6. Kapitel Stürmische Zeiten

Thu-Kimnibol wird also in ein, zwei Tagen abreisen, allerhöchstens in dreien, sobald die Karawane aufbrechen kann. Heute findet das Abschiedsbankett statt, daß Salaman ihm zu Ehren gibt. Und draußen heult der schwarze Wind. Hagel schmettert gegen die Fensterscheiben. Schon in der Nacht zuvor hatte es gehagelt, scharfe kleine Geschosse, die stachen und schnitten und brannten wie erstarrte Federtropfen. Und diese Nacht ist es sogar noch wilder draußen. Und über dem Osten lagert sich eine Finsternis, die Schnee erwarten läßt.

Das Jahr wechselt das Gesicht. Es wird rascher dunkel. Die ersten Vorboten der Winterstürme fegen durch die Stadt Yissous.


Für Salaman bedeutete der Anbruch der rauhen Jahreszeit auch eine Menge neuer Probleme. Das war zwar jedes Jahr so, aber es war eben in jedem Jahr immer ein bißchen schlimmer geworden. Mit wachsendem Alter hatte seine Spannkraft nachgelassen. Und sein sowieso schwarzgalliges Gemüt verdüsterte sich noch mehr, wenn die schwarzen Stürme wiederkehrten, und dies von Jahr zu Jahr immer mehr. Diesmal schien ihn die Melancholie schlimmer als je zuvor zu packen. Seit dem Wetterumschwung schien ihm das letzte Geduldsfaserchen abhanden gekommen zu sein, und er bestand nur mehr aus zänkischem Zornesbeben. Am meisten traf das natürlich jene, die ihm am nächsten standen, und die traten ganz leise auf. Alles und ein jeglicher ging ihm in die Quere. Sogar Thu-Kimnibol, sein Ehrengast, sein geliebter und hochgeschätzter Freund, dem am heutigen Abend der Ehrenplatz am Busen des Königs eingeräumt worden war, den er vor so langer Zeit angestrebt hatte — über den Königssöhnen Chham und Athimin —, sogar er ging Salaman auf die Nerven.

„Wahrlich, beim Vernichter“, sagte Thu-Kimnibol, „dieser Wind schneidet regelrecht durch die Mauern!“ Man servierte gerade die gebratene Thandibar-Keule. „Ich hatte völlig vergessen, wie scheußlich das Wetter im Winter bei euch ist!“

Salaman, dessen Augen vom Wein bereits gerötet waren, goß sich erneut ein. Thu-Kimnibols Bemerkung hatte ihn getroffen wie eine Ohrfeige, und er fuhr herum und starrte seinen Gast zornig an.

„Ach, du sehnst dich nach eurem angenehmen Klima in Dawinno, ja? Ihr habt ja dort überhaupt keinen Winter, hör ich? Nun, du wirst bald genug wieder daheim sein.“

Einen Winter, also, was man so einen richtigen Winter nennen kann, hatte das VOLK in den Vengiboneezer Tagen nicht durchstehen müssen. Die Stadt lag kuschelig angenehm, zwischen den Bergen und dem Meer, in einem begünstigten Klimabereich, in dem die ‚kalte‘ Jahreszeit kurz und mild verlief und außer zeitweiligen ausgedehnten Regenfällen nichts Schlimmeres geschah. Und Dawinno-City, noch weiter südlich gelegen, badete das ganze Jahr über in warmen mildwehenden Luftströmungen. Aber die Stadt des Königs Salaman, so geschützt sie auch in dem uralten Kraterloch eines Todessterns liegen mochte, war von Osten her offen für die scharfen Stürme, die zur Jahresneige aus dem Herzen des Kontinents herüberbliesen, wo der Lange Winter noch immer nicht völlig losgelassen hatte.

Der Winter in Yissou war kurz, konnte aber grausam sein. Wenn die Schwarzwinde wehten, rissen sie das Laub von den Bäumen, und der Erdboden vertrocknete und wurde unfruchtbar. Die Feldfrüchte verdarben, und das Vieh magerte zu klapperdürren Skeletten ab.

Manchmal, wenn auch nicht oft, gab es Schnee. Die Herzen der Frauen und Männer in der Stadt wurden in den Zeiten der Stürme verdrießlich und verstockt. Alle Großmut ging ihnen verloren, und es herrschte allgemein ein Klima der Gereiztheit; zwischen Freunden und Gefährten brach erbitterter Zank aus, und es kam sogar zu Gewalttaten. Und obwohl die böse Zeit nur ein paar Wochen dauerte, betete doch ein jeder beständig, sie möge endlich enden; so wie dies längst vergessene Generationen der Ahnen im Langen Winter getan hatten.

„Und es kommt noch übler“, sagte Salamans Gefährtin Thaloin mit düster-trostloser Stimme. „Du hast Glück, Prinz, daß du fortreisen kannst. In ein, zwei Wochen sieht es hier aus, wie wenn der Lange Winter zurückgekommen wäre.“

„Halt den Mund!“ befahl Salaman ihr brüsk.

„Aber, mein Herr, du weißt doch, es ist wahr! Der Wind da, das ist doch erst der Anfang!“

„Wirst du den Mund halten, Weib!“ brüllte Salaman und hieb die flache Hand so heftig auf den Holztisch, daß die Gläser und Gedecke hüpften und etlicher Wein verschüttet wurde.

Und zu Thu-Kimnibol sprach er: „Weiberhafte Übertreibung. Jetzt, wo sie alt wird, geht ihr das kalte Wetter in die Knochen und macht sie mißlaunig. Ich aber versichere dir, es gibt hier bei uns nur ein paar Wochen lang ab und zu ein bißchen ärgerlichen Wind und manchmal ein bißchen Schnee, dann kommt auch schon der Frühling.“ Er lachte dröhnend, aber so gezwungen heftig, daß er leichte Schmerzen unter den Rippen verspürte. „Ich genieße den Wechsel der Jahreszeiten! Ich empfinde es als erfrischende Abwechslung. Und ich möchte nicht an einem Ort leben, an dem immer nur schönes Wetter herrscht. Doch selbstverständlich bedaure ich es, Gevatter, wenn dir einige geringfügige Unbehaglichkeiten zugemutet werden, seit es ein wenig kälter wurde.“

„Aber keine Rede, mein Cousin. Ich vertrag durchaus ein bißchen — Frostigkeit.“

„Unser kleiner Winter ist doch wahrhaftig nicht besonders schlimm. He? Was sagt ihr, he?“ Der König ließ die Blicke um den Tisch schweifen. Chham nickte, dann Athimin, danach alle übrigen, auch Thaloin. Sie alle kannten sich mit seinen Gemütsschwankungen nur zu gut aus. Wieder brauste der Sturm heftiger heran. Salaman spürte, daß sein Temperament um einen weiteren Grad stieg, und bemühte sich um Beherrschung.

Er riß den Becher hoch und schwang ihn unsicher in Thu-Kimnibols Richtung. „Aber Schluß mit solchem Gerede. Ein Toast, ein Toast! Auf meinen teuren Freund und geliebten Gevatter, auf Thu-Kimnibol!“

„Auf Thu-Kimnibol!“ Chham war ein rasches Echo.

„Thu-Kimnibol!“ fielen die übrigen ein.

„Teurer Freund. “ Thu-Kimnibol hob seinerseits den Becher. „Wer hätte das vor zwanzig Jahren gedacht, daß ich am heutigen Abend hier sitzen würde, an dieser Tafel und auf diesem Platz an Salamans Herdfeuer und in meinem Herzen denken würde: Was für ein grandioser Mann ist er doch, was für ein großer Freund, was für ein zuverlässiger Verbündeter! Auf dich, mein lieber Salaman!“

Der König schaute Thu-Kimnibol argwöhnisch an, während dieser trank. Er wirkte aufrichtig. Nein, er war aufrichtig. Sie waren wirklich Freunde geworden. Also, damit hätte ich nun wirklich zu allerletzt gerechnet, dachte er, und Tränen traten ihm in die Augen. Der liebe alte Thu-Kimnibol. Der gute alte Thu-Kimnibol. Ach, du wirst mir wirklich fehlen, wenn du von mir fährst!

„Wein!“ rief er. „Wein für Thu-Kimnibol! Und Wein für den König!“

Weiawala sprang sogleich auf, um nachzuschenken. Als sie in Thu-Kimnibols Griffweite kam, fuhr er mit der Hand über ihre Hüfte und das Bein abwärts. Er ließ nie eine Gelegenheit aus, sie zu berühren und zu streicheln. Seit der Nacht kurz nach seiner Ankunft, in der sie begonnen hatte, das Schlafgemach mit ihm zu teilen, hatte er kaum noch einen Blick für andere Frauen übrig gehabt. Gut, dachte Salaman. Vielleicht führt das zu einer Königlichen Hochzeit. Es gibt einigen Grund zu der Annahme, daß Thu-Kimnibol sich in Dawinno zum Häuptling machen kann, sobald Tanianes Herrschaft vorbei ist, denn dort scheint es keine für diese Stellung geeignete Frau zu geben. Und wie nutzbringend wäre es dann, wenn eine von meinen Töchtern an seiner Seite auf dem Thron von Dawinno säße.

Er trank einen tiefen Schluck. Allmählich fühlte er sich ein wenig besser. Auch der Wind schien sich zu legen.

„Mein lieber Thu-Kimnibol“, wiederholte er nach einiger Zeit.

Und dann erfolgte ein Knall, als klatschte ein Riese die Hand gegen die Palastmauer. Die kurze Windstille war vorüber. Der Sturm griff mit verdoppelter Wut erneut an. Und damit war auch Salamans kurzer Augenblick des Wohlbehagens vorbei. Auf einmal war da ein Hämmern unter seiner Schädeldecke und eine Verkrampfung in seiner Brust.

„Was ist das für eine gräßliche Nacht“, flüsterte Thaloin Vladirilka zu. „Das wird den König verrückt machen.“ Es war wirklich kaum hörbar geflüstert, doch Salamans Ohren waren außergewöhnlich geschärft, wenn der Schwarzwind wehte. Die Worte kamen bei ihm an wie ein Gebrüll.

„Was war das? Wie? Ihr glaubt, ich werde wahnsinnig? Redet ihr das über mich?“ Er schrie es laut und sprang auf. Thaloin hielt den Arm zum Schutz vors Gesicht und wich zurück. Alle im Saal waren wie erstarrt. Salaman reckte sich drohend vor der Frau auf. „Eine gräßliche Nacht. Diese gräßliche Jahreszeit. Eine gräßliche Nacht! Schrecklich! Furchtbar! Der Lange Winter ist zurückgekehrt, sagst du? Weib, du jammerst und beklagst dich die ganze Zeit über nur. Kannst du dich denn niemals mit dem zufriedengeben, was du hast? Ich sollte dich wahrhaftig in die Kälte verbannen, damit du endlich begreifst, was das wirklich ist!“ Thu-Kimnibol schaute ihn starr an. Der König klammerte sich, um Halt zu finden, an der Tischkante fest. Wut schießt wie Lava durch sein Gehirn. Im nächsten Moment fängt er an zu brüllen und zu toben. Mit größter Mühe kann er sich davor zurückhalten, Thaloin quer durch den Saal zu schleudern. Seine eheliche Gefährtin, die er hochschätzt. Vielleicht hat sie ja recht. Vielleicht ist er schon wahnsinnig geworden. Dieser verfluchte Wind, dieses verdammte Wetter!

Ich ruiniere den Abend, denkt er. Ich bringe Schande über mich und meine ganze Familie — vor den Augen Thu-Kimnibols.

„Ihr müßt mir vergeben“, sagt er mit einem heiseren rauhen Flüstern. „Dieser Wind — es geht mir nicht gut.“

Er blickt durch den Saal, hab zornfunkelnd, halb um Entschuldigung bittend. Fordert alle auf, etwas zu sagen. Doch es sagt niemand etwas. Seine drei Gefährtinnen sind schreckensstarr. Thaloin sieht aus, als wollte sie gleich unter den Tisch kriechen. Vladirilka ist kreidebleich. Nur Sinithista, die gelassenste und kräftigste der drei, scheint einigermaßen die Kontrolle bewahrt zu haben. „Du!“ sagt er und befiehlt sie mit einem Kopfnicken an seine Seite. Dann eilt er unter dem Brüllen des Sturmes mit der Frau in sein Schlafgemach.


Mitten in der Nacht befällt den König eine Schreckensphantasie. Er bildet sich ein, er liegt nicht bei seiner gewohnten Bettgenossin, Sinithista, sondern schläft einem Weibe der Hjjks bei, deren harter beschuppter Leib sich fest an ihn preßt.

Ihre schwarzborstigen Vorderkrallen streicheln ihm die Wangen. Die kräftigen mehrfach artikulierten Hinterbeine umklammern fest seine Schenkel, und die mittleren Glieder haben seine Hüften umfaßt. Die riesigen glitzernden Facettenaugen wölben sich wie giftige Pilzkappen und senken sich voll Leidenschaft über seine Augen. Sie stößt scharfe schabende Wollustlaute aus. Und das schlimmste, auch er preßt sich mit gleicher Glut an sie, seine Finger gleiten behutsam über die orangeroten Atmungsschläuche, die neben ihrem Kopf baumeln, seine Lippen irren zu ihrem kräftigen scharfen Schnabel. Und seine Zeugungsrute, riesenhaft und luststeif, steckt tief in einer geheimnisvollen Öffnung an ihrem langen starren Chitinthorax.

Vor Entsetzen schreit er, und es ist ein schreckliches Jammergebrüll, halb schmerzhaft, halb Wut, das fast die Wälle der Stadt zum Einstürzen bringen könnte, dann reißt er sich los. Mit einem heftigen Satz springt er vom Lager und begibt sich blindwütig auf die Suche nach einer Glühbeerkerze.

„Mein Herr?“ Sinithistas Stimme rief ihn leise, klagend-enttäuscht .

Salaman stand nackend und von konvulsivem Zucken gepackt am Fenster. Es gelang ihm, ein Licht zu finden und es zu enthüllen. Keine Hjjk! Nein. Nur Sinithista, die im Bett sitzt und ihn erstaunt anstarrt. Sie zitterte. Ihre Brust wogte, und ihr Genitalbereich zeigte sich in Erregungsschwellung. Er blickte zu seiner Paarungsrute hinab, die noch immer steif war und schmerzhaft pochte. Also war alles nur ein Traum gewesen. Er hatte in seinem trunkenen Schlaf mit ihr kopuliert und sie für etwas anderes gehalten — für.

„Mein Herr, was bekümmert dich denn?“

„Nichts. Es ist nichts weiter. Nur ein böser Traum.“

„Dann komm doch wieder ins Bett!“

„Nein“, sagte er fest. Denn wenn er in dieser Nacht wieder schlafen sollte, würde ihn der Traum erneut packen. Vielleicht — wenn er Sinithista aus der Schlafkammer schicken würde —, aber nein, nein, es wäre noch schlimmer, dann allein zu sein. Er wagt nicht, die Augen zu schließen, nicht für einen Moment. Denn dann würde hinter seinen Lidern das Schreckensbild dieses Ungeheuers erneut über ihn herfallen.

„Mein Herr und König.“ Das Weib schluchzte jetzt.

Sie tat ihm leid. Schließlich, er hatte sie mitten im Kopulationsakt alleingelassen. Er hatte sie in vielen Wochen nicht zu sich genommen, nicht seit ihn die Faszination mit Vladirilka überkommen hatte, und nun mußte sie den Eindruck gewinnen, daß er sie zurückwies.

Doch ins Bett würde er nicht zurückkehren.

Er trat zu ihr, legte ihr sacht die Hand auf die Schulter und flüsterte: „Dieser Alptraum hat mich so durcheinandergebracht, daß ich erst mal frische Luft brauche. Ich komm dann später wieder zu dir, wenn mein Kopf wieder klar ist. Schlaf du erst mal ein bißchen weiter.“

„Herr, dein Schrei war schrecklich.“

„Ja.“ Er griff sich ein Gewand, warf es über und verließ das Zimmer.

Im ganzen Palast herrschte Finsternis. Die Luft war eisig. Aus dem Osten fegte ein schneidender Wind herüber, und wie grimmige Gespenster kamen weiße Schneewirbel auf ihm dahergeritten. Doch Salaman konnte nicht hierbleiben — das ganze Haus kam ihm von seinem ungeheuerlichen Wahntraum wie vergiftet vor. Er stieg also hinab und hinunter und trat hinaus zu den Stallungen. Verschlafen blickten zwei Stallknechte auf, als er eintrat, aber als sie sahen, daß es der König war, rollten sie sich wieder zusammen. Sie waren an seine Launen gewöhnt. Wenn der König mitten in der Nacht ein Xlendi haben wollte, schön, für sie war das nicht weiter aufregend.

Er suchte sich ein Tier, und dann ritt er an den Stadtwall und zu seinem persönlichen Aussichtspavillon.

Über ihm tobte der Sturm, und er war dermaßen heftig, daß es ein Wunder war, daß er nicht den Mond vom Himmel fortblies. Und es kam mehr Schnee herunter, als Salaman es je erlebt hatte. Immerhin bedeckte er den Boden bereits fingertief, und es fiel immer heftiger immer mehr herab. Er blickte über die Schulter, und im fahlen Mondschimmer sah er, daß die Hufe des Xlendis scharfgezeichnete Abdrücke in der weißen Decke hinterließen.

Er band das Tier unter dem Pavillon fest und raste die Stufen hinauf. Das Herz hämmerte ihm gegen die Rippen. Droben klammerte er sich an den Sims und reckte den Kopf nach draußen, ohne auf die eisigen Böen zu achten. Er mußte sich von jedem Restchen des Traums reinigen, der ihm sein schlafendes, weinbesoffenes Hirn verstört hatte.

Das Land vor der Stadt — von zuckenden Fetzen Mondlicht erhellt, wo der Schein durch die schweren Schneelasten des Sturmes brechen konnte — war weiß wie der Tod. Ein Wind, scharf wie eine Messerklinge, schabte die gefallenen Wasserkristalle vom Boden und wirbelte sie in unheimlichen Formationen empor und weiter. Es gelang dem König nicht, den Geschmack aus dem Mund zu bekommen, den ihm der Schnabelmund des Hjjk-Weibs übermittelt hatte. Sein Begattungsschwengel hatte sich inzwischen wieder gesenkt, aber er schmerzte noch von dem ungestillten Verlangen, und Salaman hatte das Gefühl, als sei der ganze Schaft von einem kaltbrennenden Feuer überzogen, ein Beweis, daß er bei dieser gespenstischen Kopulation mit irgendeiner ätzenden hjjkischen Körperabsonderung in Berührung gekommen sein mußte.

Vielleicht sollte ich da hinausgehen, dachte Salaman. Und mir das Gewand vom Leib reißen und mich nackend im Schnee wälzen, bis ich wieder rein bin.

„Vater?“

Er fuhr herum. „Wer ist da?“

„Ich, Vater, Biterulve.“ Unsicher schaute ihm der Junge vom Eingang zum Pavillon her entgegen. Die Augen groß und weit. „Vater, du hast uns Angst gemacht. Als meine Mutter uns sagte, du bist aufgestanden und wie wild aus deinem Schlafzimmer gestürzt. Und dann hat man dich noch gesehen, wie du aus dem Palast geritten bist.“

„Da bist du mir gefolgt?“ schrie Salaman. „Du hast mich — bespitzelt?“

Er stürzte nach vorn, packte den schlanken Jungen, zerrte ihn in das Aussichtstürmchen und versetzte ihm mit aller Kraft drei Ohrfeigen. Biterulve schrie nach dem ersten Schlag laut auf, wahrscheinlich ebenso aus seiner Bestürzung wie wegen des Schmerzes, dann aber blieb er stumm. Im Mondlicht sah der König den nichtbegreifenden Blick in den schimmernden Augen seines Sohnes, und er sah den gleichen kalten Schein auf den wirbelnden Schneeflocken. Er ließ den Jungen los und taumelte wieder auf den Auslug zu.

„Vater“, sagte Biterulve leise und kam auf ihn zu — mit ausgestreckten, weit geöffneten Armen, als scherte er sich nicht mehr darum, was er damit riskierte.

Den König durchfuhr ein heftiges konvulsivisches Zucken, und er riß Biterulve in seine Arme und preßte den Jungen so heftig an sich, daß der pfeifend ausatmen mußte. Dann ließ er ihn los und sprach ganz leise: „Ich hätte dich nicht schlagen dürfen. Aber auch du hättest mir nicht hierher folgen dürfen. Du weiß doch, niemand darf mir nahe kommen, wenn ich nachts in meinem Pavillon bin.“

„Aber wir hatten doch so große Angst, Vater. Meine Mutter sagte, du warst nicht mehr recht bei Sinnen.“

„Vielleicht.“

„Können wir dir helfen, mein Herr Vater?“

„Das bezweifle ich stark. Ja, wirklich, sehr stark.“ Salaman griff wieder nach dem jungen Prinzen und zog ihn mit dem Arm dicht an sich. Mit hohler Stimme sagte er: „Ich hatte in dieser Nacht einen Traum, Junge, einen solchen Traum, wie ich ihn keinem je enthüllen werde, nicht dir und keinem sonst, außer daß ich vielleicht sagen werde, es war ein Traum, geeignet, einen Mann aus seiner gesunden Vernunft herauszuschälen, wie wenn jemand eine Frucht enthäutet. Der Traum — er lastet noch auf mir. Und vielleicht werde ich ihn niemals ganz von mir abwaschen können.“

„Ach, Vater, mein Vater.“

„Es ist diese scheußliche Jahreszeit. Der Schwarze Wind trommelt mir gegen den Schädel. Und von Jahr zu Jahr treibt er mich tiefer in den Wahnsinn.“

„Und ich soll dich also jetzt alleinlassen?“

„Ja. Nein. Nein! Bleib!“ Gedankenverloren starrte der König dann wieder in die Dunkelheit draußen vor der Mauer. Den Jungen hielt er dicht an seine Seite gepreßt. „Du weißt doch, wie sehr ich dich liebe, Biterulve.“

„Sicher, das weiß ich.“

„Und wenn ich dich vorhin geschlagen habe — das war dieser Irrsinn in mir, der dich schlug, nicht ich.“

Biterulve nickte, sagte jedoch nichts.

Salaman zog ihn noch enger an sich. Allmählich legte sich der wütende Aufruhr in seiner Seele.

Dann spähte er wieder in die Nacht hinaus. Plötzlich sagte er: „Hat es mich schon wieder gepackt, oder kannst du da draußen eine Gestalt erkennen? Jemand auf einem Xlendi, von der Südstraße her?“

„Du siehst richtig, Vater! Ich sehe es auch.“

„Aber wer würde denn so spät durch Nacht und Wind, in diesem Wetter, in diesem Braus zu uns reiten?“

„Wer immer es sein mag, wir müssen ihm das Tor aufmachen!“

„Warte.“ Salaman legte die Hände an den Mund und rief mit trompetenlauter Stimme: „He-Holla! Du da draußen! Holla, kannst du mich hören?“ Eine andere Möglichkeit hatte er nicht, mit der Stimme gegen den Sturm anzudringen.

Das Xlendi taumelte durch den Schnee und schien am Ende seiner Kräfte. Der Reiter war in kaum besserem Zustand. Er hockte vornübergekrümmt verzweifelt an dem Sattel geklammert auf dem Tier.

„Wer bist du?“ schrie Salaman. „So nenn uns doch deinen Namen, Mann!“

Der Fremde blickte zu ihnen herauf. Er gab einen schwachen krächzenden Laut von sich, den der Sturm unhörbar machte.

„Was? Wer?“ brüllte Salaman.

Der Mann wiederholte den Laut, schwächer schon als vorher.

„Vater, der stirbt doch“, drängte Biterulve. „Laß ihn herein. Was kann er schon für Schaden anrichten?“

„Ein Fremder — nachts — im Sturm.“

„Aber es ist doch nur ein Mann und außerdem halb tot, und wir sind zu zweit.“

„Und wenn dort draußen noch andre lauern, die nur darauf warten, daß wir das Tor aufmachen?“

„Vater!“

Etwas in der Stimme des Knaben drang durch Salamans Wahnsinn. Er nickte, rief den Reiter erneut an und dirigierte ihn ans Tor. Dann stiegen der König und sein Sohn hinab und schoben das Tor für ihn auf. Der Reiter konnte sein Tier nur unter großen Schwierigkeiten durch die Mauer bringen. Das Xlendi taumelte im Zickzack durch den Schnee, und zweimal wäre der Mann beinahe aus dem Sattel gefallen, und als er schließlich in der Stadt war, ließ er einfach die Zügel los, rutschte vom Rücken des Tiers und landete bebend auf den Ellbogen und Knien. Der König gab Biterulve ein Zeichen, er solle ihm aufhelfen.

Es war ein Beng-Behelmter. Obwohl er fest in Häute und Pelze verpackt war, die mit gelben Stricken um ihn geschnürt waren, wirkte er halb erfroren. Seine Augen waren glasig, ein schimmernder Eisfrost überzog sein Fell, das von einer ungewöhnlichen rosiggelben Färbung war, sehr ungewöhnlich an einem Beng.

„Nakhaba!“ rief er plötzlich, und ein so heftiger Schauder überlief ihn, daß es ihm fast den Kopf von den Schultern gerissen hätte. „Was für ein Wetter! Die Kälte brennt ja wie Feuer! Ist der Lange Winter zurückgekehrt?“

„Wer bist du, Mann?“ fragte Salaman streng.

„Bringt mich. ins Warme.“

„Zuerst — wer bist du?“

„Kurier. Von Häuptling Taniane. Mit Botschaft für den Edlen Thu-Kimnibol.“ Der Mann schwankte und wäre fast gestürzt. Dann raffte er sich gewaltsam auf und sprach mit festerer, tieferer Stimme: „Ich bin Tembi Somdech, Gardist der Stadt Dawinno. In Nakhabas Namen, bringt mich sofort zu dem Edlen Thu-Kimnibol.“

Dann stürzte er vornüber in den Schnee.

Finster hob Salaman ihn auf und trug ihn, als wäre er federleicht. Er bedeutete Biterulve, alle drei Xlendis zusammenzubringen und ihre Zügel zu verknüpfen, damit man sie wegführen könne. Zu Fuß machten sie sich dann in die Innenstadt auf. Ein paar hundert Schritt entfernt lag ein Wachposten.

Als sie darauf zugingen, sah Salaman etwas derart Seltsames, daß er sich fragte, ob er vielleicht noch immer neben Sinithista im Bett liege. Noch ein paar hundert Schritt tiefer in der Stadt befand sich ein Platz, und Salaman, den bewußtlosen Fremden in den Armen, konnte von der Front der Wachstube die Straße hinab auf diese Plaza sehen. Im Schein von Fackeln hüpften und tanzten dort etwa zwanzig, dreißig Gestalten im Kreis herum. Männer und Weiber gemischt, auch ein paar Kinder darunter, alle nackt, oder doch fast nackt, mit nichts weiter als Leibbinden und Stolen bekleidet, bewegten sich in einem wilden Freudenreigen durch den Schnee, fuchtelten mit den Armen, schleuderten hektisch den Kopf in den Nacken und rissen die Knie bis zur Brust hoch.

Vor Salamans verblüfften Augen beendeten sie die Umkreisung der Plaza und verschwanden am anderen Ende in der Straße der Confiseure.

„Biterulve?“ fragte er zweifelnd. „Hast du sie ebenfalls gesehen, diese Menschen auf der Plaza der Sonne?“

„Die Tänzer? Ja.“

„Ist heut nacht die ganze Stadt wahnsinnig geworden, oder spinne nur ich?“

„Das waren Anerkenner oder Bekenner, glaube ich.“

„Anerkenner? — Was ist das?“

„Das sind Leute — also so ’ne Art Leute, die.“ Biterulve brach mit einer verwirrten Geste ab und zeigte die leeren nach außen gekehrten Handflächen. „Ich weiß nicht genau, Vater. Du solltest Athimin fragen. Der weiß einiges über sie. Aber, Vater, wir müssen den Mann da ins Warme bringen, oder er stirbt uns.“

„Ja. Ja gewiß.“ Salaman starrte immer noch auf die Plaza. Sie war inzwischen völlig leer. Wenn ich jetzt dort hinübergehe, überlegte er, werde ich dann ihre Spuren im Schnee sehen, oder gehört das, was Biterulve sagt, auch zu meinem Traum? Anerkenner — Bekenner. Wen erkennen die an, was bekennen diese Leute?

Er trug den Kurier in die Wachstube.

Drei Wächter mit verschwiemelten Augen, allzu sichtbar aus dem Schlaf gerissen, kamen ihm entgegen. Als sie den König erkannten, husteten sie verlegen und krochen entsetzt in sich zusammen, dann salutierten sie. Aber der König hatte jetzt keine Zeit, sich mit derartigen Kreaturen zu befassen. „Macht ein Bett bereit für den Mann da, besorgt heiße Brühe und zieht ihm trockene Sachen an!“ befahl er. Und leiser, zu Biterulve, sagte er: „Schau in den Satteltaschen seines Xlenid nach. Ich will diese Botschaft sehen, ehe Thu-Kimnibol sie erhält.“

Er starrte seine Fingerspitzen an, während er auf die Rückkehr des Jungen wartete.

Wenige Minuten späte brachte Biterulve ihm ein Paket. „Das ist es, glaub ich.“

„Lies es mir vor. Meine Augen sind heut nacht nicht besonders gut.“

„Es ist versiegelt, Vater.“

„Dann brich das Siegel auf. Aber vorsichtig.“

„Ist das klug, Vater?“

„Gib schon her!“ fuhr Salaman ihn an und entriß ihm das Päckchen. In der Tat, es trug das rote Sigill Tanianes mit dem Häuptlingszeichen. Eine Geheimbotschaft an Thu-Kimnibol. Nun, es gibt Methoden, Versiegeltes zu öffnen. Er brüllte den Wachen zu, sie sollten ihm ein Messer bringen und eine Fackel. Dann erwärmte er das Siegel, bis es weich war, und hob es vorsichtig mit der flachen Schneide ab. Das entfaltete Päckchen erwies sich als ein einzelnes breites Blatt Pergament.

„Und jetzt, lies es mir vor!“ befahl der König.

Biterulve legte die Finger auf das Blatt, und die darauf geschriebenen Worte wurden lebendig. Anfangs war er anscheinend etwas verwirrt, da er in der bengisch beeinflußten Lineatur nicht geübt war, die in letzter Zeit in Dawinno in Mode gekommen war; doch er brauchte nur einen Moment, um sein Gehirn anzupassen. „Ein sehr kurzer Text. Kehre sofort zurück, ohne Rücksicht auf den Stand der Dinge, schreibt Taniane. Und dann: Es sieht hier sehr schlecht aus. Wir brauchen dich.“

„Das ist alles?“

„Das ist alles, Vater.“

Salaman nahm ihm den Brief ab, faltete ihn und drückte behutsam das Siegel wieder darauf. „Steck es wieder in die Satteltasche, genau wo du es gefunden hast“, befahl er.

Einer der Gardisten erschien. „Er kann die Brühe nicht bei sich behalten, Herr und König. Er ist zu geschwächt. Es sieht so aus, als war er halbverhungert und erfroren. Ich glaube, er stirbt, ja, das glaub ich.“

„Flößt ihm die Bouillon eben gewaltsam ein“, sagte der König. „Ich will nicht, daß er mir unter den Händen stirbt! Los, Mann, steh nicht so blöd da rum!“

„Hat keinen Zweck mehr“, sagte ein zweiter Wachsoldat. „Der Kerl ist bereits hinüber, Herr.“

„Tot? Bist du sicher?“

„Also, er hat sich aufgerichtet, irgendwas auf bengisch gerufen, und dann hat er am ganzen Leib so zu schütteln angefangen, daß es ganz scheußlich war. Und dann fiel er auf das Bett zurück und hat sich nicht mehr bewegt.“

Ach, diese verweichlichten Südländer, dachte Salaman. Ein Ritt von ein paar lächerlichen Wochen durch eine kältere Gegend, und sie fallen tot um.

Doch den Wachposten zuliebe schlug er hastig ein paar der heiligen Zeichen, brummte ein „Yissou-sei-ihm-gnädig“ und befahl ihnen, einen Heilkundigen herbeizuholen, falls in dem Kerl doch noch ein Funken Leben stecken sollte. Aber außerdem sollten sie Vorsorge für seine Beisetzung treffen. Zu Biterulve sagte er: „Führ sein Xlendi in die Palast-Stallungen. Dann bringst du seine Satteltaschen in meine Privatgemächer und verschließt sie dort gut. Danach begibst du dich zum Gästehaus und weckst Thu-Kimnibol. Unterrichte ihn über das Vorgefallene und sag ihm, er könne seine Kurierpost in Empfang nehmen, wenn er zur Morgenvisite in den Palast kommt.“

„Und du, mein Vater?“

„Ich geh noch einmal für eine Weile in meinen Pavillon, glaub ich. Ich möchte mir über einiges klarwerden.“

Dann ging er hinaus. Er spähte nach links, die Straße entlang und hinüber zur Plaza der Sonne, um zu sehen, ob diese Tänzer vielleicht zurückgekommen waren. Diese Anerkenner und Bekenner. Aber der Platz war leer. Er fuhr sich mit der Hand über die fiebrig-pochende Stirn, bückte sich, schaufelte eine Handvoll Schnee auf und rieb sich damit die Schläfen. Es half ein wenig.

Inzwischen war es kurz vor dem Morgen. Der Wind heulte unvermindert weiter. Aber es hörte nun auf zu schneien. Die Flocken bedeckten erstaunlich hoch die Erde. In dreißig Jahren hatte er keinen derart heftigen Schneefall erlebt. War das vielleicht der Grund, warum diese Leute mitten in der Nacht aus ihren Wohnungen gekommen waren? Um im Schnee, in seiner ungewohnten frischen Neuheit zu tanzen?

Anerkenner — Bekenner — Erkenner — er spielte mit den Bedeutungen.

Ich muß unbedingt gleich heute früh mit Athimin über das reden!

Dann stieg er die Stadtmauer hinauf und stand lange im Auslug seines Pavillons und starrte auf die Ödnis der Südlichen Ebenen hinaus, bis sein Gehirn völlig leer von Gedanken war und sein schmerzender Leib einen Teil der muskulären Verspannung verloren hatte. Nach und nach zeigte sich im Osten ein rosiger Lichtschein. Diese ganze Nacht war nichts als ein Traum, sagte Salaman zu sich. Er fühlte die seltsame Überwachheit der Erschöpfung, als sei er in einen Zustand sogar jenseits der denkbaren körperlichen Müdigkeit eingetreten — oder vielleicht, als wäre er bereits gestorben, irgendwann in dieser Nacht, ohne es zu bemerken. Langsam stieg er die Treppe hinab, und langsam ritt er dann durch die erwachende Stadt zu seinem Palast zurück.


Athimin kam zuerst zu ihm, als er sich am Morgen im Thronsaal in etwas gespenstischer Ruhe der Audienz widmete. Die Bewegungen des Prinzen waren ein wenig seltsam, als er sich zeremoniengerecht dem Thron näherte, sie wirkten irgendwie gehemmt, und Salaman gefiel das gar nicht. Sonst legte Athimin eher ein entschlossenes, eher derbes Gehabe an den Tag, wie es dem Zweitältesten der acht Königlichen Prinzen durchaus angemessen war. Diesmal aber schien er auf den Thron nicht stolz zuzuschreiten, sondern eher näher zu kriechen, und er warf seinem Vater dabei wachsame Blicke zu — wie über einen zum Schutz vor Prügeln vors Gesicht gehobenen Arm hinweg.

„Möge es den Göttern gefallen, dir einen angenehmen Morgen zu bescheren, mein Vater.“ Er klang merkwürdig zurückhaltend bei der Formel. „Ich hab gehört, du hattest keine gute Nacht. Die Edle Sinithista.“

„Ach, ihr habt bereits miteinander getratscht, ja?“

„Chhaim und ich durften mit der Dame das Frühstück einnehmen, und sie erschien uns ein wenig beunruhigt. Sie sagte, du hast einen schweren Schwarztraum gehabt und bist dann fortgestürzt aus ihren Armen wie ein Besessener hinaus in die kalte Nacht.“

„Die edle Dame Sinithista“, sagte Salaman, „täte besser daran, ihr königliches Maul zu halten, oder ich werde es ihr stopfen! Aber ich hab dich nicht rufen lassen, um das Szenarium meiner Träume mit dir zu diskutieren.“ Er warf dem Prinzen einen scharfen Blick zu. „Wer und was sind Anerkenner, oder wie sie heißen, Athimin?“

„Anerkenner, mein Herr und König?“

„Ja. Genau. Du hast davon doch schon gehört, oder?“

„Aber ja, Vater. Sicher. Nur, es überrascht mich, daß du etwas davon weißt.“

„Passierte grad heute nacht. Auch eins der vielen überraschenden Abenteuer dieser meiner verflossenen Nacht. Ich war vor dem Wachposten an der Plaza der Sonne, und da hab ich doch tatsächlich gesehen, wie ein Haufen Verrückter nackt im Schnee herumtanzte. Biterulve war bei mir, und ich sagte: Was sind denn das für Leute? Und er sagte: ‚Das sind Anerkenner, Bekenner, Kenner, mein Vater.‘ Aber mehr wußte er nicht. Aber du, sagte er, du könntest mir darüber genauere Auskunft geben.“

Athimin verlagerte unbehaglich sein Körpergewicht von einem Bein aufs andere. Salaman hatte ihn nie zuvor dermaßen in Verlegenheit erlebt, so unsicher, so unruhig. Vor des Königs geistiger Nase stieg ein Ruch von Hochverrat auf.

„Herr, diese Erkenner — diese Tänzer, die du gesehen hast — diese Leute, die du mit Recht als vom Geiste Verzückte bezeichnet hast.“

„Verrückte, Irre, das war meine Bezeichnung, nicht ‚Verzückte‘. Mondsüchtige — Leute, die der Vollmond verrückt macht. Allerdings war da bei dem Schneetreiben verdammt wenig Mond zu sehen, während die da herumzappelten. Was sind das für Leute, Athimin?“

„Unglückliche Sonderlinge sind sie, denen man den Sinn verwirrt hat durch Geseiber und Aberwitz. Eben halt so Leute, die gern tanzen, wenn der Schwarzwind weht, oder denen es eine Lust ist, nackt im Schnee herumzutollen. Oder auch noch viele andere absurde Sachen zu veranstalten. Nichts kann sie beirren. Sie sind überzeugt, daß der Tod weiter keine Bedeutung hat, daß man sich nie Gedanken über eine Gefahr, ein Risiko machen sollte, sondern nur einfach das tun, was einem als richtig erscheint — ohne Furcht und ohne Hemmnis.“

Salaman beugte sich vor und umklammerte die Armstützen des Harruel-Throns.

„Also, eine Art neue Philosophie, meinst du?“

„Eher sowas wie eine Religion, Herr. Vermuten wir jedenfalls. Sie haben ein System von Glaubenssätzen, die sie einander lehren — sie haben ein Buch, eine Heilige Schrift. und sie halten geheime Versammlungen ab, doch in die müssen wir erst noch unsere V-Leute einschleusen. Weißt du, wir stehen erst am Beginn unserer Erkenntnisse über diese Leute. Am meisten scheinen sie die Saphiräugigen zu bewundern, weil diese gelassen und gleichmütig dem Tod entgegensahen, als der Lange Winter nahte. Diese Bekennersekte sagt, das ist die eine große Weisheit, die von Dawinno-dem-Zerstörer kommt, daß man dem Sterben mit Gleichmut entgegensehen soll, daß der Tod nur ein Aspekt der Verwandlung ist und somit heilig.“

„Gleichmut gegenüber dem Sterben — hm“, sagte Salaman nachdenklich. „Den Tod annehmen als einen Aspekt der Verwandlung.“

„Deswegen nennen sie sich vielleicht selbst Akzeptänzer“, sagte Athimin. „Und sie nehmen es tanzend hin, weil es der Plan der Götter ist, daß man dem Tod nicht entgehen kann. Also tun sie, was ihnen grad in den Sinn kommt, Vater, und achten dabei weder auf Gefahren noch Mißhelligkeit.“

Salaman ballte die Fäuste. Nach den paar ruhigen Stunden am frühen Morgen fühlte er wieder den Furor in sich aufsteigen.

Also war Dawinno-Stadt nicht der einzige Ort, der von dieser Pest neuer absurder Glaubensvorstellungen befallen war? Ihr Götter! Es machte ihn krank zu hören, daß sozusagen direkt vor seiner Nase ein solcher Wahnwitz wuchern konnte. Ein derartiger Kult von bereitwilligen Märtyrern, das konnte ja zur Anarchie führen! Menschen, die nichts fürchten, arbeiten nicht. Und seine Stadt brauchte keinen Todeskult. Was er hier brauchte, das war Leben, nichts als Leben, neue Blüte, frisches Wachstum, wachsende Stärke!

Zornig stand er auf.

„Aberwitz!“ brüllte er. „Wie viele von diesen Wahnsinnigen gibt es in unsrer Stadt?“

„Wir haben hundert und neunzig davon erfaßt, Vater. Aber vielleicht gibt es mehr.“

„Du scheinst eine Menge über diese Akzeptänzer zu wissen.“

„Ich hab den ganzen letzten Mond Nachforschungen angestellt, Herr.“

„Ach, hast du? Und mir kein Wort davon berichtet?“

„Unsre Nachforschungen sind noch vorläufig. Wir wollten Genaueres erfahren, ehe.“

„Genaueres?“ Salamans Stimme dröhnte. „Der Irrsinn breitet sich wie eine Seuche in meiner Stadt aus — und du willst erst genauer Bescheid wissen, bevor du dich herabläßt, mich auch nur zu informieren, daß bei uns sowas aufgetreten ist? Und mich wolltet ihr damit nicht behelligen? Weshalb? Und wie lang wolltet ihr mich verschonen, he? Wie lange noch?“

„Vater, die Schwarzwinde wehten, und wir haben halt gedacht.“

„Ah! Aha! Jetzt begreife ich!“ Er trat vor, erhob gleichzeitig den Arm und schlug Athimin heftig auf die Wange. Der Kopf des Prinzen schnellte nach hinten. Und so kräftig der Mann war, er hätte doch fast unter der Wucht der Ohrfeige das Gleichgewicht verloren. Kurz flammte wilde Wut in den Augen des jungen Mannes auf; dann fing er sich und trat einen Schritt vom Thron zurück. Er atmete heftig, und er rieb sich die getroffene Stelle. Und er starrte seinen Vater mit dem Ausdruck völliger Ungläubigkeit an.

„Also so beginnt es“, sagte Salaman nach einer Weile sehr ruhig. „Man hält den Alten für dermaßen wackelig, für so leicht aus der Fassung zu bringen, daß man ihn während der schlimmen Jahreszeit lieber im unklaren läßt über wesentliche Vorgänge in der Stadt, damit er sich beileibe nicht etwa so aufregen muß und vielleicht was Unvorhersehbares tut. So fängt’s an! Man schirmt den Alten gegen kritische Probleme in der Zeit ab, in der er erfahrungsgemäß zu überstürzten Entscheidungen neigt. Der nächste Schritt ist dann, daß man ihm auch die belanglosen, aber leidlich ärgerlichen Sachen verheimlicht, damit er nur ja keine Störung erfahren muß. Denn, wer weiß schließlich schon? Der Alte könnte ja gefährlich werden, wenn er auch nur im geringsten irritiert wird, nicht wahr? Und kurze Zeit später setzen sich die Herren Prinzen zusammen und kommen zu dem Schluß, daß der Alte dermaßen geißbockig sprunghaft und unberechenbar geworden ist, daß man ihm nicht einmal mehr bei schönem Wetter trauen darf, also entfernt man ihn sanft vom Thron, unter allen möglichen weichmäuligen entschuldigenden Vorwänden, schickt ihn in einen der kleineren Paläste, wo er unter Hausarrest steht, und sein ältester Sohn besteigt statt seiner den Thron Harruels und.“

„Vater!“ rief Athimin mit erstickter Stimme. „Aber nichts davon ist wahr! Bei allen Göttern, ich schwör dir, nicht einer unter uns hat je solche Gedanken.“

„Schweige, du!“ donnerte Salaman und hob erneut die Hand, als wollte er erneut zuschlagen. Heftig winkte er dann den Palastwachen im Thronsaal. „Du da und du — ihr überführt den Edlen Athimin sogleich ins Nordgefängnis, wo er in Gewahrsam bleibt, bis ich weitere Order über seinen Verbleib sende.“

„Vater!“

„Du wirst genügend Zeit haben, über deine Fehler nachzudenken, während du dort in deiner Zelle sitzt“, sagte der König. „Ich lasse dir Schreibzeug bringen, damit du einen ausführlichen Bericht abfassen kannst über deine geistesgestörten Glaubenstänzer. Und darin wirst du mir alles sagen, was du mir aus Feigheit oder Hinterlist verheimlicht hast, bis ich es heute früh teilweise aus dir herausholen konnte. Denn das ist noch nicht alles. Ich bin ganz sicher, da steckt noch mehr dahinter. Und du wirst es mir sagen. Alles! Hast du mich verstanden?“ Er fuhr mit dem Arm durch die Luft „Bringt ihn hier weg!“

Athimin schaute ihn betäubt und verwirrt an. Doch ei sagte nichts und wehrte sich auch nicht im geringsten, als die ebenso verblüfften Wachen ihn aus dem Großen Saal geleiteten.


Salaman ließ sich wieder auf seinem Thron nieder. Er lehnte sich schwer und tief atmend an den glatten Obsidian. Nach all dem wütenden Gebrüll merkte er jetzt, wie er ganz mühelos wieder in jene gottähnliche Ruhe zurückglitt, die ihn in der Morgendämmerung in seinem Pavillon erfüllt hatte.

Seine Hand allerdings brannte noch von dem Schlag, den er Athimin versetzt hatte.

Zwei meiner Söhne habe ich in einer einzigen Nacht geschlagen, dachte er.

Er konnte sich nicht erinnern, irgendeines seiner Kinder jemals zuvor geschlagen zu haben, und nun hatte er gleich zwei in wenigen Stunden körperlich gedemütigt und überdies noch Athimin inhaftieren lassen. Wahrlich, die Schwarzen Winde bliesen. Und Biterulve hatte sich über eine Anordnung hinweggesetzt und war zu ihm in den Pavillon gekommen. Glaubte er vielleicht, weil man ihm einmal den Zutritt gestattet hatte, daß er von jetzt an beliebig dort antanzen dürfe? Und auch Athimin — was für eine kühne Frechheit, die Information über diese neue Sekte für sich zu behalten! Glattes schuldhaftes Amtspflichtsversäumnis war das! Und derlei mußte bestraft werden, auch wenn einer der Königlichen Prinzen sich dessen schuldig gemacht hatte. Nein, besonders wenn es ein Prinz aus dem Königshaus war!

Dennoch, den lieben, sanften Biterulve zu schlagen. und den gesetzten, recht kompetenten Athimin, der eines Tages durchaus König in der Stadt sein mochte, falls seinem Bruder Cham ein Unglück zustoßen sollte.

Ach was. Sie würden ihm eben vergeben müssen. Immerhin war er ja ihr Vater — und außerdem ihr König! Und es wehten ja diese Schwarzwinde.

Salaman rückte bequem auf dem Thron zurecht und fuhr streichelnd über die Armstützen. Sein Geist war still; und dabei raste es dort in einem Tempo, das sein Begriffsvermögen fast überforderte. Gedanken, Ideen, Pläne fegten durch sein Gehirn wie tobende Windstöße. Er knüpfte unerwartete Fakten zusammen, erkannte neue Möglichkeiten. Streben diese Neugläubigen wirklich das Martyrium an? Gut. Sehr gut! Wir werden ihnen dazu verhelfen. Wir werden hier in Bälde Verwendung für ein paar Opfermutige haben. Wenn die sich nach dem Martyrium sehnen, fein, dann sollen sie es kriegen. Und damit ist dann jedermann bestens gedient. Denen und uns.

Er würde sich mal ausführlich mit dem Anführer dieser bekennerfreudigen Tanzgruppe unterhalten müssen!

Geräusche in der Vorhalle. „Der Prinz Thu-Kimnibol“, verkündete ein Vorbote.

Dann stand die hochragende Gestalt von Harruels Sohn unter dem Türbogen.

„Schon im Begriff, uns zu verlassen?“ fragte Salaman.

„Wenige Stunden noch, und wir brechen auf“, antwortete Thu-Kimnibol. „Falls der Sturm nicht erneut losgeht.“ Er kam näher. „Dein Sohn hat mir gesagt, daß im Laufe der Nacht ein Bote aus Dawinno eingetroffen ist.“

„Ja. Ein Beng. Ein Gardist. War in den Sturm geraten, der arme Kerl. Ist mir praktisch in den Armen krepiert. Er hatte einen Brief für dich. Da, dort drüben auf dem Tisch.“

„Mit deiner Erlaubnis, Cousin“, sagte Thu-Kimnibol.

Er griff hastig nach dem Schreiben, starrte es aufmerksam eine Weile an, dann riß er es auf, ohne sich das Siegel genauer anzuschauen. Er las es langsam, vielleicht mehrmals mit über das Velin gleitenden Fingern durch. Anscheinend fiel das Lesen Thu-Kimnibol nicht gerade leicht. Schließlich blickte er auf und sprach: „Von meinem Häuptling. Wie gut, daß ich bereits zum Aufbruch bereit bin, mein Cousin. Ich, werde hiermit sofort nach Dawinno zurückbeordert. Dort gibt’s Ärger, sagte Taniane.“

„Ärger? Macht sie irgendwelche spezifischen Angaben?“

Thu-Kimnibol zuckte die Achseln. „Nein. Sie sagt nur, es steht ziemlich schlimm.“ Er begann auf und ab zu stapfen. „Cousin, die Sache beunruhigt mich tief. Zuerst diese zwei Mordfälle, dann trifft die Herbstkarawane hier ein und berichtet von Aufruhr und Verwirrung und einer neuen Religion, und jetzt auch noch das! Ich soll sofort heimkommen, sagt sie! Es steht sehr schlimm! Yissou, ich wünschte, ich wäre jetzt dort! Ach, wenn man doch nur Flügel hätte, lieber Cousin!“ Er schwieg, um die Fassung wieder zu finden. Dann fragte er mit völlig veränderter Stimme: „Gevatter, kannst du mir etwas darüber sagen?“

„Worüber, mein Cousin?“

„Dieses Durcheinander in Dawinno. Ich frage mich, ob du nicht vielleicht aus eigenen. ähem, Informationsquellen Kenntnis hast, was mich dort drunten erwarten könnte.“

„Nichts.“

„Aber diese geschickten hochbezahlten Agenten, die du einsetzt.“

„Haben mir nicht das geringste berichtet, Cousin. Gar nichts!“ Das Schweigen zwischen ihnen war nicht von langer Dauer, aber es hatte etwas Klebrig-Zähes an sich. „Ja, du glaubst doch nicht etwa, ich würde dir Informationen aus deiner eigenen Stadt vorenthalten wollen, Thu-Kimnibol? Wir zwei, du und ich, wir sind doch Verbündete, ja sogar Freunde! Oder hast du das vergessen?“

Mit leiser Schamesröte sagte Thu-Kimnibol dann: „Vergib mir, Cousin! Ich hab mich bloß gefragt.“

„Du weißt ebensoviel wie ich über das, was da drunten bei euch los ist. Aber, Gevatter, hör mir mal zu, hör zu! Vielleicht steht es nicht gar so übel, wie Taniane glaubt. Sie hat eine schwere Zeit hinter sich. Und sie wird allmählich alt, sie ist müde, und sie hat zudem auch noch eine Tochter, die Schwierigkeiten macht. Nein, nein, bei deiner Heimkunft wirst du vielleicht feststellen, daß es ein paar Problemchen gibt, ein bißchen Durcheinander, aber ich verspreche dir, du wirst kein Chaos vorfinden, und die Stadt brennt auch nicht — und kein Hjjk wird im Präsidialpalast Königinnen-Liebe predigen. Taniane hat nur ganz einfach entschieden, daß sie in dieser Zeit der Prüfung deine ruhige Hand an ihrer Seite haben möchte. Und genau das wirst du ihr ja sein. Du hilfst ihr dabei, das Notwendige zu tun, um die Ordnung wiederherzustellen, dann wird alles wieder bestens sein. Immerhin bringst du ja auch einen Allianzvertrag mit nach Hause, und nach dem Bündnis gibt es einen Krieg. Ich sag dir das eine, lieber Cousin: Nichts bringt die Leute in einem unruhigen Land rascher wieder zur Vernunft als die Aussicht auf einen saftigen, feinen Krieg!“

Thu-Kimnibol lächelte. „Ja, vielleicht. Was du da sagst. Also, das klingt — vernünftig.“

„Aber sicher doch!“ Salaman zelebrierte eine ausdrucksvolle Abschiedsgeste. „Also dann, Guten Weg! Du hast hier getan, was möglich war. Jetzt braucht deine Heimatstadt deine Hilfe. Ein Krieg steht vor der Tür, und du wirst der Mann der Stunde sein, wenn es zum Kampf kommt.“

„Aber wird es dazu kommen? Ach, Salaman, wir haben darüber gesprochen, daß wir einen Zwischenfall brauchen, eine Provokation, etwas, was die ganze Sache ins Rollen bringt, etwas, das ich einsetzen kann, um die Leute zu bewegen, daß sie Truppen hierher in den Norden entsenden, die sich mit den deinigen verbünden.“

„Ach, das überlaß ruhig mir“, sagte Salaman.


Auch im Süden in der Stadt Dawinnos war das Wetter problematisch gewesen: zwar ohne schwarze Winde hier, auch ohne Hagel oder Schnee, aber wochenlang fielen die Regen unablässig, bis daß Berghänge sich zu Lehmbächen verwandelten und hohe Wasser die Straßen überfluteten. Es war der übelste Winter seit der Stadtgründung.

Das Firmament war von einem bleiernen Grau, die Luft kühl und zugleich drückend, die Sonne schien für immer dahin.

Das primitive Volk begann sich zu fragen, ob etwa wieder ein Todesstern auf die Erde herabgestürzt sei und der Lange Winter zurückkehren werde. Aber die dummen Leute hatten sich solcherlei Sachen immer schon gefragt, seit das VOLK aus dem Kokon aufgebrochen war, wann immer das Klima und die Witterung ihnen nicht angenehm waren. Klügere Leute wußten natürlich, daß zu ihren Lebzeiten für die Welt keine Gefahr bestand, daß ein neuer Langer Winter eintreten könnte, weil derartige Katastrophen nur alle paar Millionen Jahre die Erde trafen, und daß die jüngste derartige Katastrophe auf dem Planeten vorbei und erledigt war. Aber sogar diese etwas klügeren Leute nörgelten über die trostlosen nicht endenwollenden, tage- und nächtelangen Regenfälle, und wenn das Flutwasser durch die niederen Stockwerke ihrer luxuriösen Häuser gurgelte, litten sie.

Nialli Apuilana verließ ihr Zimmer hoch oben im ‚Nakhaba-Haus‘ nur selten. Dank der hilfreichen Tränklein und aromatischen Kräuter und der Gebetsanrufungen Boldirinthes war es ihr gelungen, die Fieber und Pestilenzen auszutreiben, die sich ihrer bemächtigt hatten, während sie erschöpft im Sumpf lag, und sie hatte ihre Vitalität zurückgewonnen. Aber Zweifel und Verwirrung setzten ihr weiter zu, und dagegen gab es eben keine Zaubertränklein. Die meiste Zeit blieb Nialli für sich. Einmal erschien Taniane, aber der Besuch erwies sich als für beide stark spannungsgeladen und unbefriedigend. Kurz danach fand Hresh sich ein. Er nahm sie bei den Händen und hielt sie und lächelte sie an und blickte ihr tief in die Augen, als könnte er mit einem tiefen Blick all ihre Kümmernisse lindern.

Sonst empfing sie niemanden. Von Husathirn Mueri kam ein Billet, in dem er fragte, ob sie ihm das Vergnügen bereiten wolle, mit ihm zu Abend zu speisen. Sie würdigte ihn keiner Antwort.

„Du bist enorm gescheit“, sagte der junge Beng-Priester, der das Zimmer nebenan hatte, eines Tages, als sie sich ihr Essentablett vom Gang holte. „Du kuschelst dich da die ganze Zeit gemütlich ein. Das würde ich auch liebend gern machen. Dieser Drecksregen hört und hört einfach nicht auf.“

„Ach ja?“ antwortete Nialli gleichgültig.

„Eine echte Plage, ein Fluch, eine Gottesgeißel von Nakhaba, das ist “

„Ach ja?“

„Die ganze Stadt wird fortgespült. Ist wirklich gescheiter, wenn man im Haus bleibt, kann ich nur sagen. O ja, du bist sehr gescheit!“

Nialli nickte und lächelte ihm bläßlich zu, ergriff ihr Tablett und verschwand in ihrem Zimmer. Danach schaute sie immer zuerst auf den Flur, um sich zu vergewissern, daß der leer war.

Aber sie ging danach auch manchmal ans Fenster und schaute dem Regen zu. Meistens aber saß sie mit gekreuzten Beinen mitten in ihrem Zimmer und wusch und kämmte sich stundenlang mechanisch das Fell und ließ die Gedanken ziellos ins Weite schweifen.

Hin und wieder nahm sie den Hjjk-Stern von der Wand, das aus Gras geflochtene Amulett, das sie vor Jahren aus dem Nest mitgebracht hatte. Und das hielt sie sich dann vor die Augen und starrte auf die leere Stelle in der Mitte und ließ ihr Denken treiben. Manchmal konnte sie da das rosige Schimmern des Nestlichts sehen und verschwommene Gestalten, die sich dort bewegten: Soldaten, Eierproduzenten, Erwecker, NestDenker. Einmal glaubte sie sogar einen flüchtigen Blick in die KöniginKammer und auf den darin bewegungslos ruhenden geheimnisvollen massigen Rumpf erhascht zu haben.

Doch es waren undeutliche Visionen. Meistens sah sie in ihrem Stern gar nichts.

Ihr war nicht recht klar, wohin sie als nächstes gehen sollte, noch was sie tun sollte, noch auch, wer sie eigentlich war. Sie kam sich zwischen Welten verloren vor, auf rätselhafte Weise in der Schwebe und hilflos.

Der Tod Kundalimons hatte für sie auch den Tod der Liebe bedeutet, das Sterben der Welt. Niemand hatte sie so tief verstanden wie er; und sie hatte noch nie für einen anderen so abgründiges Verständnis gefühlt. Es war nicht nur die Tvinnr-Bindung — und schon gar nicht die Kopulation —, die sie aneinander gebunden hatte. Es war das sichere Gefühl der gemeinsamen Vorerfahrung, des gemeinsamen Ur-Wissens. Die Nest-Bindung. Sie hatten beide die Königin berühren dürfen, und die Königin hatte sie gesegnet — und von da an war die Königin zwischen ihren Seelen wie eine Brücke gewesen, über die sie beide freien Zugang zu dem anderen finden konnten.

Aber es war nur ein Anfang gewesen. Und dann war ihr Kundalimon entrissen worden. Und alles, alles war zu Ende.


Was allerdings kein Ende zu nehmen schien, war der Regen. Denn es regnete weiter, auf die Stadt und über der Bucht, in den Bergen und über dem Seendistrikt. Östlich vom Emakkis-Tal, im Agrarbezirk Tangok Seip, wo die innere Kette der Küstenberge allmählich höher zu werden begann, stürzte der Regen mit solcher Gewalt nieder, daß er ganze Schlammlawinen von den Hängen riß, die sich in Sturzbächen ergossen, wie man dies seit Gründung der Stadt nicht gekannt hatte. Ganze Berghänge wurden glatt abgesägt und rutschten ins Tiefland hinab.

Ein Stadrain-Bauer namens Quisinimoir Flendra, der ein kurzes Abflauen des letzten Sturms ausnutzen wollte, nach einem Preisbullen seiner Vimborzucht zu suchen, der aus dem Corral ausgebrochen war, zog an einer Bergflanke im Regen dahin, als der Boden sozusagen unter seinen Füßen wegsackte. Er warf sich nieder und grub die Finger in den Modder und rechnete sicher damit, daß er über den Rand in diesen gerade entstandenen Abgrund gerissen und lebendigen Leibes begraben werden würde. Es gab ein entsetzliches schwindelerregendes Getöse, eine Art saugendes Röhren, einen schmatzenden Donner.

Quisinimoir Flendra krallte sich fest und flehte zu jedem Gott, dessen Name ihm grade einfiel. Vorab zu seinem eigenen Gott, dem AllErbarmer, dann zu Nakhaba, der für Interventionen zuständig war, danach zu Yissou, Dawinno und Emakkis. Es fiel ihm etwas schwer, sich an die Namen der restlichen zwei Koshmari-Götter zu erinnern, als ihm plötzlich auffiel, daß der Berg aufgehört hatte, ins Tal zu fahren.

Er schaute in die Tiefe. Vor ihm war sichelförmig der Hang weggebrochen, und es zeigte sich glatte braune Erde mit einem Klöppelgeflecht nackter heller Wurzeln.

Es zeigte sich auch noch mehr. So zum Beispiel ein mächtiger gekachelter Bogen; eine Reihe stämmiger Säulen, deren Basen irgendwo tief im Grund verborgen lagen; verstreute Fragmente und Scherbentrümmer von zerborstenen Konstrukten wie Müll auf dem neu aufgebrochenen Hang verteilt. Da Flendra köpf unter hing, vermochte er den Eingang zu einer Höhle auszumachen, und er spähte in ehrfürchtigem Grausen in ihre geheimnisvollen Tiefen.

Dann setzte der Regen erneut ein. Der Hang konnte weiter einbrechen und ihn mit sich in die Tiefe reißen. Also krabbelte er eilends auf der Rückseite des Berges hinab und machte sich zu seinem Haus auf.

Er sprach mit keinem über das, was er gesehen hatte.

Aber er konnte es nicht loswerden. Es stahl sich sogar in seine Träume hinein. Er begann sich einzureden, daß die Bewohner der Großen Welt noch immer in diesem Berg hausten: die trägen, ernsten massiven Saphiräugigen krochen dort mit reptilischer Grazie umher, sprachen in mystischen Gedichtzeilen zueinander. Und die langgliedrigen, so empfindlichen bleichen Menschlinge waren auch da. Und die blütenbesetzten Vegetabilischen. Die Mechanischen mit ihren Kuppelschädeln. Und alle, alle die anderen verwirrenden und hinreißend aufregenden Wesen aus jener grandiosen Zeit. Und sie lebten immer weiter in einem schützenden Kokon.

Ganz ähnlich dem Bunker, den Flendras eigener Stamm während des endlosen Langen Winters bewohnt hatte.

Und wieso auch nicht? Wir hatten unsern Kokon. Warum sollten nicht auch sie an Schutzräume gedacht haben?

Er überlegte, ob er diesen Ort weiter untersuchen sollte, und gelangte zu dem Schluß, daß ihm das zu riskant war. Doch dann kam ihm blitzhaft der Gedanke, daß in dieser Höhle vielleicht Schätze lagen, und wenn nicht er hinging und nachschaute, würde es früher oder später jemand anderer tun.

Als nacheinander drei Tage lang einmal kein Regen fiel, kehrte er an den niedergefahrenen Hang zurück. Er hatte sich mit einem Seil ausgerüstet, mit einer Pike und einem Bündel Glühbeeren. Ganz vorsichtig seilte er sich über den Rand des Einbruchs ab und schlängelte sich in die Tunnelöffnung. Machte eine Pause. Lauschte. Hörte keinen Laut. Wagte sich vorsichtig tiefer hinein.

Dann war er in einer Kammer mit gewölbter Steindecke. Dahinter lag eine weitere, aber der Zugang zu ihr war durch Steinschlag versperrt. Nirgends Anzeichen von Lebendigem. Die Stille lastete mit dem Gewicht von Tausenden Jahren auf ihm. Quisinimoir Flendra entdeckte beim ersten Herumstöbern — und er tat das sehr vorsichtig — zunächst nichts, was irgendwie nützlich aussah. Da waren nur die gewöhnlichen Scherben und Fragmente, wie man sie gewöhnlich an derartigen Stätten aus alter Zeit findet. Doch weiter hinten im zweiten Raum entdeckte er einen grünen Metallkasten, der in dem Schutt auf dem Boden halb begraben lag. Aber die Schuttschicht fiel auseinander wie nasse Papierfetzen, als er darin herumzustochern begann.

In dem Kasten waren Maschinen: von welcher Art sie waren, davon hatte er nicht die geringste Vorstellung. Elf Stück waren es, kleine Kugeln aus Metall, allesamt größer als seine Faust, mit kleinen Ausstülpungen und Noppen außen drauf. Er holte eine heraus und berührte eine der Noppen. Und aus einer Öffnung in dem Ding brach ein grünes Licht hervor, und mit einem leisen Zischen schnitt das Licht ein rundes Loch, so groß wie sein eigener Brustkorb, genau ihm gegenüber in die Höhlenwand. So tief hinein, daß er nicht sehen konnte, wie tief. Hastig ließ er die Kugel fallen.

Er hörte, wie in der neuen Öffnung Gestein herabrollte. Der Berg ächzte und stöhnte. Es klang wie Felsmassen, die sich tief im Innern irgendwo verschoben.

All-Erbarmer verschone mich! Die ganze Scheiße kommt auf mich runter!

Aber dann war auf einmal alles wieder still, bis auf das trockene Rieseln von Sand in dem Loch, das er so unabsichtlich gemacht hatte. Quisinimoir Flendra wagte kaum zu atmen und schlich auf Zehenspitzen zum Tunneleingang zurück, kletterte schnell und hastig zum sicheren Bergkamm hinauf und rannte dann, bis er wieder in seinem Haus war.

Von solchen Maschinen hatte er gehört. Das waren Dinge aus der Großen Welt. Und der Bürger hatte die Pflicht, derartige Funde in der Stadt, im Haus des Wissens zu melden. Nun, so sollte es denn so geschehen. Ihm war es nur recht. Sollten doch die Gelehrten gern alles an sich reißen, was es dort in dieser Höhle zu finden gab. Nein, er wollte nicht mal eine Belohnung haben. Sollten sie ruhig alles nehmen. Wenn ich bloß nie wieder in die Nähe von so einem Zeug kommen muß, dachte er. Solang sie nicht von mir verlangen, daß ich da selber noch mal hingehe und ihnen zeige, wo das ganze Zeug ist.


Plötzlich und mit einem fröstelnden Schauder bildet Nialli Apuilana sich ein, daß ihr Zimmer voller Hjjks sei. Und sie hat nicht einmal den Flechtstern in den Händen, als sie kommen. Sie platzen einfach in die Leibhaftigkeit rings um sie herum, als erstarrten sie aus der Luft selbst zu Kristallen.

Es sind nicht die sanften weisheiterfüllten Geschöpfe ihrer Fiebererinnerungen. Nein, jetzt sieht sie sie so, wie die übrigen von ihrer Art die Hjjks schon immer gesehen haben: als riesige furchteinflößende Wesen mit schimmernden Panzern, starrgliedrig, mit gefährlichen Reißschnauzen und Beißwerkzeugen und riesenhaften Glitzeraugen, und sie wirbeln in beängstigender Menge um sie herum und klicken und schnattern fürchterlich. Und hinter ihnen erspäht sie undeutlich die gigantische träge Masse der KÖNIGIN auf ihrem Ruhelager — reglos, monströs, abstoßend riesig. Und Sie ruft Nialli und bietet ihr die Wonnen der NEST-Bindung und die Wohltaten der KÖNIGIN-Liebe.

Was bedeuteten denn diese Worte? Sie waren doch nichts weiter als leere Geräuschhülsen. Speise ohne Nährwert.

Nialli zittert und weicht mehr und mehr in den hintersten Winkel ihres Zimmers zurück. Sie kneift die Augen zu, aber auch das hilft nicht, sie sieht immer noch diese Alptraum-Gestalten, die sich — klicckliccklick — immer näher an sie herandrängen.

Geht weg von mir!

Gräßliche, abscheuliche Insekten! Wie sehr sie sie haßt! Dabei weiß sie aber immer noch, daß es einmal eine Zeit gegeben hat, da hatte sie eine von denen sein wollen. Sie hatte sogar eine Weile geglaubt, sie sei es. Oder war das alles nur ein Traum gewesen? Nur ein Phantasma der gerade vergangenen Nacht? Ihr Aufenthalt im Nest, die Gespräche mit dem Nest-Denker, der Geschmack, den sie von der Nest-Wahrheit in sich trug? Hatte sie nicht wirklich mit Freuden unter den Hjjks gelebt, und hatte sie nicht sie und ihre Königin lieben gelernt? — Aber, wie war so etwas möglich: die Hjjks zu lieben?

Kundalimon — hatte sie auch ihn nur geträumt?

Königin-Liebe! Nest-Bindung! Komm zu uns, Nialli! Komm! Komm! Komm!

Wie seltsam. Wie fremd und feindlich. Wie schrecklich.

„Laßt mich in Ruhe! Geht weg von mir!“ schreit sie. „Ihr alle! Geht weg!“

Sie starren sie vorwurfsvoll an. Diese riesigen Augen, glitzernd kalt.

Du bist eine von uns. Du gehörst dem NEST.

„Nein! Das war nie so!“

Du liebst die KÖNIGIN. Und die Königin liebt DICH.

Wahrheit? Nein. Nein. Das vermochte sie einfach nicht geglaubt haben. Niemals! Sie mußten sie mit einem Zauber belegt haben, als sie im Nest war. Ja, so muß es gewesen sein. Aber jetzt ist sie frei. Und sie werden sie nie wieder einfangen.

Nialli kniet und kauert sich in sich selbst. Sie zittert. Sie schluchzt. Sie berührt ihre Arme, ihre Brüste, ihr Sensor-Organ. Ist das hjjkisch? fragt sie sich, während sie sich über ihr dichtes üppiges Fell und das warme Fleisch darunter streicht.

Nein. Nein. Und — nein!

Sie drückt die Stirn auf den Boden.

„Yissou!“ ruft sie. „Yissou, beschütze mich!“ Dann fleht sie Mueri an, ihr Ruhe zu schenken, und Friit, sie gesunden zu lassen und sie von diesem Fluch zu befreien.

Sie müht sich, diese schrecklichen Klickgeräusche aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Und nun sind die Götter bei ihr, die ganze Himmlische Fünffaltigkeit. Sie spürt ihre Nähe wie einen schützenden Panzer, der sie umgibt. Einst hatte sie jedem, der ihr zuhören wollte, erzählt, daß sie nichts weiters als dumme alte Mythen seien. Aber seit ihrer Rückkehr aus den Sumpfseen waren sie beständig um sie. Und sind es auch jetzt. Sie werden obsiegen. Die Hjjks, die sich in ihr Zimmer gedrängt haben, werden nebelhaft und gestaltlos. Tränen laufen über Niallis Wangen, und sie stammelt Gebete des Dankes, der Lobpreisung zum Ruhme der Götter.

Nach einer Weile wird sie ruhig.

Auf ebenso rätselhafte Weise wie bei ihrem Auftreten ist die Verkrampfung ihres Geistes wieder von ihr gewichen, und sie ist wieder ganz sie selber. Abscheu und Ekel verschwinden. Ich bin frei, denkt sie. Aber doch nicht ganz. Zwar kann sie die Hjjks nicht mehr sehen, doch sie fühlt noch immer ihre anziehende Kraft. Und sie liebt sie wie zuvor. Wieder steigt in ihren Gedanken das Bewußtsein der erhabenen Harmonie des Nests auf, der fleißigen Geschäftigkeit seiner Bewohner, gewaltigen pulsenden Wellen der Königin-Liebe, von denen es unablässig durchströmt ist. Und auch in Niallis Herzen pocht die Königin-Liebe. Und die Nest-Wahrheit ist ihr nicht verloren.

Sie begreift es nicht. Wieso schwankt sie derart von einem Pol zum anderen? Wie kann es geschehen, daß sie die Himmlischen Fünf in sich trägt — und zugleich auch die Königin? Wohin gehört sie? Zur Stadt oder zum Nest, zum Volk oder zu den Hjjks?

Vielleicht zu beidem. Oder zu keinem von beiden.

Wer bin ich? fragt sie sich verwundert. Und was bin ich?


Ein andermal erschien Kundalimon vor ihr. Es war gegen Abend. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Lampen in dem kleinen Zimmer anzuzünden, und so breitete sich früh die regentrübe Dämmerung über alles. Sie sah ihn an der Wand der Tür gegenüber stehen, dort wo der aus Halmen geflochtene Hjjk-Stern hing.

„Du?“ flüsterte sie.

Er gab keine Antwort, sondern stand nur so vor ihr da und lächelte.

Ihn umgab ein irgendwie golden schimmerndes Leuchten. Aber in dieser Lichtaura sah er genauso aus wie während der letzten Wochen seines Lebens: schlank, ja fast zerbrechlich, und dennoch auf drahtige Weise stark, und dieses heiße Strahlen in den Augen.

Zuerst scheute sie davor zurück, ihn sich zu genau anzusehen, weil sie fürchtete, an seinem Leib die Spuren der Gewalt zu entdecken. Doch dann faßte sie Mut und sah, daß er unverletzt war.

„Du trägst ja deine Amulette gar nicht“, sagte sie.

Er lächelte und schwieg.

Vielleicht hat er sie jemand gegeben, dachte sie. Einem der Kleinen, mit denen er so gern auf der Straße gesprochen hat. Oder er hat sie dem Nest zurückgegeben, weil jetzt seine Mission beendet ist.

„Komm doch näher“, sagte sie. „Damit ich dich berühren kann.“

Er aber schüttelte den Kopf und lächelte die ganze Zeit. Und Ströme von Liebe gingen von ihm aus. Es war gut. Sie brauchte ihn gar nicht zu berühren. Sie fühlte eine große Ruhe, eine totale Sicherheit. Es gab vieles auf Erden, was sie nicht verstehen konnte, was sie wahrscheinlich niemals begreifen würde. Aber das war nicht wichtig. Wichtig war nur, gelassen zu bleiben und voll Liebe und Offenheit und anzunehmen, was kommen mochte.

„Bist du bei der Königin?“ fragte sie.

Er schwieg.

„Liebst du mich?“

Ein Lächeln. Nichts weiter als dieses Lächeln.

„Du weißt, daß ich dich liebe.“

Er lächelte. Er war wie ein Tabernakel aus Licht.

Er blieb stundenlang bei ihr. Schließlich nahm sie wahr, daß er allmählich blasser wurde und zu schwinden begann, doch das geschah so langsam, daß man von Augenblick zu Augenblick nicht hätte behaupten können, daß er von ihr ging. Doch dann war er ganz verschwunden.

„Kommst du zurück?“ fragte sie. Sie hörte keine Antwort.

Aber er kam wieder zu ihr. Stets bei Einbruch der Dämmerung. Dann stand er manchmal an ihrem Lager, manchmal vor dem Grasstern. Nie sprach er etwas. Aber immer lächelte er. Und stets erfüllte er den Raum mit Wärme und mit jenem tiefen Gefühl von Wohlbehagen und Gelassenheit.


Inzwischen war Thu-Kimnibol fast zum Aufbruch in seine Stadt bereit. Er blickte zu Weiawala, Salamans Tochter, hinab und spürte den Schwall von Furcht und Trauer und Trennungsangst, der von ihr ausging. Ihr kastanienrotes Fell hatte fast all seinen Schimmer verloren. Ihr Sensor ragte in scharfem Winkel verkrampft empor. Sie machte einen ganz verlorenen Eindruck und wirkte ganz schrecklich verängstigt. Und sie sah so bestürzend klein aus, viel kleiner, als sie ihm je zuvor erschienen war. Doch von seiner großen Länge herab sahen alle Frauen klein aus. Die meisten Männer übrigens auch.

„Also gehst du nun doch von uns?“ fragte sie und schaute ihm dabei nicht direkt in die Augen.

„Ja. Esperasagiot hat die Xlendis bereit. Dumanka ist mit der Ausrüstung und dem Proviant der Wagen fertig.“

„Also — kommt nun der Abschied.“

„Für diesmal.“

„Ja, für diesmal.“ Es klang bitter. „Deine Stadt ruft dich. Deine Königin.“

„Unser Häuptling, meinst du.“

„Ach, es ist egal, wie du sie nennst. Sie sagt, komm! Und du springst! Und dabei bist du ein Prinz, sagen sie jedenfalls!“

„Weiawala, ich bin seit vielen Monden hier. Mein Staat braucht mich. Ich hab von Taniane den direkten Befehl zur Rückkehr erhalten. Prinz her oder hin, wie könnte ich den Gehorsam verweigern?“

„Aber ich brauch dich auch!“

„Ich weiß.“

Er betrachtete sie verwirrt. Es würde ja ganz leicht sein, sie in die Arme zu reißen und sie vor Salaman zu tragen und ihm zu sagen: „Hör mal, lieber Cousin, ich möchte deine Tochter zu meiner Gefährtin haben. Laß mich sie mit nach Dawinno nehmen, und in etlichen Monden kehren wir zurück und begehen dann hier in deinem Palast feierlich die offizielle Hochzeit.“ Denn genau das hatte ja Salaman wohl vom ersten Moment an im Sinn gehabt, als er ihm die junge Frau anbot, „damit sie dir heut nacht das Bett wärmt“, wie der König sich in seiner fröhlich-derben Manier auszudrücken beliebt hatte.

Nicht als Konkubine, sondern als potentielle Lebenspartnerin hatte Salaman ihm Weiawala zugeführt, daran gab es für Thu-Kimnibol keinen Zweifel. Nichts lag dem König mehr am Herzen, als diesen alten Bruch zwischen ihnen beiden durch eine eheliche Verbindung seiner Familie mit dem mächtigsten Mann in Dawinno zu heilen. Und auch für Thu-Kimnibol wäre eine solche Aussicht vielversprechend gewesen. Selber eines Königs Sohn und dann noch Ehegemahl der Tochter des Nachfolgers dieses Königs. Sein Anspruch auf den Thron in Yissou würde damit ziemlich stark sein, falls dieser Thron frei werden und aus irgendwelchen Gründen kein Salaman-Sohn in der Lage sein sollte, ihn zu besteigen.

Dem standen zwei Hindernisse im Wege.

Das eine war, daß es einfach noch zu früh nach Naarintas Tod war, als daß er sich eine neue Partnerin hätte zulegen dürfen. Er gehörte zur Kaste der Edlen; man mußte auf Dekorum achten, und es galt, die Gefühle von Naarintas Familie zu berücksichtigen. Ganz gewiß würde er sich wieder partnerbinden, aber doch nicht schon jetzt und so überstürzt.

Davon abgesehen gab es aber ein tieferes Hemmnis. Er fühlte für Weiawala keine Liebe, jedenfalls nicht jene Art Liebe, die den Wunsch nach Partnerschaft entstehen läßt. Gewiß, seit seinem ersten Abend hier am Hof waren sie unzertrennlich gewesen. Sie hatten voll Eifer und Leidenschaft immer wieder kopuliert, aber sie hatten kein einzigesmal getvinnert. Thu-Kimnibol hatte es einfach nach dieser Intimität nicht verlangt, und auch Weiawala hatte durch nichts ein Interesse daran erkennen lassen. Und das, dachte er, war eben bezeichnend. Was wäre eine Ehepartnerschaft schon ohne Vertvinnerung — eine leere Sache.

Und außerdem war sie ja wirklich fast noch ein Kind — kaum älter, vermutete er, als seine Nichte Nialli Apuilana. Wie hätte er ein Kindweib zur Partnerin nehmen können? Er hatte die vierzig Jahre bereits überschritten, war bereits ein alter Mann, wie manche sagen würden. Nein! Weiawala war ihm in diesen Monden in Yissou eine genußvolle Bettgenossin gewesen, doch nun hatte die Sache ein Ende. Er mußte sie verlassen, sie aus seinen Gedanken verbannen, und wenn sie noch so sehr bettelte und wimmerte.

Das alles empfand Thu-Kimnibol als alles andere als ehrenhaft. Doch er würde Weiawala dennoch nicht mit nach Dawinno nehmen.

Wie er da so stand und verlegen nach Worten suchte, die das junge Weib beruhigen konnten — oder doch ihm zumindest einen würdevollen Abgang erlauben würden, trat der Königssohn Biterulve (der mit dem falben Fell, dieser bildhübsche, blitzgescheite Junge) vor sie hin. Er ergriff Thu-Kimnibols Hand mit selbstsicherer Bestimmtheit.

„Ich wünsch dir eine sichere, angenehme Reise, Oheim. Und mögen die Götter dich beschützen.“

„Innigen Dank dir, Biterulve. Wir werden uns in nicht allzu ferner Zeit wiedersehen, dessen bin ich gewiß.“

„Ich freue mich bereits darauf, Oheim.“ Er ließ hastig den Blick zwischen Thu-Kimnibol und Weiawala schweifen und schaute dann wieder herauf in Thu-Kimnibols Augen. Die unausgesprochene Frage schwebte kurz zwischen ihnen, dann senkte sich der Blick wieder, und Biterulve schien nachdenklich die Dinge abzuwägen: die Ferne zwischen ihnen, den Ausdruck in den Augen seiner Schwester.

Wieder ein peinlicher Moment. Biterulve war Weiawalas Vollbruder, von der gemeinsamen Mutter Sinithista. Und er war der Liebling des Königs, was nur allzu deutlich war. Er war unter allen jungen Prinzen anscheinend der klügste und der bei weitem kultivierteste und hatte kaum etwas von jener Überheblichkeit, durch die sich Chham und Athimin auszeichneten, oder von der lauten Grobheit der übrigen Salamanssöhne. Aber hier fand er nun seine Schwester, und sie wurde vor seinen Augen verschmäht. Bei aller Nobelkeit des Herzens, so etwas war vielleicht doch schwer zu schlucken. Würde er das Problem ans Licht zerren und so alle Welt in Verlegenheit bringen?

Offensichtlich nicht. Mit feinstem Takt wandte Biterulve sich an Weiawale und sagte: „Nun, meine Schwester, wenn du dich von Thu-Kimnibol verabschiedet hast, dann komm jetzt mit mir zu unsrer Mutter. Sie möchte gern mit uns das Frühstück einnehmen.“

Weiawala stierte ihn nur dumpf an.

„Und danach“, sprach Biterulve weiter, „steigen wir alle auf die Mauerkrone und winken unserem Gevatter aus Dawinno zu, wenn er zu seiner Fahrt aufbricht. Also, komm! Komm schon!“ Er legte dem Mädchen den Arm um die Schulter. Er war kaum größer als sie und auch kaum kräftiger. Aber er zog sie mit sanfter Gewalt einfach mit sich. Einmal wandte Weiawala sich um und warf Thu-Kimnibol einen panikerfüllten waidwunden Blick über die Schulter zu. Dann war sie endlich aus dem Zimmer, und Thu-Kimnibol empfand überschwengliche Dankbarkeit. Wie klug doch dieser kleine Bursche war!

Aber würde Salaman ebenso verständnisvoll reagieren? So kooperativ?

Nun, da würde man eben später die Sache irgendwie wieder einrenken müssen. Irgendwie. Es dürfte ja nicht schwerfallen, dem König zu verdeutlichen, daß es nicht der rechte Zeitpunkt gewesen wäre, sich eine eheliche Gefährtin aus dem Königshaus der Stadt Yissous zu wählen, jedenfalls noch nicht. Das Weiawala plausibel zu machen, war zweifellos schwieriger. Aber sie war ja so jung. Sie würde vergessen und sich in jemand anders verlieben.

Und wenn ich jemals hier König sein sollte, dachte er, dann will ich diesen wahrhaft königlichen Prinzen Biterulve hoch erheben und ihn an meine Seite setzen. Und sollte mir kein Sohn geschenkt werden, so soll er nach mir König sein in Yissou. Wir werden uns in der Dynastie abwechseln — ein Salamanssohn nach dem Sohn Harruels.

Er mußte über seine törichten Ideen lachen. Er eilte da der Entwicklung arg viele Schritte voraus. Zu viele, wahrscheinlich.

Esperasagiot wartete bei den Reisewagen, draußen im Hof. Mißmutig betrachtete der Karawanenführer den schweren grauen Himmel. Vor Zorn stand ihm das hellgoldene Fell aufgeplustert vom Körper ab. Thu-Kimnibol bedachte er mit einem finsteren Blick. „Also, wenn es nach mir ginge, ich sag das ist kein anständiges Wetter, um aufzubrechen.“

„Ja, es könnte besser sein. Aber heute fahren wir nun eben von hier ab.“

Esperasagiot spuckte aus. „Die Leute hier sagen, diese Winterstürme dauern höchstens noch eine oder zwei Wochen.“

„Oder drei oder vier. Wer kann das schon wissen? Der Befehl des Häuptlings hat mich heimbeordert, Esperasagiot. Bist du von dieser trostlosen Stadt dermaßen hingerissen, daß du hier auf das Frühjahr warten möchtest?“

„Ich liebe meine Xlendis, Prinz!“

„Und? Werden sie in der Kälte nicht durchhalten?“

„Die Rasse hat im Langen Winter Schlimmeres überdauert. Aber es wird ihnen nicht bekommen, da draußen in der Kälte. Ich hab dir doch oft genug gesagt, das sind Tiere aus der Stadtzucht. Sie sind es warm gewöhnt.“

„Dann werden wir sie eben warmhalten. Laß dir von den Knechten König Salamans zusätzliche Decken geben. Und wir wollen dafür sorgen, daß sie nicht überanstrengt werden. Wir fahren ganz gemächlich, genau wie du es gern hast. Und wenn diese elende Jahreszeit sowieso fast vorbei ist, nun, dann stehen uns ja nur noch einige wenige kalte Tage bevor. Aber bis dahin sind wir schon ein gutes Stück weiter auf dem Weg nach Dawinno.“

Der Wagenmeister lächelte frostig. „Wie du befiehlst, Prinz.“

Er stapfte zu den Stallungen. Thu-Kimnibol erblickte Dumanka auf der anderen Seite des Hofes, wo er die Proviantlisten überprüfte. Er winkte Thu-Kimnibol fröhlich zu, ohne jedoch seine Arbeit zu unterbrechen.

Es war Mittag, als sämtliche Vorbereitungen endlich abgeschlossen waren und der Treck sich durch das Südtor in Bewegung setzte. Es schien eine helle Sonne, und der Wind blies fast gar nicht. Das Land vor der Mauer allerdings wirkte recht abweisend. Kahle laublose Bäume ragten überall wie abgestorben zum Himmel, und an den Nordhängen klebte eine Schicht eisigen Reifs. Am späten Nachmittag braßte der Ostwind auf und schnitt wie ein Krummschwert über die dürre Ebene. Das einzige Anzeichen von Leben kam von den Laternenbäumen direkt südlich der Stadt, denn selbst in diesem rauhen Wetter waren sie nicht von den winzigen Vögeln verlassen, die ihr Glühen bewirkten. Bei Anbruch der Nacht begannen sie ihren schwachen flimmernden Lichtschein zu verbreiten, was allerdings keinerlei besonders freudigen Jubelrufe bei den Reisenden bewirkte.

Thu-Kimnibol blickte zurück. Von der Brüstung der Stadtmauer schauten ihnen winzige Gestalten nach. Salaman? Und Biterulve? Weiawala? Er winkte ihnen zu. Und einige der Gestalten — nicht alle — winkten zurück.

Die Wagen zogen voran. Hinter ihnen verschwand Yissous Stadt. Langsam, behutsam machte sich die Gesandtschaft aus Dawinno auf den Heimweg nach Süden durch das winteröde Land.

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