»Frag ihn das besser nicht!«, empfahl Andrej. »Wahrscheinlich kann man ihn erst nach der Mittagsstunde wieder ansprechen.« Er folgte Rasons Geste, ließ sich mit untergeschlagenen Beinen am Feuer nieder und warf einen raschen Blick in die Runde. Gleich neben Rason saß der junge Zigeuner, den er gestern Nacht in Ankas Wagen getroffen hatte. Jetzt, da er die beiden nebeneinander sah, war er sicher, dass es sich bei ihm und Rason um Brüder handeln musste, möglicherweise sogar um Zwillinge. Neben den beiden Jungen saß eine dunkelhaarige Schönheit, die seinen Blick ohne Scheu, aber auch ohne die Spur eines Lächelns, erwiderte. An ihrer Seite hatte sich ein grauhaariger älterer Mann niedergelassen, den eine Aura von Autorität umgab.

»Das ist Bason.« Rason deutete auf den jungen Mann neben sich. »Mein Bruder.«

»Rason und Bason?«

»Unsere Eltern fanden das lustig«, sagte Rason. »Aber mach dir keine Sorgen: Es gibt keine weiteren Brüder. Sonst hätte es wirklich kompliziert werden können.« Er grinste knapp und wurde sofort wieder ernst. »Wir beide haben euch gefunden.«

»Und gefesselt«, ergänzte Andrej.

»Was hast du erwartet?«, fragte der Grauhaarige, bevor Rason etwas erwidern konnte. Er hatte eine volltönende, dunkle Stimme. »Die beiden finden zwei Fremde, die offensichtlich in einen Kampf verwickelt waren, und in der Nähe Waffen und weitere Spuren. Sie mussten euch fesseln - oder liegen lassen.«

»So sind unsere Regeln«, bestätigte Bason. Er machte eine Geste in Richtung des Grauhaarigen. »Das ist Laurus. Das Oberhaupt unserer Sippe.«

Andrej war nicht überrascht. Er nickte Laurus höflich zu. Der Sinti erwiderte seinen Blick, ohne eine Miene zu verziehen.

»Wir müssen beraten, was weiter mit euch geschieht«, sagte Laurus nach einer geraumen Weile.

»Beraten?« Andrej wiegte den Kopf. »Verzeiht, aber ich kann mich des Eindrucks nicht erwehren, dass ihr das bereits getan habt.«

»Ihr seid unsere Gäste«, antwortete Laurus ungerührt. »Ihr könnt bleiben, bis sich dein Freund vollständig erholt hat.«

»Das ist nicht notwendig«, antwortete Andrej. Er war nicht überrascht, aber enttäuscht. Etwas an der scheinbar gleichgültigen Art des Zigeuners machte ihm klar, wie sinnlos jedes weitere Wort war. Die Entscheidung war längst gefallen. »Abu Dun ist zäh. So schnell wirft ihn nichts um.«

»Abgesehen von einem Krug Wein«, grinste Rason. »Oder zwei.«

»Wir ziehen noch heute weiter«, fuhr Laurus fort. »Am Mittag werden wir Honsen erreichen, unser nächstes Ziel. Wenn ihr bei uns bleibt, könnt ihr euch dort nützlich machen. Rason hat mir erzählt, dass du Kaufmann bist?«

Andrej sah Rason überrascht an. Er nickte.

»Womit handelst du?«

»Mit nichts Bestimmtem«, antwortete Andrej ausweichend. »Was sich gerade so anbietet.«

»Schwerter zum Beispiel?«

»Zum Beispiel.« Andrej war auf der Hut. Das Gespräch war nicht so unverfänglich, wie es für einen Außenstehenden vielleicht den Anschein hatte. Es war besser, er überlegte sich jedes Wort genau.

»Jemanden wie dich können wir brauchen«, sagte Laurus nach kurzem Überlegen.

»Wozu?«

»Wir sind Zigeuner«, antwortete Laurus, als wäre das Erklärung genug. »Die Leute verhandeln lieber mit jemandem wie dir. Wir brauchen Unterkunft, müssen Waren tauschen - du könntest die Verhandlungen für uns führen.« Er hob die Schultern. »Und dein großer Freund kann bei unserem Schauspiel mitmachen.«

»Schauspiel?«

»Wir treten auf. Man muss schließlich von etwas leben.«

Abu Dun in einem Schauspiel? Andrej glaubte nicht, dass sie lange genug bei diesen Leuten bleiben würden, um das wirklich zu erleben, aber die Vorstellung gefiel ihm. Er lächelte matt, sagte aber nichts.

»Und wie es der Zufall will«, fügte Rason feixend hinzu, »brauchen wir gerade einen schwarzen Mann.«

»Abu Dun, der Kinderschreck.« Andrej nickte. »Das kann ich mir gut vorstellen.«

Niemand lachte. Nur in den Augen der Schwarzhaarigen blitzte es kurz und amüsiert auf. Andrej musterte sie aufmerksamer und korrigierte seine Schätzung, was ihr Alter anging, um ein gutes Stück nach oben. Sie konnte durchaus Laurus' Frau sein, aber er zog es vor, sich nicht danach zu erkundigen. So, wie er die Sinti einschätzte, mochten sie keine Fremden, die zu viele neugierige Fragen stellten.

»Ich würde gerne noch einmal mit Anka sprechen.«

»Anka?« Laurus' Gesicht verdüsterte sich. Ganz offensichtlich war das der falsche Wunsch gewesen. »Später vielleicht. Heute ist kein guter Tag dazu.«

»Ich wollte nicht...«

»Anka«, unterbrach ihn Laurus nicht unfreundlich, aber doch eine Spur schärfer als bisher, »ist unsere ehrwürdige Frau. Aber sie ist auch eine sehr alte Frau und manchmal etwas sonderbar. Du solltest nicht alles glauben, was du über sie hörst, und schon gar nicht alles, was du von ihr hörst.« Er stand auf und ging mit schnellen Schritten davon. Andrej sah ihm verwirrt nach.

»Was habe ich falsch gemacht?«, fragte er.

Rason lachte. »Laurus und Anka sind ... nicht gerade Busenfreunde«, erklärte er.

»Aber ich dachte, sie wäre ...«

»Anka ist unsere Puuri Dan«, fiel ihm Bason ins Wort, deutlich ernster als sein Bruder. »Sie ist die Bewahrerin des Wissens. Wir brauchen sie. Aber mein Vater und Anka waren noch nie gute Freunde, schon, als sie noch nicht so alt und sonderbar gewesen ist. Wir hatten schon eine Menge Schwierigkeiten ihretwegen, weißt du? Besser, du sprichst ihn nicht wieder auf sie an.«

Laurus sein Vater? Das war eine neue Information - und eine ziemlich überraschende dazu. Wenn Andrej jemals Söhne gesehen hatte, die ihrem Vater nicht ähnelten, dann waren es Rason und Bason. Er antwortete nur mit einem angedeuteten Lächeln.


»Auf dem Feuer liegt Speck, und hier steht Wasser.« Rason machte eine einladende Geste. »Du solltest dich stärken. Wir brechen bald auf, und wir müssen uns sputen, wenn wir unser Ziel bis zum Mittag erreichen wollen. Eure Pferde stehen drüben an der Koppel, und euer Gepäck ist in meinem Wagen. Ich bringe es dir gleich.« Er lachte leise. »Nicht, dass am Ende noch was wegkommt.«

Honsen war ein Straßendorf, wie es typisch war für diese Gegend.

Der Ort lag an der Kreuzung zweier unterschiedlich gut ausgebauter Wegstrecken und bestand aus wenig mehr als einem Dutzend einfacher Gebäude, von denen das größte die aus grobem Bruchstein errichtete Kirche war. Eine Hand voll Höfe, allesamt in Sichtweite des Kirchturms gelegen, waren der Ansiedlung vor- und nachgelagert.

Die letzten Meilen hatte sich die Straße durch ein ausgedehntes Moor geschlängelt, sodass die Sinti ihr ganzes Geschick darauf verwandten, die schweren Wagen genau in der Mitte der Fahrspur zu halten. Nicht nur Andrej atmete erleichtert auf, als von den eisenbeschlagenen Rädern und den Pferdehufen Kies und von der Sonne steinhart zusammengebackenes Erdreich widerhallte.

Auf Laurus' Bitte hin bildeten Abu Dun und er die Nachhut und ritten ein gutes Stück hinter dem Zug her. Abu Dun war immer noch sehr einsilbig. Er litt nach wie vor unter den Folgen des Alkoholgenusses, und seine Verletzungen waren anscheinend schlimmer, als er zugeben wollte. Andrej hatte ein paar Mal versucht, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, aber nachdem er nur ein paar spitze Bemerkungen geerntet hatte, gab er es schließlich auf.

Der Tag war wieder so heiß geworden wie die vorangegangenen. Nicht der leiseste Windhauch regte sich, und auch der Himmel war stahlblau und wolkenlos. Die Sonne, eine glühende, fast weiße Münze, schickte ihre Strahlen unbarmherzig auf die verbrannte Erde hinab und dörrte sie noch weiter aus. Andrej fragte sich, wie lange die Hitzewelle noch anhalten mochte, und vor allem, wie lange das Land und seine Bewohner sie noch ertragen konnten, ohne ernsthaften Schaden zu nehmen. Noch führten die Flüsse Wasser und noch waren die Felder nicht vollends verbrannt. Doch in wenigen Wochen konnte das schon anders aussehen ... »Du müsstest dich doch wie zu Hause fühlen«, sagte Andrej an Abu Dun gewandt, der abwechselnd neben und hinter ihm ritt, um doch noch ein Gespräch in Gang zu bringen. »Heißer kann es in der Wüste auch nicht sein.«

»Was weißt du schon von der Wüste, Ungläubiger?«, antwortete Abu Dun sauertöpfisch. »Die Wüste ist erhaben und schön. Es gibt dort wirkliche Größe, und die Menschen, die dort leben ...«

»... sind edel und gut und ein Ausbund an Freundlichkeit, ich weiß«, unterbrach ihn Andrej. Er hielt sein Pferd an, bis Abu Dun neben ihm ritt und ließ das Tier dann im gleichen Tempo wie das des Nubiers weitertrotten. »Was ist eigentlich los mit dir? Wenn du den Wein nicht verträgst, dann sauf nicht so viel!«

Abu Dun sah ganz so aus, als wollte er wütend werden, aber dann beließ er es bei einem verärgerten Blick und sank in sich zusammen. »Es ist nicht der Wein«, sagte er.

»Allahs Strafe dafür, dass du gegen die Gebote des Propheten verstoßen und Alkohol zu dir genommen hast, ich verstehe«, sagte Andrej spöttisch. »Irgendwann musste es der alte Herr da oben ja mal merken.«

»Es ist nicht der Wein«, beharrte Abu Dun.

»Was dann?«

»Nun ...« Der riesige Nubier druckste herum. »Gestern«, sagte er schließlich.

»Gestern?« Selbstverständlich wusste Andrej, was Abu Dun meinte, aber er wollte es von ihm hören.

»Diese verdammten Kinder.«

»Ich verstehe.« Andrej nickte. »Geht gegen deine Ehre, dass dich ein paar Halbwüchsige verprügelt haben, was? Wenn es dich tröstet: Mir geht's ganz genauso. Aber was hätten wir tun sollen? Sie umbringen? Es waren trotz allem nur Kinder.«

»Ganz genau das ist es ja«, grollte Abu Dun. »Vor ein paar Jahren hätte ich es getan, ohne zu zögern.«

»Oh, das meinst du«, antwortete Andrej. »Du bist wütend, weil du es nicht mehr über dich bringst, Kinder umzubringen.«

»Das waren keine Kinder«, zischte Abu Dun leise. »Und sie haben mich nicht verprügelt, sondern um ein Haar umgebracht. Sie wollten mich umbringen. Und dich haben sie getötet, wenn ich mich recht erinnere. Sogar zweimal.«

Andrej schwieg.

»Ich wollte sie nicht umbringen«, fuhr Abu Dun nach kurzem Schweigen fort. »Aber ich wollte mich auch nicht umbringen lassen, verstehst du? Ich ...« Er rang sichtlich um Worte und rettete sich schließlich in ein Achselzucken. »Ich verstehe das nicht. Ich wollte mich wehren, aber es ging nicht. Ich konnte ...«

»... ihnen einfach nichts zu Leide tun«, ergänzte Andrej. »Wolltest du das sagen?«

»Dann ist es dir genauso ergangen.« Abu Dun schnaubte. »Und du glaubst immer noch, das wären ganz normale Kinder gewesen?«

Kinder? Andrej musste plötzlich wieder an diese unheimliche Leere denken, die er gespürt hatte, als er versuchte nach der Seele des Jungen zu greifen, und ein eisiger Schauer lief ihm über den Rücken. Kinder? Ganz gewiss nicht!

»Aber das ist nicht alles, habe ich Recht?«, fragte er.

»Nein«, antwortete Abu Dun. Er sprach nicht weiter. Aus irgendeinem Grund wollte er, dass Andrej weiter in ihn drang. Vielleicht, weil es leichter war, auf Fragen zu antworten, als von sich aus zu reden.

»Also, was ist es?«

Wieder verging eine geraume Weile, bevor Abu Dun antwortete. »Du bist am Ziel, nicht wahr?«

»Am Ziel?« Andrej war erschrocken, aber er unterdrückte den Wunsch, Abu Dun anzublicken.

»Wir haben länger als ein Jahr nach diesen Leuten gesucht«, sagte Abu Dun. »Wir sind um die halbe Welt geritten, um sie zu finden. Und jetzt haben wir sie gefunden.«

»Und?«

Andrej wartete vergeblich darauf, dass Abu Dun weitersprach. Der Nubier ließ sein Pferd neben ihm her traben, und sein Blick war starr geradeaus ins Nichts gerichtet. Schließlich sagte Andrej: »Du hast Angst, dass ich bei ihnen bleibe.« Er versuchte zu lachen, aber es klang nicht überzeugend.

»Wirst du es etwa nicht tun?«

Andrej seufzte. »Unsinn, ich kenne diese Leute doch gar nicht.«

»Aber es sind deine Leute.«

»Nein!«, antwortete Andrej, lauter und heftiger als beabsichtigt. »Ich möchte Anka ein paar Fragen stellen und diesem Laurus vielleicht auch. Das ist alles.«

»Du wirst bei ihnen bleiben«, beharrte Abu Dun.

Andrej riss mit einem so harten Ruck am Zügel, dass sein Pferd protestierend schnaubte. »Was redest du da?«, Schnappte er.

»Anscheinend bist du genauso blind wie diese Anka«, antwortete der Nubier. »Du kannst nicht glauben, dass es Zufall war, oder?«

»Was?«

Abu Dun ballte verärgert die Hand zur Faust. »Nach so langer Zeit finden wir diese Hexe, und kaum sind wir auch nur in ihrer Nähe, da tauchen diese ...« Wieder schien er nach Worten zu suchen, »... diese Was-auch-Immer auf und versuchen, uns umzubringen.«

»Wieso nennst du sie eine Hexe?«, wollte Andrej wissen.

»Was ist sie dann?«

»Um das herauszufinden, bin ich hier«, sagte Andrej. Es fiel ihm schwer, Ruhe zu bewahren. Abu Duns Worte empörten ihn mehr, als er zugeben wollte. In einem versöhnlicheren Ton fügte er hinzu: »Anka ist vielleicht ein wenig sonderbar. Aber als Hexe würde ich sie nun wirklich nicht bezeichnen.«

»So wenig, wie ich dich als Hexenmeister bezeichne«, erwiderte Abu Dun.

»Übertreib es nicht, Sklavenhändler«, mahnte Andrej scharf.

»Womit? Mit dem Versuch, dir die Augen zu öffnen? Wahrscheinlich ist es schon zu lange her, dass ich dir den Hals gebrochen habe. Aber vielleicht kommst du doch noch zur Besinnung!« Und damit rammte er seinem Pferd die Absätze in die Flanken und sprengte los.

Andrej sah ihm betroffen nach. Er hatte gespürt, dass mit Abu Dun etwas nicht stimmte, aber diese heftige Reaktion überraschte ihn. Sein erster Impuls war, dem Nubier nachzueilen und ihn zur Rede zu stellen, aber das wäre ein Fehler gewesen. Abu Dun zählte nicht zu den Männern, denen man mit Vernunft beikommen konnte, wenn sie sich einmal in etwas verrannt hatten.

Andrej verscheuchte den Gedanken und ließ sein Pferd wieder antraben, um zu den anderen aufzuschließen. Der Kirchturm von Honsen war bereits in Sichtweite gekommen, und die ersten Wagen an der Spitze der Kolonne wurden langsamer. Andrej vermutete, dass sie vor dem Ort lagern würden. In Anbetracht des Umstands, dass der Sinti-Clan vermutlich mehr Köpfe zählte als Honsen Einwohner hatte, wäre alles andere einer Invasion gleichgekommen. Er ...

... spürte plötzlich die Nähe eines anderen.

Andrej riss zum zweiten Mal so heftig an den Zügeln, dass das Pferd mit einem erschrockenen Wiehern den Kopf in den Nacken warf und auszubrechen versuchte. Er nutzte den Schwung der Bewegung, um das Tier fast auf der Stelle zu drehen und griff gleichzeitig nach dem Schwert, das wieder an seiner Seite hing. Aber er zog die Waffe nicht.

Hinter ihm, nur wenige Schritte entfernt, stand Rason.

Kein anderer Unsterblicher.

Kein Vampyr.

Es war nur Rason.

Andrej horchte aufmerksam in sich hinein, aber da war nichts - und gerade das verstörte umso mehr. Er spürte es, wenn sich ein anderer Vampyr auch nur in seiner Nähe aufhielt. Und er hatte es ganz genau gefühlt: Etwas hatte die Kälte in seiner Seele berührt, etwas gleichermaßen Vertrautes wie Beunruhigendes, das unzweifelhaft vorhanden war.

Aber hinter ihm war nichts bis auf den jungen Sinti.

Mit seinen nichtmenschlichen Sinnen versuchte er, nach Rasons Seele zu tasten, aber auch da fand er nichts, was nicht dorthin gehörte. Es war verwirrend.

»Bitte entschuldige, Andrej.« Rason lächelte unsicher. »Ich wollte dich nicht erschrecken.«

»Das ... hast du nicht«, sagte Andrej. Eine Lüge.

Rason hatte ihn erschreckt. Andrejs Blickte suchten den Weg rechts und links des Zigeuners ab, aber dort gab es nur ein paar Büsche; nichts, wohinter sich auch nur ein Hund hätte verstecken können. Und überhaupt: Wo um alles in der Welt war Rason eigentlich hergekommen?

»Mein Vater schickt mich«, sagte Rason. »Wir schlagen bald unser Lager auf, und Laurus möchte, dass ihr, du und dein Freund, in die nächste Stadt reitet, um Vorräte zu besorgen.« Er zuckte verlegen die Achseln. »Obwohl, was deinen Freund angeht... Hattet ihr Streit?«

»Nein«, antwortete Andrej. »Aber euer Wein hat es in sich. Morgen früh ist er wieder ganz der Alte.«

Rason nickte. »Dann wird Elena dich begleiten. Sie wollte sowieso mit dir sprechen.«

»Elena?«

»Meine Schwester.« Rason deutete an die Spitze des Zugs. »Du hast sie heute Morgen kennen gelernt. Bisher hat sie sich um unsere Vorräte und den Verkauf unserer Waren gekümmert. Laurus meint, sie könnte dir zeigen, wie wir handeln.«

Andrej war nicht ganz sicher, was ihn mehr überraschte: Die Tatsache, dass die Frau, die er für Rasons Mutter gehalten hatte, dessen Schwester war, oder Laurus' überraschendes Ansinnen.

»Du musst wissen, was wir brauchen, und wie viele ...«

»Das ist mir klar«, unterbrach ihn Andrej. »Aber dieser Vorschlag überrascht mich. Bisher habe ich doch noch gar nicht entschieden, wie lange ich bei euch bleibe, oder ob überhaupt. Immerhin kennen wir uns erst seit gestern. Und heute Morgen hatte ich den Eindruck, dass dein Vater uns lieber gehen als kommen sieht.«

»Laurus ist misstrauisch«, gestand Rason. »Wir haben viel Schlechtes mit Fremden erlebt, das musst du verstehen.«

»Und du nicht?«

»Ob ich es verstehe oder ob ich misstrauisch bin?« Rason lachte. »Du solltest dich beeilen. Elena ist keine sehr geduldige Frau. Sie wartet nicht gerne. Schon gar nicht auf einen Mann.«

Andrejs Rolle, die Laurus ihm bei den Verhandlungen zugedacht hatte, beschränkte sich zumindest für diesen Tag aufs Zuhören.

Sie waren eine gute Weile in scharfem Tempo geritten, um die nächste Stadt zu erreichen, die anders als Honsen, diese Bezeichnung auch verdiente. Andrej hatte nach dem Namen des Orts gefragt, aber Elena hatte nur mit einem Lächeln geantwortet; so, wie sie den meisten seiner Fragen nur mit einem Lächeln oder mit einem Achselzucken begegnete. Auf dem gesamten Weg hatte sie keine zehn Sätze mit ihm gewechselt, ein Verhalten, das eigentlich dazu angetan gewesen wäre, Andrej zu verärgern. Aber sonderbarerweise war es mit Elena wie mit ihren Brüdern: Obwohl Andrej so gut wie nichts über sie wusste, mochte er sie auf Anhieb. So nutzte er die langen Pausen zwischen den immer wieder begonnenen Gesprächen, um die Zigeunerin aufmerksamer als am Morgen zu mustern. Hätte Rason ihm nicht gesagt, wer sie war - und warum sollte dieser ihn diesbezüglich belügen? -, hätte er auch jetzt, da er sie im hellen Tageslicht sah, nicht gewusst, ob er sie für Rasons Schwester oder Mutter halten sollte. Manchmal wirkte sie wie ein Mädchen, das kaum älter als achtzehn Jahre alt zu sein schien, dann wieder strahlte sie eine sonderbare Reife aus, etwas, das deutlich mehr Lebenszeit voraussetzte, auch wenn man sie ihr nicht ansah. Natürlich blieben seine Blicke Elena nicht verborgen. Auch das war etwas, das Andrej in zunehmendem Maße verwirrte: Er konnte nicht sagen, ob ihr die Musterung, der er sie immer unverhohlener unterzog, angenehm, unangenehm oder gar gleichgültig war.

Elenas Schweigsamkeit jedenfalls endete schlagartig, als sie die Stadt erreichten. Mit knappen Worten hatte sie Andrej angewiesen, stets in ihrer Nähe zu bleiben und zuzuhören -, und es sollte einiges folgen, was zu sehen und vor allem zu hören sich lohnte. Elena fand zielsicher genau die Händler und Kaufleute, die sie suchten, und Andrej kam aus dem Staunen nicht mehr heraus, als er die unglaubliche Wandlung beobachtete, die mit der zierlichen Sinti-Frau vor sich ging. Elena feilschte und handelte, dass es eine Freude war, ihr dabei zuzusehen. Und Andrej fragte sich zweifelnd, ob er die Rolle des fahrenden Händlers, in die er seit einiger Zeit geschlüpft war, tatsächlich weiterspielen sollte. Schon bald stapelten sich auf der Ladefläche ihres Wagens Kisten, Säcke, Beutel und Fässer mit nahezu allem, was drei Dutzend Menschen und ihre Pferde für eine Woche brauchten.

Jetzt saßen sie in einem kleinen Gasthaus unmittelbar am Marktplatz, und Andrej musterte den grauhaarigen Burschen, der ihm gegenübersaß und mit dem sie verhandelten. In den letzten Minuten hatte sich die Farbe seines Gesichts zunehmend der des struppigen Haars angepasst, von dem es eingerahmt wurde. Der Ausdruck in den von Falten belagerten Augen grenzte an blankes Entsetzen.

»Eine Wagenladung Mehl«, sagte Elena zum wiederholten Mal mit unschuldigem Lächeln. »Dreißig Säcke, beste Qualität. Und Ihr liefert sie bis spätestens morgen Abend in unser Lager. Das ist mein Angebot.« Sie machte eine Kopfbewegung auf die perfekt ausgerichtete Reihe blitzender Kupfermünzen, die sie vor sich auf der Tischplatte ausgelegt hatte.

Der graugesichtige Bäcker fuhr sich mit dem Handrücken übers Kinn. Er hatte sich gut genug in der Gewalt, um die Geldstücke nicht gierig anzustarren. »Dabei komme nicht einmal ich auf meine Kosten!«, jammerte er. »Ich muss einen Wagen zur Mühle hinausschicken und einen Mann abstellen, vielleicht sogar zwei, und das für einen ganzen Tag.«

»Wir können auch selbst zum Müller fahren und mit ihm verhandeln«, unterbrach ihn Elena, während sie bereits die Hand nach den Geldstücken ausstreckte. »Dann verdient Ihr allerdings nichts dabei.«

»Warte!«, sagte der Bäcker hastig. Elenas Hand schwebte reglos über den Münzen. Sie lächelte ihr Gegenüber fragend an. »Also gut«, murrte der Bäcker schließlich. »Aber die Anlieferung kostet extra, sonst zahle ich drauf.«

Was er Andrejs Meinung nach ohnehin schon tat. Die Summe, die Elena vor sich auf dem Tisch abgezählt hatte, erschien ihm viel zu niedrig - wie Elena an diesem Vormittag überhaupt alles erstaunlich günstig erstanden hatte. Hätte er auf der anderen Seite des Tisches gesessen, so wäre er längst aufgestanden und gegangen.

»Nein«, antwortete Elena. »Meine Kasse gibt leider nicht mehr her.«

Der Bäcker blinzelte.

»Und Ihr wollt doch nicht, dass mein Mann mich schlägt, weil ich zu viel Geld ausgegeben habe, oder?«, fuhr sie fort. »Aber ich mache Euch einen anderen Vorschlag: Warum liefert Ihr die Ware nicht selbst aus? Auf diese Weise spart Ihr die Kosten für den Fahrer, und Ihr könntet Eure Frau mitbringen und Eure Kinder, falls Ihr welche habt, um den Abend bei uns zu verbringen. Wir führen ein Schauspiel auf, und wir haben einen Schwertschlucker und Jongleure ... Es wird Euch gefallen.«

Etliche Sekunden starrte der Bäcker Elena durchdringend an, und er machte dabei ein Gesicht, als würden ihm glühende Nadeln unter die Fingernägel getrieben. Dann konnte Andrej fühlen, wie sein Widerstand brach.

»Also gut«, seufzte er. »Ich weiß zwar selbst nicht, warum ich das tue, aber wir sind uns einig.« Er stand auf und wollte sich gerade über den Tisch beugen, um das Geld einzustreichen, als Elena den Kopf schüttelte und die Münzen so schnell in ihrem Geldbeutel verschwinden ließ, als hätte sie sie weggezaubert.

»Zahlung bei Lieferung«, sagte sie. »Geld gegen Ware, so ist es doch bei Euch üblich, oder?«

In den Augen des Bäckermeisters blitzte für einen Moment die Wut auf, und Andrej spannte sich instinktiv. Aber der Zorn verrauchte so schnell, wie er gekommen war.

»Verdammtes Zigeunerpack!«, stieß er zwischen den Zähnen hervor. Aber es war eher ein Ausdruck von Hilflosigkeit als eine Beleidigung. Wieder starrte er Elena einen Moment lang an, dann fuhr er auf dem Absatz herum und stürmte aus dem Gasthaus, als wären sämtliche Dämonen des Fegefeuers hinter ihm her. Andrej blickte ihm kopfschüttelnd nach.

»Beinahe könnte er einem ja Leid tun«, sagte er.

Elena lachte. »Er ist ein Dummkopf. Dummköpfe tun mir nicht Leid.« Sie hob die Hand und winkte den Wirt heran. »Noch zwei Becher Bier!«

»Haben wir etwas zu feiern?«, erkundigte sich Andrej.

»Ein gutes Geschäft«, erwiderte Elena. »Ich hab kaum die Hälfte von dem ausgegeben, was mit Laurus abgesprochen war. Das könnte man einen Grund zum Feiern nennen, oder?«

Andrej nickte, sagte aber trotzdem: »Wieso kann ich mich des Eindruckes nicht erwehren, dass du immer so gute Geschäfte abschließt?«

»Vielleicht, weil ich eine gute Händlerin bin?«, schlug Elena vor. Ein Lächeln huschte über ihr Gesicht.

»Das bist du zweifellos.« Andrej setzte eine nachdenkliche Miene auf. »Ich frage mich nur, was ich hier soll. Ich werde niemals so gut sein wie du. Ich glaube, niemand kann das.«

»Unsinn!«, widersprach Elena lachend. »Sieh zu und lerne. Und bis es so weit ist, kann ich mich wenigstens sicher fühlen. Es sind schlimme Zeiten. Eine Frau sollte nicht ohne Begleitung in eine fremde Stadt gehen.«

Wiewohl diese Stadt ganz gewiss keine Gefahren birgt, dachte Andrej. Die wenigen Menschen, denen sie begegnet waren, hatten kaum Notiz von ihnen genommen.

Der Wirt brachte das bestellte Bier, und Elena bezahlte die Zeche sofort; einschließlich des Bechers, den der Bäckermeister getrunken hatte. Andrej ertappte sich dabei, wie er nicht nur jede ihrer Bewegungen verfolgte, sondern sie regelrecht zu genießen begann. Die schwarzhaarige Zigeunerin hatte etwas an sich, das jede Geste, jede Alltäglichkeit zu etwas wie einem kleinen Tanz machte. Während der Fahrt in die Stadt und auch danach, hatte er hinlänglich Gelegenheit gehabt, sie zu betrachten und seinen Eindruck vom Morgen zu bestätigen: Sie war eine wirkliche Schönheit. Ihr Gesicht schien auf sonderbare Weise zeitlos zu sein. Sie besaß das Antlitz eines Mädchens und das einer reifen Frau zugleich und war von zarter, anmutiger Gestalt. Dennoch konnte er sich nicht vorstellen, sie zu berühren oder ihr näher zu kommen als für einen freundschaftlichen Wangenkuss. Er mochte sie. Er mochte sie sogar sehr. Es war sonderbar. Verwirrend, aber auch beängstigend.

»Hast du mich jetzt lange genug angestarrt?«

Das hatte er in der Tat getan, aber aus anderen Gründen, als Elena vermutlich annahm. Doch ihre Frage schien nicht den Zweck gehabt zu haben, ihn in Verlegenheit zu bringen. »Ich werde nicht schlau aus dir, Elena«, sagte er offen.

»Sieh einfach weiter zu, und irgendwann wirst du es lernen.«

»Das meine ich nicht«, antwortete Andrej, »heute Morgen, als ich dich das erste Mal gesehen habe, da habe ich dich für Laurus' Weib gehalten.«

Elena nickte.

»Später hat mir Rason dann erzählt, du wärst seine Schwester.«

»Und?« In Elenas Augen blitzte es amüsiert auf.

»Und gerade hast du behauptet, Laurus wäre dein Mann, und er würde dich schlagen, wenn du zu viel Geld ausgibst«, fuhr Andrej fort. »Was ist denn nun die Wahrheit?«

»Nun, was glaubst du denn?«, fragte Elena amüsiert. »Ist dir noch nie der Gedanke gekommen, dass beides stimmen könnte?«

»Beides?« Andrej riss die Augen auf.

»Jetzt sieh mich nicht so entrüstet an«, sagte Elena lachend. »Ich habe nie behauptet, dass Laurus der Vater der Jungen ist und ich ihre Mutter, oder?«

»Nein«, gestand Andrej betroffen. »Entschuldige.«

»Und jetzt hör endlich auf, dich andauernd zu entschuldigen«, fiel ihm Elena ins Wort. »Geh nach draußen, und sieh nach, ob die Ladung gut verstaut ist. Ich komme gleich nach.«

Hastig erhob sich Andrej. Das Gespräch hatte einen für ihn peinlichen Verlauf genommen, und er hatte das Gefühl, rote Ohren bekommen zu haben. Fast floh er aus dem Gasthaus und ging zum Wagen, den sie direkt davor abgestellt hatten. Er hatte das für ziemlich leichtsinnig gehalten und Elena gegenüber auch keinen Hehl aus seiner Einstellung gemacht.

Diebe waren zwar nicht gekommen, aber der Wagen stand auch nicht mehr ganz so einsam, wie sie ihn zurückgelassen hatten: Zwei hoch gewachsene junge Burschen mit dunklem Haar machten sich am hinteren Teil der Ladefläche zu schaffen. Neben ihnen stand ein dritter, älterer Mann. Er kam Andrej irgendwie bekannt vor.

»Kann ich den Herren helfen?«, fragte er laut.

Erschrocken fuhren das Trio herum. Andrej maß sie mit einem kurzen, prüfenden Blick, während er langsam auf sie zu schlenderte. Er glaubte nicht, dass die drei Diebe waren - und wenn, dann entweder ziemlich ungeschickte oder Anfänger. Dennoch legte er vorsichtshalber die linke Hand auf den Schwertgriff, als er sich ihnen näherte.

»Wer ...« Der Ältere neigte den Kopf und sah Andrej stirnrunzelnd an. Dann nickte er. »Ach ja, du bist der Kerl, der das Zigeunerweib begleitet.«

»Und Ihr seid der Krämer.« Andrej sprach die Worte im gleichen Moment aus, in dem er sich erinnerte. Dieser Mann war der erste Händler gewesen, den sie an diesem Morgen aufgesucht hatten. Die beiden anderen kannte er nicht, aber ihrem Aussehen nach mochten sie seine Söhne sein.

»Ich begleite Elena, das ist richtig.« Andrej nahm die Hand vom Schwert und entspannte sich. Die drei waren harmlos. »Was kann ich für Euch tun?«

Erneut sah der Mann ihn an. Offenbar wusste er nicht, was er von Andrej zu halten hatte. Als er antwortete, war er offensichtlich darum bemüht, bestimmt zu klingen, aber Andrej hörte den Trotz aus seiner Stimme heraus.

»Ich muss mit deiner Begleitung sprechen«, sagte der Krämer. »Ich will meine Ware zurück. Oder mehr Geld.«

»Geld.« Andrej ging langsam um den Wagen herum. Die beiden Jungen hatten die Sachen, die sie am Morgen bei ihrem Vater erstanden hatten, bereits herausgesucht, aber noch nicht abgeladen. Der ältere der beiden wich einen halben Schritt zurück, während der andere stehen blieb und die Arme vor der Brust verschränkte. Aber Andrej sah ihm an, wie schwer es ihm fiel, bedrohlich auszusehen. »Wieso Geld? Ihr habt den vereinbarten Preis erhalten, soviel ich weiß.«

»Den vereinbarten Preis?«, ereiferte sich der Krämer. »Gewiss! Aber viel zu wenig! Bei dem Handel zahle ich drauf!«

Das hatte sich Andrej schon gedacht. Dennoch zuckte er gleichmütig mit den Schultern. »Niemand hat Euch gezwungen, den Preis zu akzeptieren«, sagte er. »Ich war dabei. Es war ein ehrlicher Handel.«

»Ehrlich? Papperlapapp!« Der Krämer machte eine zornige Geste. »Verzaubert hat sie mich, diese Hexe. Ich wusste nicht, was ich tat!«

»Diesen Eindruck hatte ich nicht«, erwiderte Andrej. Er ging noch zwei Schritte weiter und blieb erneut stehen, als er die Furcht der beiden jungen Männer spürte. Sie waren keine Gegner für ihn, aber Menschen, die Angst hatten, neigten zu unüberlegten Handlungen, und er hatte wenig Lust, hier einen Kampf heraufzubeschwören.

»Kein Kaufmann gibt seine Ware noch unter dem Ein-Standspreis her«, lamentierte der Krämer. »Und ich hab das auch noch nie zuvor getan! Sie hat mich verhext!«

»Vielleicht seid Ihr ja einfach ihren schönen Augen erlegen«, bemerkte Andrej. »Das soll schon so manchem passiert sein.«

»Es war Hexerei!«, beharrte der Krämer. Er griff in die Tasche und zog eine Hand voll Kupfermünzen heraus. »Hier. Ich gebe Euch Euer Geld zurück und nehme dafür meine Waren wieder mit. Oder Ihr zahlt, was sie wirklich wert sind!«

»Bedaure, ich fahre nur den Wagen«, sagte Andrej. »Ich kann das nicht entscheiden. Aber ich kann gerne hineingehen und Elena holen, wenn Ihr mit ihr sprechen wollt.«

»Ich will diese Hexe nicht mehr sehen!«, rief der Krämer aufgebracht. War das Angst in seiner Stimme? »Ich will mehr Geld oder meine Waren zurück, und das sofort!«

Andrej spürte die Veränderung, die mit dem Mann vor sich ging. Der Kaufmann war keineswegs mutiger geworden, aber sein herausfordernder Ton und sein entschlossenes Auftreten hatten ihn zu einem Punkt geführt, an dem es für ihn kein zurück mehr gab. Wenn er, Andrej, ihm nicht die Möglichkeit gab, in Gegenwart seiner Söhne das Gesicht zu wahren, konnte die Sache übler ausgehen, als es den Beteiligten lieb war. »Ich bitte Euch«, sagte Andrej ruhig und lächelte milde. »Es ist für einen Mann keine Schande, zuzugeben, dass er einer schönen Frau erlegen ist. Lasst uns hineingehen und in Ruhe über alles reden.«

»Ich will die Hexe nicht mehr sehen!«, beharrte der Krämer.

»Dann wird es schwierig«, antwortete Andrej.

»Vielleicht kann ich den Herren behilflich sein?«

Andrej drehte sich nicht sofort um, sondern verwandte einen Augenblick darauf, die Reaktionen auf den Gesichtern seiner Gegenüber auf die Stimme zu beobachten, die plötzlich hinter ihnen laut geworden war. Was er sah, sprach Bände: Die Mienen der beiden Jungen wirkten gleichermaßen erschrocken wie erleichtert, während ihr Vater irgendwie bestürzt aussah. Andrej wandte sich um und maß den Neuankömmling mit einem aufmerksamen Blick.

Er war nicht einmal überrascht, einen hoch aufgeschossenen, hageren Mann in einer schlichten braunen Mönchskutte zu erblicken. Nichts an dem Geistlichen war auffällig, abgesehen vielleicht von seinen Augen, die sich bemühten, freundlich in die Welt zu blicken, an deren Grund jedoch Misstrauen und Bitterkeit lauerten. Andrej spürte, dass von diesem Mann keine unmittelbare Gefahr ausging, er aber dennoch gut beraten war, sich jedes weitere Wort genau zu überlegen.

»Bruder Flock!« Der Krämer begann, unbehaglich von einem Fuß auf den anderen zu treten und wusste plötzlich nicht mehr, wohin mit seinem Blick. »Wir haben ... nur eine kleine Meinungsverschiedenheit.«

Der Mann in der Mönchskutte runzelte die Stirn, was sein Gesicht ernsthafter und älter erscheinen ließ. Kurz maß er den Krämer mit einem durchdringenden Blick, dann beugte er den Körper und sah Andrej an. Schließlich räusperte er sich und sagte: »Das sah mir aber gar nicht danach aus. Wer seid Ihr?«

»Mein Name ist Andreas«, antwortete Andrej. »Andreas Delany. Und der gute Mann hat Recht: Es ist nur ein kleines Missverständnis, das eigentlich schon fast geklärt ist.«

»Seid Ihr ein gläubiger Christenmensch und lest Ihr die Bibel, Freund Andreas?«, fragte Flock.

Andrej blinzelte. »Warum fragt Ihr?«

Auf dem glatten Gesicht seines Gegenübers erschien ein schwaches Lächeln. »Weil Ihr dann wissen solltet, dass es eine Sünde ist, zu lügen«, antwortete Flock. »Auch wenn ich nicht glaube, dass Ihr für eine solche Kleinigkeit schon im Höllenfeuer schmoren werdet. Aber man kann nie wissen. Eins kommt zum anderen.«

Es fiel Andrej schwer, zu entscheiden, ob das nur das Geplapper eines beflissenen Pfaffen oder eine versteckte Drohung war. Besser, er ging von Letzterem aus. So wenig er die Männer der Kirche mochte, so sehr hatte er gelernt, vor ihnen auf der Hut zu sein, auch wenn sie sich die Maske der Freundlichkeit vorhielten. »Ihr habt Recht«, räumte er mit einem Lächeln ein. »Ich entschuldige mich. Wir hatten in der Tat einen kleinen Disput. Aber wie gesagt - er ist schon beinahe beigelegt.«

»Dann wird es Euch nichts ausmachen, mir zu sagen, worum es dabei ging?«

Das machte Andrej allerdings etwas aus, aber noch bevor er antworten konnte, kam ihm einer der Krämersöhne zuvor.

»Er gehört zu der Hexe, die unseren Vater verzaubert hat«, sagte der Junge. »Wahrscheinlich ist er ein Mörder, der nur auf einen Vorwand wartet, um uns die Kehle durchzuschneiden.«

Es kostete Andrej einiges an Überwindung, sich nicht zu dem Jungen umzudrehen und ihn mit einem einzigen Blick in seine Schranken zu weisen. Stattdessen behielt er weiter Flock im Auge, und was er sah, bestätigte ihn in seiner ersten Einschätzung: Der Geistliche hatte sich hervorragend in der Gewalt. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel, aber die Düsternis in seinem Blick schien zuzunehmen, und Andrej spürte die grimmige Befriedigung des Mannes, seinen tief sitzenden Glauben an das Schlechte im Menschen bestätigt zu sehen.

Doch überraschenderweise lächelte Flock plötzlich und wandte sich mit sanfter Stimme an den Jungen. »Eine Hexe, die deinen Vater verzaubert hat?«, fragte er. »Mit solchen Worten sollte man vorsichtig sein, mein Kind. Sie sind rasch ausgesprochen, aber nur schwer wieder zurückzunehmen. Und sie können viel Unheil anrichten.«

»Hört nicht auf meinen Sohn«, lenkte der Krämer ein. Seine Stimme zitterte. »Er ist ein dummer Bengel, der nicht weiß, was er sagt.«

»Dann sagt Ihr es mir«, verlangte Flock.

Der Krämer wand sich einen Moment, doch bevor er antworten konnte, flog die Tür der Gaststube auf, und Elena trat hinaus. Sie musste wohl einen Teil des Gespräches mitangehört haben, denn sie bedachte sowohl den Krämer und seine Söhne als auch den Geistlichen mit Blicken, die nicht die Spur von Überraschung zeigten. »Vielleicht kann ich Eure Frage beantworten, Hochwürden.«

»Bruder reicht«, erwiderte Flock. »Ich bin nur ein geringer Diener des Herrn.«

»Sind wir das nicht alle, gleich, welchen Titel und Rang wir auf Erden auch bekleiden?«, gab Elena zurück. »Wie dem auch sei, Andreas und ich haben heute Morgen Waren bei diesem guten Mann erstanden, und anscheinend ist er mit dem ausgemachten Preis nicht einverstanden.«

»Ist das wahr?«, fragte Flock.

»Preis?«, schnaubte der Krämer. Er hatte nicht den Mut, Elena oder dem Geistlichen in die Augen zu sehen, stattdessen funkelte er Andrej böse an. »Was dieses Weib einen Preis nennt, ist ein Witz! Sie hat die Hälfte von dem bezahlt, was ich selbst für die Waren gegeben habe!«

»Nun, das dürfte ein wenig übertrieben sein«, sagte Elena mit einem angedeuteten Lächeln, »aber ich muss gestehen, dass ich selbst ein wenig erstaunt war. Ich habe ein Angebot gemacht, und er ist sofort darauf eingegangen, ohne auch nur zu handeln.«

»Unsinn!«, stieß der Krämer hervor. »Sie hat mich ... verhext!«

Andrej bemerkte, wie schwer es dem Mann fiel, dieses Wort auszusprechen, und für einen Moment schwebte es über ihnen wie ein Beil, das jeden Moment auf sie herabzusausen drohte. Es war - ganz wie Flock gesagt hatte -, etwas, das einmal heraufbeschworen, Unheil anzurichten vermochte. Andrej spannte sich. Er glaubte - er hoffte - immer noch nicht, dass es wirklich zu einer tätlichen Auseinandersetzung kommen würde, aber die Situation begann eindeutig aus dem Ruder zu laufen.

Der Geistliche reagierte jedoch anders als erwartet. Sein Blick ruhte einen Moment auf Elena, und ein dünnes, aber durchaus ehrliches Lächeln umspielte seinen Mund. »Nun, wenn ich mir dieses prachtvolle Weib so ansehe«, sagte er, »dann kann ich mir durchaus vorstellen, wie seine Hexerei ausgesehen haben mag. Ich bin ein Diener des Herrn und habe das Gelübde abgelegt, doch auch ich wurde als Mann geboren. Seid Ihr ganz sicher, Krämer, dass Ihr nicht nur ihren schönen Augen und ihrer Anmut erlegen seid?«

Der Mann antwortete nicht, sondern starrte Flock mit sichtlich wachsender Verzweiflung an. »Ich ... war meinem Weib immer treu«, stammelte er. »Und ich habe nie ...«

»Das habe ich auch nicht bezweifelt«, unterbrach ihn Flock. »Glaubt mir, Gott im Himmel hat uns nicht so erschaffen wie wir sind, um uns dann für das zu bestrafen, was wir sind. Es ist nur natürlich, dass ein Mann den Reizen einer schönen Frau erliegt und dann vielleicht das eine oder andere tut, was er sonst nicht tun würde.« Seine Stimme wurde eine Spur schärfer. »Aber er hat uns nicht erschaffen, auf dass wir lügen und hinterher andere für unsere eigenen Schwächen verantwortlich machen.«

Andrej verschlug es die Sprache. Nach allem, was er mit den Vertretern des Klerus erlebt hatte, war sein Vertrauen in die Kirche zutiefst erschüttert. Doch Bruder Flocks Auftreten schien dazu angetan, dass er sein vernichtendes Urteil noch einmal überdachte.

Auch der Krämer war offensichtlich verstört. Sekundenlang fixierte er den Geistlichen aus ungläubig aufgerissen Augen. Dann begann er zu stammeln. »Aber das ... Ihr könnt doch nicht... ich meine ...«

»Ich meine, dass es an der Zeit für eine Entschuldigung ist«, unterbrach Flock ihn sanft, aber doch nachdrücklich. Er wandte sich an Andrej. »Bitte urteilt nicht vorschnell, Andreas. Dies ist eine freundliche Stadt, und ihre Menschen bringen Fremden gegenüber gewöhnlich Gastfreundschaft und Offenheit entgegen, kein Misstrauen.«

»Das habe ich auch nicht angenommen«, antwortete Andrej noch immer verwirrt. Er rettete sich in ein Lächeln. »Und in gewissem Sinne hat der arme Mann ja Recht. Er ist nicht der Erste, der Elenas Zauber erliegt.«

»Dann ist es ja gut«, sagte Flock.

Es sollte verbindlich klingen, doch etwas an diesen Worten - an der Art, wie er sie aussprach - alarmierte Andrej. »Vielleicht dürfte ich einen Vorschlag machen?«, sagte er.

Elena sah ihn fragend an, und auch der Geistliche wirkte überrascht, als hätte es für ihn außer Frage gestanden, dass die Angelegenheit nun erledigt sei. Dennoch nickte er.

Andrej wandte sich zu dem Krämer und seinen beiden Söhnen um. »Ihr habt gesagt, Ihr hättet weniger für die Waren bekommen, als Euer Einstandspreis gewesen ist?«

Der Krämer nickte.

»Und wie hoch wäre dieser Preis?«

Der Mann nannte ihm nach kurzem Zögern eine Summe, die Andrej auch glaubhaft erschien. Kurz suchte er den Blick des Geistlichen, und Flock deutete ein Nicken an. So fuhr Andrej fort: »Dann schlage ich vor, wir zahlen Euch die Differenz, damit Ihr wenigstens ohne Schaden aus diesem Handel hervorgeht. Wir selbst haben einen überaus günstigen Preis erzielt, und auch wir legen keinen Wert darauf, einen schlechten Eindruck zu hinterlassen.«

Er sah zwar nicht in Elenas Richtung, aber er konnte deutlich spüren, dass er in diesem Moment einen ziemlich schlechten Eindruck bei ihr hinterließ. Aber so wie die Dinge standen, hätte sie wohl kaum etwas anderes tun können, als seinem Vorschlag mit einem Lächeln zuzustimmen.

»Fürwahr ein weiser Entschluss«, sagte Flock. »Wenn ich ehrlich sein soll, hätte ich Euch so viel Besonnenheit gar nicht zugetraut.«

»Weil ich mit dem fahrenden Volk unterwegs bin, oder weil ich ein Schwert trage?«, fragte Andrej. Am liebsten hätte er sich auf die Zunge gebissen. Was sollte das jetzt?

»Jetzt habt Ihr mich ertappt«, erklärte Flock schmunzelnd. »Wie ich bereits sagte: Auch ich bin nur ein Mensch und nicht frei von vorgefassten Urteilen - auch wenn ich gerade erleben muss, wie schädlich sie manchmal sind.«

Es erschien Andrej angebracht, das Thema nicht weiter auszuwalzen. Er erwiderte Flocks Worte nur mit einem Lächeln, wandte sich zu Elena um und machte eine auffordernde Geste. Sie hatte sich fast ebenso gut in der Gewalt wie der Geistliche. Andrej war nicht einmal sicher, ob der kurze, zornige Blick, den sie ihm zuwarf, ihrer Unbeherrschtheit zuzuschreiben war. Gleich darauf lächelte sie, zog ihren Geldbeutel hervor und zählte die in Frage stehende Summe ab. Nicht ohne Verblüffung nahm der Krämer sodann die Münzen entgegen und ging ohne ein weiteres Wort davon. Seine beiden Söhne folgten ihm.

»Wirklich ein weiser Entschluss, Andreas«, beteuerte Flock, während er den dreien nachsah. »Ihr seid ein interessanter Mann. Befindet sich Euer Lager vor der Stadt?«

»Zehn Meilen entfernt«, antwortete Elena, bevor Andrej etwas sagen konnte. »Wir bleiben dort für zwei oder drei Tage. Vielleicht kommen wir auch hierher, aber das steht noch nicht fest.«

»Zehn Meilen?« Flock wiegte nachdenklich den Kopf. »Ein ordentlicher Fußmarsch, aber so weit nun auch wieder nicht. Ich denke, ich werde Euch besuchen, Andreas. Ich freue mich darauf, mich mit Euch zu unterhalten.«

Elena hatte während der gesamten Heimreise kein Wort mit ihm gesprochen, aber ihre Schweigsamkeit war von anderer Art als die auf dem Hinweg.

Nur ein einziges Mal hatte Andrej versucht, ein Gespräch mit ihr zu beginnen, und es nach dem zornigen Blick, den sie ihm zugeworfen hatte, aufgegeben. Elena war wütend auf ihn, und er war ziemlich sicher, dass der Grund dafür ganz bestimmt nicht die wenigen Kupfermünzen waren, die sie dem Krämer hatte geben müssen. Sie hatten trotz allem einen wirklich guten Handel abgeschlossen, und Laurus würde zufrieden sein. Doch er mochte nicht weiter in sie dringen. Elena war und blieb ihm rätselhaft, aber sie hatten zwei Stunden Fahrt vor sich, und er hoffte, dass diese Zeit reichen würde, um ihren schlimmsten Zorn verrauchen zu lassen.

Das Lager war komplett aufgebaut, als sie es am frühen Nachmittag erreichten, aber es ähnelte kaum mehr dem, das Andrej in der vergangenen Nacht gesehen hatte. Statt in willkürlicher Anordnung, standen die Wagen nun in einem zum Dorf hin offenen Dreiviertelkreis, und die meisten Aufbauten waren mit bunten Wimpeln und Fähnchen geschmückt. Im Zentrum erhob sich ein hölzernes Podest von sicherlich zehn mal zwanzig Schritten, hinter dem eine bunt bemalte Leinwand aufgespannt worden war, die grüne Wiesen, einen strahlenden Sommerhimmel und ein kunstvoll ausgeschmücktes Märchenschloss auf einem steilen Hügel zeigte. Dies war zweifellos die Bühne, auf der das Schauspiel aufgeführt werden sollte, von dem Rason am Morgen gesprochen hatte.

Nur ein einziges, großes Feuer brannte, über dem ein blank polierter, kupferner Kessel hing. Von den zahlreichen Zelten, die er in der vergangenen Nacht gesehen hatte, waren nur zwei übrig geblieben. Die Pferde waren auf einer kleinen Koppel untergebracht, die Elena und er auf ihrem Weg passierten. Andrej hielt vergebens nach seinem und Abu Duns Tier Ausschau.

Elena lenkte den Wagen in den hinteren Teil des Lagers. Drei oder vier Männer - unter ihnen auch Rason - kamen ihnen entgegen, um die mitgebrachten Waren auszuladen. Elena sprang vom Kutschbock und eilte hoch erhobenen Hauptes davon. Andrej stieg ebenfalls ab und wollte mit zupacken, doch bevor er den Wagen auch nur halb umkreist hatte, sprach ihn Rason an.

»Hattet ihr Streit?«

Andrej war überrascht. »Woher weißt du das?«

»Sie ist meine Schwester«, antwortete Rason, während er der Davoneilenden einen sonderbaren Blick nachwarf. »Ich kann spüren, wenn sie wütend ist. Was hast du ihr getan?«

Andrej zuckte mit den Schultern. »Eigentlich nichts«, sagte er. »Ich war im Gegenteil der Meinung, ihr einen Gefallen getan zu haben.«

»Und wie sah dieser Gefallen aus?«

Andrej berichtete wahrheitsgemäß, was sich in der Stadt zugetragen hatte, wobei er lediglich die Rolle des Geistlichen ein wenig herunterspielte.

Rason hörte wortlos zu, nickte ein paar Mal, und als Andrej fertig war, maß er ihn mit einem fast mitleidigen Blick. »Damit hast du dich bei Elena nicht sehr beliebt gemacht.«

»Aber wieso?«, wunderte sich Andrej. »Ich wollte nur nicht...«

»... dass sie Ärger bekommt, verstehe«, unterbrach ihn Rason, schüttelte aber dennoch den Kopf. »Vielleicht ist es meine Schuld. Ich hätte dich warnen sollen. Tut mir Leid. Aber wenn Elena eines auf der Welt hasst, dann ist es, wenn sich jemand in ihre Geschäfte einmischt.«

»Das war kein Geschäft«, protestierte Andrej. »Das grenzte an Diebstahl.« Er lächelte, um seinen Worten etwas von ihrer Schärfe zu nehmen, aber Rason schüttelte noch einmal den Kopf.

»Elena ist ungemein stolz darauf, immer die besten Preise für uns herauszuhandeln. Niemand ist so gut im Feilschen wie sie, und es ist ihr Ehrgeiz, stets ein noch besseres Geschäft zu machen als beim letzten Mal.«

»Das hättest du mir wirklich sagen können«, erwiderte Andrej.

»Ja, vermutlich.« Rason sah noch einmal in die Richtung, in der seine Schwester verschwunden war, dann lachte er leise. »Mach dir nichts draus. Sie ist eine temperamentvolle Frau, aber sie verzeiht genauso schnell, wie sie wütend wird. Du wirst sehen, spätestens heute Abend hat sie die Sache wieder vergessen. Aber nimm noch einen guten Rat von mir an: Misch dich nie wieder ein, wenn sie versucht, ein Geschäft zu machen.«

»Werde ich mir merken«, versprach Andrej. »Hast du übrigens Abu Dun gesehen?«

»Deinen einsilbigen Freund? Schon, aber das ist eine Weile her. Er ist weggeritten.«

»Weggeritten?«

Andrejs Frage musste erschrockener geklungen haben, als ihm selbst klar war, denn Rason hob besänftigend die Hände. »Ohne sein Gepäck natürlich. Ich glaube nicht, dass er vorhatte, hier seine Zelte abzubrechen.«

»Hat er gesagt, wohin er wollte?«

»Nein, ich hab aber gesehen, dass er wieder dahin zurückgeritten ist, von wo wir gekommen sind«, antwortete Rason. »Vielleicht wollte er einfach nur einen klaren Kopf bekommen.«

Andrej deutete nach Osten. »In diese Richtung?«

»Dein Pferd ist schon gesattelt«, sagte Rason. Andrej sah ihn erstaunt an, und der junge Zigeuner fuhr mit einem Lächeln fort: »Ich hab mir gedacht, dass du so reagieren würdest.«

»Du hast ganz vergessen, mir zu erzählen, dass du Gedanken lesen kannst«, sagte Andrej.

»Das kann ich nicht«, widersprach Rason ernst. »Aber bei den meisten Leuten ist es nicht schwer, sie zu erraten. Man muss nur genau beobachten.«

»Über diesen Trick müssen wir noch reden«, sagte Andrej, »aber erst, wenn ich zurück bin. Wo genau hast du mein Pferd gesattelt?«

»Auf dem Rücken«, witzelte Rason. »Ich hab's hinter unserem Wagen angebunden. Ach ja, bei Einbruch der Dunkelheit essen wir. Wenn ihr was abhaben wollt, solltet ihr bis dahin zurück sein.«

Er musste fast eine Stunde reiten, bevor er Abu Dun fand. Er war den Weg zurückgeritten, den der Tross am Morgen genommen hatte, und dann ein gutes Stück in den Sumpf hinein, durch den sich die schmale Straße schlängelte.

Andrej hatte sehr mit sich gerungen, ob er das Lager überhaupt verlassen sollte, um nach dem Nubier zu suchen. Tatsache war, dass er sich über ihn geärgert hatte. Obwohl Abu Dun der vielleicht einzige Mensch war, den er mit Fug und Recht als seinen Freund bezeichnen konnte, war er zugleich auch derjenige, der Andrej am leichtesten mit nur wenigen Worten zur Raserei treiben konnte. Er dachte an das Gespräch, das sie am Morgen geführt hatten. Er hatte die Trauer in Abu Duns Stimme gehört und den Schmerz in seinen Augen gelesen.

Als er den hünenhaften Schwarzen schließlich entdeckt hatte, beeilte er sich nicht, zu ihm zu gelangen. Es war noch nie Andrejs Sache gewesen, sich zu entschuldigen. Heute aber hatte er regelrecht Angst davor, dem Freund gegenüberzutreten.

Abu Dun war von seinem Pferd gestiegen und ein gutes Stück von der Straße abgewichen - ein Umstand, der Andrej mit Sorge erfüllte. Der ehemalige Sklavenhändler war zwar durchaus in der Lage, auf sich selbst aufzupassen, doch trotz all der Zeit, die sie jetzt gemeinsam unterwegs waren, war Andrej nicht sicher, ob der Araber wusste, wie gefährlich das Moor sein konnte. So unterdrückte er den Impuls, ihm eine Warnung zuzurufen - die Reaktion darauf konnte er sich lebhaft vorstellen -, lenkte sein Pferd neben das des hünenhaften Schwarzen, das am Wegesrand stand, und stieg ab. Er hatte nicht bemüht, leise zu sein, und Abu Dun hätte ihn längst bemerkt haben müssen, doch der Nubier tat so, als wäre dies nicht der Fall. Vielmehr war sein Blick unverwandt zu Boden gerichtet. Offensichtlich suchte er etwas.

Andrejs Blick fiel auf das Pferd des Freundes. Es war gesattelt und aufgezäumt, trug jedoch kein Gepäck, wie er erleichtert feststellte. Offensichtlich hatte Abu Dun nicht vorgehabt, für immer fortzugehen.

Vorsichtig, stets genau den Fuß in die flachen Spuren setzend, die Abu Dun hinterlassen hatte und die sich hie und da bereits mit ölig schimmerndem Wasser füllten, folgte er dem Nubier. Als er ihn fast eingeholt hatte, blieb er stehen und wartete darauf, dass Abu Dun endlich Notiz von ihm nahm. Doch der tat ihm den Gefallen nicht, sondern spielte weiter den Beschäftigten, der aufmerksam den Boden vor sich absuchte.

»Das ist kindisch«, sagte Andrej schließlich.

»Was?« Abu Dun hob weder den Blick, noch drehte er sich um. »Das, was wir tun«, antwortete Andrej. »Wir beide.«

»Wenn du versucht hast, dich unbemerkt an mich heranzupirschen, Hexenmeister, dann bist du wirklich kindisch«, erwiderte Abu Dun.

»Das habe ich nicht gemeint!«, erwiderte Andrej verärgert. »Und ich glaube, das weißt du auch.«

Endlich wandte sich Abu Dun zu ihm um - in einer derart blitzartigen Bewegung, dass Andrej sich zusammenreißen musste, um nicht erschrocken zurückzuweichen. Die Augen des Schwarzen funkelten. »Bist du gekommen, um mir Vorwürfe zu machen?«

»Nein«, antwortete Andrej so ruhig er konnte. »Ich bin gekommen, um mit dir zu reden.«

Abu Dun schürzte die Lippen. Er sah zugleich wütend und verlegen aus. »Also?«, sagte er schließlich. »Ich höre.«

Andrej schüttelte den Kopf. »So geht das nicht.« Er machte eine Geste zur Straße hin. »Lass uns zum Weg zurückgehen. Aber vorsichtig.«

»Warum?«

Andrej seufzte. »Was du hier tust, ist nicht sehr klug. Ich dachte, du wüsstest das.«

»Vielleicht gefällt es mir ja, nicht klug zu sein«, gab Abu Dun trotzig zurück.

»Gefällt es dir auch, zu ertrinken?«, fragte Andrej ruhig.

»Ertrinken?«

»Du kennst offenbar die Tücken des Moores nicht«, erklärte Andrej. »Aber du weißt doch sicher, was Treibsand ist?«

Abu Dun erbleichte unter seiner nachtschwarzen Haut. »Treibsand gibt es nur in der Wüste«, flüsterte er unsicher.

»Und hier gibt es das Moor. Es sieht zwar anders aus, aber die Wirkung kann die gleiche sein. Glaube mir.«

Diesmal widersprach Abu Dun nicht, sondern er folgte Andrej schweigend, als dieser sich umdrehte und - sorgsam die Füße wiederum in seine eigenen Spuren setzend - zum Weg zurückging. Andrej glaubte zwar nicht, dass sie tatsächlich in Gefahr waren. Der Boden war zwar leicht sumpfig und federte sacht unter ihrem Gewicht, doch er war fest genug, um sie zu tragen. Dennoch atmete er erleichtert auf, als sie wieder neben den Pferden angelangt waren.

»Du hättest mich warnen können«, meinte Abu Dun vorwurfsvoll.

»Das hätte ich sicher auch getan, hättest du mir gesagt, dass du fortgehst und wohin«, erwiderte Andrej. Den Rest dessen, was er eigentlich hatte sagen wollen, schluckte er im letzten Moment herunter. Er war nicht gekommen, um mit Abu Dun zu streiten, sondern um sich mit ihm auszusprechen. Daher fuhr er in scherzhaftem Ton fort: »Was hattest du überhaupt vor? Wolltest du einen kleinen Spaziergang unternehmen, weil die Gegend so hübsch ist?« Abu Dun lachte nicht. »Ich habe nach Spuren gesucht«, erklärte er. »Und sie gefunden.«

»Spuren?«

»Sehr kleine Spuren.«

Es dauerte einen Moment, bis Andrej begriff, worauf der Nubier hinaus wollte. »Du glaubst, dass sie uns verfolgen?«, fragte er zweifelnd. »Diese Kinder?«

»Das glaube ich nicht. Ich weiß es.«

»Woher?«

»Ich kann sie spüren«, sagte Abu Dun. »Ich dachte, dass es dir genauso geht. Wie dem auch sei: Ich habe Spuren gefunden. Hier, und ein Stück weiter den Weg hinauf.« Er machte eine entsprechende Kopfbewegung und schien darauf zu warten, dass Andrej irgendetwas dazu sagte, aber der sah den Freund nur weiter zweifelnd an. Es war nicht so, dass er Abu Dun nicht glaubte. Wenn der Nubier sagte, er hätte Spuren gesehen, dann waren dort auch Spuren. Aber dies alles schien irgendwie keinen Sinn zu ergeben.

»Selbst wenn du Recht hättest ...«, begann er schließlich, wurde aber sogleich unterbrochen.

»Vielleicht sollten wir deine neuen Freunde fragen«, grollte der Nubier. »Ich bin sicher, sie wissen mehr darüber, als sie zugeben.«

Andrej seufzte. Also waren sie wieder beim alten Thema. »Sie sind nicht meine Freunde«, sagte er leise. »Und ich bin nicht sicher, ob sie das irgendwann sein werden.«

»Du wirst es schon herausfinden. Hat sie dir gefallen?«

»Wer?«

»Die Zigeunerin, mit der du weggeritten bist«, antwortete Abu Dun. »Sie ist eine hübsche Frau, das muss ich zugeben.«

»Und sie ist Laurus' Frau«, ergänzte Andrej. »Selbst wenn ich mehr für sie empfinden würde als nur Sympathie, hätte ich gewiss Besseres zu tun, als mir den Zorn eines ganzen Sinti-Clans zuzuziehen.«

»Seit wann hat dich das je abgehalten?« Abu Dun lachte abfällig. »Wenn ich mich recht erinnere, hattest du auch kein Problem damit, dir den Zorn eines ganzen türkischen Heeres zuzuziehen.«

»Und den des mächtigen und gefürchteten Abu Dun, König der Piraten und Sklavenhändler, nicht zu vergessen«, spottete Andrej.

»Nicht zu vergessen«, wiederholte Abu Dun ernst.

Andrej setzte zu einer wütenden Antwort an, beließ es dann aber dabei, einige Sekunden lang die Kiefer so fest aufeinander zu pressen, dass Abu Dun wahrscheinlich das Knirschen seiner Zähne hören konnte, und drehte sich abrupt um. Mit geschlossenen Augen zählte er im Geiste bis zehn, dann atmete er hörbar aus und wandte sich langsam wieder um. Abu Dun stand in unveränderter Haltung vor ihm und blickte ihn an. In seinem Gesicht hatte sich kein Muskel gerührt.

»Also gut«, sagte Andrej, schärfer, als er beabsichtigt hatte, aber auch außer Stande, weiter Geduld zu heucheln, wo keine war. Er hatte bis zu einem gewissen Maß Verständnis für Abu Duns Gefühle und dessen Misstrauen. Aber dieses Maß war nun voll, und er kannte den Freund gut genug, um zu wissen, dass er nichts gewann, wenn er ihm gegenüber immer wieder nachgab. »Ich dachte, wir könnten vernünftig miteinander reden, aber es geht auch anders. Was du heute Morgen gesagt hast -«

»Wenn du darauf wartest, dass ich mich entschuldige, verschwendest du deine Zeit, Hexenmeister«, sagte Abu Dun kalt.

»Das habe ich nicht erwartet«, sagte Andrej wahrheitsgemäß. »Ich habe über deine Worte nachgedacht, und ich muss dir sagen, du irrst dich. Ich habe nicht vor, bei diesen Leuten zu bleiben.«

»Es wäre deine Entscheidung«, sagte Abu Dun. Seine Miene war noch immer völlig unbewegt, und seine Stimme so bar jeder Emotion, dass allein ihr Ton die Worte Lügen strafte.

»Das ist richtig«, sagte Andrej. »Es ist meine Entscheidung. Und ich habe mich entschieden, nicht bei ihnen zu bleiben.«

»So schnell?« Abu Dun klang zweifelnd und auch irgendwie amüsiert. »Nach nur wenigen Stunden?«

»Ich hatte nie vor, den Rest meines Lebens als Zigeuner zu verbringen«, gab Andrej zurück. »Aber ich werde für eine Weile bei ihnen bleiben, ja. Einige Tage, vielleicht auch Wochen oder Monate.« Er hob die Schultern. »So lange, bis ich weiß, was ich wissen muss.«

Abu Dun nickte nachdenklich, wenngleich immer noch mit völlig ausdruckslosem Gesicht. »Anka hat dir nicht gesagt, was du hören wolltest«, sagte er. Zum ersten Mal in diesem Dialog stahl sich die Andeutung eines Gefühls auf seine Züge: ein flüchtiges, leicht gequält wirkendes Lächeln. »Ich gebe zu, ich erinnere mich nicht mehr ganz genau an unser Gespräch, aber es war -«

»Nicht das, was ich hören wollte«, sagte Andrej, »du hast Recht. Aber ich bin sicher, sie weiß mehr, als sie mir verraten hat. Ich muss noch einmal mit ihr reden. Vielleicht heute, vielleicht auch zu einem späteren Zeitpunkt.«

»Und dazu brauchst du meine Erlaubnis?«

Andrej begriff, dass Abu Dun ihn bewusst reizte. Nicht, um ihn freundschaftlich zu necken, wie er es so oft tat, sondern wahrscheinlich mit der erklärten Absicht, einen Streit vom Zaun zu brechen. Doch warum?

»Nein«, sagte er. »Aber ich möchte nicht, dass du etwas tust, was du später vielleicht bedauerst. Ich werde eine Weile bei diesen Leuten bleiben, und ich bitte dich, dasselbe zu tun. Du bist ihnen ebenso willkommen wie ich.«

Plötzlich lachte Abu Dun; ein rauer, fast böse klingender Laut, der Andrej ärgerte. »Du bittest mich?«, fragte er spöttisch. »Der große Andrej Delany, der unbesiegbare Schwertkämpfer und Unsterbliche, bittet mich um etwas?« Der Nubier schüttelte den Kopf. »Das ich das noch erleben darf!«

»Ich werde nicht vor dir auf die Knie fallen und deine schmutzigen Füße küssen«, sagte Andrej. »Aber ja, ich meine es Ernst. Ich bitte dich darum, dich einfach für eine Weile zu gedulden, Nur so lange, bis ich herausgefunden habe, was ich wissen will.«

»Du bist wirklich entschlossen, wie? Aber was, wenn dir das, was du am Ende herausfindest, nicht gefällt?«

»Das Risiko muss ich eingehen«, sagte Andrej. »Genau wie du auch.«

»Ja, das scheint mir auch so«, seufzte Abu Dun. »Allein, weil du wahrscheinlich schon den nächsten Tag nicht mehr erleben würdest, wenn ich nicht auf dich aufpasse.«

Gegen seinen Willen musste Andrej nun doch lachen. Kopfschüttelnd ging er zu seinem Pferd, schwang sich in den Sattel und wartete, bis Abu Dun ebenfalls aufgesessen hatte. Sie sprachen nicht mehr, sondern wendeten umständlich ihre Tiere auf dem schmalen Weg, und insbesondere Abu Dun achtete sorgsam darauf, dass die Pferdehufe stets auf dem befestigten Untergrund blieben. Der Blick seiner dunklen Augen wanderte missmutig über das flach daliegende Moor, über dem hier und da blasser Dunst lag, Nebel, der zu dieser Tageszeit weder eine Existenzberechtigung hatte, noch wie Nebel aussah. Eher ließ er die Sonnenstrahlen wie auf Staub flirren.

»Ein solches Land kann auch nur euch Ungläubigen einfallen«, sagte er. »Es sieht aus wie das Paradies. Hier ist mehr Wasser, als tausend Familien meines Volkes in einem Jahrhundert verbrauchen könnten, und doch ist die Gegend so tödlich wie Treibsand.« Er schüttelte heftig den Kopf, um seiner Empörung Ausdruck zu verleihen.

»Wir haben dieses Land nicht gemacht, weißt du?«, bemerkte Andrej.

»Nein, aber es wurde euch geschenkt. Und was macht ihr daraus?«

Andrej war nicht sicher, ob Abu Dun einfach nur daherplapperte, oder ob er auf etwas Bestimmtes hinaus wollte, aber ihm war nicht danach, sich in eine Debatte über Gott und die Welt verstricken zu lassen. So antwortete er, halb im Scherz: »Hätten wir dieses Land nicht unter Wasser gesetzt, dann hättest du auch nicht die Spuren deiner mörderischen Kinder finden können, die uns ja angeblich verfolgen.«

»Es waren zwei oder drei«, antwortete Abu Dun in sehr ernstem Ton, »wenn nicht sogar vier. Und ich habe nicht gesagt, dass sie uns verfolgen.«

»Sondern?«

»Dass sie noch in der Nähe sind«, erwiderte Abu Dun. »Ich kenne dieses Gelände nicht. Ich weiß nicht, wie lange Spuren hier brauchen, um zu verschwinden. Sie können wenige Stunden, oder auch einen Tag alt sein.« Es verging ein Moment, bis Andrej wirklich klar wurde, was Abu Dun damit ausdrücken wollte. Er verhielt mit einem Ruck sein Pferd und sah den schwarzen Hünen durchdringend an. »Du willst damit sagen -«

»- dass sie hinter uns sein können, oder vor uns ...« Abu Dun hob die Schultern. »Oder auch ... unter uns.« Impulsiv wollte Andrej widersprechen, verkniff sich aber im letzten Moment die scharfe Antwort, die ihm auf der Zunge lag. Wenn es jemanden gab, auf den er zornig sein sollte, dann auf sich selbst. Hatte er wirklich geglaubt, der Nubier würde so schnell aufgeben?

»Was genau meinst du damit?«, fragte er. »Das, was ich gesagt habe«, erwiderte Abu Dun. »Ich werde die Augen offen halten.« Sprach's, gab seinem Pferd die Sporen und preschte so schnell davon, dass Andrej keine Gelegenheit mehr erhielt, weitere Fragen zu stellen. Es war ihm zwar gelungen, den Nubier einzuholen, lange, bevor sie das Lager der Zigeuner erreichten, doch Abu Dun war nun endgültig nicht mehr in der Stimmung gewesen, zu reden. Andrej ging es ebenso, und so hatten sie zwar den Rest der Strecke nebeneinander und in nicht mehr ganz so scharfem Tempo zurückgelegt, sich dann aber getrennt.

Abu Dun war seiner Wege gegangen, ohne dass er es für nötig befunden hätte, Andrej darüber aufzuklären, wohin diese Wege führten, und er selbst hatte sich zu dem sechsrädrigen Karren begeben, in dem Anka lebte. Doch noch bevor er an die Tür der Alten klopfen konnte, hatte ihn Rason abgefangen, der ihm augenzwinkernd, wenngleich mit einem gewissen Nachdruck erklärte, dass es allmählich an der Zeit sei, dass Andrej für seinen und den Lebensunterhalt seines Freundes arbeite.

Und wie sich zeigte, schien es ihm damit Ernst zu sein. So verstrich der Tag, noch bevor Andrej bemerkte, dass er überhaupt begonnen hatte. Rason - der sich offensichtlich als eine Art Lehrmeister verstand - wies ihm die unterschiedlichsten Arbeiten zu, die Andrej auch allesamt klaglos verrichtete. Gleichzeitig lernte er dabei das Leben in einem Sinti-Lager gründlicher kennen, als er es sich je erträumt hätte. All dies hatte wenig mit Romantik zu tun, dafür mit sehr viel und sehr harter Arbeit, von der niemand ausgenommen war - weder Kinder, noch Alte - und Gäste schon gar nicht. Und so fand sich Andrej bald Eimer schleppend, Holz hackend, Pferde fütternd und Körbe voller Lebensmittel hin und her tragend wieder. Den größten Teil des Nachmittags half er dann dabei, die rechteckige Bühne aufzubauen, die das Zentrum des in einem Halbkreis errichteten Wagenlagers bildete. Zwar bekam er auf seine Fragen nach ihrem Zweck keine Antwort, erinnerte sich dann aber an ihr Gespräch vom frühen Morgen; und auch an das, was Rason über Abu Dun gesagt hatte. Auch lernte Andrej im Laufe des Tages fast sämtliche Mitglieder der Sippe kennen, die, wie sich herausstellte, eine einzige, große Familie zu sein schien. Vielleicht war Ankas scherzhafte Bemerkung, dass hier irgendwie jeder mit jedem verwandt sei, gar nicht so scherzhaft gemeint?

Zu seiner Enttäuschung sah er Elena jedoch erst wieder, als es bereits dämmerte. Es war kaum eine Minute an diesem Tag vergangen, in der er nicht auf die eine oder andere Weise an sie gedacht hatte, und die meisten dieser Gedanken waren von einer Art gewesen, die ihm beinahe unangenehm war. Und die ihn ziemlich verwirrte. Andrej hatte keineswegs gelogen, als er Abu Dun - und auch sich selbst - gegenüber behauptet hatte, Elena interessiere ihn nicht als Frau. Schon der Umstand, dass sie einem anderen gehörte - und dass dieser andere zudem das Oberhaupt der Sinti-Familie war - verbot es von selbst, in ihr irgendetwas anderes zu sehen, als eben genau das: Die Frau eines anderen. Und was er am Morgen mit ihr erlebt hatte, war auch nicht unbedingt das, was er sich normalerweise von einem Weibsbild hätte gefallen lassen. Und dennoch: Die dunkelhaarige Zigeunerin ging ihm nicht mehr aus dem Kopf.

Als er später am Nachmittag ihre Stimme vernahm und sich zu ihr umdrehte, da versetzte es ihm einen kurzen, aber tief gehenden Stich, sie an Laurus' Seite zu sehen; ein Gefühl, für das er sich einen Moment lang so schämte, als stände es ihm ins Gesicht geschrieben.

Und möglicherweise war dem auch so, denn Laurus sagte zwar kein Wort, und auch seine Miene änderte sich nicht, aber irgendetwas in seinem Blick tat es. Andrej rief sich in Gedanken zur Ordnung, sah sich zugleich aber auch in seiner Meinung bestätigt, vor diesem Mann besser auf der Hut zu sein.

»Andreas!« Elena lächelte ihn so freundlich an, als wäre am Morgen nichts geschehen. Rason hatte behauptet, sie hätte sich über seine Einmischung geärgert, aber wenn das so war, dann hatte sie diesen Ärger offenbar wieder vergessen. »Wie ich sehe, hast du dich ja bereits gut eingearbeitet. Dein Talent als Handwerker scheint größer zu sein als das als Kaufmann.«

Da er nichts zu sagen wusste, reagierte Andrej nur mit einem Schulterzucken und einem verlegenen Lächeln. In Elenas Augen erschien ein spöttisches Glitzern, und er begriff, dass sie ihn herausfordern wollte, nur nicht, wozu. Doch noch bevor er möglicherweise einen Fehler begehen und eine unangemessene Frage stellen konnte, mischte sich Laurus ein.

»Ich habe gehört, dass du heute mit Anka reden wolltest?«

Andrej nickte. »Ja.«

»Worüber?«

Diesmal antwortete Andrej nicht gleich. Er sah Laurus prüfend an, hütete sich jedoch, in diesen Blick irgendetwas zu legen, dass einer Herausforderung auch nur nahe kam, und überlegte sich jedes Wort seiner Antwort sehr gründlich. »Sie ist eine sehr interessante alte Frau, wie ich finde. Sie weiß eine Menge.«

»Und du willst eine Menge wissen.«

»Es gibt da etwas, das nur sie mir beantworten kann«, erwiderte Andrej.

»Was?«

»Es hat nichts mit Euch zu tun«, sagte Andrej. »Nur mit einem Mädchen, das ich einmal kannte. Ich bin ein bisschen überrascht. Hat Euer Sohn Euch nichts erzählt?«

»Alessa, ja.« Laurus deutete ein Nicken an. Sein Gesicht war noch immer ausdruckslos, aber in seinem Blick schien nun etwas Lauerndes zu liegen. Andrej wusste nicht zu sagen, ob es sich dabei um reine Neugier handelte, oder aber um etwas, vor dem er sich besser in Acht nahm. »Was Anka dir erzählt hat, ist die Wahrheit«, fuhr Laurus fort. »Wir kannten sie kaum. Und dasselbe gilt für ihre Familie. Du hast dieses Mädchen geliebt?«

»Ich kannte sie ebenfalls kaum, aber ich -«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, fiel ihm Elena ins Wort, noch immer lächelnd, aber jetzt mit einem Funkeln im Blick, das ihn irritierte. »Du hättest mich fragen sollen.«

»Dich?«, fragte Andrej überrascht.

»Ich habe mich damals um das Mädchen gekümmert«, erwiderte Elena. »Und auch um seine Familie. Wenn du jemandem die Schuld für ihren Tod geben willst, dann mir.«

»Schuld?« Andrej war völlig verwirrt. »Das ist nicht das, was ich wissen wollte.«

»Nun, was immer es ist, du wirst dich gedulden müssen«, sagte Laurus. »Anka wird deine Fragen beantworten, und Elena ebenfalls. Aber nicht jetzt. Wir haben Wichtigeres zu tun. Und Anka ist sehr alt und schwach. Ihre Tage sind gezählt. Wenn du mit ihr reden willst, komm zu mir, und ich werde sehen, was ich für dich tun kann.«

Vielleicht war es ein Glück, dass Andrej keine Gelegenheit erhielt, über diese sonderbare Antwort nachzudenken, oder gar auf sie zu reagieren. Denn aus dem rückwärtigen Teil des Lagers näherte sich Bason, heftig mit den Armen wedelnd und in so scharfem Tempo, dass es schon fast einem Rennen gleichkam. Einige der Männer unterbrachen ihre Arbeiten, und auch Laurus' Kopf flog herum. Eine tiefe Falte erschien zwischen seinen weißen Augenbrauen.

»Besuch«, sagte Bason kurzatmig, nachdem er endlich bei ihnen angelangt war. Andrej spannte sich instinktiv. Etwas an Basons Haltung und in seinem gehetzten Blick alarmierte den Krieger in ihm. Unauffällig trat er ein kleines Stück näher, als Bason sich an seine Schwester wandte: »Ich glaube, es ist dieser Bäcker, mit dem du heute Morgen verhandelt hast.«

Elena nickte. »Er hat versprochen, das Mehl selbst zu bringen«, sagte sie. »Dafür dürfen er und seine Familie unserer Vorstellung zusehen.«

»Aber er ist allein«, erklärte Bason. »Und wenn er Mehl dabei hat, dann ist es nicht besonders viel, denn es müsste in seine Satteltaschen passen.«

Elena und Laurus wechselten einen überraschten Blick und setzten sich ohne ein weiteres Wort in die Richtung in Bewegung, aus der Bason gekommen war. Nach einem winzigen Moment des Zögerns schlossen sich Bason und Andrej ihnen an.

Sie mussten das Lager halb durchqueren, bevor sie den Besucher sahen, den Bason angekündigt hatte. Er war tatsächlich zu Pferde gekommen; auf einem klapperigen alten Gaul, der nicht so aussah, als könne er das Gewicht eines ausgewachsenen Mannes noch ohne Schmerzen tragen. Und es war nicht der Mann, mit dem Elena und Andrej am Morgen verhandelt hatten. Dennoch erkannte Andrej ihn wieder: Es handelte sich um den jungen Burschen, den er am Morgen in Begleitung des Bäckers gesehen hatte; vielleicht einer der Gesellen, möglicherweise auch sein Sohn. Wenn das Pferd schon erschöpft wirkte, so schien sein Reiter am Ende seiner Kräfte zu sein. Er zitterte, und sein Gesicht war leichenblass. Doch je näher sie ihm kamen, desto sicherer war Andrej, dass es nicht Erschöpfung war, was er in den Augen des jungen Burschen las. Es hätte seiner Vampyrsinne nicht bedurft, um zu begreifen, dass der Junge Angst hatte. Doch wovor?

»Du kommst früh«, eröffnete Elena das Gespräch. Ihre Stimme klang kühl, hart an der Grenze zur Unfreundlichkeit, und gerade herausfordernd genug, den armen Jungen noch mehr einzuschüchtern.

Ihre Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Der Bursche hielt ihrem Blick nur einen halben Herzschlag lang Stand, dann sah er nervös zu Boden und begann tatsächlich mit den Füßen zu scharren, als er antwortete: »Ich ... mein Vater schickt mich. Es ... gibt ein Problem.«

Elena nickte. »Die Satteltaschen deines Pferdes sind nicht groß genug.«

Obwohl der Junge Elena nicht einmal ansah, fuhr er unter dem beißenden Spott in ihren Worten zusammen wie unter einem Hieb, und sein Blick wurde noch unsteter. »Ich ...« Er rang nach Worten. Schließlich nahm er all seinen Mut zusammen, hob den Kopf und sah Elena direkt ins Gesicht; wenn auch nur für eine Sekunde. »Wir können nicht liefern.«

Womit immer er und auch Andrej gerechnet hatten, es kam nicht. Elena sah ihn nur fragend und mit einem angedeuteten Lächeln an, und an ihrer Stelle ergriff Laurus das Wort: »Wo ist das Problem? Wir hatten einen Handel, soweit ich weiß.«

»Das stimmt«, beeilte sich der junge Bursche zu versichern. »Es ist auch nicht so, dass wir unseren Teil der Vereinbarung nicht einhalten wollen. Aber es geht nicht.«

»Ihr wollt den Preis in die Höhe treiben«, vermutete Elena.

»Nein«, versicherte der Bäckergeselle schnell. »Aber wir haben selbst keine Ware bekommen. Handmann, der Müller, weigert sich, uns Mehl zu verkaufen.«

»Weil er den Preis in die Höhe treiben will?«, fragte Laurus, aber auch diesmal bestand die Antwort nur aus einem Kopfschütteln und einem noch unbehaglicheren Fußscharren.

»Er will... Er hat... Er sagte ...«

»So beruhige dich doch, Junge«, mischte sich nun Andrej ein. Elena warf ihm einen zornigen Blick zu, und auch Laurus runzelte verärgert die Stirn, aber keiner der beiden sagte etwas. Und so trat Andrej mit einem entschlossenen Schritt auf den bemitleidenswerten Burschen zu, schon, um den Blickkontakt zwischen den beiden Parteien zu unterbrechen - hob besänftigend die Hände und fuhr mit leiser Stimme fort: »Du brauchst keine Angst zu haben. Niemand hier macht dir einen Vorwurf. Und nun erzähle uns in aller Ruhe, was passiert ist.«

Sein Gegenüber atmete erleichtert auf, und zum ersten Mal entspannten sich die Züge in seinem Gesicht ein wenig, wenngleich die Furcht in seinem Blick noch immer groß war. Nervös fuhr er sich mit der Zungenspitze über die Lippen. »Ich war heute Mittag selbst bei ihm, um das bestellte Mehl abzuholen. Er hat mir nichts gegeben.«

»Warum?«, fragte Andrej.

»Euretwegen.«

»Unseretwegen?«?

Wieder vergingen endlose Sekunden, bevor der Junge antwortete. Er wandte seinen Blick nicht von Andrej ab, als er auf Elena deutete. »Ihretwegen.«

»Erkläre das!«

»Handmann hat gehört, was heute Morgen in der Stadt passiert ist. Er sagt, er ... er verkauft seine Waren nicht an Hexen und Zauberer. Das waren seine Worte, nicht meine! Ich bin ... Es ist... Wir können ...«

»Jetzt beruhige dich doch«, sagte Andrej. »Ich glaube dir. Niemand hier nimmt dir etwas übel.« Er warf Elena einen mahnenden Blick zu. »Im Gegenteil, es war richtig, dass du hergekommen bist. Wir werden uns selbst um die Angelegenheit kümmern.«

Zu seiner Verwunderung streifte ihn Elenas feindseliger Blick nur kurz, dann nickte sie knapp und sagte: »Erklär' uns den Weg zu diesem Müller. Ich werde selbst mit ihm reden.«

Der Junge tat, wie ihm geheißen, und kaum hatte er zu Ende gesprochen, da machte er auf dem Absatz kehrt und kletterte so hastig in den Sattel seines Pferdes, dass er fast auf der anderen Seite wieder heruntergefallen wäre. Andrej sah ihm stirnrunzelnd nach, bis er eiligst davon geritten war, dann wandte er sich zu Elena um. »Glaubst du wirklich, dass es eine gute Idee ist, zu diesem Mann zu gehen?« Sie maß ihn mit einem fast verächtlichen Blick. »Ich habe keine Angst vor einem Müller«, sagte sie - auf eine Art, als wäre allein die Tatsache, dass sie über einen Müller sprach, schon ein Garant dafür, dass der Mann ihr nicht gefährlich werden konnte.

Andrej schüttelte besorgt den Kopf. »Anscheinend hast du nicht richtig zugehört«, sagte er. Weder jetzt noch heute Morgen, fügte er in Gedanken hinzu, doch er war sich ziemlich sicher, dass Elena es trotzdem hörte. »Sie haben von einer Hexe gesprochen.«

»Bin ich das denn?«

»Das weiß ich nicht«, antwortete Andrej achselzuckend. »Aber es spielt keine Rolle, was ich weiß oder nicht. Die Menschen sind abergläubisch, und sie fürchten alle Fremden. Aus Furcht wird leicht Hass.«

»Du überschätzt dieses einfältige Pack«, gab Elena verächtlich zurück. »Und du unterschätzt mich. Ich bin schon mit anderen Gefahren fertig geworden.«

Daran zweifelte Andrej keine Sekunde. Dennoch schüttelte er nur noch nachdrücklicher den Kopf. »Du solltest trotzdem nicht -«

»Und außerdem werde ich nicht allein dorthin gehen«, fiel sie ihm ins Wort. Ihre Augen glitzerten spöttisch. »Wozu haben wir einen so tapferen Krieger wie dich in unserer Mitte?«

Andrej hatte irrigerweise angenommen, dass sie, wie schon am Morgen, mit dem Wagen aufbrechen würden; zumal Elena der sicheren Überzeugung zu sein schien, auf dem Rückweg mehrere Zentner Hafer- und Weizenmehl mitzubringen. Die zweite - und deutlich größere - Überraschung war, dass Elena und er das Lager allein verließen, und zwar hoch zu Ross. Die Blicke, die Laurus ihm zugeworfen hatte, hatten ihm klar gemacht, dass der Sinti sehr wohl wusste, mit welchen Augen Andrej seine Frau ansah; und dass es ihm missfiel. Andrej hatte damit gerechnet, dass sich zumindest einer seiner beiden Söhne ihnen anschließen würde, aber Bason hatte ihm nur eine spöttische Bemerkung mit auf den Weg gegeben, und sein Bruder war gar nicht erst zu sehen gewesen.

Elena erwies sich als ausgezeichnete Reiterin, deren Geschick dem seinen in nichts nachstand, und auch das struppige Pony, auf dem sie ritt, erwies sich Andrejs Rassehengst als durchaus ebenbürtig. Auf dem ersten Stück des Weges hatte er beinahe Mühe, überhaupt an ihrer Seite zu bleiben, und auch danach legte Elena ein so scharfes Tempo vor, dass eine Unterhaltung praktisch unmöglich wurde - was Andrej allerdings Recht war. Er war noch immer mit sich und seinen Gefühlen im Unreinen und ertappte sich mehr als einmal bei dem Gedanken, ob Abu Dun vielleicht mit vielem von dem, was er gesagt hatte, im Recht war, wenn nicht gar mit allem.

Die Sonne war längst untergegangen, als sie das Haus des Müllers erreichten - das sich als nichts anderes als eine herunter gekommene, wenngleich riesige Windmühle erwies. In der Dunkelheit ragte das Gebäude fast wie ein Berg vor ihnen auf, und obwohl die großen Flügel still standen und nur die Stoffbespannung manchmal in der leichten Brise flatterte und klatschte, wie das schlaff herunterhängende Segel eines Schiffes, vernahm Andrej doch das Ächzen und Knarren des uralten Holzes, das wie das Räuspern eines schlafenden Riesen, der Kraft für den nächsten Morgen sammelte, klang. Und er hörte noch mehr: Ein Rascheln und Flüstern, das Wispern des Windes in den Baumwipfeln, die Geräusche winziger Tiere, die Unterschlupf für die Nacht suchten oder gerade erst erwacht waren und sich auf die Jagd begaben ...

Aber da war noch etwas anderes, und es war verwirrend: Er spürte, dass etwas da war, etwas, das nicht hierher gehörte, und ihn über die Maßen beunruhigte, aber er konnte nicht sagen was. Und er hatte sich allem Anschein nach nicht annähernd so gut in der Gewalt, wie er glaubte, denn als sie sich der dunkel daliegenden Mühle näherten und dabei unweigerlich langsamer wurden, drehte sich Elena plötzlich im Sattel herum und brach zum ersten Mal, seit sie das Sinti-Lager verlassen hatten, ihr Schweigen.

»Was hast du, Andreas?«

Andrej wusste im ersten Moment nicht, was ihn mehr überraschte - dass Elena mit ihm sprach, oder dass sie offensichtlich seine innere Unruhe spürte. Wie um Zeit zu gewinnen, hob er die Schultern und ließ den Blick seiner misstrauisch zusammengepressten Augen noch einmal aufmerksam über den dunkel daliegenden Waldrand rechts und links schweifen. Er spürte das Leben, das sich in den Schatten der Nacht verbarg, aber ihm war zugleich auch, als wehe ein unheimlicher, körperlos eisiger Hauch aus diesen Mauern aus Dunkelheit und ineinander verflochtenem Grün und Braun. »Nichts«, sagte er schließlich. »Ich dachte, ich hätte etwas gehört. Aber vielleicht hab ich mich getäuscht.«

»Soll ich jetzt beeindruckt sein, dass du das zugibst, oder beunruhigt?«, stichelte Elena.

Andrej bedachte sie mit einem verärgerten Blick, zog es darüber hinaus aber vor, zu schweigen. Auch ohne das, was Bason gesagt hatte, war ihm klar, dass er Elena am Vormittag mehr als nur ein wenig verstimmt hatte. Aber er glaubte, unter ihrer typisch weiblichen Stichelei noch etwas anderes zu spüren, etwas, das ihn verwirrte. War es Feindseligkeit? Wenn ja, so verstand er nicht warum. Gut, er hatte einen Fehler gemacht, aber so schlimm war das alles nun auch wieder nicht.

»Heb' dir dein Misstrauen auf, bis wir mit diesem Klotzkopf von Müller gesprochen haben ... wie war noch sein Name?«

»Handmann.«

»Handmann«, nickte Elena. »Und bevor wir sein gastliches Haus betreten, Andreas: Überlass' mir das Reden. Tu dir selbst und mir einen Gefallen und sag nichts.«

»Es sei denn, du stellst mir eine Frage, oder gibst mir einen Befehl?«, erkundigte sich Andrej.

»Genau.«

Er wusste nicht, ob Elena die Ironie seiner Worte tatsächlich nicht verstanden hatte, oder ob sie es einfach vorzog, sie zu ignorieren. Er konnte auch nicht sagen, was ihn mehr geärgert hätte.

Hinter einem der Fenster erschien das flackernde Eicht einer Kerze, gerade als sie Halt machten und abstiegen. Wer immer dort drinnen war, musste über ein fast ebenso scharfes Gehör verfügen wie Andrej - oder sie erwartet haben.

Er warf Elena einen mahnenden Blick zu und bedeutete ihr, zurück zu bleiben, und er war nicht überrascht, als sie darauf nur mit einem spöttischen Blick reagierte und ihren Schritt sogar beschleunigte, um die Mühle vor ihm zu erreichen.

Die Tür wurde geöffnet, und eine hochgewachsene Gestalt erschien im Rahmen. Andrej blieb unwillkürlich stehen und musste sich beherrschen, um nicht zu grinsen, als er den Müller sah. Handmann war fast einen Kopf größer als er selbst, dabei aber so dürr, dass man Angst haben musste, er könne bei der ersten unvorsichtigen Bewegung einfach in der Mitte durchbrechen wie ein trockener Zweig. Der Mann trug ein bis auf die Köchel reichendes Nachthemd, das schon bessere Tage gesehen hatte, und dazu eine Schlafmütze, deren Zipfel ihm bis auf die Schulter hing. Den rechten Arm, der einen Kerzenständer aus Zinn hielt, hatte er in Kopfhöhe vor sich ausgestreckt. Alles in allem bot er einen absolut lächerlichen Anblick - oder hätte ihn geboten, wäre da nicht der Blick aus seinen dunklen, von schweren Tränensäcken verunzierten Augen gewesen. Er sah Andrej nur kurz an, dann fixierte er Elena, und aus dem Misstrauen in seiner Miene wurde offene Feindseligkeit. »Ihr kommt eher, als ich dachte«, sagte er.

Wenn es etwas gibt, das noch grotesker ist als sein Aussehen, dachte Andrej, dann ist es seine Stimme. Tatsächlich war sie so dunkel und voll tönend wie die eines Mannes, der mindestens das Dreifache seiner Körpermasse auf die Waage brachte.

»Ihr habt uns erwartet?«, fragte Andrej, was ihm unverzüglich einen verärgerten Blick Elenas einbrachte. Allem Anschein nach hatte sie das, was sie vorhin gesagt hatte, durchaus Ernst gemeint.

»Ihr müsst Handmann sein, der Müller«, sagte sie. »Ich bin Elena.«

»Die Hexe.« Handmann nickte. Seine dünnen, fast blutleeren Lippen verzogen sich zu einem geringschätzigen Lächeln. »Ich weiß.«

»Wieso nennt Ihr mich so?«, fragte Elena. »So weit ich weiß, sind wir uns noch nie begegnet.«

»Das ist auch nicht nötig«, erwiderte Handmann schroff. Wieder verirrte sich sein Blick für einen ganz kurzen Moment in Andrejs Gesicht und kehrte dann zu Elena zurück. »Ich hab genug von dir gehört.«

»Ich hoffe, doch nur Gutes«, erwiderte Elena mit einem Lächeln, das selbst einen Stein zum Schmelzen gebracht hätte - nur, dass Handmann leider nicht aus Stein war.

»Wenn du gekommen bist, um deine Zauberkräfte auch an mir auszuprobieren, dann hast du den Weg umsonst gemacht«, sagte er. Seine Stimme klang herausfordernd und fest, und auch sein Blick hielt dem aus Elenas nachtschwarzen Augen Stand - aber Andrej konnte seine Nervosität und die Angst riechen, zumal die Kerze in Handmanns Hand leicht zu zittern begonnen hatte, als er unbewusst einen halben Schritt ins Haus zurückgewichen war.

»Es schmerzt mich, dass Ihr so feindselig seid, guter Mann«, sagte Elena. »Ich weiß nicht, was man Euch über uns erzählt hat, aber glaubt mir, ich bin weder eine Hexe, noch bin ich hier, um Euch zu verzaubern. Wir wollen Handel mit Euch treiben, das ist alles.«

»Ich habe von Eurer Art, Handel zu treiben, gehört«, antwortete Handmann. »Ihr benutzt Eure Zauberkräfte, um ehrliche Männer um ihren verdienten Lohn zu bringen. Das ist Teufelswerk. Und nichts, womit ich etwas zu tun haben will.«

»Ich bitte Euch«, seufzte Elena. Sie machte einen Schritt auf Handmann zu und blieb stehen, als dieser sich mit einem vernehmlichen Japser versteifte. »Wollt Ihr uns nicht hereinbitten, sodass wir in Ruhe über alles reden können?«

Handmann lachte humorlos auf. »Ich weiß, was Ihr bezweckt, Hexe«, sagte er. »Gewiss werde ich Euch nicht hereinbitten. Ich bin nicht so dumm, wie du glaubst.«

»Dumm?«, fragte Andrej. »Was hat Höflichkeit mit Dummheit zu tun?«

Handmann antwortete zu Elena gewandt und ohne Andrej auch nur eines Blickes zu würdigen: »Ich kenne dein Geheimnis. Ich weiß, dass du keine Macht über mich hast, so lange ich dich nicht freiwillig in mein Haus bitte. Und das werde ich ganz bestimmt nicht tun. Geh! Geh zurück zu deinem gottlosen Pack, und lass mich in Frieden.«

Elena gab einen enttäuschten Laut von sich. Sie blickte einen Moment lang zu Boden und schüttelte dann den Kopf. »Ich bin Euch nicht böse«, sagte sie. »Was Ihr redet, ist Unsinn, aber Ihr scheint mir trotzdem ein ganz vernünftiger Mann zu sein. Wäre ich wirklich eine Hexe, glaubt Ihr, ich würde hier stehen und bitten?«

»Woher soll ich wissen, was in Eurem gottlosen Schädel vor sich geht?«

Andrej war erstaunt, wie gelassen Elena die immer absurder werdenden Anschuldigungen und Beleidigungen hinnahm, aber er spürte auch, dass ihre Geduld fast erschöpft war. »Ihr verderbt Euren Freunden in der Stadt das Geschäft, das ist Euch doch klar?«, sagte er.

»Sie werden mir dafür dankbar sein«, behauptete Handmann. »Sobald Ihr die Stadt verlassen habt und Euer verfluchter Zauber nicht mehr auf sie wirkt.«

»Bitte, guter Mann«, sagte Elena. »Lasst uns doch vernünftig miteinander reden. Ich will nichts Übles von Euch, und ich bin ganz bestimmt keine Hexe. Wir sind nur Menschen, die essen müssen, wir Ihr - und die bereit sind, dafür zu bezahlen.« Sie wirkte irritiert, ein klein wenig auch verärgert, aber viel mehr überrascht; so als wäre sie mit einer Situation konfrontiert worden, auf die sie ganz und gar nicht vorbereitet gewesen war. »Wollt Ihr mehr Geld? Wollt Ihr den Preis in die Höhe treiben?«

Handmann machte ein Geräusch, als wollte er ausspucken. »Für alles Gold der Welt würde ich Euch und Euresgleichen nicht ein Pfund Mehl verkaufen!«

Andrej hörte, wie Elena scharf die Luft einsog, und er wusste auch ohne sie anzusehen, dass sich der Ausdruck auf ihrem Gesicht schlagartig verändert hatte. Bisher hatte sie sich um Beherrschung bemüht; vermutlich hielt sie es wie Andrej selbst, der sich in Situationen wie diesen nicht gestattete, seinem eigenen Zorn zu erliegen. Nun aber war ihre Geduld definitiv erschöpft. Rasch, noch bevor Elena etwas sagen konnte, was die Situation nur verschlimmern würde, trat er daher einen Schritt vor. »Verratet uns, womit wir uns Euren Zorn zugezogen haben«, sagte er. »Wir sind doch vernünftige Menschen. Man kann doch über alles reden.«

Die dunklen Augen des Müllers blitzten auf, und Andrej spürte, dass er einen Fehler gemacht hatte, wenngleich er auch nicht wusste, welchen.

»Vernünftige Menschen?«, stieß Handmann hervor. Er hatte den Arm gesenkt, sodass das rote Licht der Kerze nun sein Gesicht von unten beschien, was ihm einen völlig veränderten, fast dämonischen Ausdruck, verlieh. »Ich weiß nicht, wer du bist, Mann. Du redest anders als diese Hexe, und du siehst auch nicht aus wie einer von ihrem Volk. Aber was sie und ihresgleichen angeht, so sind sie für mich keine Menschen. Sie haben mir nichts getan. Aber das müssen sie auch nicht, damit ich weiß, womit ich es zu tun habe.«

Er hätte vermutlich noch mehr und noch sehr viel Unangenehmeres gesagt, doch in diesem Moment ertönte hinter ihnen ein leises Knacken, und eine dunkel gekleidete Gestalt kam auf dem Weg auf sie zu. Im ersten Moment hätte Andrej sie für Abu Dun halten können, doch als sie einen Schritt näher kam, sah er, dass der Neuankömmling ein gutes Stück kleiner als der Nubier war. Auch trug er keinen schwarzen Kaftan samt dazugehöriger Kopfbedeckung, sondern eine einfache braune Kutte, und sein einziger Schmuck war ein kleines Holzkreuz, das an einer geflochtenen Kordel um seinen Hals hing.

Es war Bruder Flock, der Geistliche, den er am Morgen in der Stadt getroffen hatte. Allerdings wirkte er jetzt nicht mehr annähernd so freundlich wie noch vor Stunden. Seine Miene hatte sich verfinstert, und in seinen Augen funkelte mühsam unterdrückter Zorn. Ohne Andrej oder Elena auch nur eines Blickes zu würdigen, marschierte der Geistliche geradewegs zwischen ihnen hindurch und auf den Müller zu, der instinktiv ein Stück in den Schutz seines Hauses zurückwich. »Ist es das, was ich Euch gelehrt habe, Handmann?«, fragte Flock, ohne sich mit einer Begrüßung aufzuhalten. »Hast du die Worte des Herrn tatsächlich schon vergessen? Du sollst nicht falsches Zeugnis reden, wider deinen Nächsten.«

Der Müller wirkte für einen Moment verunsichert, fast eingeschüchtert, dann aber straffte er die Schultern und reckte trotzig das Kinn vor. »Es heißt auch, du sollst keine anderen Götter haben neben mir«, stießt er hervor. »Ich werde diesen Heiden nichts verkaufen.«

Der Ausdruck auf dem Gesicht des Geistlichen änderte sich. Er wirkte jetzt eher traurig denn wütend. Drei, vier Atemzüge lang sah er sein Gegenüber unverwandt an, doch als die erhoffte Reaktion ausblieb, wandte er sich mit einem enttäuschten Seufzer an Andrej. »Es tut mir Leid, Andreas«, sagte er. »Ich bitte Euch, schließt nicht von diesem aufbrausenden Narren auf alle anderen Menschen hier.«

»Ganz bestimmt nicht«, sagte Elena, noch bevor Andrej antworten konnte, in einem Ton, der ihre Worte Lügen strafte. Darüber hinaus hatte sie sich zumindest äußerlich hervorragend im Griff, aber Andrej spürte den Zorn, der hinter der fast maskenhaften Starre ihres Gesichts brodelte. »Viele Eurer Brüder haben wir ja bereits kennen gelernt. Und bei den meisten hatte ich das Gefühl, dass sie die Bedeutung des Wortes ›Gastfreundschaft‹ noch kennen.«

»Gastfreundschaft!« Handmann stieß das Wort hervor wie etwas Obszönes. »Du hast sie mit deinen Hexenkräften verzaubert! Nimm deinen Bann von ihnen, und wir werden sehen, was sie unter Gastfreundschaft verstehen!«

»Handmann!«, schnappte Flock. »Das ist jetzt aber wirklich genug!«

Tatsächlich verstummte der Müller, aber sein Blick wanderte unstet zwischen Elenas und dem Geistlichen hin und her, und Andrej hätte seiner besonderen Fähigkeiten nicht bedurft, um zu begreifen, dass der Respekt, welcher der Grund seines plötzlichen Schweigens war, einzig Flocks Gewand galt, nicht ihm, und schon gar nicht dem, was er sagte.

»Ich ... mache Euch einen Vorschlag«, sagte Andrej, zögernd und mit einem warnenden Seitenblick in Elenas Richtung. Der Müller antwortete nicht, sah ihn aber fragend an, und Andrej fuhr mit einem bemühten Lächeln fort: »Wir Zahlen Euch den üblichen Preis, und wir werden auch Euren Freunden in der Stadt noch einen angemessenen Nachschlag Zahlen.«

Er konnte hören, wie Elena scharf die Luft einsog, und Flock sah ihn stirnrunzelnd an. Aber Handmann reagierte nicht so, wie er gehofft hatte. Für den Bruchteil einer Sekunde wirkte auch er überrascht, ja beinahe fassungslos, dann aber - nach einem trotzigen Blick in Flocks Richtung - verzog er nur abfällig die Lippen und zischte:

»Eher verfüttere ich mein Korn an die Ratten, als dass ich Euch auch nur ein Gramm davon gebe!«

»Ganz, wie du willst«, sagte Elena. »Ganz, wie du willst, du Narr.« Damit drehte sie sich um, warf wütend den Kopf in den Nacken und verschwand, hoch aufgerichtet und mit schnellen Schritten, in der Dunkelheit.

Andrej wollte ihr schon nacheilen, aber Bruder Flock vertrat ihm den Weg und sagte in besänftigendem Tonfall: »Lass gut sein, Andreas. Im Moment ist vermutlich jedes weitere Wort zu viel.«

Andrej schwieg und blieb unschlüssig stehen.

»Das war nicht das, was ich Euch in der Sonntagsmesse gelehrt habe, Bruder Handmann«, wandte sich Flock nun an den Müller. Er klang enttäuscht, nicht wirklich wütend, eher ein wenig verbittert.

Doch seine Worte erzielten auch diesmal nicht die Reaktion, auf die er gewartet hatte. Handmann warf dem Geistlichen einen fast verächtlichen Blick zu und machte Anstalten, wieder in seine Behausung zu verschwinden. Im letzten Moment jedoch schien er es sich anders überlegt zu haben. »Es ist spät, Bruder Flock. Wollt Ihr nicht noch hereinkommen und eine Stärkung für den Rückweg zu Euch nehmen?«, fragte er.

Für eine Sekunde spannten sich die Muskeln an Flocks Hals, und er sah ganz so aus, als wolle er explodieren. Dann aber beließ er es bei einem knappen Kopfschütteln, auf das der Müller mit einem ebenso knappen Achselzucken reagierte, bevor er die Tür hinter sich schloss.

»Es tut mir wirklich Leid, Andreas«, sagte Flock, nachdem sie eine Weile in unbehaglichem Schweigen nebeneinander dagestanden hatten. Er seufzte leise. »Ich verstehe das nicht. Normalerweise sind die Leute hier nicht so. Es sind gute Menschen, das musst du mir glauben.«

Andrej hob nur die Schultern. Er kannte weder die Menschen in dieser Gegend noch Flock gut genug, um sich ein Urteil zu bilden, und er kannte sich selbst gut genug um zu wissen, dass er dem Geistlichen gegenüber gewiss nicht unvoreingenommen war. Flock kam ihm wie ein aufrechter Mann vor, aber er trug das Gewand und sprach die Sprache derjenigen, die ihm alles genommen hatten, was sein Leben ausgemacht hatte, und denen er weder verzeihen konnte noch wollte. Statt einer Antwort, drehte er sich um und sah in die Richtung, in der Elena verschwunden war. Es war erst wenige Momente her, aber er konnte sie trotz seiner scharfen Augen schon nicht mehr sehen. Er vermutete, dass sie in ihrem Zorn einfach in den Wald hineinmarschiert war. Vielleicht, dachte er spöttisch, um ein paar Bäume zu treten.

Flock deutete sein Schweigen offensichtlich falsch, denn als er weiter sprach, klang seine Stimme fast flehend. »Es ist wirklich nicht so, wie es vielleicht aussieht, Andreas.«

Andrej sah ihn ruhig an. »Wie sieht es denn aus?«

»Wie ich schon sagte, die Leute hier sind gute Menschen«, antwortete Flock. »Aber ich kann sie auch ein wenig verstehen. Nicht, dass ich gutheiße, was Handmann getan hat, aber man muss versuchen, sie zu verstehen.«

»Warum?«

»Nun, es sind ...« Flock rang sichtbar um Worte und wich seinem Blick aus. »... Dinge vorgekommen, als das Fahrende Volk das letzte Mal hier war.«

»Dinge?«

Der Geistliche druckste einen Moment herum. »Es wurde gestohlen, und es gab einen Kampf, bei dem einer der Männer aus der Stadt schwer verletzt wurde.« Andrej schnaubte abfällig. »Ich verstehe. Die Zigeuner sind in der Stadt: Holt die Kinder ins Haus, und nehmt die Wäsche von der Leine! Das ist es doch, was Ihr sagen wollt, nicht wahr?«

»Nein!«, sagte Flock eine Spur zu hastig und zu laut. »Oder vielleicht doch. Aber nicht so, wie Ihr glaubt.«

»Was glaube ich denn?« Andrej war selbst überrascht über den aggressiven Ton in seiner Stimme. Etwas hier machte ihn nervös, und es war nicht allein Handmanns Reaktion oder das, was Flock ihm erzählt hatte.

»Nun, ich ... ich bemühe mich stets, Menschen nach dem zu beurteilen, was sie sind und tun, nicht nach dem, was sie zu sein scheinen und was man über sie sagt«, antwortete der Geistliche, ohne ihn anzusehen, und es klang wie eine Verteidigung. »Ich weiß, dass manche meiner Schäfchen vielleicht ein wenig zu rasch mit einem Urteil bei der Hand sind. Aber das letzte Mal war es tatsächlich so, dass Dinge gestohlen wurden, Vieh verschwand ... wie übrigens auch die Frau eines Bauern.« Plötzlich grinste er. »Aber er war kein guter Mann. Er hat sie oft geschlagen.«

Andrej blieb Ernst. »War es die gleiche Familie?«

»Nein, und es ist lange her.« Nun sah Flock Andrej wieder an. »Ihr seid noch nicht lange bei diesen Leuten?«

»Das stimmt«, sagte Andrej. »Ich gehöre nicht zu ihnen, wenn es das ist, was Ihr wissen wollt. Mein Freund und ich haben uns nur für eine Weile zu ihnen gesellt.«

»Aber Ihr setzt Euch für sie ein?«

Andrej hob die Schultern. »In dieser Hinsicht geht es mir wie Euch«, sagte er. »Ich beurteile Menschen nach dem, was sie tun und sind, nicht nach dem, was sie zu sein scheinen.«

»Dann wird Euer Urteil über Bruder Handmann nicht sonderlich gut ausfallen, fürchte ich.« Flock zwang sich zu einem Lächeln und straffte die Schultern. »Im Moment würde jedes weitere Wort die Situation nur noch verschärfen. Aber ich verspreche Euch, dass ich gleich morgen noch einmal mit ihm rede. Und wenn das nichts nützt, so gibt es noch eine andere Mühle, einen halben Tagesritt von hier. Ich werde jemanden dorthin schicken, der Euch alles besorgt, was Ihr braucht. Doch jetzt solltet Ihr Euch um Eure Begleiterin kümmern. Es ist nicht gut, wenn eine Frau nachts allein unterwegs ist.«

»Elena kann bestens auf sich selbst aufpassen«, sagte Andrej, aber Flock schüttelte den Kopf.

»Die Wälder hier sind sehr dicht und nicht ungefährlich. So mancher hat sich schon verirrt, und das Moor ist nicht weit. Ein Fremder, der dort hineingerät, ist verloren.«

Flock wollte ihn loswerden, das war klar. Vermutlich, dachte Andrej, um noch einmal allein mit dem störrischen Müller zu reden. Und ihm war es im Grunde Recht. Er fühlte sich in der Nähe des jungen Geistlichen unwohl, vielleicht, weil dieser so ganz anders war, als er erwartet hatte. Und natürlich waren Flocks Bedenken nicht völlig aus der Luft gegriffen. Aber so, wie Andrej Elena einschätzte, konnte sie tatsächlich gut auf sich selbst aufpassen. Ganz im Gegenteil sollte sich eher derjenige, der dachte, er habe des Nachts leichtes Spiel mit dieser wehrlosen Frau, Sorgen um seine eigene Gesundheit machen. Dennoch war es besser, seinem Rat zu folgen.

»Habt Dank für Eure Mühe«, sagte er.

»Viel hat es ja nicht genutzt, fürchte ich«, erwiderte Flock. »Aber ich werde sehen, was ich für Euch tun kann. So oder so - ich werde morgen oder spätestens übermorgen ins Lager kommen, um mit Euren Leuten zu reden. Und nun geht und sucht Eure Freundin, bevor am Ende noch wirklich ein Unglück geschieht.« Er hatte fest geglaubt, Elena binnen weniger Augenblicke einzuholen, oder ihre Gestalt zumindest zu sichten, doch er hatte sich geirrt.

Innerlich aufgewühlt und verwirrt wie schon lange nicht mehr, war Andrej eine Weile ziellos in die Richtung gelaufen, in die auch Elena verschwunden war, bevor er einsah, dass er vermutlich auf dem besten Weg war, genau das zu tun, wovor Flock ihn gewarnt hatte: nämlich, sich zu verirren. Einmal zu dieser Erkenntnis gelangt - insbesondere angesichts der Peinlichkeit, sollte Abu Dun von einem solchen Missgeschick erfahren -, war es nur noch ein kurzer Schritt dahin, stehen zu bleiben und nachzudenken.

Nicht, dass es besonders viel zu sehen gegeben hätte. Er hatte sich vielleicht hundert oder hundertzwanzig Schritte von der Mühle entfernt, und auch, wenn die Nacht viel zu dunkel war, um das Gebäude noch als Schatten erkennen zu können, konnte er dessen Nähe nach wie vor spüren, wie er noch immer das leise Knarren der uralten Holzkonstruktion und das Geräusch der Segeltuchbespannung hörte; dazu das Wispern und Raunen des Waldes, das Geräusch der Blätter, Flügelschlagen und die hastigen Schritte winziger, krallenbewehrter Füßchen. Der Wald, der ihn umgab, war wie ein großes, atmendes Wesen voller Leben und unsichtbarer Augen, die ihn aufmerksam aus der Dunkelheit heraus anstarrten.

Was er indes nicht spürte, war Elena.

Und das war seltsam. Er war stets in der Lage gewesen, die Nähe eines Wesens seiner Art auch auf große Entfernung hin zu spüren. Über diese Fähigkeit verfügte er auch, wenn es um ganz normale Menschen ging, allerdings funktionierte diese Wahrnehmung dann nicht auf ganz so große Distanz, und auch nur, wenn er sich konzentrierte. Es war nicht die Art des Lebens, die er fühlte, sondern das Leben selbst.

Doch jetzt und hier war er allein.

Er ging weiter, und allmählich begann nun doch eine leise, aber nagende Sorge von ihm Besitz zu ergreifen. Noch weigerte er sich zu glauben, dass Elena tatsächlich irgendetwas zugestoßen sein könnte, aber allein die Vorstellung, sie tatsächlich verloren zu haben und allein ins Lager der Sinti zurückzukehren, war ihm überaus zuwider. Stattdessen blieb er erneut stehen, schloss die Augen und lauschte erneut angestrengt in die Nacht hinaus.

Und nach einer Weile hörte er tatsächlich etwas, das sich von den normalen Geräuschen des Waldes unterschied. Es waren Schritte, sehr weit entfernt und so leise, dass es ihm im ersten Augenblick nicht möglich war, die Richtung zu lokalisieren, aus der sie kamen, und er im zweiten erschrak, als ihm klar wurde, wie weit sich Elena bereits von ihm entfernt hatte. Sicher, sie war schnell und zornig davongegangen, aber er hatte auch nur noch wenige Augenblicke mit Flock gesprochen, bevor er ihr gefolgt war. Doch auch, wenn er die bisweilen irreführende Akustik des Waldes in Rechnung Stellte, musste sie mindestens eine Viertelmeile von ihm entfernt sein, und um das zu schaffen, hätte sie schon rennen müssen ...

Der Gedanke lieferte seiner Beunruhigung neue Nahrung, und diesmal gab er dem Gefühl nach. Schon eilte er so schnell durch den nächtlichen Wald, wie er es gerade noch vermochte, ohne sich trotz seiner scharfen Augen in der Dunkelheit zu verletzen und mit dem Lärm, den er beim Rennen verursachen würde, das Geräusch von Elenas Schritten zu übertönen und sie womöglich endgültig zu verlieren.

Tatsächlich musste er sich ab und an beherrschen, nicht einfach wieder loszustürmen. Stattdessen zwang er sich nach einer Weile sogar dazu, noch langsamer zu gehen und aufmerksamer zu lauschen, und da fiel ihm etwas auf. Das Geräusch der Schritte war noch immer nicht wirklich näher gekommen, aber er war sich keineswegs mehr sicher, ob er tatsächlich nur eine einzelne Person verfolgte ... Und wer immer es war, er oder sie schienen tatsächlich zu rennen. Andrej war jetzt nicht mehr nur beunruhigt, er war alarmiert. Kurz hielt er noch einmal inne, um sich zu orientieren, dann warf er alle Bedenken über Bord und lief los.

Als er das nächste Mal stehen blieb, war das Geräusch der Schritte vor ihm plötzlich verschwunden. Er lauschte und hielt den Atem an. Stimmen. Irgendwo vor ihm, nicht mehr sehr weit entfernt, waren Stimmen. Er konnte nicht verstehen, was gesprochen wurde, aber der Tonfall war scharf. Ein gehetztes Flüstern, das die Anspannung der Sprechenden verriet. Nicht unbedingt ein Streit, aber etwas, in dem ein Unterton von Drohung und bebendem Zorn mitschwang.

Vielleicht, dachte er beunruhigt, ist der Müller ja nicht der einzige hier, der Elenas Zauber widerstanden hat, und vielleicht war Flocks Warnung ernster gemeint, als ich wahrhaben wollte ... Andrej setzte sich wieder in Bewegung, langsamer diesmal und so leise, wie es ihm möglich war, und legte vorsichtshalber die Hand auf den Schwertgriff. Er konnte jetzt ganz klar die Anwesenheit mehrerer Menschen spüren. Und nach einer kurzen Weile wurden nicht nur die Stimmen deutlicher - er konnte sie immer noch nicht verstehen, was daran lag, dass man in einer Sprache miteinander redete, die ihm nicht geläufig war -, sondern er sah auch blasses Mondlicht vor sich durchs Unterholz schimmern. Etwas reflektierte den Glanz hell und seidig, und in einem Rhythmus, der nicht ins natürliche Licht-und-Schattenspiel des Nachtwaldes passte: Elenas Kleid.

Doch mit wem sprach sie da?

Angestrengt starrte Andrej in ihre Richtung, konnte aber nicht mehr als zwei oder drei verschwommene Schemen erkennen.

Vorsichtig ging er weiter, aber er hatte den zweiten Schritt noch nicht getan, da kam hektische Bewegung in die Silhouetten auf der anderen Seite der Büsche, ja, sie schienen für einen Moment miteinander zu verschmelzen und gleichzeitig auch in alle Richtungen auseinander zu treiben - wie Mondlicht, das sich auf Wasser spiegelt, in das man einen Stein geworfen hatte - und waren dann verschwunden. Nur Elena blieb zurück und drehte sich plötzlich ruckartig zu ihm um.

Im Geiste verfluchte sich Andrej für seine Ungeschicklichkeit; er musste wohl mit einem verräterischen Geräusch oder einer zu hastigen Bewegung auf sich aufmerksam gemacht haben. Und so trat er aus seiner Deckung heraus.

»Mit wem hast du geredet?«, fragte er, noch bevor Elena Gelegenheit hatte, auch nur ein Wort zu sagen.

»Geredet?« Der Ausdruck auf ihrem Gesicht strafte ihren übertrieben erstaunten Tonfall Lügen. Sie sah nicht verwirrt aus, sondern ertappt.

Andrej überwand die restliche Entfernung zu ihr mit schnellen Schritten und blieb gerade nahe genug vor ihr stehen, um sie leicht nervös zu machen. »Du hast mit jemandem gesprochen«, sagte er. »Und ich habe jemanden gesehen.«

Wenn Elena schauspielerte, dann perfekt. Wäre er nicht vollkommen sicher gewesen, Stimmen gehört und die Umrisse von mindestens zwei weiteren Personen gesehen zu haben, hätte ihn der verständnislose Ausdruck in ihrem Gesicht vielleicht überzeugt. So hingegen machte er ihn nur wütend.

»Aber hier ist niemand«, erwiderte sie nervös lächelnd und machte eine ausholende Geste. »Oder siehst du jemanden?«

»Jetzt nicht mehr.« Andrejs Stimme zitterte leicht. Er spürte, dass irgendetwas ... da war. Aber er vermochte nicht zu sagen, was.

Elena sah ihn immer noch verwirrt an, dann machte sich ein Ausdruck plötzlichen Begreifens auf ihrem Gesicht breit. »Oh, das!«, rief sie.

»Ja, das«, sagte Andrej. »Hör auf, mich für dumm zu verkaufen. Ich habe ganz deutlich Stimmen gehört.«

»Eine Stimme«, verbesserte ihn Elena. »Meine.«

»Und mit wem hast du geredet?«

Für einen kurzen Moment gefror Elenas Lächeln, dann hatte sie sich wieder in der Gewalt. »Mit niemandem.« Sie schüttelte den Kopf. »Verzeih, Andreas, ich ... es ist meine Schuld.«

»Du hast also mit niemandem geredet«, sagte Andrej spöttisch. »Oder vielleicht mit dem Wald und den Bäumen?«

»Auch«, sagte Elena.

»Wie bitte?«

»Du hast den Nagel auf den Kopf getroffen, Andreas«, antwortete Elena. Sie wich einen Schritt vor ihm zurück und schien nach Worten zu suchen. »Du kannst es nicht wissen, aber manchmal... tue ich das wirklich.«

»Was? Dich mit Bäumen unterhalten?«

Elena hob die Schultern. Plötzlich sah sie ein bisschen aus wie ein kleines Kind, das bei etwas Verbotenem erwischt worden war. »Mit der Nacht, mit der Natur ... mit mir selbst.« Sie neigte ein wenig den Kopf. »Manchmal tut es gut, auszusprechen, was einem auf der Seele liegt. Es gibt nicht viele, mit denen ich reden kann, weißt du?«

»Lüg mich nicht an«, sagte Andrej ärgerlich, aber der Zorn in seiner Stimme klang nicht halb so überzeugend wie er sollte. Elenas Erklärung, so unglaubwürdig sie klang, verwirrte ihn. Kurz maß er sie mit durchdringenden Blicken, dann starrte er angestrengt in die Richtung, in der die beiden Schemen verschwunden waren - wenn es sie denn je gegeben hatte. Ganz sicher war er plötzlich nicht mehr.

Schließlich ging er in die Hocke und befühlte die Stelle, an der Elena gerade noch gestanden hatte. Die wochenlange Hitze hatte auch hier, tief im Innern des Waldes, den Boden steinhart gemacht, aber seine scharfen Augen und eine Erfahrung ermöglichten es ihm, Elenas Fußspuren auszumachen. Unmittelbar daneben befanden sich weitere, kleinere Abdrücke im Boden. Vielleicht tatsächlich die Spuren eines Menfischen, wenngleich es sich dann um einen sehr kleinen, sehr leichten Menschen handeln musste. Ein Kind womöglich? Er Streckte die Hand aus, um danach zu tasten, tat es dann aber doch nicht. Er richtete sich wieder auf. »Da sind Spuren«, sagte er.

Elena lächelte und schüttelte den Kopf. »Hier war niemand«, sagte sie. »Du musst dich getäuscht haben.«

Was, wenn sie Recht hatte? Andrej setzte zu einer Antwort an, beließ es dann aber bei einem zweifelnden Blick und sah noch einmal auf die Spuren hinunter. Plötzlich war er sich nicht mehr sicher. Vielleicht log sie ihn an, vielleicht hatte er sich wirklich getäuscht. Die Sorge um Elena, der Zorn, den er immer noch empfand, wenn er an das Gespräch mit dem Müller zurückdachte, dieser unheimliche, viel zu stille Wald - all das mochte ihm etwas vorgegaukelt haben, das er nur deshalb gesehen hatte, weil er erwartete, es zu sehen.

Vielleicht tat er Elena tatsächlich Unrecht. Und vielleicht tat er es, weil da irgendetwas in ihm war, das ihr Unrecht tun wollte.

Diese Möglichkeit bereitete ihm ein derart schlechtes Gewissen, dass er für einen Moment befürchtete, Elena könne ihm seine Gedanken vom Gesicht ablesen. Fast hätte er wie ein verlegener Junge den Blick gesenkt.

»Entschuldige«, sagte er.

»Entschuldige?« Elena runzelte die Stirn. »Wofür?« Er wollte antworten, aber sie fuhr rasch und mit fast trauriger Stimme fort: »Ich bin es, die sich bei dir entschuldigen muss, Andreas. Ich habe dich in eine unangenehme Situation gebracht. Zum zweiten Mal an diesem Tag.«

Andrej sah sie fragend an.

»Vorhin, bei der Mühle«, erklärte sie. »Ich habe mich dumm benommen.«

»Ich könnte dir jetzt widersprechen«, sagte Andrej. »Aber das wäre nur eine höfliche Lüge.«

»Ich weiß«, sagte Elena. Sie lächelte wieder, aber es wirkte nur noch bekümmerter als zuvor. »Was ich gesagt habe, war nicht sehr klug, ich weiß.«

»Seit wann sind Frauen dafür bekannt, klug zu sein?«, fragte Andrej. Es sollte ein Scherz sein, um sie aufzumuntern, aber Elenas Lächeln wurde nur noch trauriger. Ihre Mundwinkel zuckten leicht.

»Ich sollte es dennoch sein«, sagte sie. »Gerade ich.«

Er fragte nicht, wie sie das gemeint hatte. Sie hätte ihn vermutlich ohnehin nicht gehört. Ihr Blick wirkte plötzlich leer, in sich gekehrt und von einem Gefühl der Trauer und Bitterkeit erfüllt, das er nicht wirklich verstand, das er aber spürte, und das ihn selbst schmerzte.

»Ich habe alles nur noch schlimmer gemacht«, sagte sie. »Aber ich ... ich war so zornig. Dieser Müller ist ein solcher -« Sie unterbrach sich.

»Einfaltspinsel?«, schlug Andrej vor.

Sie schüttelte den Kopf. »Wäre es nur das«, seufzte sie. »Du kennst uns nicht, Andreas. Du weißt nur, was du über uns gehört hast, noch dazu von Menschen, die uns kaum vertrauter waren, als du es bist.«

»Das ist auch nicht nötig«, sagte er. »Ich beurteile Menschen im Allgemeinen nach dem, was sie sind und tun, nicht nach dem, was man über sie sagt.«

»Würden mehr so denken, wäre das Leben einfacher«, sagte Elena traurig. »Es ist immer dasselbe, Andreas. Ganz egal, in welche Stadt wir kommen, die Leute begegnen uns mit Misstrauen und Hass. Sie kaufen unsere Waren, sie lassen sich von uns unterhalten, und sie dulden uns für ein paar Tage, manchmal eine Woche oder auch zwei. Aber nicht länger.«

»Du nimmst diese Narren zu Ernst«, sagte Andrej. »Handmann ist ein Dummkopf. Ein Schwätzer.«

Elena schüttelte erneut den Kopf und diesmal heftiger. »Nein«, sagte sie. »Oder doch, ja, du hast natürlich Recht. Er ist ein Dummkopf und ein Schwätzer und noch vieles andere mehr. Aber das, was er denkt und sagt, bleibt nicht ohne Folgen. Es ist immer dasselbe. Irgendwann fängt ein Dummkopf an zu reden. Er bezichtigt uns des Diebstahls, der Trunksucht oder auch der Hexerei. Du hast Recht, wenn du sagst, dass Handmann ein Narr ist. Aber oft sind es gerade die Narren, auf die die Menschen hören, weil sie das aussprechen, was die anderen nur nicht laut zu sagen wagen. Heute ist es der Müller, morgen wird es vielleicht der Bäcker sein, und am Tag darauf der Pfaffe, und es wird nicht lange dauern, bis sie uns davonjagen.« Sie gab ein Geräusch von sich, das ein resignierendes Seufzen, ebenso gut aber auch ein Ausdruck tiefster Verbitterung sein konnte. »Wie oft habe ich geglaubt, dass es diesmal anders ist. Wie oft sind wir mit offenen Armen empfangen worden, und ich habe mir eingeredet, dass nicht alle Menschen so sind. Aber es kam immer anders. Und es wird auch diesmal anders kommen. Manchmal wünsche ich mir nichts mehr, als ein ganz einfaches Leben zu führen. Das einer Magd oder einer Wäschefrau.«

»Das ist nicht dein Ernst«, sagte Andrej.

Elena sah ihn einen Moment lang aus ihren schwarzen, unergründlichen Augen an, und dann lachte sie, nicht lang und nicht sehr laut, aber es klang echt. »Nein, natürlich nicht«, sagte sie. »Aber wünscht man sich nicht immer das, was man nicht hat?«

»Ich weiß es nicht«, antwortete Andrej.

Elena seufzte. »Vielleicht wäre es gar nicht gut, alles zu bekommen, was man sich wünscht«, sagte sie. »Tatsächlich bleiben Träume ja nur so lange Träume, so lange sie nicht in Erfüllung gehen.« Andrej hatte das unbestimmte Gefühl, dass diese Worte viel mehr eine Frage, denn eine Feststellung waren, und dass sie auf eine ganz bestimmte Antwort wartete. Doch er schwieg und sah sie nur abwartend an, und nach einer kleinen Ewigkeit, wie es ihm vorkam, seufzte Elena erneut, straffte sich und zwang sich zu einem fast überzeugenden Lächeln.

»Lass uns zurückgehen«, sagte Andrej. Obwohl er nicht sagen konnte, warum, fühlte er sich mit jedem Moment unwohler. Elena hatte ihm einen Einblick in ihre Gedanken und Gefühle gewährt, den er nicht haben wollte. Die schwarzhaarige Zigeunerin verwirrte ihn von Stunde zu Stunde mehr, und er spürte auch, dass sie auf dem besten Wege war, Gefühle und Gedanken in ihm zu wecken, die er nicht wünschte. Nicht jetzt und nicht hier.

»Du hast Recht«, sagte Elena. »Wir -«

Sie brach ab, neigte den Kopf zur Seite und lauschte einen Moment konzentriert und mit geschlossenen Augen.

»Was ist?«, fragte Andrej alarmiert. Auch er horchte für einen Augenblick ins Dickicht hinein und tastete gleichzeitig mit seinen anderen, nichtmenschlichen Sinnen die Umgebung ab. Doch alles, was er hörte, waren die natürlichen Geräusche des Waldes und ganz weit entfernt das Plätschern von Wasser, und alles, was er spürte, war Elenas Gegenwart. Sie waren allein.

»Hörst du nichts?«, fragte Elena.

Er schüttelte den Kopf. »Nein.«

»Dann komm mit.«

Bevor er sich versah, lief sie so schnell in die Dunkelheit hinein, dass er sie schon fast aus den Augen verloren hatte, bevor er endlich auf die Idee kam, ihr nachzueilen.

»Elena!«, rief er. »Was soll da? Bleib stehen!«

»Hol mich doch ein, wenn du kannst«, rief sie spöttisch und rannte nun wirklich los.

Andrej unterdrückte einen Fluch und legte Tempo zu, um zu ihr aufzuholen, aber es bereitete ihm unerwartete Mühe. Der Wald war so dicht, dass selbst er kaum mehr als Schatten sah, mehr als einmal über eine Baumwurzel stolperte oder sich den Kopf an einem tief hängenden Ast stieß. Wie Elena, deren normale menschliche Sinne nicht annähernd so scharf sein konnten wie seine, es schaffte, nicht gegen ein Hindernis zu prallen, war ihm ein Rätsel. Möglicherweise hätte er sie gar nicht eingeholt, wäre sie nicht plötzlich langsamer geworden, um schließlich ganz stehen zu bleiben.

Andrej erreichte sie schwer atmend und konnte sich gerade noch beherrschen, sie nicht grob am Arm zu packen und herum zu reißen. »Was soll das?«, herrschte er sie an.

»Wenn du schon bei mir bist, um mich zu beschützen, dann muss ich mich doch wenigstens davon überzeugen, dass du das auch kannst«, antwortete Elena lachend. »Komm mit!« Sie ergriff seinen Ärmel, um ihn mit sich zu ziehen, aber Andrej machte sich ungehalten los. »Wohin?«

»Hörst du nichts?«, fragte Elena verwundert.

Obwohl er das Ergebnis kannte, tat er ihr den Gefallen, noch einmal konzentriert zu lauschen, aber da war absolut nichts Außergewöhnliches. Nichts, was nicht hierher gehörte. »Was?«

Statt zu antworten, ging Elena weiter, bückte sich unter einem tief hängenden, halb verdorrten Ast hindurch und trat dicht vor Andrej auf eine halbrunde, vielleicht dreißig oder vierzig Schritte messende Lichtung hinaus, die sich plötzlich vor ihnen auftat. Die Blätterkrone des Waldes, die an dieser Stelle unterbrochen war, hatte die unbarmherzige Sonnenglut der letzten Tage und Wochen nicht zurückgehalten, so dass Gras und Moos längst verdorrt und verbrannt waren, aber auf der anderen Seite der Lichtung befand sich etwas, das irgendwo auf halbem Wege zwischen einem Tümpel und einem kleinen See aufgehört hatte, zu wachsen. Vor nicht allzu langer Zeit musste es ein richtiger kleiner See gewesen sein, wie die verbrannten Reste des Uferbewuchses zeigten, nun aber war es zu einer besseren Pfütze zusammengeschmolzen, die vermutlich in wenigen Tagen oder spätestens einer Woche ganz verschwunden sein würde, wenn die unbarmherzige Hitze weiter anhielt und es nicht regnete.

Elena ließ so etwas wie einen leisen Freudenschrei hören und eilte rasch auf den Tümpel zu, während sie bereits ihre Bluse zu öffnen begann.

»Was hast du vor?«, fragte Andrej alarmiert.

»Na, was werde ich wohl vorhaben nach einem Tag wie diesem und an einem so wundervollen Fleckchen Erde?«, fragte Elena spöttisch. Sie hatte den Tümpel erreicht und stürmte so ungestüm hinein, dass ihr das Wasser bis zur Brust spritzte. »Ich werde schwimmen. Komm auch hinein!«

»Schwimmen?«, fragte Andrej verwirrt. »Hier? Jetzt?«

Elena drehte sich lachend zu ihm um. Sie hatte die Schnüre ihres Kleides bereits gelöst. Jetzt zog sie es mit einer raschen Bewegung über den Kopf und warf es achtlos zur Seite. Zum Vorschein kam ein dünnes Unterkleid aus Seide, das deutlich mehr von ihrem Körper enthüllte, als verbarg; vor allem dort, wo es klatschnass war.

»Du bist verrückt«, sagte Andrej. »Mach keinen Blödsinn!«

»Wieso Blödsinn?«, fragte Elena lachend. »Was ist schlecht an einem Bad? Vor allem nach einem so heißen Tag wie heute? Ich stinke.« Sie machte eine auffordernde Geste. »Komm mit herein. Ein Bad würde dir ebenfalls gut tun.«

»Das mag sein«, antwortete Andrej, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Trotzdem ist es keine gute Idee! Es ist Nacht. Wir wissen nicht, wer sich hier sonst noch herumtreibt.« Und es geziemt sich nicht, fügte er in Gedanken hinzu.

»Was soll mir schon passieren?«, fragte Elena. »Mit einem Beschützer wie dir an meiner Seite?«

»Wie meinst du das?«, fragte Andrej. Seine Worte klangen schärfer als beabsichtigt, und Elena fuhr leicht zusammen. Dann lachte sie.

»Deshalb bist du doch mitgekommen, oder nicht? Um auf mich aufzupassen.« Sie machte eine Handbewegung, um jeden Widerspruch schon im Ansatz beiseite zu fegen. »Jetzt dich doch nicht und komm ins Wasser. Es ist herrlich.«

Sie schnüffelte hörbar und verzog ein wenig das Gesicht. »Nebenbei bemerkt, würdest du nicht nur dir mit einem Bad einen Gefallen damit tun.« Andrej blieb Ernst. »Das mag sein«, sagte er wieder. »Aber es ist trotzdem leichtsinnig. Außerdem wird dein Mann nicht begeistert sein, wenn er davon erfährt.«

»Ich werde es ihm nicht erzählen«, antwortete Elena leichthin. »Und wenn du es nicht tust, wird er es nie erfahren. Also - was ist jetzt? Sei kein Frosch!«

Andrej schüttelte den Kopf. Dabei hatte Elena durchaus Recht. Die Hitze der zurückliegenden Tage war auch an ihm nicht spurlos vorüber gegangen. Er stank nach Schweiß und Kleidern, in denen er zu oft geschlafen hatte, und er wusste schon gar nicht mehr, wie es war, sich nicht schmutzig und klebrig zu fühlen. Trotzdem sträubten sich ihm allein bei der Vorstellung, an diesem unheimlichen Ort ins Wasser zu steigen, die Nackenhaare. Etwas an dieser Lichtung stimmte nicht. Elena hatte ihn fast dazu gebracht, die Schatten und das unheimliche Huschen und Sich-Regen in der Dunkelheit zu vergessen, doch plötzlich war die Erinnerung wieder da, und er hatte mehr denn je das Gefühl, angestarrt und belauert zu werden. Erneut lauschte er mit seinen Vampyrsinnen hinaus in die Dunkelheit, und erneut fühlte er nichts, aber dieser Umstand beruhigte ihn keineswegs. Tatsache war, irgendetwas war hier nicht so, wie es schien. Entschieden schüttelte er den Kopf. »Nein.«

»Ganz, wie du willst.« Elena machte ein enttäuschtes Gesicht. Dennoch sah es so aus, als wollte sie sich nun auch noch ihr Unterkleid über den Kopf zu streifen, um es vermutlich ebenfalls achtlos ans Ufer zu werfen. Hastig drehte sich Andrej um. »Was tust du da?«, fragte Elena.

Obwohl er genau wusste, dass sie ihn mit diesen Worten nur reizen wollte, antwortete Andrej: »Verzeih. Ich wollte dich nicht in Verlegenheit bringen. Ich warte, bis du im Wasser bist.«

Загрузка...