3. Kapitel König Salaman empfängt Besuch

In der nebelkühlen Frühe eines Mittsommermorgens begab sich der König Salaman von Yissou zusammen mit seinem Sohn Biterulve, seinem Liebling unter seinen zahlreichen Söhnen, hinaus, um die gewaltige, immer noch nicht fertiggestellte Befestigungsmauer um seine Stadt zu inspizieren.

An jeglichem Tag, ohne Ausnahme, fuhr der Herrscher von seinem Palast im Herzen der Stadt aus, um den Fortschritt der Arbeiten zu besichtigen. Dann stand er am Fuß des Walls und starrte zu den Zinnen und Laibungen hoch droben hinauf und verglich ihr Wachstum mit dem brennenden Zwang, den er in seiner Seele verspürte. Dann erstieg er über eine der zahlreichen inneren Treppen den Bau und trieb sich auf dem obersten Umlauf herum. Die gewaltige schwarze Wehranlage, so hoch sie auch gewachsen sein mochte, war ihm für seinen inneren Zwang niemals ganz hoch genug. In Augenblicken fieberisch-beklommener Furcht stellte er sich vor, wie da plötzlich an der Mauerkrone die Sturmleitern der Hjjks auftauchten. Er malte sich Legionen wildwütiger Hjjks aus, die über die oberste Brustwehr und herab in die Stadt drangen.

Gewöhnlich fanden diese Inspektionsstreifzüge des Königs im Morgengrauen statt, und er war dabei stets allein. Und Bürger, die um diese Stunde bereits auf den Beinen waren, pflegten die Augen abzuwenden, um den König auf der Mauer nicht zu stören. Niemand — nicht einmal seine Söhne — hätte es gewagt, ihn anzusprechen.

Doch an diesem Morgen hatte Biterulve gebeten, ihn begleiten zu dürfen, und Salaman hatte ihm dies sofort gewährt. Es gab nichts, was Salaman Biterulve abschlagen konnte. Biterulve war vierzehn Jahre alt, der sechste von den acht Prinzen, die Salaman gezeugt hatte, Sinithistas einziges männliches Kind — und so zart und sanft war er und den anderen so unähnlich, daß Salaman einst Zweifel gehegt hatte, ob Biterulve aus seinem Samen entsprossen sei. Allerdings hatte er derartige Zweifel für sich behalten, und heute war er darüber froh. Biterulve war von schlankem, langknochigem Körperbau, wohingegen Solomon und die anderen Söhne untersetzt und vierschrötig waren; Solomon und der Rest seiner Brut waren dunkel, doch Biterulves Pelz besaß einen elfenhaft fahlen Glanz — wie ein Schneefeld im Mondenschimmer. Seine kühlen grauen Augen hingegen waren unzweideutig die des Königs; und den geschmeidigen Verstand, obschon weniger stark und wild als bei ihm selbst und den anderen Söhnen, erkannte der König als dem seinen verwandt.

Also ritten sie in der Stunde vor Sonnenaufgang vom Palast los. Aus dem Augenwinkel beobachtete Solomon den Jungen genau. Er machte sich gut auf seinem Xlendi, hielt das zappelige Tier am kurzen Zügel, während sie durch die engen krummen Gassen zogen, retirierte gekonnt, als ein früh aufgestandener Werktätiger mit einem Rollwagen unerwartet um eine scharfe Ecke kam.

Es war eine der großen heimlichen Befürchtungen Salamans, daß dieser sein sanfter Sohn vielle icht zu sanft sei. Es war überhaupt nichts Kriegerisches an ihm; was, wenn Biterulve nicht fähig sein würde, eine prinzlich angemessene Rolle zu spielen, wenn die Hjjks zu dem langerwarteten Zug ansetzten und das große Kataklysma hereinbrach. Salaman fürchtete nicht so sehr die Schmach, denn schließlich hatte er ja einen ganzen Stall von Söhnen, die sich zur Genüge als Helden erweisen würden. Nein, er wollte nicht, daß der Junge litt, wenn die furchtbaren Heerscharen der gottlosen Insekten zum Angriff ansetzten.

Vielleicht habe ich ihn falsch eingeschätzt, dachte er, als Biterulve sein klapperndes Xlendi kühn durch die stillen Straßen traben ließ.

Der König gab seinem Tier die Sporen und holte ihn ein, gerade als er aus dem engen Gewirr der inneren Straßen zu den breiteren äußeren Avenuen vorstieß, die zum Wall führten.

„Du sitzt sehr gut im Sattel“, rief der König. „Viel besser als letztesmal.“

Biterulve blickte grinsend über die Schulter zurück. „Ich bin fast jeden Tage mit Bruikkos und Ganthiav ausgeritten. Die haben mir ein paar Tricks beigebracht.“

Der König war beunruhigt. „Willst du damit sagen, außerhalb der Mauern?“

Der Junge kicherte keck: „Aber Vater, wir können doch schlecht in der Stadt reiten, oder?“

„Ja, allerdings“, sagte Salaman widerwillig. Und was kann es eigentlich schaden, dachte er, was kann ihm schon passieren, da draußen? Bruikkos und Ganthiav sind ja doch zweifellos vernünftig genug und werden sich nicht sehr weit in Gebiete vorwagen, wo gefährliche Hjjk-Banden herumstreunen könnten. Nein, wenn der Kleine mit seinen älteren Brüdern ausreiten will, dann werde ich dazu nichts sagen. Ich darf ihn nicht verhätscheln, wenn ich will, daß ein echter Königssohn aus ihm werde, ein echter Kämpfer.

Inzwischen hatten sie den Mauerwall erreicht. Sie sprangen von ihren Xlendis und banden sie an Pfosten. Am Himmel zogen die ersten grauen Morgenschimmer auf, und der Nebel begann sich aufzulösen.

Salaman fühlte in sich eine ganz uncharakteristische Leichtigkeit. In der Regel war sein Gemüt von düsterer Spannung bedrückt; doch an diesem Morgen fühlte er sich im Geiste frei und ungezwungen, und sein Körper war in einem Zustand ruhiger Gelassenheit. Die vergangene Nacht hatte er mit Vladirilka verbracht, seiner vierten und jüngsten Gemahlin. Ihr Duft hing ihm noch im Pelz, und ihre Wärme durchströmte noch immer beglückend sein Fleisch.

Er war gewiß, er hatte bei der Kopulation der verflossenen Nacht einen Sohn mit ihr gezeugt. Das weiß man immer, glaubte Salaman fest, wenn man einen Sohn macht; und dies war gewiß eine sohnesbringende Vereinigung gewesen.

An Töchtern hatte er dermaßen viele, daß es ihm Mühe bereitete, sich alle ihre Namen zu merken, und sein Bedarf an ihnen war wirklich gedeckt. Die Weiber hatten damals im Kokon die Herrschaft ausgeübt, und ein Weib regierte immer noch in Dawinno, soweit er wußte. Doch Yissou war von allem Anfang an eine Stadt und Stätte für Männer gewesen. Er, Salaman, hatte der alten Koshmar Respekt gezollt und stets gut von Taniane gedacht, doch hier, in seiner Stadt, würde es keine weiblichen Könige geben.

Söhne wollte er haben, zahlreiche, in solcher Menge, daß die Erbfolge gesichert war. Ein König, glaubte er, kann nie genug Söhne haben. Eine Dynastie, das ist wie der Bau einer Befestigungsmauer: Man muß über das unmittelbar Nächstliegende hinausblicken und sich auf die schlimmste Eventualität einstellen. Darum hatte Salaman bisher acht Söhne gezeugt, und in der letzten Nacht, wie er hoffte, einen neunten. War es nicht Chham, der ihm auf dem Thron nachfolgen würde, dann würde es eben Athimin sein; und wenn nicht Athimin, dann Pukor oder Ganthiav, Bruikkos oder einer der noch jüngeren Prinzen. Vielleicht würde gar der, den er in eben dieser Nacht in Vladirilkas Schoß gepflanzt hatte, der nächste König sein. Oder ein künftiger noch zu zeugender Knabe von einer anderen noch zu erwählenden Konkubine. Nur einer Sache war Salaman sich gewiß: Er würde die Herrschaft nicht Biterulve übertragen. Dieser Junge war zu empfindsam, zu vielschichtig in seinem Wesen. Er soll Berater des Königs sein, dachte Salaman. Und einer wie Chham oder Athimin soll die unangenehmen Entscheidungen treffen, welche die Herrschaft mit sich bringt.

Aber es blieb ja noch genügend Zeit, die Thronfolge zu regeln. Salaman war gerade in sein sechzigstes Jahr gekommen. Er wußte, manche hielten ihn für alt, doch er war da ganz anderer Meinung. Er sah sich noch in voller starker Mannesblüte. Und vermutlich, dachte er, wird mir meine weiche junge Vladirilka, die jetzt süß mit meiner Glut noch in ihrem Schoße schlummert, da recht geben.

Biterulve deutete auf den nächsten Aufgang zur Mauerkrone.

„Gehen wir rauf, Vater?“

„Gleich. Komm, tritt hier neben mich.“ Er nahm das Bauwerk gern zuerst aus der Tiefe in sich auf. Um es zu begutachten. Um seine Wucht in seine zagende Seele bestärkend eindringen zu lassen.

Er schaute also an der Mauer empor und an ihr entlang, soweit sein Blick reichte. Das hatte er schon Zehntausende Male getan, aber er wurde den Anblick niemals leid.

Die gewaltige Befestigungsmauer um Yissou war aus zyklopischen harten schwarzen Steinquadern errichtet, deren jeder eine halbe Mannslänge hoch, doppelt so lang und über eine Armeslänge tief war. Seit Dekaden schon arbeiteten Trupps von Steinmetzmeistern vom frühen Morgen bis in die Dämmerung, an jedem Tag dis Jahr über langsam und unermüdlich in einem Steinbruch in einer steilen Bergschlucht westlich der Stadt und schlugen die Blöcke maß- und kantengenau zu und glätteten sie. Klaglos schleppten die Zinnobärgespanne die schweren Blöcke über das wilde Hochplateau an den Rand des weiten flachen Kraters, in dessen Schutz die Stadt lag. Bei seinem Eintreffen am vorbestimmten Platz an der ständig wachsenden Mauer hievten Salamans geschickte Mauerbauer ihn mittels raffinierter hölzerner Maschinen in Halterungen aus festgedrehten Weidenruten in die Höhe und setzten ihn kühn an die rechte Stelle.

Der König wies mit dem Kinn zur Mauer. „An dieser Stelle ist vor fünf Jahren ein Quader herabgestürzt. Das war der einzige derartige Unfall, den es je gab.“

In seinem Herzen legte sich Bitterkeit, als er daran dachte, wie dies stets geschah, wenn er hier weilte. Drei Werktätige waren von dem stürzenden Stein zerschmettert worden, zwei weitere auf Salamans Befehl hingerichtet, weil sie ihn hatten fallenlassen. Seine eigenen Söhne Chham und Athimin hatten ihm Vorhaltungen wegen des grausamen Urteils gemacht. Aber der König war unerbittlich geblieben. Die Männer waren selbigen Tages weggebracht und im Namen Dawinnos-des-Zerstörenden geopfert worden.

„Ich erinnere mich daran“, sagte Biterulve. „Du hast die Männer, denen der Quader entglitt, töten lassen. Ich denke noch oft an die armen Kerle, Vater.“

Salaman warf ihm einen bestürzten Blick zu. „Wirklich, Junge?“

„Daß sie für einen Unfall mit dem Tod büßen mußten war — das deiner Überzeugung nach wirklich gerecht, Vater?“

Der König zügelte mühsam seinen Zorn. „Wie hätten wir eine derartige Ungeschicklichkeit dulden dürfen? Diese Mauer ist unsere gewaltigste völkische Unternehmung, sie ist heilig. Und Unachtsamkeit bei ihrem Bau ist eine Verhöhnung aller Götter.“

„Glaubst du das wirklich, Vater?“ Biterulve fragte es mit einem Lächeln. „Wenn wir in allen Stücken vollkommen wären, dann wären wir ja selber Götter. So sehe ich das jedenfalls.“

„Verschone mich mit deinen schlauen Gedankenspie lchen“, sagte Salaman und versetzte dem Jungen eine zärtlich-leichte Kopfnuß. „Drei gute Arbeiter mußten sterben, weil diese Maurer Idioten waren. Der Vorarbeiter Augenthirn starb. Die Mauer war sein Lebenswerk. Das schmerzte mich, auf ihn verzichten zu müssen. Und wer weiß, wieviel am Werk arbeitende Leute noch hätten sterben müssen, wenn ich solche Schlamper hätte weiterleben lassen? Der nächste Quader, der ihnen ausrutschte, hätte mir selber auf den Kopf fallen können. Oder dir.“

Tatsächlich hatte Salaman sich sofort gefragt, ob sein grausamer Urteilsspruch weise sei, kaum hatte er ihn gefällt. Das brauchte Biterulve jedoch nicht zu wissen. Das Todesurteil war ihm einfach in einem ersten Anfall von roter brüllender Wut über die Lippen gekommen, als er den herabgestürzten Block erblickt hatte, diesen schön behauenen und jetzt unwiederbringlich zertrümmerten Stein, und diese sechs blutüberströmten Beine, die so elend darunter hervorragten.

Doch einmal getroffene Entscheidungen darf man als König nicht widerrufen. Der König muß gnädig sein, aber gerecht, das wußte Salaman, aber zuweilen passiert es auch einem König, daß er gedankenlos und unbedacht grausam ist, denn dies liegt zuweilen im Wesen des Herrschertums. Und wenn der König schon grausam ist, muß er bemüht sein, niemand merken zu lassen, daß er eventuell an seiner eigenen grausamen Entscheidung zweifelt, oder das Volk könnte ihn für jenen übelsten Typ von Tyrannen halten, den es gibt: den sprunghaftlaunischen. Die bloße eklatante Ungerechtigkeit seines vorschnell gesprochenen Todesurteils machte es ihm unmöglich, es zu widerrufen. Und darum mußte Blut vergossen werden zur Sühne für das beim Bau der Großen Schwarzen Mauer Salamans vergossene Blut. Wenn das Volk darüber murrte, so doch nur höchst insgeheim.

„Komm, Junge, laß uns hinaufsteigen.“

In gleichmäßigem Abstand stiegen am inneren Perimeter des Walls achtzehn wohlgestalte Treppen zu dem schmalen aus Ziegeln gefügten Umlauf an der Mauerkrone empor. Als Salaman die ersten dieser Aufgänge errichten ließ, hatten einige seiner Berater und Söhne sie für absurd, ja sogar zweckwidrig gehalten. „Vater, das hätten wir nie bauen dürfen“, erklärte Chham mit jenem affektiertem Ernst, den er sich als Ältester Prinz schuldig zu sein glaubte. „Das macht es den Hjjks doch nur um so leichter, in die Stadt herabzusteigen, wenn sie einmal von außen die Mauern erklommen haben.“

Und Athimin, Chhams Vollbruder und der einzige andere Sohn von Salamans erster Gefährtin, Weiawale, respondierte volltönend: „Wir sollten sie abreißen. Sie machen mir Angst, Vater. Chham hat recht. Sie machen uns zu verletzlich.“

„Die Hjjks werden diesen Wall niemals übersteigen“, hatte Salaman sie zurechtgewiesen. „Doch wir brauchen diese Treppen selbst, damit wir blitzschnell Truppen zur Verteidigung hinaufbewegen können, falls jemals jemand versuchen sollte, sie zu übersteigen.“

Darauf hatten die Prinzen den Punkt fallengelassen. Sie wußten aus Erfahrung, daß es zu nichts führte, wenn man mit dem Vater über irgend etwas zu argumentieren versuchte. Er hatte die Stadt mit sicherer und geschickter Hand regiert, soweit sie sich zurückerinnern konnten; doch in jüngster Zeit und mit zunehmendem Alter war er mehr und mehr leicht erzürnbar geworden und starrsinniger in seinem Herzen. Jedermann — sogar Salaman selbst — begriff, daß ‚die Mauer‘ kein Gegenstand für eine vernünftige Diskussion sein konnte. Wo es um seine Große Mauer ging, war der König Vernunftgründen nicht zugänglich. Ihn interessierte nur eines: Er wollte sie so hoch auftürmen, daß die Gefahr, sie könnte jemals erstürmt werden, gänzlich irrelevant sein würde.

Bei seinen Inspektionen im Morgengrauen wählte er sich jedesmal einen anderen Treppenaufgang, stieg jedoch unweigerlich über die zweite Treppe links von der seines Aufstiegs wieder nach unten, so daß er sechs Tage brauchte, um den vollen Kreis des Bollwerkes abzugehen. Von diesem Ritual wich er niemals ab, weder im Winter noch im Sommer, nicht bei Regen oder Gluthitze. Ihm war, als hinge die Sicherheit der Stadt davon ab.

Biterulve schoß die Treppe hinauf. Salaman folgte ihm in etwas gemessenerem Tempo. Oben angelangt, stampfte er kräftig auf die festgefügten Ziegel des Umlaufs, der über den mächtigen schwarzen Steinquadern lag wie eine widerstandsfähige Hautschicht über mächtigen Muskelbergen.

Salaman lachte. „Spürst du, wie fest das unter deinen Füßen ist, Junge? Da hast du mal einen Wall! Das ist eine Mauer, auf die man stolz sein kann!“

Er legte dem Jungen den Arm um die Schultern und starrte in die dunstige Ferne des Landes um den Stadtbereich.

Die Stadt Yissou lag in einem lieblichen fruchtbaren Talstrich. Im Norden und Osten begrenzten dichte Wälder und Berge die Gegend, südlich erhoben sich sanftere Hügel, und gen Westen erstreckte sich rauhes wildes Land bis ans ferne Meer.

Der gewaltige Krater, der die Stadt enthielt, lag tief in dem von dichtem roten und grünen Gras bewachsenen Gebirgsschatten. Der Krater war kreisrund und von einem hohen, scharfgezeichneten Rand umgeben. König Salaman glaubte, obschon er dafür nie einen Beweis hatte finden können, daß er durch die Wucht des Aufschlags eines Todessterns entstanden sei, der in den frühen Tagen der Finsternis des Langen Winters gegen die Erdwölbung gestürzt war.

Aber so hoch dieser Kraterrand auch war, er bot wenig Schutz gegen Eindringlinge. Deshalb bauten sie nun schon seit fünfunddreißig Jahren unablässig an der Großen Yissou-Mauer.

Salaman hatte den Bau im sechsten Jahr der Stadtgründung begonnen, dem dritten Jahr seiner Regierung nach dem Tode des unruhigen seelenumdüsterten Harruel, des ersten Königs von Yissou. Während seiner langen Regierungszeit hatte Salaman erleben dürfen, daß die Mauer fast überall bis zur Höhe von fünfzehn Schrittlängen emporgewachsen war und auf dem Kraterrand einen gewaltigen Befestigungsring um die ganze Stadt bildete.

In den frühesten Tagen hatte eine einfache Palisadenbarriere dort gestanden und der Stadt einen wenig wirksamen Schutz geboten. Aber Salaman, damals noch ein Jungkrieger — doch schon ehrgeizig davon träumend, wie er Harruel als König nachfolgen werde —, hatte gelobt, den Zaun eines Tages durch einen unüberwindlichen Wall aus Stein zu ersetzen. Und dieses Gelöbnis hatte er gehalten.

Ja, wenn der Wall nur hoch genug gewesen wäre! Aber wie hoch ist ‚hoch genug‘?

Während seiner Herrschaft hatte es bislang keinen Angriff seitens der Hjjks gegeben — entgegen allen seinen Befürchtungen. Sie streiften durch das weitere Umland, gewiß. Zuweilen näherte sich auch ein kleiner Trupp von zehn oder zwanzig Mann, die aus irgendwelchen unerfindlichen Hjjk-Gründen von dem Vorposten Vengiboneeza ausschwärmten, der Stadt. Doch wagten sie sich nie näher als auf Sichtweite heran — waren nichts weiter als gelb-schwarze Punkte, scheinbar nicht größer als Ameisen, ihre entfernten Verwandten. Dann drehten sie stets wieder nordwärts ab, nachdem sie anscheinend den Drang gestillt hatten — oder was immer sie zu dem Vorstoß veranlaßt hatte. Hjjks sind auf ewig undurchschaubar, dachte Salaman.

Und so herrschte Jahr um Jahr weiterhin der von den Hjjks so genannte ‚Königinfrieden‘. Doch das konnte sehr leicht nichts weiter als eine Falle sein, eine Lüge oder eine Wahnvorstellung, ein momentaner Zufall. Die Hjjks konnten damit nach Belieben jederzeit Schluß machen. Jederzeit konnte der Krieg ausbrechen. Und früher oder später würde der Krieg ausbrechen.

Wie also hätte Salaman sich in Sicherheit wiegen dürfen, daß ein Schutzwall von fünfzehn Lagen Höhe ausreichend hoch sei? Im Geiste sah er die feindlichen Hjjks immer längere und längere Sturmleitern bauen und über seine Mauer eindringen, so hoch er sie auch auftürmen mochte, selbst wenn er seinen Wall bis durch die Himmelsdecke hinaufbaute.

„Ich glaube, wir machen sie noch ein bißchen höher“, sagte Salaman dann oft, indem er mit beiden Händen durch die Luft fuhr. „Drei Lagen mehr, vielleicht auch vier.“

Und die Baumeister und Maurer seufzten. Denn je mehr Salamans Bollwerk in die Höhe wuchs, desto öfter mußten sämtliche Brustwehren und Zinnen und Umgänge und Ausluge und Wachtürme, die bereits an den höchsten Stellen errichtet waren, abgerissen werden, um den neuen Lagen von Steinquadern Platz zu machen; und hinterher mußten sie dann wieder neu erbaut werden, und dann wurden sie wieder abgerissen, wenn Salamans unstillbare Gelüste ihn veranlaßten, wieder eine oder zwei Lagen mehr zu fordern. Und so ging es eben immer weiter.

Doch man war daran gewöhnt. Diese Mauer war eine Zwangsvorstellung bei Salaman, und sie war zugleich sein liebstes Spielzeug und das Denkmal, das er sich setzen wollte. Sie würde höher und immer höher wachsen, so lange er König war. Das wußte ein jeglicher in der Stadt. Und es hätte große Ratlosigkeit geherrscht, hätte Salaman eines Nachmittags erklärt: „So, Leute, jetzt ist die Mauer fertig. Wir sind gegen jeden nur erdenklichen Feind geschützt. Also geht schön brav nach Hause, ihr alle, und morgen sucht ihr euch einen neuen Job.“

Daß dies geschehen würde, war kaum zu befürchten. Die Mauer würde nie hoch genug sein.

Der König stampfte erneut mit dem Fuß auf. Er stellte sich vor, sein Wall schicke lange feste Wurzeln aus und verhafte sich damit tief im Innern der Erde. Er lachte. Zu Biterulve sprach er: „Junge, begreifst du, was ich hier geschaffen habe? Ich habe eine Mauer gebaut, die zehnmal hunderttausend Jahre lang stehen wird — ach was, tausendmal hunderttausend. Die Welt wird alt werden und greis, und sie wird einmal eine Größe erreichen, neben der die Große Welt wie ein klägliches Nichts erscheinen wird, und dann werden die Menschen diese Mauer sehen und sagen: ‚Dies ist die Mauer König Salamans, der in Yissou herrschte, als die Welt noch jung war.‘ “

Ein schlaues Lächeln breitete sich auf Biterulves Gesicht aus, als er sagte: „Ach, ist die Welt jetzt jung, Vater? Ich hab immer geglaubt, sie ist sehr alt, und wir leben in den letzten Tagen.“

„Das tun wir. Aber für die nach uns wird unsere Epoche wie eine Frühzeit erscheinen.“

„Aber wie alt ist dann die Welt, was glaubst du?“

Der König lächelte in sich hinein. Der Kleine erinnerte ihn an Hresh manchmal. An den jungen Hresh, der immer voller Fragen war. Achselzuckend sagte er: „Die Welt ist mindestens zwei Millionen Jahre alt, vielleicht auch drei.“

„Ach, meinst du wirklich? Aber wenn seit dem Untergang der Großen Welt siebenmal hunderttausend Jahre vergangen sind und wenn es vor der Großen Welt eine Zeit gab, in der die Menschlichen alles beherrschten. und es muß ja davor noch eine Zeit gegeben haben, in der sogar die Menschlichen nicht weiter als normale Leute waren. wie kann das alles in bloßen drei Millionen Jahren geschehen sein?“

„Na, vielleicht waren es ja auch vier“, antwortete Salaman. Es ergötzte ihn köstlich, wenn man ihn so neckte. allerdings nur, wenn Biterulve es tat. „Na, vielleicht auch fünf. Die Welt erneuert sich unablässig, mein Junge. Zuerst ist sie jung, dann wird sie allmählich alt und dann wieder jung. Und wenn sie dann das nächstemal wieder altgeworden ist, blicken die Leute zurück und nennen die frühe Zeit, an die kaum noch Erinnerung besteht, die aber direkt vor ihrer eigenen Zeit kam, die Zeit, in der die Welt jung war, ohne daran zu denken, daß es vorher die alte Zeit war. Kannst du mir folgen, Sohn?“

„Ich glaub schon.“ Die Stimme klang immer noch spöttisch. Salaman versetzte Biterulve wieder einen zärtlichen Knuff.

Sie gingen in südlicher Richtung weiter zu dem Kuppelpavillon aus schimmerndem glatten Graustein, der sich über dem südlichsten der achtzehn inneren Treppenaufgänge auf der Mauer erhob. Der Himmel wurde langsam immer heller.

Dieser Pavillon stand ausschließlich Salaman zu seiner persönlichen Nutzung zur Verfügung. Er hielt sich dort oft lange auf. Stundenlang zuweilen, während seiner morgendlichen Meditationen, aber auch zu anderen Zeiten.

Hier — und nur hier — wich die Mauerkonstruktion von der alten Kraterbegrenzung ab. Hier stieß die Bastion ein Stück südwärts vor und zog sich über eine Erderhebung so hoch hinauf, daß man von hier aus das ferne Meer im Westen, die östlichen Wälder und die Berge im Süden sehen konnte.

In den frühen Tagen, als Harruel noch König war und sogar der hölzerne Palisadenwall noch unfertig, und die Stadt bestand aus nichts weiter als sieben schiefen, von Lianen zusammengehaltenen Bruchbuden aus Holz, war Salaman häufig (meist allein, gelegentlich mit seinem Partner, der Weiawala) zu diesem erhöhten Aussichtspunkt gegangen. Dort saß er dann und träumte von den Tagen des Ruhmes, die für ihn anbrechen würden. Dabei hatte er immer wieder dieselbe Vision: Yissou, seine zu Glanz und Größe gewachsene Stadt, prächtiger und größer noch als das alte Vengiboneeza der saphiräugigen Rasse. eine mächtige Stadtmetropole eines gewaltigen Reichs, das sich bis an die Horizonte — und über sie hinaus — erstreckte, und darüber herrschten nicht die Abkömmlinge des Grobschlackses Harruel, sondern seine, Salamans Söhne und Enkelsöhne.

Und teilweise war es denn auch so gekommen. Bisher. Nicht in allen Stücken.

Die Stadt war über ihre anfänglichen Grenzen hinausgewachsen.

wenn auch nicht gerade bis an die Horizonte. Und da die Hjjks nun fest in Vengiboneeza saßen und seine imperialen Expansionsträume im Norden und Osten gekappt hatten, das Meer eine weitere unüberwindliche Barriere im Westen darstellte, blieb ihm nichts weiter als der Süden. Dort waren in jüngeren Tagen nach und nach kleinere bäuerliche Siedlungen entstanden, von denen jedoch nur die in allernächster Nähe Salamans Oberherrschaft anerkannten. Die übrigen bewahrten sich einen vagen Unabhängigkeitsstatus oder betrachteten sich, sofern sie sehr weit südlich saßen, als tributpflichtige Vasallen von Tanianes Dawinno.

Salamans argwöhnische Furcht war, daß seine eigene Stadt nicht einmal halb so groß und bedeutend sein könnte wie Dawinno-City, die Hresh und Taniane im tiefen Süden erbaut hatten. Aber noch blieb ihm Zeit, um sein Imperium zu errichten. Dennoch stand er immer wieder in dem Pavillon, den er sich an der Stelle erbauen ließ, an der er vor langer Zeit seinen Träumen nachgehangen hatte, und schaute über das Land hin und malte sich im Geiste die Größe des Reiches aus, das hier einst bestehen würde.

Biterulve sagte plötzlich, als sie schon fast am Pavillon angelangt waren: „Ich spüre etwas Fremdes, Vater.“

„Was Fremdes? Was meinst du damit?“

„Es kommt von Süden. Nähert sich uns jetzt. Es ist was Starkes, eine Kraft. Ich hab es die ganze Nacht lang schon gespürt und den ganzen Morgen über. Und jetzt ist es noch stärker.“

Salaman lachte. „Ich selbst habe hier einmal ein höchst seltsames Gefühl gehabt, weißt du, Junge? Es war Nachmittag, klarer Sonnenschein, und ich war hier mit Weiawala. Vor langer Zeit, und ich war nur ein paar Jahre älter als du jetzt. Und ich spürte den trommelnden Puls einer auf uns zumarschierenden Armee. Es war eine heranbrausende Streitmacht der Hjjks, eine gewaltige Schar, und sie trieben ganze Herden ihrer zottigen mottenzerfressenen Zinnobären vor sich her und stürzten wie eine Flut aus dem Norden über uns herein. Spürst du das, mein Junge? Ein Heer der Hjjks?“

„Nein, Vater. Es ist ganz anders. Keine Hjjks.“

Aber Salaman hatte sich inzwischen in den Wirrgängen seiner Jugenderinnerungen verirrt. „Es war eine gewaltige Völkerwanderung, die auf uns zukam. Es klang wie der Donner, dieses Dröhnen von tausendmal tausend Hufen. Und dann kamen sie. Aber wir haben sie besiegt! Wir haben sie vertrieben. Aber du kennst doch unsere Geschichte, Junge?“

„Wer kennte sie nicht? Das war der Tag, an dem Harruel starb und du zum König wurdest.“

„Ja. Genau. Das war der Tag.“ Einen Augenblick lang gedachte Salaman Harruels, des meisterlichen Helden im Kampf, der dennoch zu dumpf und primitiv und zu gewalttätig und melancholisch gewesen war, als daß er ein erfolgreicher König hätte werden können, wie er tapfer und heldenmütig an jenem Tag in der Schlacht gegen die Hjjks seinen hundert Wunden erlegen war. Es war so lange her! Damals, als die Welt noch jung war! Wieder legte er den Arm um seinen Sohn. „Biterulve, komm! Komm mit mir in meinen Pavillon!“

„Aber — ich hab gedacht, du erlaubst keinem.“

„Komm!“ wiederholte Salaman mit etwas barscherem Ton. „Ich bitte dich, an meiner Seite zu bleiben. Willst du es mir abschlagen, wenn ich dich so auffordere? Komm, tritt an meine Seite, und dann werden wir herausfinden, was für ein fremdartiges Gefühl es ist, das du angeblich spürst.“

Rasch Umschriften sie die Mauerkrümmung und traten dann in den kleinen Aussichtspavillon. Dort stellten sie sich Seite an Seite an dem langen Aussichtsfenster auf und stützten sich nebeneinander mit den Händen auf den gekerbten Sims. Wie ungewohnt seltsam, dachte Salaman, daß da plötzlich einer hier neben mir ist. Ich kann mich nicht erinnern, daß ich sowas jemals gemacht hätte. Aber es war ja Biterulve, und für ihn war er zu jedem Regelbruch bereit. Für Biterulve, aber nur für ihn!

Er spähte nach Süden und ließ seine Seele aufsteigen und umherstreifen, doch er fühlte nichts Außergewöhnliches.

Dann schweiften seine Gedanken ab, zurück zu der vergangenen Nacht. Er dachte an Vladirilka, die jetzt in seinem Palast schlummerte, und sein jüngster Sohn — er war ganz sicher, daß es ein männliches Kind sein würde — begann bereits in ihrem Leib zu wachsen. Erst sechzehn war sie, und ihr Fleisch so weich, und ihr Geist so lebhaft. Wie liebreizend sie war, wie bezaubernd zärtlich! Allerdings, sie wird auch nicht die letzte Gefährtin sein, die ich mir erwähle, dachte Salaman. Das Königtum lädt uns beträchtliche Bürden auf. Also ist es nur gerecht, daß es dafür auch großen Lohn gibt. Nirgendwo stand es festgeschrieben, daß die Götter bestimmten, ein König dürfe nur eine Bettgenossin haben. Und darum.

Deine Gedanken schweifen umher wie die eines alten Narren, sagte er zu sich. Er war ziemlich ärgerlich auf sich selbst.

Und zu Biterulve sagte er: „Also? Spürst du es hier?“

Der Junge stand gespannt nach vorn gebeugt, seine Nüstern zuckten, der Kopf war hochgereckt: er wirkte wie ein bebendes Vollblut, das gegen die Fessel ankämpft.

„Es ist sogar noch stärker, Vater. Im Süden. Spürst du es denn nicht?“

„Nein. Nein, ich spüre nichts.“ Salaman konzentrierte sich stärker. Er griff weit hinaus, sondierte das Land bis weit von der Mauer entfernt.

„Nein, nichts. — doch, wart mal!“

Was war denn das?

Etwas hatte den Saum seiner Seele gestreift. Etwas unerwartet Mächtiges. Salaman packte fest die Fensterbrüstung und beugte sich weit hinaus. Er starrte gespannt in den Dunst, der noch über dem Flachland im Süden lag.

Dann richtete er sein Sensor-Organ auf und ließ sein Zweites Wahrnehmungsvermögen hinausschweifen.

Bewegung, weit entfernt. Nur ein verschwommener grauer Fleck, eine kleine Wolke dicht über dem Boden, eine Trübung über dem Horizont nahe der Stelle, an der das Tal zu den Südbergen aufzusteigen begann. Allmählich wurde der Fleck größer, doch er konnte noch immer keine Einzelheiten ausmachen.

„Spürst du es, Vater?“

„Ja, jetzt fühl ich es.“

Hjjks? Unwahrscheinlich. Selbst über diese Distanz war Salaman sich da sicher, denn er konnte keinen Hauch ihrer dürren, trostlosen Seelen erspüren.

„Ich sehe Wagen, Vater!“ rief Biterulve aufgeregt.

Salaman, mit gezwungenem Lachen: „Ach ja! Der Scharfblick der Jugend!“

Dann sah er es auch, und vor die Wagen gespannt waren langbeinige ungeschlacht daherzockelnde weichbeinige Xlendis. Hjjks benutzten niemals Xlendi-Gespanne. Sie reisten zu Fuß, und wenn sie schwere Lasten transportieren mußten, verwendeten sie dafür Zinnobären. Nein, die sich da nahten, mußten zum VOLK gehören. Kauffahrer aus dem Süden, aus Dawinno, das mußten sie sein. Oder?

Aber es war um diese Jahreszeit keine Karawane aus Dawinno angesagt. Der Frühsommer-Treck war bereits durchgezogen; die Herbstkarawane sollte erst in knapp zwei Monden kommen.

„Wer sind sie, kannst du was erkennen?“ fragte Biterulve aufgeregt.

„Aus Dawinno“, sagte Salaman. „Siehst du die rotgoldenen Wimpel an den Zeltstangen? Einer, zwei, drei, vier, fünf Planwagen kommen die Südstraße herauf. Wahrlich seltsam und ungewöhnlich — mein Junge, du sagtest es!“ Aber sind es wirklich Händler, fragte er sich. Wozu sollten außer der Zeit Händler anreisen, wo es für sie keine Güter gab, die sie hätten einkaufen können?

Oder hatten die Dawinnaner plötzlich Eroberungsgelüste entwickelt? Unwahrscheinlich. Krieg paßte nicht zu Taniane und schon gar nicht zu Hresh, und in jedem Fall sahen diese absurden Xlendi-Wagen nicht aus wie Militärfahrzeuge.

„Bei der Karawane befindet sich jemand, der sehr stark ist“, sagte Biterulve. „Es war sein Geist, den ich die ganze Nacht über näher kommen gespürt habe.“

„Es muß eine Gesandtschaft sein“, murmelte Salaman.

Irgendwo gibt es Ärger, dachte er, und sie kommen _ her und wollen mich da mit hineinziehen. Oder wenn es noch keinen Ärger gibt, dann läßt er bestimmt nicht mehr lang auf sich warten.

Er gab Biterulve ein Zeichen, und sie stiegen vom Wall hinab. Dann ritten sie rasch in den Palast zurück. Es war noch immer sehr früh am Morgen. Der König ging und weckte seine anderen Söhne.


Das Ringen um die Bestallung als Gesandter Dawinnos am Hof König Salamans war in vielem der geifernden Hektik nicht unähnlich gewesen, die ausbricht, wenn man ein Stück zartes Fleisch in einen Käfig voller hungriger Stanimander oder Gaboole wirft. Der Botschafter würde viele Monde fort sein; ihm stand ausreichend Zeit zur Verfügung, ein festes Bündnis mit dem mächtigen Salaman zu schmieden; er würde eine höchst bedeutende politische Figur in der Allianz der beiden Städte sein, wie immer die letztlich aussehen mochte. Und so umtänzelten die bedeutenden Männer des Stadtstaates einander in wildem Gerangel um den saftigen Bissen: Puit Kjai, Chomrik Hamadel, Husathirn Mueri, Si-Belimnion und noch ein paar andere.

Am Ende wählte Taniane dann aber Thu-Kimnibol für die Gesandtschaft in den Norden.

Sie traf diese Wahl nicht ohne beträchtliche Bedenken und mit einigem Zögern, denn Thu-Kimnibol und Salaman hatten einst einen Legende gewordenen Streit ausgefochten, vor langer Zeit, als Thu-Kimnibol noch in der von seinem Vater Harruel gegründeten Stadt lebte und über die jetzt Salaman herrschte. Es war allseits bekannt. Es hatte zornige Worte gegeben, wechselseitige Drohungen sogar, und am Ende war Thu-Kimnibol geflohen und hatte in Hreshs neugegründeter Stadt im Süden Asyl gefunden. Viele — unter ihnen besonders Husathirn Mueri und Puit Kjai — hielten es für abwegig und unweise, Thu-Kimnibol in diplomatischer Mission zu seinem alten Feind zu entsenden.

Doch Thu-Kimnibol vertrat seine Sache mit großer Beredsamkeit und argumentierte, daß er den Charakter des Königs von Yissou besser verstehe als irgendwer sonst, und daß er darum die einzige vernünftige Wahl für diese Aufgabe sei. Und was den Streit angehe, den er mit Salaman gehabt habe, sagte er, so sei das eine uralte Geschichte, eine unbedeutende Episode aus seiner hitzköpfigen Jugend, ausgelöst von törichtem Stolz, längst von ihm überwunden und abgetan — und gewißlich für Salaman nach so vielen Jahren ebenfalls bedeutungslos geworden. Zudem, gab Thu-Kimnibol mit großem Nachdruck zu verstehen, verlange es ihn danach, seiner Stadt nunmehr in einer neuen, einer möglichst aufreibenden gehobenen Funktion zu dienen, damit ihm die kummervolle Trauerarbeit nach dem Verlust seiner Gefährtin leichter falle. Wenn er alle seine Energie auf diese Mission bei Salaman lenken könne, werde ihn dies von seinem Schmerz ablenken.

Letztlich war es dann Hresh, der bei der Entscheidung für seinen Halbbruder den Ausschlag gab. „Er ist der richtige Mann dafür“, erklärte er Taniane. „Er ist der einzige, der Salaman als Gleichgewichtiger gegenübertreten kann. Die anderen, die sich um die Aufgabe bewerben, sind kleine Lichter und engstirnig. Und das kann keiner von Thu-Kimnibol behaupten. Im Gegenteil, mir will scheinen, daß er seit Naarintas Tod sogar gewachsen ist. Es ist jetzt etwas an ihm, das ich vordem nie bemerkt hatte — er wächst innerlich zur Größe heran, Taniane. Ich kann es spüren. Ihn sollten wir senden.“

„Ja, vielleicht“, sagte Taniane.

Vor Antritt seiner Reise unterzog sich Thu-Kimnibol einem Gebetsund Fastenritual und ausgedehnten Konsultationen mit Boldirinthe; denn er war auf seine Weise ein frommer Mann und getreuer Diener der Himmlischen Fünffaltigkeit. Es gab Leute, die ihn für einen Einfaltspinsel hielten, weil er in diesen modernen Zeiten an seinem Glauben festhielt. Doch was solche Leute sagten, beeinflußte ihn in keiner Weise.

„Selbstverständlich werde ich Yissou für dich einspannen“, sagte Boldirinthe schnaufend und keuchend, während sie in ihrem Schrein nach den Talismanen und Amuletten kramte. Boldirinthe, die Weise Frau, die Heilhexe und Zauberpriesterin des VOLKS, war schon sehr, sehr alt, ja, sie war sogar noch eine im Kokon Geborene und hatte als Letzte seit den Tagen des Auszugs überlebt. In den jüngsten Jahren hatte die vierschrötige kräftige Frau gewaltige Fettmassen angesetzt und sah nun aus wie ein Faß. „Yissou — zu deinem Schutz“, sagte sie. „Und Dawinno — damit du gegen alle Feinde obsiegst, die sich dir in den Weg stellen.“

„Aber bitte auch Friit, um mich zu heilen, falls die Feinde schneller waren“, sagte Thu-Kimnibol grinsend.

„Ja, gewiß doch, Friit, gewiß.“ Lachend setzte sie die Steinfigurinen auf den Tisch. „Und dann die Göttin Mueri, damit sie dich tröste, wenn dich in den Nordlanden das Heimweh überkommt. Und Emakkis, um deine Diät zu garantieren. Wir werden alle Großen Fünf für dich um ihre Huld anflehen, Thu-Kimnibol. Das ist immer das Gescheiteste.“ Ihre Äuglein blitzten. „Sollte ich vielleicht auch Nakhaba für dich anrufen?“

„Boldirinthe, bin ich ein Beng?“

„Aber ihr Gott hat große Macht. Und wir behandeln ihn wie einen von den unsrigen. heutzutage, seit wir ein Stamm geworden sind.“

„Ich werde meine Reise ohne Nakhabas Beistand machen“, sagte Thu-Kimnibol unerschüttert.

„Wie du es wünschst. Wie du es wünschst.“

Und Boldirinthe entzündete ihre Kerzen und streute Weihrauch. Die Hände zitterten dabei ein wenig. Das Alter machte ihr in letzter Zeit mehr und mehr zu schaffen. Thu-Kimnibol überlegte, ob sie vielleicht krank war. So eine nette alte Frau, dachte er. Vielleicht ein paar boshafte Zahnstummelchen da und dort, aber keine echte Bösartigkeit, nichts wirklich Übles. Jedermann liebte sie. Er selbst war nicht alt genug, sich noch deutlich an Torlyri zu erinnern, die vor Boldirinthe die Opferfrau gewesen war. Aber jene, die sich erinnern konnten, sagten, Boldirinthe sei eine gute Nachfolgerin und so herzlich und freundlich wie Torlyri zu ihrer Zeit. Und das war ein gewaltiges Lob, denn selbst heute noch, nach so vielen Jahren, sprachen die älteren Leute noch mit großer Liebe von Torlyri. Sie war die Opferfrau des VOLKS in den Tagen Koshmars gewesen, zunächst im Kokon, dann nach dem Auszug, in Vengiboneeza. Aber dann hatte das VOLK Vengiboneeza wieder verlassen und war zur zweiten Wanderung aufgebrochen, und Torlyri war zurückgeblieben, denn sie war in Liebe entbrannt zu dem Beng-Krieger Trei Husathirn, und den hatte sie nicht verlassen wollen. Und damals war Boldirinthe als Opferfrau an Torlyris Stelle getreten.

Ziemlich schwer zu verstehen, dachte Thu-Kimnibol, wie ein so allseits geliebtes Weib wie Torlyri einen Sohn wie Husathirn Mueri gebären konnte, diese giftige, wendegeschickte Schlange. Nun, womöglich war es das Beng-Erbe, das Husathirn Mueri zu dem gemacht hatte, was er war.

Boldirinthe fragte: „Wie lang, glaubst du, wird deine Fahrt dauern?“

„Bis ich dort bin. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.“

„Ich erinnere mich an Yissou. Damals bestand die Stadt aus sieben erbärmlichen hölzernen Schuppen, und die waren zudem noch recht unbeholfen zusammengenagelt, sogar der, den sie als Königlichen Palast bezeichneten.“

„Die Stadt ist inzwischen etwas größer geworden“, sagte Thu-Kimnibol.

„Ja ja, das wird schon so sein. Aber ich erinnere mich eben daran, wie es damals war — beinahe nicht vorhanden. Weißt du, ich war nämlich einmal dort. Auf dem Marsch von Vengiboneeza hierher sind wir dort vorbeigekommen. Und dich, dich hab ich dort auch gesehen, damals. Du warst noch ein ganz kleiner Junge. Na, also nicht ganz so klein, wenn ich bei der Wahrheit bleiben muß. Du warst schon damals überentwickelt für dein Alter und sehr kampfeslustig. Du hast in einer gewaltigen Schlacht, die damals in Yissou stattfand, sogar schon Hjjks getötet.“

„Ja, habe ich“, sagte Thu-Kimnibol nachsichtig. „Ich erinnere mich auch noch daran. Sollte ich mich jetzt nicht neben dich knien, Mutter Boldirinthe?“

Sie warf ihm einen schlauen Blick zu. „Wieso schickt Taniane dich als Gesandten?“

„Wieso sollte sie nicht?“

„Es ist irgendwie seltsam. Wie ich gehört habe, gibt es zwischen dir und König Salaman böses Blut. Oder ist es nicht wahr, daß du sein Rivale warst, als es um den Thron von Yissou ging? Und jetzt wirst du als Botschafter zu ihm zurückkommen, aber ich frage mich, ob er dir vertrauen wird. Muß er nicht glauben, daß du ihn immer noch verdrängen willst?“

„Die ganze Sache war vor so langer Zeit“, sagte Thu-Kimnibol. „Ich habe wirklich keine Absichten auf seinen Thron. Und das weiß er. Außerdem, ich könnte ihm den Thron gar nicht nehmen, selbst wenn ich wollte. Nein, Taniane entsendet mich, weil ich Salaman besser kenne als sonst einer, ausgenommen vielleicht Hresh und Taniane selbst, und die können ja kaum selbst hinfahren. Also, erbete mir eine sichere Reise, Mutter-Boldirinthe, und laß uns gemeinsam für meine Gefährtin Naarinta beten, deren Seele sich ebenfalls auf einer Reise befindet. Und dann laß mich ziehen.“

„Ja. ja.“

Sie stimmte die Yissou-Anrufungen an. Doch gleich brach sie wieder ab und zog sich in ein anhaltendes Schweigen zurück, so daß er schon dachte, sie sei vielleicht eingeschlafen. Dann kicherte sie.

„Ich hab mal mit Salaman kopuliert. Das war noch im Kokon. Er war viel jünger als ich, vier, fünf Jahre jünger, ein Kerlchen, so zehn, elf. Aber schon damals stramm und prall vor Lust. Und er kam zu mir. Ganz ruhig und leise war er damals. Ein kleiner dunkler Knabe, sehr breit in den Schultern. und so stark, daß du es nicht für möglich halten wirst. Und er kam zu mir und faßte nach meinen Brüsten.“

„Mutter Boldirinthe, könntest du bitte.“

„Und dann haben wir es eben gemacht, Salaman und ich. Mitten auf dem Fußboden in der Gewächskammer. Da haben wir uns unter den Samtbeerenreben herum und herum und herum gewälzt. Er sagte kein einziges Wort. Vorher nicht und nicht dabei. Danach auch nicht. Er sprach überhaupt nicht viel damals. Und es war das einzige Mal, daß wir zusammen waren, das einzige Mal überhaupt, daß ich irgendwie mit ihm zu tun hatte. Danach gab es nur noch Weiawala für ihn. Na ja, und ich war ja sowieso dann mit Staip zusammen. Wenn ich gewußt hätte, daß Salaman einmal König sein würde — aber wie hätte ich sowas wissen sollen, wir hatten doch gar keine Könige, das Wort selbst bedeutete gar nichts für uns.“

„Mutter Boldirinthe!“ drängte Thu-Kimnibol heftiger.

Er befürchtete, die Alte würde ihm ihre ganze Lebensgeschichte herunterbeten, jede einzelne Kopulation, jedes Tvinnr-Erlebnis der letzten fünfzig Jahre en detail. Doch sie hatte anscheinend ihren Rückerinnerungssalto beendet. Ihr Geist konzentrierte sich nun ganz auf ihre Aufgabe. Sie berührte Thu-Kimnibol behutsam mit ihrem Sensor. Dann schlug sie die heiligen Fünf Zeichen, sprach die angemessenen Formeln, überreichte ihm die Talismane, brachte die Götter herab in das Gemach und weitete Thu-Kimnibols Seele für sie, so daß sie Eingang fänden. Sie erschienen vor ihm ganz leibhaft lebendig, in so starker Wirklichkeit, daß er sie alle nach ihrem Aussehen erkannte, obwohl sie gestaltlos und bloße göttliche Aura waren. Leuchtende Lichtwolken waren sie, die ihn im Dunkel umkreisten. Da war die liebevolle Mueri, und dies war der grimme unerbittliche Dawinno, und dort Emakkis-der-Ernährer, und da Friit, da Yissou, der ihn beschützen würde. Im heiligen Schutz, den Boldirinthes Opferkammer bot, tat er sich auf und streckte sich den Göttern entgegen, und er fand sie: die Fünf Himmlischen, die über die Welt herrschten. Und er umhüllte seine Seele mit dem schützenden Mantel ihrer schützenden wärmenden Nähe. Es war die innigste Kommunion, die er jemals erlebt hatte, jedenfalls kam es ihm so vor in diesem Augenblick. Ein Gefühl großer Befriedigung kam über ihn — und tiefer anhaltender Friede.

Er fühlte sich zum Aufbruch bereit. Die Götter waren mit ihm, seine Götter, die er begriff und liebte. Sie würden ihn geleiten und beschützen auf seiner Reise in den Norden.

Mit den in jüngerer Zeit im VOLK aufgekommenen komplizierteren (weniger simplen) Theologismen hatte Thu-Kimnibol nichts im Sinn. Da gab es Gruppen, die verehrten die verschwundenen Menschlichen — ja, sogar solche, die behaupteten, diese Menschen seien größere Götter gewesen als die Heiligen Fünf. Andere beugten vor dem Beng-Gott Nakhaba die Knie und behaupteten, sogar er nehme im Himmlischen Bereich einen höheren Rang ein als die Fünf, da er der Vermittler sei, der mit den Menschlichen sprechen und die Sache des VOLKS vertreten könne.

Und dann gab es da noch andere — das waren meist Leute von der Universität, eben die Gruppe um den alten Hresh —, und die redeten von einem Gott, der über allen anderen sein sollte, höher als die Menschlichen und Nakhaba und die Fünffaltigkeit. Der Sechste, so nannten sie diesen Gott. Der Schöpfer-Gott. Von ihm (oder ihr) war gar nichts bekannt, und sie sagten, es könnte auch nie etwas bekannt sein, da ER-SIE-ES grundsätzlich nicht ge- oder erkannt sein könne.

Thu-Kimnibol wußte nichts mit einem derartigen Überangebot von Göttern anzufangen. Ihm erschien es als nutzlos, sich mit noch mehr als den Fünfen herumzuschlagen. Jedoch fiel es ihm leichter, die Bereitschaft zu einer Verehrung dieser anderen Götter zu verstehen, als die Haltung dieser VOLKS-Minorität, die wie seine unmögliche Nichte Nialli Apuilana anscheinend an überhaupt keine Götter glaubte. Was war das doch für ein trostloses Dasein, gottlos unter dem feindseligen Himmel einherzugehen! Wie konnten diese Leute das nur ertragen? Erstarrte ihnen denn nicht das Herz in eisiger Angst in dem Wissen, daß da keiner war, der sie beschützte? Ein solches Glaubens- oder Unglaubens-Konzept erschien Thu-Kimnibol als schlichtweg verrückt. Immerhin — Nialli Apuilana konnte man eine gewisse Entschuldigung zubilligen. Es war schließlich allgemein bekannt, daß die Hjjks irgendwie ihren Verstand manipuliert hatten.

Allmählich tauchte Thu-Kimnibol aus seiner Götterversunkenheit wieder auf. Er merkte, er saß zusammengesunken an Boldirinthes rohem Holztisch, und sie watschelte herum und stellte die Götter wieder in den Schrein zurück. Sie sah aus, als wäre sie mit sich selbst recht zufrieden. Sicher wußte sie, wie stark die Vereinigung mit den Göttern gewesen war, die sie für ihn bewirkt hatte.

Stumm umarmte er sie. Das Herz floß ihm über vor Liebe zu ihr. Nach und nach schwand der heftige Eindruck des Kontakts mit den Numina, und er schickte sich an, sich zu verabschieden.

„Sei auf der Hut vor König Salaman!“ sagte Boldirinthe, als er bereits unter der Tür der Kammer stand. „Salaman ist ein sehr schlauer Bursche.“

„Als ob ich das nicht wüßte, Mutter Boldirinthe.“

„Viel schlauer als du!“

Thu-Kimnibol lächelte. „Ich bin nicht ganz so verblödet, wie man allgemein zu glauben scheint.“

„Dennoch ist er schlauer als du. So gescheit wie Hresh ist er, der Salaman. Glaub mir! Sei auf der Hut vor ihm. Er wird dich irgendwie austricksen wollen.“

„Aber ich durchschaue Salaman. Wir verstehen einander durchaus.“

„Ich hab gehört, er ist in seinen späten Jahren wild und gefährlich geworden. Er hat die Macht schon so lange inne, daß er davon wahnsinnig geworden ist.“

„Kaum“, sagte Thu-Kimnibol. „Gefährlich, ja, das vielleicht. Aber ganz gewiß ist er kein Verrückter. Ich hab Salaman über eine lange Zeit gekannt, als ich in Yissou lebte. Und man merkt, ob einer den Wahnsinn in sich trägt oder nicht. Er ist ein stabiler Typ.“

„Ich hab mal mit ihm kopuliert“, sagte Boldirinthe. „Also weiß ich Dinge von ihm, die du nie wissen wirst. Fünfzig Jahre ist das nun her, aber ich hab es niemals vergessen. So ein stiller Bub war der damals. Aber in ihm drin, da brannte ein Feuer, und so ein Feuer, das brennt sich in fünfzig Jahren nach außen durch. Sei auf der Hut, Thu-Kimnibol!“

„Ich danke ergebenst, Mutter Boldirinthe.“

Und er kniete nieder und küßte das Ende ihrer Stola.

„Sei auf der Hut.“


Auf dem Weg von der Klosterzelle der Opferpriesterin in die Unterstadt kreuzte sich Thu-Kimnibols Weg mit dem der Nialli Apuilana, die ihm auf dem Kopfsteinpflaster der steilen Minbain-Gata entgegenkam. Es war ein heller Tag voller Goldlicht, und von Westen her wehte ein duftgeschwängerter Wind aus den Berggärten über der Bucht, wo die gelbblättrigen Sthamidien-Bäume in voller Blüte standen. Nialli trug ein Tablett mit Essen und eine Karaffe hellen Würzweins für Kundalimon.

Ihre Stimmung hatte sich ein wenig, wenn auch nicht viel, gehoben. Nach dem bestürzenden Zusammenbruch vor der Präsidialversammlung hatte sie sich mehr oder weniger in eine Klausur zurückgezogen. Tagelang hatte sie sich kaum in der Öffentlichkeit blicken lassen und sich nur zweimal täglich zum Mueri-Haus geschlichen und sobald Kundalimon sein Essen erhalten hatte, war sie wieder in ihr Zimmer gekrochen. An mehreren Tagen war sie erst gar nicht selbst gegangen, sondern hatte es einem Wachmann überlassen, den ‚ Staatsgast‘ zu füttern. Yissou allein mochte wissen, was sie dem Armen dabei vorsetzten. Die meiste Zeit blieb Nialli für sich, meditierte, brütete, wiederholte sich im Geiste immer und immer wieder neu, was sie vor der Versammlung gesagt hatte, wünschte, daß sie die Hälfte oder mehr als das zurücknehmen könnte. Dabei war es doch aber von solch großer Wichtigkeit für sie gewesen, endlich einmal laut Stellung zu beziehen: Dieses ganze üble Gerede anzuprangern. Von den Hjjks als Ungeziefer, den Hjjks als kaltblütigen Killern, den Hjjks dies, den Hjjks das. Dabei wußten sie nichts, gar nichts. Also hatte sie sprechen müssen. Aber seither fühlte sie sich gereizt und als hätte sie sich irgendwie entblößt. Aber erst jetzt wurde ihr bewußt, daß ja kaum eine Seele in der Stadt bisher von ihrem Ausbruch etwas gehört hatte, daß die meisten, oder gar alle, die Zeugen gewesen waren, es vorzogen, darin nichts weiter zu sehen als einen kleinen hysterischen Anfall, eben ein exzentrisches Verhalten, wie man es von so einer wie Nialli Apuilana nicht anders erwarten konnte. Nein, schmeichelhaft war das gar nicht. Andererseits brauchte sie so aber auch nicht zu befürchten, daß man sie auf den Straßen auspfeifen würde.

Der Anblick Thu-Kimnibols freute sie. Gewiß, sie war in nahezu allen Stücken anderer Ansicht als er, besonders was die Hjjks anging; doch ihr gewaltiger Gevatter hatte eine Kraft und eine Würde an sich, die sie als stabilisierend empfand. Ja, und auch eine gewisse Herzenswärme. Zu viele von diesen Kriegerprinzen gefielen sich in ostentativen martialischen Machoposen. Thu-Kimnibols Stil war da weitaus schlichter.

Sie sprach: „Kommst du von Boldirinthe, Gevatter?“

„Wie kannst du das wissen?“

Nialli warf den Kopf in den Nacken und wies auf die Klause der Opferpriesterin auf der Spitze des Hügels hin. „Sie lebt doch genau dort droben. Außerdem leuchtet das Licht der Götter noch in deinen Augen.“

„Ah. Du kannst das erkennen?“

„Aber sicher, man sieht es doch.“

Sie verspürte einen scharfen neidvollen Stich. Auf seinem breiten Gesicht lag ein Ausdruck so tiefer Seelenruhe und Selbstsicherheit.

Thu-Kimnibol lächelte breit zu ihr herab. „Ach, und ich hab gedacht, du bist eine Gottlose, Kindchen. Was weißt denn du vom Licht der Götter?“

„Ich brauche schließlich nicht an Yissou und den restlichen Haufen zu glauben, um zu erkennen, daß du vor kurzem von einer anderen Welt gestreift worden bist. Außerdem bin ich auch gar nicht so gottlos, wie du glaubst. Ich sag dir, in deinen Augen leuchtet der Glanz der Götter. So hell wie das Licht von einem Laternenbaum in einer mondlosen Nacht.“

„Aha, also nicht gottlos?“ Thu-Kimnibol runzelte die Stirn. ‚Pu sagst, du bist nicht gottlos, Mädchen, trotz all dem?“

„Ich hab meine persönliche Art von Glauben“, sagte sie. Die Wendung, die das Gespräch nahm, bereitete ihr zunehmend Unbehagen. „Auf meine Weise bin ich doch irgendwie gläubig, ja. Also jedenfalls sehe ich es so, auch wenn andere Leute hier das nicht gelten lassen würden. Aber ich spreche nicht gern über sowas. Glauben und Überzeugungen sind was höchst Persönliches, findest du nicht?“ Sie brachte ein bezaubernd-verwirrendes Lächeln zustande. „Aber ich bin glücklich um deinetwillen, daß Boldirinthe dir den Trost spenden konnte, dessen du bedurftest.“

„Boldirinthe, ach ja!“ sagte er mit einem leisen Lachen. „Boldirinthe lebt jetzt mit einem Fuß in der Vergangenheit und mit dem anderen in der nächsten Welt. Es war gar nicht leicht, sie bei der Sache zu halten. Aber schließlich hat sie es doch geschafft, und ich habe tatsächlich die Nähe der Gottheiten verspürt. Sie waren da, direkt vor mir, alle Fünf. Und mir wurde großer Trost von ihnen, immer schon, seit ich Trauer trage. Aber auch vorher war das so, und so wird es immer bleiben. Ich wünsche für dich, Nialli Apuilana, daß ihre Freude auch dir eines Tages zuteil werde.“ Er wies auf das Tablett und die Flasche. „Du besuchst deinen Hjjk? Bringst ihm wohl was ganz besonders Feines?“

„Gevatter!“ fuhr Nialli ihn scharf an. „Nenne ihn nicht einen Hjjk!“

„Nun, wenn er kein Hjjk ist, so klingt er doch wie einer, sagen die Leute. Er äußert sich nur in krächzenden und zischenden Lauten, oder irre ich mich?“ Onkelhaftfreundlich versuchte Thu-Kimnibol scharfe Krächzlaute tief aus seiner Kehle zu produzieren. Es war eine ziemlich ungeschickte Parodie der Hjjk-Sprache. „Also, für mich ist einer halt ein Hjjk, wenn er weiter nichts als hjjkisches Gekrächze von sich gibt. Und hjjkische Amulette am Hals hängen hat, und hjjkisch denkt und sich wie ein Hjjk kleidet und aufführt. Du weißt schon, als hätte man ihm einen langen steifen Stock durch den Rumpf getrieben.“

„Also, wenn es genügt, daß einer als Gefangener unter den Hjjks gelebt hat, um für dich ein Hjjk zu sein — schön, dann bin auch ich eine Hjjk“, sagte Nialli mit beträchtlichem Ernst. „Aber davon mal abgesehen, Kundalimon macht wirklich inzwischen recht gute Fortschritte in unserer Sprache. Es fallen ihm mehr und mehr Wörter wieder ein. Und er erinnert sich allmählich, daß er früher einmal einer von uns war. Es ist nicht anständig von dir, dich über ihn lustig zu machen. Oder über mich, auf dem Umweg über ihn.“

„Wirklich.“

„Thu-Kimnibol, warum haßt du die Hjjks so?“

„Tue ich das denn?“ Es klang, als wäre ihm noch nie ein derartiger Gedanke gekommen. „Tja, vielleicht stimmt das ja. Aber warum tu ich es dann? Laß mich nachdenken.“ In seine Augen trat ein irritiertes Funkeln. „Könnte es sein, weil sie uns gern an einem kleinen Ort der Welt zusammenpferchen möchten, wo uns doch die ganze Welt zusteht? Und ich hab was dagegen, daß sie uns derartige Beschränkungen auferlegen? He, das ist es vielleicht, ja? Oder ist es vielleicht sehr viel einfacher, was ganz Persönliches und hat mit einer Sache zu tun, daß einmal vor langer Zeit ein Trupp von Hjjks an den Ort kam, in dem ich im Norden damals lebte, genau jenen Ort, zu dem ich jetzt bald wieder reisen werde, und daß sie dort eine Handvoll unschuldiger Menschen überfallen und einige getötet haben? Mein eigener Vater war einer von denen, die sie getötet haben, weißt du. Vielleicht ist das der Grund, Nialli Apuilana, wie? Ein lächerliches kleines Ressentiment meinerseits? Unreflektierte primitive Rachegelüste?“

„Aber nein, Thu-Kimnibol. Ich wollte doch nicht.“

Er schüttelte den Kopf. Aus seiner gewaltigen Höhe senkte er die Hände auf sie herab und ließ sie flüchtig, aber zärtlich auf ihren Schultern ruhen. „Aber ich verstehe dich doch, Nialli! Das alles ist geschehen, lang ehe du geboren warst. Warum solltest du auch nur einen Gedanken daran verschwenden? Aber laß Friede sein zwischen uns beiden, ja? Wir sollten nicht miteinander so herumzanken. Geh du zu deinem Freund und bringe ihm seinen Wein und sein Fleisch. Und bete für mich, willst du? Bete zu welchem Gott immer du magst. Ich ziehe morgen los in die Nordlande. Und es wäre mir lieb, wenn deine Gebete mich begleiten würden.“

„Das werden sie“, sagte Nialli. „Und meine Liebe auch, Oheim. Möge deine Fahrt sicher sein.“

Wenn sie nicht dermaßen beladen gewesen wäre, sie hätte ihn umarmt und geküßt. Der Wunsch überraschte sie. Sie hatte ihm gegenüber eigentlich nie eine derartige warme Zärtlichkeit verspürt. Bis zu diesem Augenblick war er eben nur der gewaltige massive Berg von einem Onkel für sie gewesen. Fast halb so groß wie ein Zinnobär. und kaum hirnmäßig heller (so war es ihr jedenfalls immer vorgekommen). Auf einmal erblickte sie ihn in einem anderen Licht; er war ja viel komplexer, als sie sich das vorgestellt hatte, und sehr viel verwundbarer. Und plötzlich hatte sie Angst um ihn und wünschte, es möge alles gutgehen mit ihm.

Das ist bestimmt das Götterlicht, das noch von ihm ausging, was das bei mir auslöst, dachte sie. Ob ich nicht vielleicht ebenfalls zu einer Kommunion zu Boldirinthe gehen sollte? Vielleicht stellt sich dann ja heraus, daß die Götter sogar mit mir sprechen.

„Eine sichere Fahrt, ja“, wiederholte sie. „Und ein glückbringendes Ergebnis. und baldige Heimkehr!“

Thu-Kimnibol bedankte sich und zog seines Weges. Und Nialli Apuilana stieg weiter den Hang zum Mueri-Haus hinan.


Der Wächter am Tor war Curabayn Bangkeas jüngster Bruder, Eluthayn, ein flachgesichtiger Fleischbrocken, den ein lächerlich protziger Helm schmückte. Als Nialli auf ihn zutrat, sagte er: „Er wartet schon die ganze Zeit auf dich, der Kerl von den Hjjks. Löchert mich den ganzen Morgen, warum du heut so spät kommst. Jedenfalls glaube ich, daß er das meint. Weil — sein Gezischgurgeln versteh ich natürlich nicht.“ Und Eluthayn Bangkea beugte sich ihr so dicht entgegen, daß sie in seinem Atem die Kharnigs riechen konnte, die er zum Frühstück gegessen hatte. Und zu Niallis Verblüffung gloste er sie in verletzend eindeutiger Zudringlichkeit an. „Kann nicht behaupten, daß ich es ihm verüble. Ich hätte auch nichts dagegen, mal so ’nen ganzen Nachmittag mit dir da drin eingeschlossen zu sein.“

„Und worüber würden wir dann reden können, du und ich, wenn wir gezwungen wären, einen ganzen Nachmittag lang zusammen zu verbringen?“

„Ach, Nialli Apuilana, es geht ja nicht um das, was wir reden würden.“

Und wieder schaute er sie lüstern an, noch eindeutiger als vorher, ließ die Augen rollen, peitschte mit dem Sensororgan durch die Luft und stieß sein Gesicht beinahe gegen das ihre.

Er war natürlich ein viel zu großer Narr, als daß man ihn hätte ernstnehmen dürfen. Derartige unerbetene Aufmerksamkeiten konnten schlechterdings nur scherzhaft gemeint sein. Aber wenn sie ein Witz waren, dann bestimmt ein recht grober. Wie durfte der Kerl es wagen? Als nächstes würde er sie begrapschen!

Urplötzlich explodierte der Zorn in ihr, und sie spuckte ihm heftig ins Gesicht. Der Speichel blieb im Fell zwischen seinen weit auseinander liegenden Augen hängen.

Er gaffte sie ungläubig an. Dann wischte er sich langsam über das Gesicht. Seine Stirn runzelte sich in Entrüstung und kaum gebändigter Wut.

„Warum hast du das gemacht? Das hättest du nicht tun müssen!“

Sie reckte sich hoch. „Deine Art ödet mich an.“

„Meine Art? Was meinst du damit, meine ‚Art‘. Ich bin ich, der einzige Ich, den es gibt. Und ich hab es nicht bös gemeint. Du hast keinen Grund, sowas zu machen.“ Er senkte die Stimme: „Hör mal, war es denn wirklich dermaßen schlimm, wenn wir uns für ein Stündchen verdrücken und kopulieren würden, Edle Nialli? Ein Mann von der Garde ist durchaus imstande, auch einer Häuptlingstochter Vergnügen zu bereiten, mußt du wissen. Oder meinst du, Kopulieren macht keinen Spaß? Ist es vielleicht das? Zu stolz dazu, wie? Oder zu ängstlich? Was ist los mit dir?“

„Bitte!“ sagte sie in ungläubigem Staunen. Ihr kam es vor wie ein Traum. Wie erniedrigend das alles war! Sie war zornig und benommen und gleichzeitig den Tränen nahe. Aber es war entscheidend, angesichts derartiger Sachen Festigkeit zu bewahren. Sie funkelte ihn an. „Das reicht! Was bist du doch für ein vulgärer witzloser Wicht!“

„Du wirst mich dafür strafen lassen, ich weiß. Das wirst du doch? Aber ich werde ihnen sagen, daß du mir ins Gesicht gespuckt hast. Dabei hab ich dich mit keinem Finger angerührt. Ich hab bloß mit den Augenbrauen gewackelt.“

„Geh mir aus dem Weg und laß mich rauf!“ befahl Nialli heftig. „Und geb’s der Himmel, daß mir dein Anblick in Zukunft erspart bleibt!“

Er starrte sie in dumpfer Verwirrtheit an, dann stieß er die Schranke für sie auf. Mit abgewandtem Blick schoß sie an ihm vorbei ins Haus. Sobald sie in Sicherheit war, blieb sie schaudernd stehen. Sie war durcheinander, kam sich verletzt und besudelt vor, als wäre sie es, die angespuckt worden war. Ihr ganzer Leib war vor Zorn und Schock wie verkrampft. Sie atmete ein paarmal tief durch und spürte, wie ihr Puls nach und nach zu rasen aufhörte. Ruhiger stieg sie dann die Treppen zu dem Zimmer Kundalimons im dritten Stock hinauf und klopfte an.

Sofort ging die Tür auf, und Kundalimon spähte heraus. Er lächelte schüchtern. Die grünen, oft so eisigen, abweisenden Augen wirkten heute lebhaft und freundlich; Nialli fühlte von ihm eine so weiche Woge unschuldiger Zärtlichkeit auf sich zukommen, daß in einem kleinen Augenblick der Makel, die Beschmutzung durch die betrübliche Begegnung mit dem Posten drunten wie weggewischt erschien.

„Also kommst du doch endlich zu mir!“ rief Kundalimon mit vor Freude schwankender Stimme. „Das gut, sehr gut. Endlich du kommst. Ich misse dich, Nialli Apuilana, ich misse dich sehr. Ich warte hier ganze Zeit stundenlang.“

Seine Hand glitt an ihr Handgelenk, und er zog sie sacht ins Zimmer und schloß die Tür. Er nahm ihr das Tablett und die Weinkaraffe aus den Händen, kniete nieder und stellte sie auf den Boden. Danach stand er stumm eine Weile vor ihr und blickte sie schweigend an. Danach faßte er sie wieder am Handgelenk.

Irgendwas ist verändert an ihm heute, dachte sie. Da ist etwas seltsam Neues an ihm.

Zögernd sprach er dann: „Ich viel denke. Wie Gefühl ist, weißt du? Ich bin so sehr _ viel einsam. Nest — so weit fort. Nest-Denker, Königin. So fern-weit. Überall Fleischleute um mich.“

Mitgefühl mit seiner Einsamkeit schwoll überwältigend in ihr auf. Impulsiv sagte sie zu ihm: „Du brauchst dir keine Sorgen zu machen, Kundalimon. Bald wirst du zurückkehren.“

„Wirst zurückkehren? Ich?“

Er wirkte wie vom Blitz getroffen. Aber auch sie selbst war über ihre Worte erstaunt. Gab es denn schon eine Absicht, ihn freizulassen? Sie wußte es nicht. Thu-Kimnibol hatte zwar davon gesprochen, man solle ihn mit einem Schreiben bezüglich der Zurückweisung des Vertragsangebots ins NEST zurücksenden, gewiß, doch Taniane hatte durch nichts erkennen lassen, daß sie darauf eingehen werde. Viel wahrscheinlicher erwartete sie wohl, daß Kundalimon nach Beendung seiner Gefangenschaft bei den Hjjks sich nun anschicken werde, ganz einfach wieder ein normales Leben in der Stadt seiner Geburt zu führen, ganz so, als wäre er nur ein paar Wochen oder Monde fortgewesen.

Dennoch, er wirkte heute so bedürftig. Und darum waren ihr die tröstlichen Worte einfach so über die Lippen gerutscht. Na, dann mach ich es aber lieber gleich richtig und bis zu Ende, dachte Nialli, und sag ihm das, was er hören will.

„Aber sicher wirst du zurückgehen. Du wirst von unserm Häuptling eine Botschaft an die Königin überbringen. Ich bin sicher, es dauert nicht mehr lange, bis sie dich entsenden.“

Kundalimons Hand spannte sich ganz fest um ihr Gelenk.

„Du dann gehst mit mir?“

Damit hatte sie allerdings nicht gerechnet.

„Ich?“

„Wir gehen zusamm! Hier kein guter Ort für dich. Du hast in dir NestWahrheit! Weiß ich das. Hast du gefühlt Königin-Liebe!“ Er bebte am ganzen Leib. In seinem Rücken schwang sein Sensor-Organ in weiten Kurven langsam von Seite zu Seite, und seine Zunge zuckte immer wieder über die Lippen, um sie zu befeuchten. „Du und ich — wir-du-ich-beide, Nialli Apuilana —, wir sind aus dem NEST! Oh, komm, komm, komm ganz nah zu mir, nah.“

Mueri, steh mir bei! dachte sie verzweifelt. Will er etwa mit mir tvinnern?

Vielleicht. Im Verlauf der letzten Wochen hatte sein Sprachverständnis beträchtlich zugenommen, und sie waren in eine neue Bezugsphase eingetreten, und die schien heute sich einem Kulminationspunkt zu nähern. Zweifellos, Kundalimon war heute weit stärker zugänglich, ihr gegenüber offen, als es je zuvor der Fall gewesen war. Bestimmt war er gerade heute von einem starken inneren Drang erfüllt, einem ganz neuen zwanghaften Bedürfnis. Alles an ihm — wie er so dastand, der Ausdruck in seinen Augen, die Bewegungen des Sensors, ja sogar der scharf-bittere Duft, der von ihm ausging, unterstrich dies.

Aber — ein Tvinnr?

Sie wußte wirklich nicht. Damals, zu Beginn ihrer Freundschaft, hatte er mit derart heftiger Angst, ja Entsetzen reagiert, als sie mit ihrem Sensor seinen berührte und ihn in das Anfangsstadium der Kommunion zu führen versucht hatte. Ganz so, als wäre für ihn schon die Vorstellung der Einheit, die sie ihm anbot, ganz unerträglich; als wäre schon der Gedanke an eine Verschmelzung mit jemandem, der nicht aus dem NEST war, dermaßen abstoßend,, daß Akzeptanz ganz hoffnungslos war.

Andererseits kannten sie einander inzwischen aber viel besser. Anscheinend war es Kundalimon bewußt geworden, daß auch sie wirklich aus dem Nest stammte; nicht ganz in so hohem Maße wie er, aber dennoch nest-geprägt, eine Nest-Seele im Leib der Fleischlichen, ebenso wie er. Und vielleicht sah er darum in ihr nicht mehr das Andersartig-Abartige, eine feindliche Ausgeburt. Und wenn das so war.

Flehentlich starrte er sie an. Sie lächelte und hob ihr Sensor-Organ und berührte damit ganz, ganz flüchtig das seine.

„Nein“, sagte er sofort und peitschte seinen Sensor hastig aus ihrer Reichweite. „Nicht — tvinnern. Nicht — bitte nein!“

„Nein?“

„Angst macht. Immer noch. Zuviel, das Tvinnr.“ Er bewegte den Kopf her und hin. Ein heftiger Schauder durchlief seinen Körper. Er schien tief nachzudenken. Aber dann erhellte sich sein Gesicht wieder. „Du-und-ich — oh, komm näher! Du willst komm näher?“

„Was möchtest du denn?“ fragte sie verwirrt.

Er gab einen unbestimmten Laut von sich, ein Hjjk-Geräusch, es war noch nicht einmal ein Wort: nur wie eine in verrosteten Angeln kreischende Tür, die jemand aufstößt. Ein Sturzbach von Empfindungen, die ihr alle unergründlich blieben, schoß blitzschnell über sein Gesicht. Nialli glaubte, daß sie da blankes Entsetzen wahrnehmen könne, Verlegenheit, etwas wie beinahe Nest-Liebe — und ein irgendwie verzweifeltes Verlangen. aber auch etwas viel Bekannteres, etwas, das sie erst vor kurzem in den roten von stumpfer Lust erfüllten Bengaugen Eluthayn Bangkeas erblickt hatte.

Seine Hände irrten zu ihren Schultern, über die Unterarme zur Brust. Er streichelte sie wild und hastig. Seine Begattungsrute ragte steif hervor.

Oh, Mueri, Dawinno und Yissou! dachte sie benommen und leicht bestürzt. Er will kopulieren!

Es war unbezweifelbar. Sein Atem brannte ihr heiß auf den Wangen. Er brabbelte ungereimtes Zeug auf sie ein, in einem verschwommenen Gemisch von Hjjkklickgeräuschen und völkischen Grunzern. Er wirkte wie betrunken, wie ertrinkend in einem heißen Hexengebräu sexuellen Verlangens.

Es war beinahe drollig. Aber es war auch beängstigend. Nialli hatte noch nie kopuliert. Sie scheute davor ebensosehr zurück wie anscheinend Kundalimon vor dem Tvinnr. Immer hatte es für Nialli so etwas wie das Niederreißen einer geheimnisvollen Barriere bedeutet, die sie nicht preiszugeben wagte.

Sie wußte, die anderen taten ‚es‘ auf ein Fingerschnippen hin, und manche fingen damit bereits mit knappen neun oder zehn Jahren an. Sie klatschten ganz unbekümmert ihre Leiber aneinander und vollzogen hastig und verschwitzt eine Vereinigung und fanden weiter gar nichts dabei. Doch Nialli hatte sich in jüngeren Jahren stets peinlich von alledem ferngehalten; aber jetzt, wo sie schon weit in ihre weibliche Reife getreten war, hatte sie manchmal das Gefühl, daß sie sich zu lange zurückgehalten habe, daß sie gerade durch die bloße Vermeidung den Kopulationsvorgang zu einem Akt von solch hoher Bedeutung erhoben hätte, daß es schon der höchst-bedeutsamen vorstellbaren Gründe bedürfen würde, wenn sie sich jemals darauf einlassen sollte. Aber ein solcher Grund war ihr bislang nie begegnet. Auf gar keinen Fall war er für sie in dem überheblichen Machogeäugle eines Eluthayn Bangkea oder dem subtileren Hungerblick eines Husathirn Mueri gegeben.

Aber jetzt. jetzt hier.

Kundalimon bedrängte sie am ganzen Körper, er betatschte sie und schnaubte, und es war genauso, wie sie sich die Männer dabei immer vorgestellt hatte. Er besaß kaum noch Kontrolle über sich. Dennoch verspürte sie keinen Widerwillen gegen ihn, sondern nur Mitgefühl. So isoliert und abgeschottet wie er, allein Tag um Tag in dieser kleinen Zelle mit nur einer Fensterluke — da mußte ihn ja schließlich die Einsamkeit überwältigen, das Trennungsgefühl vom NEST, bis in seinem Geist die Bedrückung so hoch anschwoll, daß sie eben jetzt die Flutmarken überspülte. Nialli hatte keine Ahnung, wie sie ihn zurückhalten konnte.

„Warte“, sagte sie. „Bitte!“

„Ich. will.“

„Aber, Kundalimon, bitte. bitte.“ Er ließ von ihr ab, fast sofort, als habe er wirklich verstanden, was sie ihm mitzuteilen versuchte. Vielleicht spürte er auch nur die angstvolle Aufgeregtheit ihres unbereiten Körpers. Immer noch aber schien er sprungbereit und begierig weiterzumachen. Einer plötzlichen wilden Eingebung folgend, sagte sie: „Ich darf nicht. Die Kopulation ist mir verboten.“ Und auf hjjkisch erklärte sie: „Ich brauche erst noch die Berührung der Königin.“

Es bestand eine ganz kleine Chance, daß er sich diesem Argument beugen werde. Im NEST gab es keine Paarung, ehe einen nicht die Königin zur Reife und Fruchtbarkeit gebracht hatte — in einem Ritual, dessen Wesen Nialli nicht bekannt war, das jedoch für jeden Hjjk den Übergang ins Erwachsenenleben bestimmte.

Aber Kundalimon, den nun unbezweifelbar seine nicht länger verleugnete Fleischlichkeit gepackt hatte, würde vielleicht nicht begreifen, warum ein Weib des Fleischlingsvolks sich weigern sollte, sich freudig dem starken Verlangen hinzugeben, das ihn jetzt durchtobte. Mußte sie nicht ein ebenso heftiges Sehnen fühlen wie er, da sie ja auch aus dem Fleische war? Ja, schön und gut. Aber er war außerstande, ihre Besorgnisse zu begreifen. Das konnte sie ja nicht einmal selber. Doch vielleicht würde er ja auf das andere Argument, die Jungfräulichkeit, reagieren, das im Nest einzigartig war.

Doch sein Fleischesaspekt stand im Aszendenten. Kein Argument würde ihn ins Wanken bringen.

„Auch ich hatte die Königliche Berührung noch nicht“, sagte er. „Aber wir sind. jetzt nicht im Nest, und.“ Er atmete mit einem tiefen Zischen ein, und in seinen Augen gloste ein Ausdruck der Pein, vermischt mit Leidenschaft. Er war ebenso unberührt wie sie. Mit wem hätte er auch im Nest kopulieren können? Jetzt aber überwältigte ihn die Not, die Fleisches-Not, das heftige Bedürfnis, das allen eingeboren ist, die wie er von unvermischter Rasse sind.

Und plötzlich begriff sie, daß dies auch auf sie zutraf.

Beinahe ohne daß sie sich dessen bewußt wurde, erwärmte sie sich unter seiner Berührung. Während er sie streichelte, erwachten in ihrem Leib Sinnesempfindungen, wie sie solche nie zuvor gefühlt hatte. Ihr war heiß, die Haut juckte sie, sie fühlte ungeduldige Gespanntheit. An den Schenkeln, dem Bauch, der Brust spannten sich Muskeln und begannen zu zucken. Ihr Atem ging stoßweise.

Das waren lustvolle Empfindungen. Und irgendwie wußte sie, daß noch höhere Lust ihr bevorstand, fast in Reichweite lag. Sie brauchte sich nur davon überwältigen zu lassen.

Und dann wußte sie es, ohne Zweifel: Das ist der Augenblick, die rechte Zeit, der rechte Ort, der richtige Mann. Ihre Barrieren sanken in sich zusammen. Und sie nickte ihm lächelnd zu. Wieder griff er nach ihr und stammelte Hjjk-Laute, und sie antwortete ihm — hjjkisch und in zusammenhanglosen Lautgebilden der Volkssprache, und sie glitten engumschlungen zu Boden, stießen die Weinflasche um, das Tablett mit dem Essen, das sie für ihn hergetragen hatte. Das war unwichtig. Seine Hände waren überall zugleich an ihrem Körper. Er schien nicht so recht zu wissen, wie und was zu tun sei, und sie wußte selber auch kaum mehr, also gab es nur unklare Vermutungen und Näherungsversuche; doch irgendwie fanden sie dann die richtige Position, und Nialli zog ihn zu sich, öffnete die Schenkel, und er glitt in sie hinein.

Also so ist das, dachte sie.

Das ist die große Sache, von der sie alle soviel hermachen. Die Leiber fügen sich passend zusammen und bewegen sich. Und mehr ist nicht dabei. Aber es fühlt sich wundervoll angenehm an! Wie einfach das doch ist, wie richtig!

Und dann hörte sie ganz auf zu denken, außer, flüchtig, daran, ob sie die Tür auch richtig verriegelt hatten. Aber auch der Gedanke verflüchtigte sich rasch. Sie rollten umher und herum, lachten und stöhnten in zwei Sprachen, umklammerten einander, nagten und bissen und saugten aneinander und keuchten vor ganz neuer unbekannter Erregtheit; und dann vernahm Nialli einen tiefen heiseren Laut, wie sie ihn von Kundalimon nie zuvor gehört hatte, und eine Art Krampf schien durch seinen Leib zu fahren. Und zu ihrem Erstaunen fühlte sie in sich selbst ein Gefühl der Wärme anschwellen, so stark, als müsse sie davon bersten, und einen Augenblick später drang auf einmal ein Laut über ihre Lippen, der dem Stöhnen Kundalimons nicht unähnlich war. Sie erkannte: Das ist die Stimme der Freude, der Laut der Ekstase, der Schrei der Befreiung nach selbst-auferlegter Askese.


Sie lagen stumm da, voll des Wunders, und schauten einander hin und wieder tief in die Augen. Dann griff er wieder nach ihr.

Später, viel später, als sie wieder ruhig geworden waren und die Leidenschaft sanfter Zärtlichkeit wich, sagte Kundalimon: „Ist noch was, das mir fehlt.“

„Sag es, sag es mir!“

„Ist zu trüb und grau hier, ganz allein ich immer nur in diese eine Kammer“, sagte er und fuhr zärtlich mit den Fingerspitzen über Niallis Rückenfell. „Du machst, sie mich rauslassen, ja? Mich gehen lassen in Stadt wie freier Mann? Du machen das für mich, Nialli Apuilana? Du machen?“


Thu-Kimnibol standen fünf schmucke, gutgebaute Reisewagen zur Verfügung, mit je einem Zuggespann von Xlendis, die er persönlich wegen ihres Feuers und ihrer Stärke ausgewählt hatte; hinzu kam ein Quartett gleich guter Tiere als Ersatz, für den Fall, daß eins der anderen unterwegs ausfallen sollte. Er beabsichtigte nicht, seine Fahrt in der Manier der Kaufleute zu absolvieren und gemächlich Mond um Mond nordwärts zu wackeln. Nein, er wollte die Strecke in einem einzigen wilden Spurt schaffen — wie eine Sternschnuppe, die durch die Himmel zieht, und nur haltmachen, wenn es nicht anders ging, ansonsten jedoch die Zugtiere und seine Gefährten bis an die Grenzen der Leistungsfähigkeit voranpeitschen. Es drängte ihn heftig, sich rasch in diese Unternehmung zu stürzen, wie ein Blitz vor König Salaman aufzutauchen und sich dann mit ihm hinzusetzen und das so lange überfällige Bündnis zu schmieden.

Doch die Reise verlief trotz all seiner hehren Entschlüsse nur langsam, und er begriff sehr rasch, daß er nur wenig tun konnte, die Dinge zu beschleunigen. Sein Treckführer, Esperasagiot, war ein strahlendblonder Beng reinsten Blutes, und er kannte sich mit Xlendis ebenso gut aus wie mit seiner eigenen Genealogie; und Esperasagiot trieb die Tiere bis zum äußersten voran, aber er wußte eben genau, wie weit er gehen durfte mit ihnen.

„Wir sollten anhalten und Rast machen“, sagte er am Nachmittag des Aufbruchstages von Dawinno, als die Sonne noch hoch im Westen stand.

„So früh schon? Fahren wir noch eine halbe Stunde!“ befahl Thu-Kimnibol.

„Die Xlendis werden dabei sterben.“

„Nur noch eine halbe Stunde, dann.“

„Prinz, willst du die Tiere bereits am allerersten Reisetag umbringen?“

Etwas im Ton des Mannes verriet Thu-Kimnibol, daß er ihn wohl lieber ernstnehmen sollte. „Würden sie tatsächlich sterben, wenn wir verlangen, daß sie uns nur ein kleines Wegstück weiterziehen?“

„Wenn nicht heute, dann morgen. Und wenn nicht schon morgen, dann am Tag darauf. Hier ist der Ort, an dem wir rasten müssen. Ich wette meinen Helm darauf, wenn wir heute abend noch weiterziehen und morgen die gleiche Strecke zu schaffen versuchen, werden wir innert drei Tagen ein paar krepierte Xlendis haben. Hinter ihrer Kraft verbirgt sich Empfindsamkeit, Prinz. Das da sind keine Xlendis für Holzlasten. Du hast dir Tiere mit Temperament und Feuer ausgesucht, und sie bringen uns schnell genug voran, solange sie frisch sind. Doch sobald sie zu ermüden beginnen.“ Esparasagiot nahm den Helm ab — ein kunstvolles Stück mit einer Krone aus fünf silbermetallenen stracks nach hinten ragenden Federn — und legte ihn in Thu-Kimnibols Hände. „Ich setze meinen Helm darauf, Prinz. Gegen deine Schärpe. Zwei sind in drei Tagen tot, wenn wir in diesem Tempo weiterfahren.“

„Nein“, antwortete Thu-Kimnibol. „Wir rasten, wenn du es für richtig hältst.“

Der Sommer stand noch hoch, und die Luft war dicht und schwer. Häufig regnete es. Das Land hier nördlich von Dawinno war fruchtbar, es gab viele Bauernhöfe. Manchmal sah Thu-Kimnibol an den Gemarkungen ihrer Felder Häuflein ängstlicher Bauersleute stehen, die sich fragen mochten, ob er sie zu überfallen und zu plündern beabsichtige.

Doch dann stieß die Karawane bald in bergigeres Land vor. Hier war es viel trockener, und es gab keine Bauerngehöfte mehr. Die Erde war braun, steinig und kahl, und der aus Norden wehende Wind war scharf. Wildtiere, die in der Nähe der Siedlungsgebiete bereits selten geworden waren, streiften hier frei umher. Scharen von krummschnäbligen aasfressenden Vögeln mit weiten Schwingen zogen am Himmel unheilvoll ihre Kreise. In den Nächten bestrahlte das große runzelige Silberauge des von den Todessternen zernarbten Mondes das unfruchtbare Land mit einem kalten flirrenden Licht.

Unter Esperasagiots sachkundiger Hand zeigten die Xlendis gute Leistungen. Von Tag zu Tag schienen sie mit größerem Eifer voranzueilen. Es waren schlanke graue Tiere, also mit schmalen Lenden, aber stolzem Nacken und edlen runden Köpfen mit weitgeblähten Nüstern, und wenn sie in Gang kamen, schnaubten sie heftig und tänzelten.

Thu-Kimnibol verstand jetzt, warum sein Zugführer zu Beginn der Reise die Xlendis so gaschont hatte. Es waren in der Stadt gezüchtete Tiere, gewöhnt, vor die Karossen von Prinzen gespannt zu werden, und sie hatten keine Erfahrung über weite Strecken im freien Land. Wenn man sie also gleich in den ersten Tagen, in denen es noch reichlich Futter gab, übermäßig beanspruchte, welche Reserven würden sie dann in den kommenden, kargeren Tagen zur Verfügung haben? Nein, man mußte sie schrittweise umgewöhnen, damit sie ganz abgehärtet sein würden, wenn ihnen der schwierigste Teil der Reise bevorstand. So jedenfalls lautete Esperasagiots Theorie.

Nach zehntägiger Fahrt sprach Thu-Kimnibol seinen Zugführer an: „Ich muß mich bei dir entschuldigen! Deine Weise, mit den Xlendis umzugehen, ist richtig!“

Esperasagiot gab nur ein Knurren von sich. Entschuldigungen oder Lob waren ihm schnurzegal, und alles andere auch — außer seinen Xlendis.


Sie hatten das gewaltige windgepeitschte Küstenplateau erreicht, das sich zwischen Dawinno und Yissou erstreckt. Kleine verkrümmte graue Pflanzen wuchsen hier auf einem fahlen geröllübersäten Erdreich. Den Karawanenweg entlang lagen Ruinenstädte aus der Großen Welt. Aber es war von ihnen nichts weiter erhalten geblieben als blasse weißliche Linien im Boden, kaum erkennbare Spuren von Fundamenten und Straßenbefestigungen. Hresh hatte schon die Studenten der Universität hergeschickt, um nach weiteren Relikten zu graben, doch es gab da einfach nicht mehr zu finden. Bei der ersten dieser uralten Stätten befahl Thu-Kimnibol einen Halt. Er schaute sich um. Er stellte sich vor, daß er einst eine Vielzahl von Saphiräugigen hier gelebt hatten. Mächtige reptilienhafte Fleischberge mit gewaltigen Kiefern und großen Schädeln und schweren Hinterschenkeln mochten hier langsam umhergezogen sein wie Philosophen der Peripatetikerschule, und hatten die riesigen Schwänze als eine Art Krücke zur Stütze benutzt, und in ihren vortretenden blauen Augen brannte das Feuer der Genies.

Unter anderen Umständen hätte er es sich nicht entgehen lassen, eine derartige antike Stätte nach ein paar Fundstücken als Souvenirs aus der Großen Welt für Naarinta abzusuchen. Solch kleine Geschenke hatten ihr immer Freude bereitet, ein Fragment eines fossilen Knochens, der Schnipsel von einem rätselhaften Instrument. Sie hatte die Wände ihrer Villa mit einer bizarren, ein wenig gespenstischen Kollektion von verwitterten und verbogenen antiken Bruchstücken dekoriert und manche Stunde damit verbracht, sie zu betrachten.

Jetzt aber stocherte er in traurigem Erinnern in diesem Ruinenfeld herum, vielleicht auch nur aus einer Laune heraus. Wenn man sich vorstellte, daß man dabei zufällig auf irgendein blitzendes Instrument, eine Maschine aus alten Tagen stoßen könnte, die Wunder vollbringen konnten, etwas, das einem da einfach vor der Nase auf dem Boden lag, das keinem vorher aufgefallen war, und man brauchte es nur mitzunehmen. Eine Waffe vielleicht, mit der man die Hjjks auslöschen konnte. Oder gar die Knochen eines Saphiräugigen. Keiner hatte je welche gefunden. Er bohrte mit der Stiefelspitze im kalkigen Grund. Doch er fand nichts.

Aus einer Laune heraus befahl er das Ausheben eines kurzen Grabens. Seine Leute arbeiteten eine Stunde oder länger, brachten ihm jedoch nichts als einen braunen Rostklumpen, der ihm in der Hand zu Staub zerfiel. Er warf den Fund achselzuckend weg.

Mächtig überkam ihn sodann die Erkenntnis, wie sehr alt doch die Welt sei und daß sich frühere Welten wie ein durchsichtiger Mantel, wie eine Kruste um die jetzige schlossen.

Es gab hier verwischte Echos der Geschichte, auch der verlorenen Zauber — und der noch lebendigen; doch sie entzogen sich seinem Zugriff. Eine bedrückende Schwermut bemächtigte sich seiner immer stärker. Sein Geist weilte bei der Großen Welt und allem, was sie bedeutet hatte. Warum war sie trotz all ihrer Größe untergegangen? Warum starben große Kulturen — genau wie der einzelne lebendige Mensch?

Die Unzulänglichkeit seines Wissens kam ihm bitter zu Bewußtsein; ja, die Mangelbehaftetheit seines Geistes schlechthin. Hresh kennt sich mit solchen Dingen aus, dachte Thu-Kimnibol. Und wir sind von einem Fleisch und Blut, er und ich, oder doch so ziemlich, und dennoch weiß er alles, und ich — ich weiß gar nichts! Ich bin bloß der große starke Thu-Kimnibol, den manche anderen für dumm halten, obschon ich das gar nicht bin. Unwissend, ja. Aber nicht dumm.

Ich muß mit Hresh reden, sobald ich zurück bin.

„Ich frage mich, wie es möglich ist“, sagte er zu Simthala Honginda, seinem Ersten Botschaftssekretär, „daß Vengiboneeza all die vielen Jahre überdauert hat, oder doch immerhin zu einem guten Teil, immerhin soweit, daß wir einziehen und uns dort niederlassen konnten. Und hier ist von den alten Städten nichts übrig als Flecken von Rost und Staub.“

Simthala Honginda war ein Koshmariblütiger, drahtig und von hitzigem Temperament, ein Mann mit hochreichenden Familienverbindungen; ältester Sohn Boldirinthes und Staips, durch seine Partnerschaft mit Husathirn Mueris Schwester Catiriil zudem noch mit der Torlyri-Linie verknüpft. Jetzt kickte er träge mit dem Fuß gegen die Erde. „Vengiboneeza war eine Stadt der Saphiraugen. Und diese ollen Krokodile hatten gescheite Maschinen, die für sie die ganze Arbeit verrichteten, sagt mein Vater. Und diese Maschinen sind dort geblieben und haben noch Tausende von Jahren, nachdem der Lange Winter alle Saphiräugigen ausgelöscht hat, alles immer weiter gewartet und repariert.“

„Das müssen aber wirkliche Wunderdinger gewesen sein, wenn sie so lange durchhalten konnten.“

„Die Saphiräugigen hatten Maschinen, die ihre Maschinen reparieren konnten. Und solche, die konnten die Reparaturmaschinen der andern Maschinen reparieren. Und so weiter.“

„Aha. Ich verstehe.“ Thu-Kimnibol kratzte mit dem Absatz eine komische Fratze in die trockne Erde. „Und hier? Hier hatten sie keine solchen Maschinen, meinst du?“

„Vielleicht war es eine Stadt der Vegetabilischen. Die müssen sehr zart gewesen sein, dieses Pflanzenvolk. Die sind damals wohl erfroren und verdorrt und wurden vom Winde verweht, als die Kälte kam, genau wie ihre Städte. Vermute ich. Vielleicht war es auch eine Stadt der Menschlichen. Aber die Menschen entziehen sich unserem Begriffsvermögen. Vielleicht lag ihnen nichts daran, sich solch dauerhafte Städte zu errichten wie die Saphiräugigen. Es könnte sein, daß ihre Städte weiter nichts waren als Gebilde aus Dunst und Hauch, und als sie fortgingen, blieb nichts von ihnen als eine schwache Ahnung von ihren Städten. Aber wie soll ich da was Verbindliches sagen? Es ist doch alles schon so unendlich lange her, Thu-Kimnibol.“

„Ja, so ist es wohl.“ Er kniete nieder, schaufelte mit cbr Hand ein Häufchen Erde auf und warf es in den Wind. „Hier ist ein elender und trauriger Ort. Für uns gibt es hier nichts zu finden. Wir vergeuden nur unsere Zeit, wenn wir hier verweilen.“

Und er befahl den Aufbruch der Karawane. Er stierte trüb voraus über das dürre fahlgelbe Land und spürte, wie er tiefer und tiefer in eine für ihn wesensfremde düster-gereizte Stimmung versank.

Seit seiner Kindheit wußte er, daß es vor der gegenwärtigen Welt eine andere gegeben hatte, in der die ganze Erde ein leuchtendes Paradies gewesen war und in der sechs sehr unterschiedliche Rassen prächtig und im Überfluß zusammen hier lebten. Groß-Vengiboneeza war damals ihre Hauptstadt, so stand es in den Chroniken. Er hatte es nie selber gesehen, doch sein Bruder Hresh hatte ihm davon erzählt. Und in Thu-Kimnibols Denken waren all die wundersamen Beschreibungen seitdem unauslöschlich verhaftet geblieben: die himmelhohen Türme, türkisblau und rosa und schillerndviolett, die auf irgendeine Weise aus der fernen Antike überdauert hatten, und alle die wundersamen Maschinen, die man in ihnen noch finden konnte. Was für Wunder, was für erstaunliche Dinge! In jenen uralten Tagen, da die Welt im Besitz der langsamen, schwerfälligen Reptilienrasse der Leuchtend-Saphiräugigen war, deren Hirn von solch starker Intelligenz glühte, war das VOLK — oder die Geschöpfe, aus denen eines Tages das VOLK werden sollte, nichts weiter gewesen als ausgelassen tobende Dschungeltiere. Und Vengiboneeza war der Nabel und die Nabe des Kosmos, und Reisende aus vielen Ländern kamen zu Besuch, sogar — auf zauberische Weise — Gäste von anderen Sternen.

Damals lebten auch die zarten Vegetabilischen, Geschöpfe mit Petalgesichtern und harten knotigen Stengeln. Und die braunpelzigen Seelords, die in den Meeren lebten, aber mit ihren Flippergliedmaßen an Land kommen und in klug-konstruierten Karossen umherfahren konnten. Und die Mechanischen mit ihren Kuppelköpfen, eine künstliche Spezies, aber doch eben mehr als bloße Maschinen.

Und die Hjjks, natürlich; auch sie hatten zur Großen Welt gehört, jedenfalls ließ sich ihre Genealogie soweit zurückverfolgen. Und schließlich die Menschlichen — dieses große geheimnisvolle Rätsel. Eine zahlenmäßig karge, seltene Spezies von königlich-anmaßenden Geschöpfen, die der Gestalt nach den Angehörigen des VOLKES nicht unähnlich waren, aber eben haarlos und ohne Sensororgan. Sie waren die Beherrscher der Welt gewesen, bevor die Saphiräugigen zu Macht und Größe gelangten, so sagten die Chroniken. Und hatten sich dann entschieden, diesen die ganze Macht und Herrschaft zu überantworten.

Das fiel Thu-Kimnibol nicht leicht, das zu verstehen: dieses Aufgeben der Macht. Doch noch seltsamer erschien ihm dieses passive Verhalten, mit dem die gesamte Große Welt so einfach ihren Tod hingenommen hatte, als offenkundig wurde, daß diese Todessterne vom Himmel herabstürzen und so schreckliche Wolken von Staub und Rauch emporwirbeln würden, daß das Licht der Sonne nicht mehr bis auf die Erde herabströmen konnte und daß für eine nichtkalkulierbare Folge von Jahrhunderten alle Wärme dahin sein würde.

Hresh behauptete, die Große Welt hätte seit mindestens einer Million Jahren gewußt, daß diese Todessterne kommen würden. Und trotzdem hatten die Leute damals es vorgezogen, nichts dagegen zu tun.

Thu-Kimnibol machte die Vorstellung rasend, daß da eine ganze Große Welt bereitwillig und ohne Gegenwehr in den Tod ging. Es war vernunftwidrig, es war unbegreiflich! Beim bloßen Gedanken daran begannen sich seine Muskeln zu verhärten, und seine Seele wand sich in Qual.

Wenn die schon dermaßen groß waren, sagte er zu sich, wieso haben sie dann nicht die Todessterne im Himmel zertrümmert, bevor die runterknallten? Warum haben sie nicht sowas wie ein Fangnetz über das Firmament gespannt? Anstatt gar nichts zu tun und den Tod aus den Sternen einfach hinzunehmen?

Die Saphiraugen und die Vegetabilischen waren in ihren großen Städten schlicht erfroren; wahrscheinlich auch die Seelords, als die Ozeane zu Eis wurden; die Mechanischen verrosteten und verfielen einfach; die Menschlichen waren verschwunden, keiner wußte, wohin; allerdings hatten sie sich vorher noch die Mühe gemacht, einfachere Kreaturen wie etwa die vom VOLK vorher noch bei deren Rasserettungsversuch zu unterstützen, indem sie sie in die Kokons führten, in denen sie geschützt überdauern und das Ende des Langen Winters abwarten konnten.

Einzig die Hjjks, denen Kälte nichts ausmachte und die nahezu sämtlichen sonstiger Unbill gleichfalls überheblich trotzten, hatten die Katastrophe überstanden. Aber sogar sie waren von dem Gipfel an Größe, den sie in der früheren Ära erlangt hatten, ziemlich weit wieder abgerutscht.

Simthala Honginda, der neben Thu-Kimnibol an der Tete der Karawane fuhr, fiel nach einiger Zeit die gedrückte Stimmung seines Chefs auf.

„Was bedrückt dich, Prinz?“

Thu-Kimnibol wies mit der Hand auf die Karstebene. „Das da, wo wir herkommen.“

„Es ist doch bloß ein Ruinenfeld. Warum beunruhigen dich denn Trümmer dermaßen?“

„Mich beunruhigt die Große Welt. Und ihr Untergang. Daß die so gar nichts getan haben, damals, um sich zu schützen.“

„Vielleicht hatten sie keine andere Wahl.“

„Hresh glaubt aber, sie hätten die Wahl gehabt. Sie hätten den Sturz der Todessterne verhindern können, wenn sie gewollt hätten. Hresh sagt, es gibt eine Erklärung dafür, warum sie das nicht gewollt haben; aber er will nicht sagen, was für eine. Du mußt es selber herausfinden, sagt Hresh. Du würdest es nicht verstehen, sagt er, wenn ich es dir einfach sagen würde.“

„Stimmt. Sowas hab ich auch von ihm gehört, als das Thema mal aufkam.“

„Aber, wenn er nicht die Wahrheit sagt? Wenn er selbst ganz einfach die Wahrheit nicht weiß?“

Simthala Honginda lachte. „Ich glaube, es gibt nur ganz wenig, was Hresh nicht weiß. Aber ich hab es eigentlich nie erlebt, daß Hresh, wenn er etwas nicht weiß, das nicht zugibt, oder so tut, als wüßte er es. Und ich habe auch nie erlebt, daß er gelogen hätte. Aber du kennst ihn natürlich viel besser als ich.“

„Nein, ein Lügner ist er nicht“, sagte Thu-Kimnibol. „Und du hast recht, er würde immer klar und unzweideutig sagen, daß er etwas nicht weiß. Also muß es eine Antwort auf die Frage geben — und Hresh hat sie. Und es dürfte ja nicht gar zu schwierig sein, sie zu finden, wenn wir nur ein wenig nachdenken.“ Er schwieg einige Zeit und knetete einen verspannten Muskel an seinem Hals. Dann wandte er sich wieder Simthala Honginda zu und lächelte. „Ehrlich, ich glaube, ich habe die Antwort selber schon gefunden.“

„Wirklich? — Und wie lautet sie?“

„Auf einmal ist mir das alles ganz klar. Man braucht nicht mal ein Zehntel so gescheit zu sein wie Hresh. Willst du wirklich wissen, warum die Saphiräugigen es zugelassen haben, ohne was dagegen zu tun, daß sie ausgestorben sind? Weil sie eine Rasse von Trotteln waren. Dümmliche Idioten, das waren sie, und sie hatten einfach nicht genug Hirn, um sich an einen Rettungsversuch ihrer Art zu wagen. Verstehst du? So einfach war die Sache, mein Freund!“


Curabayn Bangkea saß an seinem Schreibtisch im Hauptquartier der Stadtwache und blätterte scheinbar geschäftig in Aktenordnern, als überraschend und unangemeldet Nialli Apuilana eintrat. Überrascht und von ihrem Anblick bestürzt, blickte er auf. Und als sein Blick über ihre hohe, schlanke Gestalt glitt — so weich war sie und dabei von solch königlicher Haltung —, blühten in seinem Herzen sofort üppige hocherregte Phantasien auf. Es hatte ihn stets nach ihr gelüstet, doch er wußte, daß er eben nur einer von vielen war, denen das Maul wässerte.

Während er sie jetzt ansah, dachte er: Sie ist so scheu wie ein schreckhaftes Xlendi. Und sie flieht jeden, der sie einzufangen versucht. Dabei fehlt ihr doch bloß die richtige feste Hand, damit sie richtig spurt. Und warum sollte das nicht meine Hand sein?

Er war sich natürlich völlig darüber im klaren, wie absurd seine Lustvorstellungen waren. Die Chance, daß sie hierher, in seine Amtsstube, kommen könnte, sich dem Hauptmann der Stadtwache zu Liebesdiensten anbieten würde, war nun wahrhaftig äußerst gering. Und wenn er daran je Zweifel gehegt hätte, so brauchte er ihr nur jetzt ins Gesicht zu blicken. Ihr Ausdruck war völlig kühl und geschäftsmäßig distanziert.

Er sprang hastig auf. „Ach, Edle, was verschafft mir dieses unerwartete Vergnügen?“

„Ihr haltet Kundalimon quasi in Hausarrest fest. Und ich frage, warum, Curabayn Bangkea?“

„Aha. Er bereitet dir Kummer?“

„Es bereitet ihm Kummer. In dieser Stadt ist er geboren, sie ist seine Heimat. Also, warum soll er wie ein Gefangener behandelt werden?“

„Er kam von den Hjjks zu uns, Edle.“

„Ja. Als Gesandter. Und demzufolge hat er Anspruch auf die üblichen Höflichkeitsformen, die einem Diplomaten zustehen, in diesem Falle: Immunität und Sonderprivilegien. Entweder man räumt ihm ungehinderte Bewegungsfreiheit in der Stadt ein, weil er ein Bürger von ihr ist, oder aber weil er der Repräsentant einer souveränen Nation ist, mit der wir uns nicht im Kriegszustand befinden.“

Ihre Augen blitzten vor Zorn, die Nasenflügel blähten sich, ihre Brust wogte. Curabayn Bangkea geriet bei ihrem Anblick ebenfalls in Erregung. Sie trug weiter nichts als eine Schärpe und ein paar Schmuckbänder über den Schultern. Keineswegs eine ungewöhnliche Kostümierung in dieser warmen Jahreszeit, dennoch aber spärlicher, als es heutzutage bei unvermählten Frauen üblich war. Eine solche FastNacktheit mochte in der Epoche des Kokons tolerabel gewesen sein, dachte Curabayn Bangkea, aber wir sind jetzt denn doch ein wenig zivilisierter geworden. Warum mußte dieses Mädchen nur dermaßen provozieren!

Ausweichend sagte er: „Das Procedere schreibt vor, daß alle Fremden für eine gewisse Zeit ins Mueri-Haus zur Beobachtung verbracht werden, bis wir Gewißheit haben, ob sie Spione sind oder nicht.“

„Er ist kein Spion. Er ist ein Abgesandter der Königin.“

„Nun, es gibt Leute, die argumentieren würden — und dein Gevatter, Prinz Thu-Kimnibol beispielsweise gehört zu ihnen —, daß das mehr oder weniger auf eins hinausläuft.“

„Dem mag sein, wie immer ihr wollt“, entgegnete Nialli. „Er hat sich mir gegenüber beschwert, daß er quasi in Haft gehalten werde. Er empfindet das als unfreundlichen und rechtswidrigen Akt. Und ich schließe mich dieser Meinung an. Ich möchte dich daran erinnern, daß mir die Verantwortung für sein Wohlergehen übertragen ist. Der Chronist höchstpersönlich hat ihn in meine spezielle Obhut gegeben, wenn ich dich daran erinnern darf.“

Curabayn riß daraufhin momentan seine Augen einen Spaltweit auf. „Wenn es nach mir ginge, Edle, ich würde ihn sofort aus jeglicher Beschränkung befreien. Aber er untersteht der Jurisdiktion von Husathirn Mueri. Er saß auf dem Richterthron, an dem der Fremdling in Gewahrsam gebracht wurde. Du solltest dein Ersuchen an ihn richten, nicht an mich.“

„Ich verstehe. Ich dachte, das fällt unter die Befugnisse des Hauptmanns der Wachen.“

„In dieser Sache habe ich keinerlei Autorität. Doch wenn du es wünschst, werde ich bei Husathirn Mueri zu deinen Gunsten vorstellig werden.“

„Du meinst, zu Kundalimons Gunsten!“

„Ja, richtig. Ich werde versuchen, daß der Befehl abgeändert wird. Wenn es mir gelingt, wird man dich heute im späteren Tagesverlauf benachrichtigen, hoffe ich. Du wohnst noch im Nakhaba-Haus, ja?“

„Ja. Ich danke dir. Ich weiß deine Hilfe zu schätzen, Curabayn Bangkea.“

Aber sie klang nicht übertrieben dankbar. Ihr Blick war steinkalt, kein Anflug von Wärme darin, und auch der Zorn schwelte dort noch immer. Irgendwas war ganz eindeutig schiefgelaufen, und sein Hilfsangebot hatte daran nichts ändern können.

„Gibt es sonst noch was, was ich für dich tun kann, Edle?“

Nialli schwieg eine Weile. Sie gestattete sich ein kurzes Senken ihrer Augenlider, ehe sie sprach: „Doch. Da ist etwas sehr Törichtes, und ich zögere eigentlich fast, dir davon zu sprechen; es war so — beleidigend. Es gibt da einen Bruder von dir, der Wachdienst am Mueri-Haus hält — Elythayn, ja, so heißt er, glaub ich. Er ist doch dein Bruder?“

„Eluthayn, ja. Mein jüngster Bruder.“

„Also gut. Vor einigen Tagen, ich kam zu meinem regelmäßigen Besuch ans Haus, hat dieser dein Bruder versucht, mich zu belästigen. Es kam zu einem häßlichen Auftritt.“

Curabayn fragte verständnislos: „Dich zu belästigen, Edle?“

Wieder blähten sich ihre Nasenflügel. „Du verstehst schon, was ich meine! Er machte mir grob-unzüchtige Angebote, dieser dein Bruder. Völlig überraschend und ohne daß ich ihn im geringsten herausgefordert hätte, trat er mir zu nahe, blies mir seinen stinkenden Atem ins Gesicht und. und er.“

Sie brach ab. Curabayn Bangkea war alarmiert. War sein Bruder wirklich dermaßen idiotisch gewesen, sich sowas zu erlauben? Na, also sie hat ihn bestimmt ganz schön provoziert, dachte er, und starrte Niallis entblößte Brüste an, die langen seidigen Schenkel unter dem glatten rotbraunen Pelz. Doch wenn Eluthayn es wirklich gewagt hatte, unaufgefordert Hand an die Häuptlingstochter zu legen.

„Er hat dich berührt, Edle?Annäherungsversuche?“

„Annäherungsversuche, ja. Sekunden später hätte er mich auch noch angefaßt.“

„Yissou!“ rief Curabayn und breitete die Arme aus. „Wie abgrundblöde von dem Jungen! Was für eine Unverschämtheit!“ Der Hauptmann der Wache stürzte dermaßen hastig und ungeschickt auf Nialli zu, daß er fast mit dem Helm gegen den von der Decke hängenden Beleuchtungskörper geprallt wäre. „Ich werde mir den Burschen vornehmen, sei dessen versichert, Edle. Ich werde die Sache genau untersuchen, und er wird eine Disziplinarstrafe erhalten. Und ich werde ihn auch zu dir schicken, damit er sich gebührlich entschuldigt. Annäherungen, sagst du? Annäherungen?“

Ein fast unmerkliches Zucken glitt über ihre Schultern, ein Schaudern des Widerwillens, und ihre Brüste erbebten. Sie wandte den Blick ab. Mit weicherer Stimme als bisher, wie wenn Bekümmerung und Scham die Oberhand über ihren Zorn gewönnen, sagte sie: „Strafe ihn, wie du magst. Ich will keine Entschuldigungen von ihm hören. Ich will ihn nur nie, niemals wieder zu Gesicht kriegen.“

„Aber, ich versichere dir, Edle.“

„Genug! Ich möchte über die Sache wirklich nicht weiter sprechen, Curabayn Bangkea!“

„Zu Befehl, Edle! Ich werde mich um alles kümmern. Ich möchte um alles nicht, daß du dermaßen beleidigt wirst — sei es durch meinen eigenen Bruder oder irgendwen sonst!“

Wurde sie ein wenig nachgiebiger? Zum erstenmal seit ihrem Eintreten lächelte sie dünn, aber immerhin — sie lächelte. Möglich, daß ihr Zorn nun verschwand, nachdem sie gesagt hatte, was zu sagen sie hergekommen war. Curabayn glaubte sogar so etwas wie Dankbarkeit in ihren Augen zu lesen — vielleicht noch etwas mehr. Vielleicht war ja etwas über die Kluft gesprungen, die ihn von ihr schied. Einen ähnlichen Blick hatte er oft in den Augen anderer Frauen erkannt, denen er seinen Beistand und anderes angedient hatte. Er war jetzt ganz sicher, diesen Blick auch hier wieder gesehen zu haben. Er war ein von Grund auf selbstsicherer Mann. Und nun überströmte ihn eine Woge von Selbstgefälligkeit und Selbstsicherheit, ja beinahe von Kühnheit. Wo Brüderchen Eluthayn, der junge, ungehobelte Flaps, gescheitert war, bestanden für ihn doch durchaus Erfolgschancen. Es würde die Erfüllung seiner wildesten Wunschträume sein. Und so griff er ohne Zögern nach Nialli Apuilanas Händen und begann sie zärtlich zu betätscheln.

„Darf ich es wagen, Edle, die unglückselige Tölpelhaftigkeit meines Bruders wieder gutzumachen? Wenn du vielleicht die Güte haben möchtest, mir die Ehre antun, mein Abendessen — mit Wein, selbstverständlich! — mit mir zu teilen. Heute abend oder am morgigen Abend. Ich wollte mich wohl bemühen, dir zu beweisen, daß nicht alle Männer aus dem Hause Bangkea so plump und hirnlos sind.“

„Was?“ Nialli schrie fast und riß ihm die Hände fort, als wären seine von Schleim bedeckt. „Fängst du jetzt auch noch an, Curabayn? Seid ihr denn alle verrückt geworden? Du beschuldigst deinen Bruder der Indezenz, und dann befummelst du selber mich mit deinen Händen? Lädst mich zum Abendessen... ein. Erbietest dich, mir zu beweisen — daß. O nein, nein, nein, Wachhauptmann. Nein!“ Sie begann zu lachen.

Curabayn starrte sie entsetzt an.

„Muß ich in einem Panzermantel herumlaufen? Muß ich voraussetzen, daß jeder Soldat der Stadtwache zu sabbern anfängt und mich angeilt, sobald ich in seine Reichweite komme?“ Ihre Augen waren jetzt wieder kalt wie Flintstein. Und sie sah ihrer Mutter wie aus dem Gesicht geschnitten ähnlich. Vor ihrer kalten Wut schreckte Curabayn zurück, als stünde er dem Häuptling selbst gegenüber. Ihre Stimme war eisig, als sie sagte: „Sprich mit Husathirn Mueri, wenn du gütig sein willst, über die Angelegenheit mit dem Hausarrest. Und was deinen Bruder angeht, so möchte ich, daß er auf einen anderen Posten versetzt wird, weit weg vom Mueri-Haus. Guten Tag, Curabayn Bangkea!“

Sie stürmte aus dem Raum.

Er saß erstarrt eine Weile da, während seine Rute erschlaffte. Lange brütete er dumpf darüber nach, wieso er dermaßen schamlos hatte sein können. Wie konnte ich bloß so idiotisch sein, grübelte er.

Auch wenn sie hier angetanzt kam, mit nichts weiter am Leib als Bändern und einer Schärpe. Auch wenn sie dich mit diesem warmen zerschmelzenden Lächeln der Dankbarkeit angestrahlt hat. Aber ihre Zartheit, ihr Duft hatten ihn überwältigt, die Nähe — und seine eigene närrische Selbstüberheblichkeit. Aus all diesen Gründen hatte er sich zu einem Übergriff in einem Bereich hinreißen lassen, der für ihn tabu hätte bleiben sollen. Er überlegte, wie sehr er sich damit selbst geschadet haben konnte. Vielleicht hatte er sich ja die Karriere ruiniert? Eine ungewohnte Furcht ließ ihn erzittern.

Dann Zorn, wilder zielloser Zorn gegen das Universum ganz allgemein, der in ihm aufquoll und die Furcht vertrieb. Er brüllte seinem Assistenten im Flur zu: „Bringt mir meinen Bruder Eluthayn her!“


Der junge Wachsoldat kam lässig und mit unbekümmerter Miene herein. Doch das änderte sich, sobald er das Gesicht seines älteren Bruders sah.

Kalt fuhr Curabayn Bangkea ihn an: „Du Schwachkopf! Stimmt es, daß du versucht hast, die Tochter des Häuptlings zu vergewaltigen?“

„Vergewaltigen? Was quatschst du da, Mann?“

„Sie war grad hier und hat ausgesagt, daß du sie belästigt hast. Ihr obszöne Anträge gemacht hast. Sie hat mich wütend abgekanzelt, du sabbernder kleiner Mistbock. Ich hab sie zu beruhigen versucht, und vielleicht ist mir das gelungen. Vielleicht nicht. Bis sie damit fertig ist, bricht sie mir vielleicht das Genick, genau wie dir. Was — in Nakhabas Namen — hast du bloß gemacht, he? Sie am Hintern begrapscht? Ihre Brust gedrückt?“

„Ich hab ihr doch bloß einen ganz unschuldigen kleinen Vorschlag gemacht, Bruder. Also, vielleicht nicht ganz unschuldig, aber doch nur im Scherz. Da stand sie vor mir, fast nackt, wie sie halt die ganze Zeit herumläuft, das weißt du ja, und wollte zu dem Jungen rauf, der von den Hjjks gekommen ist, und ich hab irgendwie was gesagt, daß ich ebenfalls nichts dagegen haben würde, mit ihr ’ne Weile allein in einem Zimmer zu sein. Mehr nicht.“

„Mehr war da nicht?“

„Ich schwör es dir bei unsrer Mutter. Bloß ’ne ganz kleine Anmache, weißt du, nichts Ernstes — allerdings war ich bestimmt nächsten Moment zur Sache gekommen, sag ich dir ganz ehrlich, wenn sie angebissen hätte. Bei diesen Hochgeborenen weiß man ja nie. Aber sie hat glatt durchgedreht. Fängt an zu geifern und zu kreischen. Sie hat mich angespuckt, Curabayn.“

„Angespuckt?“

„Direkt ins Gesicht, hier. Ein dicker saftiger Speichelbrocken war das, und ich bin mir stundenlang ganz dreckig vorgekommen. So, wie die getobt hat, hätte man glauben können, daß ich sie bis in den Grund ihrer Seele beleidigt habe. Mich anzuspucken, wie wenn ich ein Tier war — oder schlimmer als ein Tier, Bruder! Was bildet die sich denn ein, wer sie ist?“

„Sie ist die Tochter des Häuptlings, und das ist nun mal Tatsache. Und des Chronisten“, sagte Curabayn Bangkea mit Nachdruck.

„Es ist mir egal, von wem sie die Tochter ist. Sie ist auch bloß eine Schlampe, die die Beine breitmacht wie die andern alle, Bruder.“

„Vorsicht! Es ist gefährlich, Hochgeborenen was Übles nachzusagen, Eluthayn.“

„Was denn für üble Nachrede? Ist die denn solch ein Muster an Tugendhaftigkeit? Sie und der Junge im Mueri-Haus, die treiben es miteinander wie Xlendis in der Brunft. Von dem läßt sie sich stundenlang ficken, Bruder!“

Curabayn erhob sich mit einem überraschten Grunzen von seinem Stuhl. „Was war das? Was hast du da gesagt?“

„Bloß die Wahrheit. Als sie mich da angespuckt hatte, bin ich raufgeschlichen und hab an der Tür gehorcht, ob die wirklich ein Recht hat, so großmächtig und erhaben zu tun. Und da hab ich gehört, wie sie drauflos nagelten. Auf dem Fußboden noch dazu — wie die Tiere. Ich bin ganz sicher. Außerdem, der Lärm, den sie machten, das Grunzen und Ächzen, war eindeutig. Und inzwischen hab ich das noch ein paarmal gehört. Glaubst du im Ernst, Hresh wäre erfreut, wenn er wüßte, daß sie mit dem Kerl kopuliert? Oder der Häuptling, wenn sie es wüßte?“

Die Worte seines Bruders durchbohrten Curabayn wie eine Lanze. Dadurch war die ganze Situation völlig verändert. So, sie kopulierte also mit Kundalimon. Ging es um nichts weiter bei diesen gemütlichen kleinen Begegnungen? Dann war er in Sicherheit, und Eluthayn auch. Denn warum sollte nicht der Wachhauptmann (oder sogar sein blöder jüngerer Bruder) ebenfalls ihre Dienste der hochwohlgeborenen Nialli Apuilana für ein bißchen Kopulationsspaß anbieten dürfen, wenn sie sich bereitwillig mit einem Schwanz aus dem Hjjk-Nest auf dem Boden herumwälzte, der bloß klickend und schnarrend reden konnte?

Streng fragte er: „Bist du dessen absolut sicher?“

„Bei der Seele unsrer Mutter, ja.“

„Gut. Sehr gut. Was du mir grad erzählt hast, wird sehr nützlich sein.“ Er ließ sich wieder auf seinen Stuhl fallen, saß eine Weile vollkommen still da und wartete, bis sich der Stress dieses Morgens verflüchtigt hatte. Schließlich sprach er: „Es ist dir doch klar, daß ich dich zu einer anderen Wache einteilen muß, um sie zufriedenzustellen. Das ist dir natürlich spinnenfurzegal. Und wenn du ihr auf der Straße begegnen solltest, dann sei um Yissou willen demütig und tief respektvoll. Verneige dich vor ihr, schlag die Heiligen Zeichen, knie hin und küsse ihr die Zehen, wenn nötig. Nein, das lieber doch nicht. Küsse sie nirgendwohin. Aber zeige Respekt. Du hast sie tödlich beleidigt, und sie hat Macht über uns, und das müssen wir berücksichtigen.“ Curabayn grinste. „Aber jetzt, jetzt glaube ich, auch ich habe ein bißchen Macht über sie. Und das dank dir, du blöder geiler Bock.“

„Möchtest du mir das erklären, Bruder?“

„Nein. Verdrück dich jetzt von hier! Und sei in Zukunft zurückhaltender bei hochgestellten Weibern. Steck deinen Schwanz sonstwo rein, Kleiner. Denk immer dran, wer und was du bist.“

„Aber ins Gesicht hätte sie mir nicht spucken müssen, Bruder“, sagte Eluthayn trotzig.

„Weiß ich, Junge. Aber sie ist eben was Besseres, und die denken eben anders über sowas.“ Er machte scheuchende Handbewegungen vor dem Gesicht seines Bruders. „Also, verschwinde jetzt, Eluthayn. Verzieh dich!“


Das Landschaftsbild änderte sich immer wieder auf Thu-Kimnibols Nordlandfahrt zur Stadt Yissou. Inzwischen zog die Karawane durch weite für die westlichen Seewinde offene Ebenen, die Luft war feucht und salzig, und an jedem Strauch und Busch hingen blaugrüne Schuppenmoosbärte. Und dann wieder führte die Straße durch breite, flache totenstille Trockentäler im Schutz von kahlen steilen Bergketten zur See hin, und auf der sandigen Erde lagen die bleichenden Schädel unbekannter Tiere. Dann drangen die Fahrenden in bewaldetes Hochland vor, wo sich verkrümmte blattlose Bäume mit fahlen spiraligen Stämmen an gefährlich steil überhängende Vorsprünge von schwarzer Erde klammerten; und aus dem noch höheren Land im Osten hörte man fremdartiges Geheul und Pfeifen herabwehen.

Mit Betroffenheit spürte er in sich ein tiefes Bewußtsein wachsen: für die gewaltige Weite der Welt, für die Größe und das Gewicht der unermeßlichen Kugel, über deren Oberfläche er, Thu-Kimnibol, dahinkroch.

Ihm war, als zöge jede Handbreit Erde, die er beschritt, in sein Inneres ein und werde Teil von ihm: als schlinge er sie in sich hinein, verzehrte sie und machte sie sich für alle künftige Zeit zu eigen. Dies trieb ihn nur um so heftiger vorwärts und weiter voran über das Antlitz der Erde. Er erkannte, daß er sich in diesem Punkt von dem Rest des VOLKS unterschied, den Alten, die noch im Stammeskokon geboren waren und die, wie er argwöhnte, immer noch heimlich den Drang verspürten, sich zurück an einen engen, warmen, sicheren Ort zu verkriechen und die Luke hinter sich zu versiegeln. Aber nicht so er. Nein, er nicht! Mehr als wohl jemals zuvor und tiefer begriff er nun diesen Hunger in seinem Bruder Hresh: zu wissen, zu entdecken, zu durchschauen.

Er war bereits einmal durch diese Landstriche gezogen. Damals war er achtzehn und auf der Flucht nach Süden von Yissou nach Dawinno. Aber er hatte nur noch schwache Erinnerungen an diese frühere Fahrt. Die meiste Zeit war er in vollem Galopp geritten, den Kopf über den Hals seines Xlendi gebeugt, von Wut und bitterem Gram vorangehetzt. Dieser erbarmungslose, wuterfüllte Ritt ruhte in seinem Gedächtnis jetzt, über zwei Dekaden später, nur mehr als ein harter verkapselter Knoten, der allerdings immer noch schmerzte, wenn man ihn drückte — wie die Erinnerung an einen schrecklichen Verlust oder an eine tödliche Krankheit, die man nur unter schwerer seelischer Belastung überstand. Er rührte an dies alles nicht mehr, als unumgänglich war.

Inzwischen hatten sie die Hälfte der Strecke hinter sich gebracht und fuhren durch Tributarländer Salamans. Thu-Kimnibols Laune war in diesen Tagen meist umdüstert. Die Wende war eingetreten, als sie diese Ruine aus der Großen Welt passierten, was Erinnerungen an Naarinta in ihm wachgerufen hatte und diese düsteren unfruchtbaren Gedanken an die ferne Vergangenheit. Nun aber hatten sich die Erinnerungen an die verschwundenen Tage seines persönlichen Lebens lastend über ihn gesenkt: an verpaßte Gelegenheiten, falsche Richtungen, die er eingeschlagen hatte, an den geliebten ihm entrissenen Gefährten. seine Naarinta.

Er gab sich große Mühe, seinen Seelenzustand vor den anderen zu verbergen. Doch als dann die Karawane aus dem Bergland in eine fruchtbare Ebene hinabstieg, die von zahlreichen hurtigen Bächen und eilenden Flüssen durchzogen war, sprach Simthala Honginda brüsk und unaufgefordert: „Mein Prinz, ist es der Gedanke an die Wiederbegegnung mit Salaman, was dich so tief bedrückt?“

Bestürzt blickte Thu-Kimnibol auf. War er denn tatsächlich so leicht durchschaubar?

„Warum sagst du das?“

„Ihr beide wart einmal erbitterte Feinde. Das weiß man doch!“

„Nein, Freunde waren wir wohl nie, glaube ich. Und eine Zeitlang stand es zwischen uns gar nicht zum besten. Aber das ist doch Ewigkeiten her!“

„Aber ich glaube, du haßt ihn noch immer.“

„Ich habe in fünfzehn Jahren kaum jemals einen Gedanken m ihn verschwendet. Nein, Salaman, das ist abgetan und eine erledigte Geschichte für mich.“

„Ja, sicher. Ja, gewiß wird das wohl so sein.“ Und dann, mit übertriebenem Takt: „Aber je mehr wir uns Yissou nähern, desto tiefer versinkst du in düsteren Gram.“

„Düster? Gram?“ Thu-Kimnibol zwang sich ein Lachen ab. „Du meinst also, ich versinke in Trübsal, Simthala Honginda?“

„Das würde ein Blinder sehen!“

„Schön, falls es stimmt, so hat es nicht das geringste mit Salaman zu tun. Ich habe vor kurzem einen schweren persönlichen Verlust erlitten. Oder hast du das bereits vergessen?“

Simthala Honginda tat zerknirscht. „Aber ja, ja natürlich. Vergib mir, Prinz! Und mögen die Götter der Edlen Naarinta Frieden gewähren!“ Er schlug hastig das Zeichen Mueri-der-Trösterin.

Nach einer langen Pause sagte Thu-Kimnibol: „Es wird schon seltsam sein, Salaman nach so langer Zeit wiederzusehen. Aber Probleme, nein, es wird keine geben. Was kann das heute schon noch für eine Rolle spielen, wie giftig wir früher, vor so langer Zeit, einmal aufeinander waren? Worum es geht, das sind die Hjjks! Und in dem Punkt denkt Salaman genauso wie ich. Es war uns von Anfang an vom Schicksal bestimmt, daß wir Seite an Seite gegen sie kämpfen. Und bald wird es so sein. Das Bündnis, das wir aufbauen wollen, das ist es, was zählt. Wozu sollte er uralten Groll ausgraben wollen? Oder ich?“

Er wandte das Gesicht wieder dem Aussichtsfenster zu und setzte so dem Gespräch ein vorläufiges Ende. Später streckte er die Hand hinaus und signalisierte Esperasagiot, daß die Karawane anhalten solle. Die Xlendis mußten hier getränkt werden; und überdies war es ein angenehmer Ort, um das Abendmahl einzunehmen.

Das vor ihnen liegende Land war üppig-grün. Ein Gewirr von Wasserläufen schimmerte wie geschmolzenes Silber im Nachmittagsschein. Guter, ertragreicher Boden hier. Mit etwas Drainage würde das hier vielleicht den Bedarf einer Großstadt wie Dawinno decken. Thu-Kimnibol überlegte, wieso Salaman diesen Distrikt nicht längst erobert und agrarisch nutzbar gemacht hatte. Er lag doch gar nicht dermaßen weit südlich von Yissou.

Na ja, typisch Salaman, dachte er verächtlich, solch einen fruchtbaren Landstrich ungenutzt vergammeln zu lassen. Eine derartige Zentralisierung und Expansionsverzicht, damit er sich hinter seiner grotesken Mauer verschanzen konnte.

Simthala Honginda hat recht, sagte er sich: Du haßt den Kerl immer noch, was?

Nein. Aber nicht doch, hassen war ein viel zu heftiger Ausdruck. Aber entgegen allen Beteuerungen, die er Honginda um die Ohren geschmeichelt hatte, er hegte doch den leisen Argwohn, daß die uralten Ressentiments immer noch heimlich in ihm weiterbrodelten.

In Dawinno lief die offizielle Version um, daß er ‚irgendwie‘ Salaman den Thron von Yissou habe streitig machen wollen. Das stimmte natürlich ganz und gar nicht. Thu-Kimnibol hatte schon sehr früh erkannt, daß er nie der Beherrscher der Stadt sein würde, die sein Vater begründet hatte, nachdem sein Vater dahingegangen war. Er war noch viel zu jung gewesen, als Harruel in der Hjjk-Schlacht fiel, um die Königsherrschaft zu übernehmen. Also war Salaman damals der einzige akzeptable Thronkandidat gewesen. Und sobald er einmal an der Macht geleckt hatte, war es kaum zu erwarten, daß er sie aus reiner Herzensgüte wieder aufgeben würde, sobald Thu-Kimnibol seine Volljährigkeit erreicht hatte. Das war allen und jedem klar. Thu-Kimnibol war von Anfang an willens, Salaman als König anzuerkennen. Und verlangte als Gegenleistung nichts weiter als ein wenig Achtung und Respekt, wie sie ihm als dem Sohn des Ersten Königs der Stadt gebührten: angemessene Privilegien, Vorzugsstellung, ein anständiges Palais, ein erhöhter Vorzugsplatz neben Salaman bei offiziellen Staatsfeierlichkeiten.

Dies hatte Salaman ihm gewährt, für einige Zeit. Bis dann der König in seinen mittleren Lebensjahren sich zu verändern begann, bis er immer reizbarer wurde und sein Gemüt unruhig, und er ein neuer umdüsterter Salaman war, bitter und voll Argwohn.

Erst dann gewann der König die Erkenntnis, daß Thu-Kimnibol Ränke wider ihn schmiede. Doch dieser hatte ihm nie einen Anlaß für solche Vermutungen geboten. Vielleicht hatte ja ein Feind dem König Lügenmärchen ins Ohr geflüstert. Wie dem immer, die Beziehung zwischen ihnen verschlechterte sich danach rasch. Es hatte Thu-Kimnibol nicht gestört, daß Salaman ihm seinen eigenen Sohn, Chham, vorzog, denn dies war ja nur natürlich. Dann aber wurde der zweitgeborene Sohn an der königlichen Tafel über ihn gesetzt, und dann auch der dritte, und als Thu-Kimnibol sich eine der Töchter des Königs zur Gefährtin erbat, wurde er abgewiesen; und dem folgten weitere Demütigungen. Er war ein Königssohn; er durfte sich eine bessere Behandlung von Salaman erwarten. Der letzte Zündfunken war dann eine Geringfügigkeit protokollarischer Art gewesen, so unbedeutend, daß Thu-Kimnibol sich heute nicht mehr erinnern konnte, um was es gegangen war. Jedenfalls gerieten sie in lauten Streit darüber, und er bedrohte den König mit der Faust und hätte ihn beinahe geschlagen. Er wußte, dies war sein Ende in der Stadt Yissou. In selbiger Nacht noch floh er und war nie wieder zurückgekehrt.

Zu Simthala Honginda sprach er: „Da schau, Dumanka hat uns etwas fürs Abendmahl erlegt.“

Der Quartiermeister war von seinem Wagen gestiegen und hatte unten, südlich vom Weg, am Ufer eines Baches mit dem Speer ein Tier erbeutet und schickte sich gerade an, ein zweites zu fangen.

Thu-Kimnibol war froh über diese Ablenkung. Das Gespräch hatte eine bedrückende Wendung genommen und alte Erinnerungen an schwierige Zeiten in ihm wachgerufen — und er hatte sich in Widersprüchen verfangen. Er erkannte nun, daß er zwar seinen alten Streit mit Salaman beiseitelegen konnte, daß es ihm aber doch, entgegen allen Beteuerungen, schwerer fallen würde, zu vergeben und zu vergessen.

Er legte die Hand an den Mund und rief: „Was jagst du uns da unten, Dumanka?“

„Caviandis, mein Prinz!“ Der Quartiermeister, ein muskulöser, wenig zu Unterwürfigkeit neigender Mann koshmarischer Abstammung, trug einen zerbeulten glanzlosen Benghelm lässig über den Schultern. Er hatte gerade ein zweites Tier erjagt und hielt nun stolz mit beiden Händen die purpur-gelben Körper in die Höhe. Schlaff hingen sie herab, die stämmigen Ärmchen baumelten, und hellrot sickerte das Blut aus ihrem glatten Fell. „Frisches Fleisch — mal ’ne Abwechslung!“

An Thu-Kimnibols Seite stand Pelithhrouk, ein junger adliger Offizier und Günstling Simthala Hongindas. Er fragte: „Ist es recht, daß wir sie töten? Was meinst du, Prinz?“

„Warum denn nicht? Es sind doch nur Tiere. Fleisch, weiter nichts.“

„Auch wir waren einst nur Tiere“, sagte Pelithhrouk.

Thu-Kimnibol fuhr erstaunt zu ihm herum. „Was sagst du da? Daß wir nicht besser sind als Caviandis?“

„Ganz und gar nicht. Ich meine nur, daß die Caviandis vielleicht mehr sind, als wir glauben.“

„Das ist keck gesprochen“, sagte Simthala Honginda betreten. „Das gefällt mir nicht besonders.“

„Habt ihr je ein Caviandi genau aus der Nähe angesehen?“ fragte Pelithhrouk mit einer verzweifelten drängenden Hast. „Ich ja. In ihren Augen leuchtet eine Seele. Ihre Hände sind so menschenhaft wie unsere. Ich glaube, wenn wir mit dem Zweitgesicht ihr Bewußtsein sondieren würden, wir wären überrascht von dem Intelligenzgrad, den wir dort finden würden.“

Simthala Honginda schnaubte: „Ich schließe mich Thu-Kimnibol an, es sind weiter nichts als Tiere.“

Doch Pelithhrouk hatte sich zu weit vorgewagt, um aufzugeben. „Aber intelligente Tiere! Sie warten nur auf die Berührung, den Hauch, um zur nächsten Stufe aufzusteigen, das jedenfalls glaube ich. Statt sie zu jagen und zu verzehren, sollten wir sie mit Achtung behandeln — sie sprechen lehren, vielleicht auch lesen und schreiben, wenn sie dazu fähig sind.“

„Du hast den Verstand verloren“, sagte Simthala Honginda. „Den Keim zu diesem Aberwitz mußt du von Hresh aufgeschnappt haben.“ Er blickte mit einem angewiderten Ausdruck zu Thu-Kimnibol empor, als wollte er sagen, daß ein dermaßen absurdes Gerede aus dem Munde eines jungen Menschen, dem er Mentor gewesen, ihm höchst peinlich sei (was wohl wirklich der Fall war), und sprach: „Bis zum heutigen Morgen habe ich diesen Jungen für einen unsrer tüchtigsten Beamten gehalten. Aber jetzt sehe ich.“

„Nein“, unterbrach Thu-Kimnibol mit erhobener Hand. „Was er sagt, ist interessant. Aber es ist wirklich noch zu früh, daß wir uns Gedanken darüber machen sollten, wie wir anderen Geschöpfen das Lesen und Schreiben beibringen“, sagte er lachend zu Pelithhrouk. „Zuerst müssen wir unser Leben besser und sicherer organisieren, ehe wir uns daranmachen können, den Geschöpfen der Wildnis die Zivilisation beizubringen. Vorläufig jedenfalls sind die Caviandis leider noch auf sich selber angewiesen, und vorläufig sind sie Tiere und werden es auch bleiben müssen. Und wenn du mir sagst, auch wir sind Tiere, schön, so mag es so sein. Auch wir sind Tiere. Aber hier und heute gehören wir zu den Fressern, und sie eben zu denen, die gefressen werden, und da liegt der ganze Unterschied.“

Dumanka war inzwischen heraufgekommen und hatte dem Gespräch mit ausdrucksloser Miene zugehört. Nun warf er die Caviandisleichen Thu-Kimnibol vor die Füße. „Ich geh und mach ein Feuer, Prinz. Wir können in einer halben Stunde schmausen.“

„Wohlgetan“, sagte Thu-Kimnibol. „Und ein Ende mit dem ganzen Gerede. der Fünffaltigkeit sei Dank!“

Das Caviandifleisch schmeckte köstlich, o ja. Thu-Kimnibol verzehrte seinen Anteil ohne Skrupel, auch wenn sekundenkurz der Gedanke in ihm aufzuckte, daß Pelithhrouk möglicherweise recht haben könne und daß diese geschmeidigen kleinen Kreaturen, die als Fischjäger an schnellfließenden Gewässern hausten, in Wahrheit vielleicht intelligente Wesen waren, eine gesellschaftliche Organisation besaßen, eine Sprache und Namen und Götter, ja sogar eine eigene Geschichte. Was wußte man schon über sie? Wer vermochte schon zu bestimmen, welche Lebewesen bloße beseelte Tiere, Animalia, waren und welche zu den Intelligenzbegabten gerechnet werden mußten? Er selber jedenfalls nicht. Und so verdrängte er den Gedanken rasch. Allerdings fiel ihm sehr wohl auf, daß Pelithhrouk seine Portion Fleisch unberührt ließ. Er hat immerhin den Mut, zu seinen Überzeugungen zu stehen, dachte Thu-Kimnibol. Das spricht stark für den Jungen.

Tags darauf ließen sie den Gürtel der Bäche und Marschlande hinter sich und drangen in ein trockeneres Gebiet mit üppigem dunklen Erdreich und Grasmatten vor. In der Dämmerung sahen sie im Norden Laternenbäume wie Leuchttürme aufflammen. Dies war ein gutes Zeichen. Es bedeutete, daß die Karawane sich der Stadt näherte.

Die Laternenbäume waren von Tausenden von kleinen Vögeln bewohnt, die vermittels farbiger Stellen an Hals und Brust ein kaltes, aber helles Licht auszustrahlen vermochten. Unermüdlich blinkten sie ihre hellen Signale, die über weite Entfernung hin sichtbar waren, die ganze Nacht hindurch in stetigem pulsierenden Rhythmus. Tagsüber verhielt sich das winzige stumpffarbige Federvieh reglos in den Nestern auf. Niemand wußte, warum sie sich diese speziellen Bäume als Wohnsitz wählten. Sobald sie sich jedoch einmal solch eines Baumes bemächtigt hatten, gaben sie ihn anscheinend nie mehr auf. Auf diese Weise wurden die Laternenbäume zu geschätzten nächtlichen Wegzeichen, zu verläßlichen Landmarken und vertrauten Orientierungspunkten für den Reisenden.

Hinter diesen Laternenbäumenhainen lagen die Farmen von Yissou. Und wie im Hinterland von Dawinno vor vielen Wochen kamen auch hier die Bauern stumpf und mürrisch und stellten sich an ihren Gemarkungssteinen auf, um die vorbeiziehende Karawane anzuglotzen.

Das Land stieg inzwischen zu der steilen Erhebung im Süden der Stadt an, und dahinter lag dann die Stadt Yissou selbst, behaglich in den Krater gebettet, den der Todesstern geschlagen hatte.

Sie zogen weiter und dann den äußeren Kraterhang hinauf. Kurz darauf zwang sie der gewaltige schwarze Schutzwall zum Halten, eine Mauer um Yissou, die den ganzen Horizont zu verdecken und sich zu fast unglaublicher Höhe emporzuwölben schien.

Der Anblick verschlug Thu-Kimnibol den Atem. Das war so ziemlich das Erstaunlichste, was er je zu sehen bekommen hatte.

Er erinnerte sich, wie die Mauer vor Jahren gewesen war: vier oder fünf massige Lagen massiver Kantquader. Und wie stolz war Salaman gewesen, als der Neue Wall endlich die Stadt von allen Seiten her umringte und man endlich die alte hölzerne Palisadenbefestigung abbrechen konnte! Natürlich wußte Thu-Kimnibol, daß Salaman seinen Wall Jahr um Jahr unablässig weiter erhöht hatte. Doch er hatte nie erwartet, eines Tages vor so etwas Grandiosem zu stehen. Das Bollwerk wuchtete sich beängstigend und als überwältigende Masse in die Höhe und war eine schreckliche Aufschichtung von schwarzem Gestein, die fast den Himmel verdeckte.

Vor welchem Feind fürchtete sich Salaman, daß er einen solchen Schutzwall nötig fand? Was für düstere Dämonen hatten sich in seiner Seele eingenistet, in den Jahren seit ihrer letzten Begegnung?

Auf der Mauerkrone standen in enger Formation etwa tausend Speerkrieger. Ihre Lanzen hoben sich stachelscharf gegen den hellen Himmel ab. Sie standen starr, fast bewegungslos. Und die Höhe der Mauer machte sie zu Zwergen: Sie sahen kaum größer aus als Ameisen.

Unterhalb von ihnen war ein gewaltiges mit Erzriegeln armiertes Holztor. Als die Karawane sich näherte, öffnete es sich mit lautem Knarren und Quietschen, und ein halbes Dutzend (nicht eine mehr) unbewaffneter Gestalten trat daraus hervor und begab sich etwa hundert Schritt weit ins offene Gelände vor der Mauer. Das Tor schloß sich hinter ihnen. Anführer der Gruppe war ein untersetzter, breitschultriger Mann, den Thu-Kimnibol zunächst für Salaman selber hielt, bis ihn ein zweiter Blick belehrte, daß der Mann viel zu jung war, als daß er der König in Person hätte sein können. Einer der Söhne, zweifellos. War es Chham? Oder vielleicht Athimin? Thu-Kimnibol fühlte, wie bei diesem Anblick die alte Wut wieder in ihm heraufzubrodeln begann, als er dachte, wie diese Salamanssöhne ihn vor langer Zeit vertrieben hatten.

Er stieg aus, trat vor und hob die Hand zur Friedensgeste.

„Ich bin Thu-Kimnibol“, brüllte er. „Der Sohn Harruels und Prinz der Stadt des Dawinno.“

Der Breitschultrige nickte. Wirklich, er sah dem Salaman seiner Erinnerung unheimlich ähnlich: die robusten Arme, die kurzen stämmigen Beine, die wachsamen, wißbegierigen Augen, weit auseinanderstehend in dem runden, aber kräftig gezeichneten Gesicht. Nein, der Mann war zu jung, viel zu jung, als daß er Chham oder Ahtimin hätte sein können. „Hier steht Ganthiav, Sohn des Salaman. Mein Vater, der König, entbietet dir durch mich den Willkomm und heißt mich, dich in die Stadt zu geleiten.“

Also einer der jüngeren Söhne. Vielleicht war er zur Zeit der Flucht Thu-Kimnibols noch nicht einmal geboren. Aber bedeutete die Entsendung dieses Ganthiav zum Empfang möglicherweise irgendwie eine versteckte Beleidigung?

Nur die Ruhe bewahren, mahnte sich Thu-Kimnibol. Gleichgültig, was passiert, laß dich nicht aus der Ruhe bringen!

„Wenn du mir folgen möchtest?“ bat Ganthiav höflich, als das Tor sich erneut zu öffnen begann.

Thu-Kimnibol warf noch einmal einen Blick zur Mauerkrone und zu der erstaunlichen Schar regloser Bewaffneter hinauf. Dort oben gab es auch eine Art Pavillon, einen kuppelförmigen Auswuchs aus glatteren, weniger schwarzen Steinen, eher grauen, als denen der Mauerkonstruktion. Durch ein Langfenster hatte man Ausblick über die Ebene vor der Mauer. Flüchtig haftete Thu-Kimnibols Blick auf diesem Auslugfenster. Er sah den Schatten einer Gestalt dahinter, und dann trat diese Gestalt ins Licht, und Thu-Kimnibol sah in die unverwechselbaren grauen Augen Salamans, des Königs von Yissou, die ihn düster und unversöhnlich und kalt musterten.

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