4. Kapitel Das Opfer

Auf spezielle Anordnung Husathirn Mueris, den Curabayn Bangkea ersucht hatte, war Kundalimon vom Hausarrest entbunden worden und durfte sich frei in der Stadt bewegen. Wann immer es ihm beliebte, konnte er die kleine Zelle im Mueri-Haus verlassen und frei durch alle Stadtteile streifen, auch die heiligen Stätten und Amtsgebäude besuchen. Nialli hatte ihm dies genau erklärt: „Keiner wird dich anhalten. Niemand dir was Böses tun.“

„Auch wenn ich in die Königinkammer gehe?“

Sie lachte. „Du weißt doch, wir haben keine Königin.“

„Aber — deine — Mutter. Die Frau, die herrscht?“

„Ja, meine Mutter.“ Kundalimon hatte noch immer Schwierigkeiten mit Begriffen wie ‚Mutter‘ und ‚Vater‘. Derartige Sozialkonzepte der Fleischlinge begannen ihm erst allmählich begreifbar zu werden. Die ‚Mutter‘, das war der Eiproduzent. Der ‚Vater‘ war der Lebenszünder. Und Kopulieren — eben was er auf so höchstvergnügliche Weise mit Nialli Apuilana tat — war die bei den Fleischlingen angewandte Methode, um Eiern den Lebensfunken zu geben. Es war ähnlich dem Verfahren im NEST, und dennoch so anders, so grundverschieden. „Was ist mit meiner Mutter?“ fragte Nialli.

„Ist sie denn nicht die Königin der Stadt?“

„Tanianes offizieller Titel ist Häuptling, nicht Königin. Es ist ein sehr alter Titel, und er stammt noch aus der Zeit, in der wir nur ein ganz kleines Stammesvolk waren und in einem Höhlenloch in einer Gesteinswand hausten. Sie regiert die Stadt — und mein Vater und die Opferpriesterin und der ganze Rat der Prinzen beraten sie —, aber sie ist nicht unsre Königin. Nicht in dem Sinn, wie du und ich Königinlichkeit verstehen. Sie ist meine Mutter, gewiß. Doch sie ist nicht die Mutter der ganzen Stadt.“

„Wenn ich also in ihre Kammer gehe, wird mich keiner aufhalten?“

„Das kommt darauf an, was sie gerade tut. Doch normalerweise kannst du einfach zu ihr hineingehen. Du kannst überall hingehen, wo du willst. Aber sie werden dich vermutlich überwachen lassen.“

„Wer wird mich überwachen?“

„Die Stadtwachen. Sie trauen dir nicht. Curabayn Bangkeas ganze Bande. Sie glauben, du bist ein Spion.“

Er begriff nicht so recht. Vieles von dem, was Nialli zu ihm sagte, blieb ihm rätselhaft. Selbst jetzt noch, nach wochenlangen tagtäglichen Lektionen, bei denen sein Kopf von der Sprache der Fleischlinge überschwemmt wurde und er sogar bereits manchmal in ihren Begriffen, nicht denen des NESTS dachte, war ihm der Sinngehalt von Niallis Rede rätselhaft. Doch er hörte zu und mühte sich, es zu behalten, und hoffte, daß er mit der Zeit auch begreifen würde.

Jedenfalls, seine Aufgabe hier erfüllte er, und darauf kam es an. Er war gekommen, um die Liebe der KÖNIGIN zu bringen und er tat es. Zuerst Nialli Apuilana, in der diese Liebe bereits erweckt war, denn sie hatte ja bereits ihre Zeit im NEST zugebracht; aber nun, da er sich endlich frei in der Stadt bewegen durfte, brachte er diese Liebe allen andren, die noch ganz ohne NEST-Erkenntnis waren.

Er hatte damit gerechnet, daß er bei seinem ersten Ausflug allein in die Stadt Furcht haben würde. Nialli hatte ihn zwar ein paarmal ausgeführt, ihm die Haupttransversalen gezeigt und das Straßenmuster erklärt; doch dann hatte er eines Morgens beschlossen, alleine loszuziehen. Es war eine Prüfung, der er sich unterzog, um festzustellen, ob er es fertigbringen würde, mehr als nur ein paar zaghafte Schritte in die fremde Welt zu tun, ohne daß es ihn sofort wieder in die Sicherheit seines Gefängnisses zurückdrängte.

Eine so gewaltige Stadt, so viele Straßen. und überall die wimmelnden Massen von Fleischlingen! Und diese feuchtwarme klebrige südliche Luft, die sich so völlig anders atmete als die vertraute im trocknen, kühlen Norden. Die unvertrauten fremd-süßen Düfte hier. Der völlige Mangel an NEST-Bindungssicherheit. Auch die Möglichkeit, daß die Menschen an diesem Ort ihm mit Haß oder Verachtung begegnen könnten.

Doch er war völlig furchtlos. Er schritt an den schiefmäuligen, sauertöpfischen Wachen vorbei, das Katzenkopfpflaster der Minbain-Gate hinunter und stieß in einer Seitengasse, durch die er mit Nialli nicht gegangen war, auf einen offenen Markt. Er ging von Stand zu Stand, bestaunte die Berge von Früchten und Gemüsen und die hängenden Fleischviertel. Eigentlich blieb er dabei ziemlich gelassen. Und als er den Eindruck hatte, sein Ausflug hätte nun lang genug gedauert, fand er seinen Weg zum Mueri-Haus zurück ohne Schwierigkeiten.

Danach ging er fast jeden Tag aus. Noch nie war sein Leben so aufregend gewesen. Wenn er nur einfach an einer Straßenecke stehenblieb, einem Balladensänger lauschte, oder einem Glaubensprediger, oder einem anderen Verhökerer billigen Spielzeugs. Wie ganz anders war dies hier vom Leben im NEST! Er konnte in eine Garküche treten, mit staunenden großen Augen die auf der Platte brutzelnden Fleischstücke anstarren, und dann konnte er mit der Hand zeigen und lächeln, und man lächelte ihm zur Antwort entgegen, und er bekam irgendein fremdartiges, gegartes Stück Fleischlings-Nahrung gereicht und durfte das essen — wie wunderbar! Wie gestalttransformativ das doch war! Als gleite man durch einen höchst leibhaftigen Traum.

Die fortgesetzte Ernährung ä la Fleischlinge zeigte beträchtliche Auswirkungen bei ihm. Sein Pelz war nun weit dichter und dunkler geworden. Sein Körper wurde beinahe schon etwas rundlich, und wenn er sich in die Haut kniff, hatte er einen beachtlichen Streifen Fleisch zwischen den Fingern, und das war in seinem ganzen bisherigen Leben noch nie der Fall gewesen. Aber diese neue reichliche Nahrung wirkte sich auch auf seine Seele aus, und er fühlte in sich neuen Lebensmut und neue Lebenskraft. Der unvertraute Energiezuwachs machte ihn unruhig, ja geradezu reizbar und sprunghaft. An manchen Tagen zog er Nialli, wenn sie zu ihm auf sein Zimmer kam, noch ehe sie ein Wort sagen konnte, an sich und drängte sie auf den Boden oder auf sein Lager, um seine sich augenblicklich aufrichtende Rute in ihr zu versenken und sie mit kraftvollen Stößen zu nehmen. Auch auf den Straßen schritt er weit und kraftvoll dahin und genoß den Widerstand des Pflasters unter den Füßen. Auch dies war neu für ihn: auf befestigten Straßen zu gehen. Überhaupt war alles neu und erregend.

Alle Leute schienen zu wissen, wer er war. Sie zeigten auf ihn und wisperten. Einige wenige sprachen ihn an, höflich, aber ein bißchen unsicher, als wüßten sie nicht so recht, ob es ungefährlich sei, sich ihm zu nähern. Bei den Kindern war das anders. Die liefen scharenweise hinter ihm drein. Überdies wimmelte es hier überall von Kindern; und manchmal hatte Kundalimon das Gefühl, als lebte außer kleinen Jungen und Mädchen kaum jemand in dieser Stadt. Die Kinderhorden tanzten johlend und kreischend hinter ihm drein und riefen: „Hjjk-Hjjk! Schaut, da geht er, der Hjjk!“

„Sag uns was auf hjjkisch, Hjjk?“

„He, Hjjk, he, Hjjk! Wo haste denn dein Rüsselstück?“

Sie wollten ihn nicht verhöhnen. Schließlich waren es ja nur Kinder. Die Stimmchen klangen fröhlich und verspielt.

Und er wandte sich zu ihnen um und winkte sie heran. Anfangs waren sie ebenso mißtrauisch wie die Erwachsenen, aber allmählich kamen sie nahe heran und scharten sich um ihn. Und ein paar reichten ihm auch scheu die Händchen, und er durfte sie festhalten.

„Sag, bist du echt ein Hjjk?“

„Ich bin wie ihr. Ein Fleischling wie ihr.“

„Ja, aber warum sagen sie dann, du bist ein Hjjk?“

Kundalimon lächelte und sagte behutsam: „Die Hjjks haben mich mitgenommen, als ich noch sehr klein war, und dann haben sie mich im NEST aufgezogen: Aber ich bin hier geboren, müßt ihr wissen, hier in dieser Stadt.“ „Ehrlich? Wer issen dann deine Mutter? Und dein Vater?“

„Marsalforn“, sagte er, „und Ramla.“ Er gab sich Mühe, sich zu erinnern, wer was war. Die Mutter, also die Eiproduzierende, war Marsalforn gewesen, hatte Nialli ihm gesagt. Und die andre Person, der Lebenszünder, war dann Ramla gewesen. Oder war es andersrum? Nie konnte er das recht auseinanderhalten. Im NEST spielte es keine Rolle, wer dein Eiproduzent war und wer der Lebenszünder. Dort waren alle und jeder ganz wirklich und unzweideutig Kind der Königin. Und nur ihre Berührung ermöglichte neues Leben, ohne sie gab es keines. Die Produzenten und die Anreger — sie alle dienten dem WILLEN der KÖNIGIN.

„Wo leben sie denn, deine Eltern?“ fragte ihn ein kleines Mädchen. „Besuchst du sie manchmal, deine Mamma und deinen Pappa?“

„Sie wohnen jetzt woanders. Oder vielleicht wohnen sie auch nirgendwo mehr. Keiner weiß, wo sie geblieben sind.“

„Ach. Das ist aber traurig. Magst du mal kommen und meine Mammi und meinen Pappi besuchen, wo du doch selber keine hast?“

„Das würde ich gern tun“, antwortete Kundalimon.

„Wie bisten du überhaupt hergekommen?“ fragte ein anderes Kind. „Bist du geflogen — wie ein Vogel?“

„Nein. Ich bin auf einem Zinnobären geritten.“ Und er beschrieb mit weitausholenden Armbewegungen das gigantische Tier. „Von weit droben im Norden, von dem Ort, an dem das NEST der NESTER liegt. Tag um Tag, Woche um Woche bin ich gereist und geritten auf meinem Zinnobären bis zu dieser Stadt hier, der Stadt Dawinno. Die Königin hat mich hierher entsandt. Geh du nach Dawinno, hat sie gesagt. Und sie hat mich hergeschickt, auf daß ich zu euch spreche. euch kennenlernte und ihr mich. Auf daß ich euch ihre LIEBE bringe und ihren FRIEDEN.“

„Und wirst du uns mit dir fortnehmen, zurück in euer Nest?“ fragte ein Junge aus dem Hintergrund. „Bist du hergekommen, um uns wegzustehlen, wie sie dich damals weggeholt haben?“

Kundalimon schaute das Kind verblüfft an.

„Ja! Sag schon!“ riefen die Kinder. „Bist du gekommen, um uns zu den Hjjks mitzunehmen?“

„Würdet ihr denn gern dahingehen?“

„Nein!“ Sie schrien es so laut, daß ihm die Ohren klangen. „Bring uns nicht weg! Bitte nicht!“

„Ich bin mitgenommen worden. Und ihr seht doch, daß mir dabei nichts Schlimmes passiert ist.“

„Aber die Hjjks, die sind doch Monster. Scheußliche gefährliche Ungeheuer! Scheußliche riesige Ungeziefer, das isses, was die sind!“

Er schüttelte den Kopf. „Das ist nicht wahr. Ihr versteht das nicht, weil ihr sie nicht kennt. Keiner hier kann das. Sie sind voller Liebe. Wenn ihr doch nur wissen könntet. Wenn ihr begreifen, fühlen könntet, was NESTgebundenheit ist, was die LIEBE der Königin bedeutet.“

„Der redet, als wär er verrückt“, sagte ein Junge. „Was soll das überhaupt?“

„Pscht!“

„Kommt“, sagte Kundalimon. „Setzt euch her zu mir in diesem Baumgarten. Es gibt so vieles, was ich euch kundtun möchte, damit ihr wißt. Aber laßt mich euch zuerst sagen, wie es im NEST wirklich ist.“


Von der Stadt Yissou seiner Jugend war nichts mehr übrig, woran Thu-Kimnibol sich hätte erinnern können. Wie die ersten primitiven Holzunterstände von Harruels Erstgründung Yissous weggefegt worden waren, um den frühen Steinbauten der Salaman-Stadt Platz zu machen, war inzwischen auch jegliche Spur dieser zweiten Stadtgründung verschwunden. Eine neuere, eine mächtigere Baustruktur war dem übergestülpt worden und hatte das Altvertraute ausgelöscht. Und es war nichts mehr, nicht die kleinste Spur, von den Palästen und Höfen und Häusern und allem anderen übrig.

Salaman sagte: „Das gefällt dir, eh? Sieht aus wie eine richtige große Stadt, was?“

„Es sieht überhaupt ganz anders aus, als ich erwartet hätte.“

„Sprich lauter, lauter!“ sagte Salaman scharf. „Ich kann die Hälfte von dem nicht hören, was du sagst.“

„Bitte tausendmal um Vergebung“, sagte Thu-Kimnibol mit doppelt so lauter Stimme. „Ist es so besser?“

„Du brauchst nicht zu brüllen. Mit meinen Ohren ist alles in Ordnung. Es sind bloß diese verfluchten Bengwörter, die du dauernd benutzt. Du redest mit ’nem Benghelm vorm Maul. Wie soll man da was Vernünftiges verstehen? Na ja, wenn ich dauernd mit den Bengs als Schoßhündchen leben würde, so wie ihr Leute.“

„Wir sind jetzt ein Volk“, sagte Thu-Kimnibol.

„Ach ja? Wirklich? Seid ihr das? Schön, sprich aber trotzdem nicht so viel bengisch, wenn du willst, daß ich verstehe, was du sagst. Wir sind hier konservativ, weißt du. Wir reden noch in der reinen Sprache, der unverfälschten Zunge Koshmars und Torlyris und Thaggorans. Du erinnerst dich an Torlyri? Und an Thaggoran, he? Aber nein, wie könntest du! Der war ja der Chronist vor Hresh. Die Rattenwölfe haben ihn zerfleischt, gleich nach dem Großen Auszug, damals, als wir die Ebene durchzogen. Da warst du ja noch nicht einmal geboren. Es hätte mir klar sein müssen, daß du dich an gar nichts von alledem erinnern kannst. Ich hätte bedenken müssen, daß ich ein vergeßlicher alter Kracher mit Gedächtnisschwund geworden bin. Und sehr zänkisch, Thu-Kimnibol. Wirklich, ausgesprochen giftig!“

Salaman grinste entwaffnend, wie um die eigenen Worte zu entkräften. Doch es war nicht zu überhören, daß er die Wahrheit sprach. Er war giftig und zänkisch geworden, reizbar und scharfzüngig.

Die Zeit hatte Salaman verändert, genau wie seine Stadt. Thu-Kimnibol erinnerte sich an den Salaman der frühen Tage. Damals war sein Verstand geschmeidig und einfallsreich gewesen, der Mann selbst ein kluger und schlauer Planer, intelligent, vorausschauend, eine geborene Führernatur, und im Grunde ein sehr angenehmer Kerl. Dann jedoch war diese Veränderung in ihm eingetreten, der neue Salaman begann sich zu zeigen: düsterer, verdrießlich und verworren im Herzen, ein schwieriger und argwöhnischer Mann. Und nun, zwanzig Jahre später, war dieser Entwicklungsprozeß weit fortgeschritten. Der König wirkte frostig und grämlich, wie gepackt von zehrendem Unwohlsein, oder vielleicht aus seinem Innern heraus befleckt von der absoluten Macht, die er hier an sich gerissen hatte. Man sah das in seinem Gesicht, das maskenhaft war, mit eingefallenen Wangen und hohlen Schläfen, und an seiner angespannten wachsamen Haltung. Sein Fell war völlig altersweiß geworden. Um ihn hing ein bitterkalter winterlicher Hauch.

Auch seine Schöpfung, die Stadt, war so. Es gab hier keine breiten sonnigen Prachtstraßen, keine farbenfroh gekachelten Türme vor einem blauen Himmel, keine üppig begrünten Parks und Gärten, wie Thu-Kimnibol sie Tag um Tag in Dawinno sah. Die Stadt Yissou — eingepfercht in ihren Kraterwulst und den titanischen Wall aus schweren schwarzen Steinquadern — war ein bedrückend enges trostloses Gewirr von schmalen Gäßchen mit niederen dickwandigen Steinbauten mit bloßen Schlitzen als Fenster. Das Ganze sah eher wie eine Festung aus als wie eine Stadt.

Thu-Kimnibol fragte sich: War es dies, was meinem Vater vorschwebte, als wir aus Vengiboneeza auszogen, um uns eine eigene Stadt zu erbauen? Dieses düstere, geduckte, ungemütliche — Kaff?

Im Siegestaumel nach der gewonnenen Schlacht gegen die Hjjks, nach jenem betrüblichen Tag, an dem König Harruel im Kampfe gegen die Insektenhorden gefallen war, hatte Salaman im Freudenüberschwang seines frischen Königtums gesagt: „Wir werden diese Stadt Harruel nennen, um ihn zu ehren, der vor mir König war.“ Später jedoch — auf Verlangen des Volkes, behauptete Salaman, das angeblich lieber dem Gott Yissou Ehre erweisen wollte, der es beschützt hatte, als dem Mann, der es hierhergeführt hatte — hatte er den ursprünglichen Namen wiedereingeführt. Na ja, dachte Thu-Kimnibol jetzt, es ist ja fast eher ein Segen. Ihm wäre es im Grunde gar nicht besonders angenehm gewesen, wenn der Name seines Vaters auf ewig mit diesem düsteren freudlosen Nest verknüpft geblieben wäre, dieser Yissou-‚Stadt‘ Salamans.

Dennoch hatte Salaman es über sich gebracht, ihn freimütig, ja sogar fröhlich zu begrüßen. Es war ihm kaum anzumerken, daß da auch nur der Hauch einer Erinnerung an die bösen Worte in ihm wach war, die einst zwischen ihnen gefallen waren. Vielmehr war er von seinem Pavillon auf der Mauerkrone herabgestiegen, als Thu-Kimnibols Wagenkarawane durch das große Stadttor zog, hatte ihn ruhig und mit überkreuzten Armen erwartet, und dann war in dem strengen starren Gesicht unerwartet ein Lächeln aufgebrochen, und er war mit ausgestreckten Armen auf ihn zugegangen und hatte nach seinen Händen gefaßt.

„Cousin! Nach sooo langen Jahren! Wie verstehen wir denn dies? Kehrst du zu uns zurück und willst endlich dein altes Leben hier wieder aufnehmen — das einen solch abrupten Abbruch erfuhr?“

„Nein, König. Ich bin ausschließlich in der Funktion eines Gesandten gekommen“, erwiderte Thu-Kimnibol ruhig. „Ich überbringe dir Botschaft von Taniane und möchte einige Dinge mit dir besprechen. Aber meine Heimat ist jetzt in Dawinno.“ Selbstverständlich aber erwiderte er Salamans königliche Embrassade seinerseits, bückte sich und schloß ihn in die Arme. Das erwies sich als leidlich kompliziert, aber nur deshalb, weil Salaman eben so viel kleiner war.

Zu seiner Verblüffung blieb sein Herz nicht kalt, als er den Akt vollzog und Salaman an die Brust drückte, und die Geste war auch vollkommen aufrichtig. Also entsprach es wirklich der Wahrheit? Daß jeglicher Groll, den er gegen Salaman gehegt hatte (oder hegen zu müssen geglaubt hatte), im Laufe der Zeit zu einem Nichts verdunstet war. Die schnöden Demütigungen, die Salaman ihm zugefügt hatte, als er ein Jungmann war, zählten nicht mehr.

„Wir haben für dich unser nobelstes Gästehaus vorbereitet“, sagte Salaman. „Und sobald du dich dort eingerichtet hast — ein Festempfang, ja? Und da reden wir dann. Nein, nicht über Staatsgeschäfte, nicht so rasch. Wir plaudern einfach, du und ich, eben wie zwei gute Freunde aus alter Zeit. Na, was hältst du davon, Thu-Kimnibol?“

Das war angemessen. Ja, es ist sogar recht freundlich, dachte Thu-Kimnibol. Und er ließ sich zu seinen Gemächern führen. Esperasagiot machte sich auf die Suche nach Stallungen für die Xlendis, Dumanka kümmerte sich um die Unterbringung der Entourage des Gesandten, und Simthala Honginda begab sich zu einer Konferenz mit den Stadtbehörden, um das schon ortsübliche Protokoll bei diplomatischen Anlässen abzusprechen.

Doch erst viel später und in der düsteren riesigen steinernen Festhalle des Palastes, nach dem Festmahl und viel zuviel Wein, und nachdem Thu-Kimnibol die mitgebrachten Geschenke von Taniane an Salaman überreicht hatte — die edlen Weißgewebe und grünglasierten Porzellane —, und die prachtvoll gebundenen Chroniken, die Hresh sandte, und auch einige persönliche Gaben für den König (einige Fäßchen Wein aus seinen eigenen Weinbergen, Felle seltener Tiere von weit her aus den Südlanden, eingelegte Früchte und vieles mehr) — erst da begann die Spannung zwischen den beiden Männern langsam an die Oberfläche zu dringen.

Vielleicht lag es am Sprachproblem. Das hatte ihn vom ersten Moment an irritiert, und vielleicht hatte es schließlich zu dem Ausbruch geführt. Denn Salaman, der reinstes Koshmarisch sprach, schien wahrhaftig verärgert über die Worte und Klangfärbungen aus dem Bengischen, wie Thu-Kimnibol sie gewohnheitsmäßig gebrauchte. Thu-Kimnibol war nicht bewußt, wie stark die Sprache des VOLKS in Dawinno sich seit der Vereinigung mit den Beng gewandelt und wieviel Beng-Ausdrücke Eingang in sie gefunden hatten. Aber Salaman hatte die Bengs noch nie gemocht, und zwar seit die goldfelligen Helmträger seine Einladung abgelehnt hatten, sich in Yissou niederzulassen, nach der Vertreibung durch die Hjjks aus Vengiboneeza, und es statt dessen vorgezogen hatten, bei Hresh in seinem neugegründeten Dawinno zu leben. Anscheinend hatte der König seinen Groll nie überwunden, wenn ein paar Beng-Ausdrücke in Thu-Kimnibols Reden ihn dermaßen erzürnen konnten.

Dennoch kam es für Thu-Kimnibol völlig überraschend nach dem langen nächtlichen Festgelage und vielerlei Lustbarkeit, als Salaman, während sie voll und bequem nebeneinander in den üppigen Pfühlen der Luxusdiwans ruhten, auf einmal unfein und direkt sagte: „Bei der Himmlischen Fünffaltigkeit, ich muß deine Kühnheit bewundern! Daß du so einfach mal frech wieder hier in Yissou antanzen würdest. nach allem, was du mir in der Nacht, in der du verduftet bist, ins Gesicht gesagt hast.“

Thu-Kimnibols Rückgrat wurde steif. „Ach, das kratzt dich immer noch? Nach diesen vielen Jahren?“

„Damals hast du gesagt, du schmeißt mich ganz oben von der Mauer runter. Na? Hast du das vergessen? Na, Thu-Kimnibol? Bei den Himmlischen Fünfern, ich hab es nicht vergessen! Und was hab ich aus deinen Reden gehört, he? Glaubst du wirklich, ich hätte das für einen leichten neckischen Spaß gehalten? O nein, nein, mein Bester. Nein! Die Mauer war damals zwar viel niedriger, aber ich hab das trotzdem als eine Morddrohung aufgefaßt. Und ich denke, ich hatte recht.“

„Aber ich hätte sowas doch nie getan.“

„Du hättest es nie tun können. Chham und Athimin hatten dich nämlich die ganze Zeit unter Beobachtung. Wenn du auch nur einen Finger gegen mich erhoben hättest, sie hätten dich in Stücke tranchiert.“

Thu-Kimnibol hob den Wein an die Lippen und nahm einen tiefen Zug. Es war der süße starke Regionalanbau, und er hatte ihn seit vielen Jahren nicht mehr gekostet. Über den Becherrand beobachtete er den König. Außer ein paar erschöpften Tänzern des abendlichen Festes, die erschöpft wie fallen gelassene Kissen an der Wand gegenüber herumlagen, war niemand sonst bei ihnen. Lauerten die Söhne Salamans hinter den Vorhängen und schickten sich an, hervorzustürzen, um die uralte Unbill zu rächen, die er ihrem Vater zugefügt hatte? Oder würden die Tänzer plötzlich wieder lebendig werden mit Mordmessern und Würgeschlingen?

Nein, dachte er, Salaman treibt nur seine Spielchen mit mir.

„Auch du hast mich bedroht“, sprach er. „Du hast gesagt, du wirst mir jeden Rang und alle Prärogative aberkennen lassen und mich auf den Marktplatz schicken, damit ich dort die Futtertröge saubermache.“

„Aber das war doch nur im Zorn so dahingesagt. Wenn ich bei Sinnen gewesen wäre, ich hätte einen Prachtkerl von deiner Größe und Kraft zum Mauerbau verdonnert, nicht als Viehknecht oder Straßenfeger auf den Markt.“

Des Königs Augen funkelten. Er schien seine Witzigkeit ungeheuer zu genießen.

Am besten, er ignorierte die Beleidigung. Er sagte bloß: „Wieso bringst du das alles jetzt wieder hoch, Salaman?“

Salaman streichelte sein Kinn und lächelte. Dort sproßten lange weiße Haarbüschel, die ihm ein merkwürdig gutartiges, ja beinahe komisches Aussehen verliehen, das wahrscheinlich nicht in seiner Absicht lag. „Wir haben seit — na, wieviel Jahren? — zwanzig? — fünfundzwanzig? — nicht mehr miteinander gesprochen. Sollten wir da nicht wenigstens den Versuch machen und Klarheit zwischen uns schaffen?“

„Und? Tust du das? Klarheit schaffen?“

„Aber gewiß doch. Meinst du im Ernst, wir könnten das Geschehene einfach ignorieren? So tun, als wäre es nie gewesen?“ Salaman schenkte in die Weinbecher nach. Er beugte sich herüber und fixierte ihn ganz nahe. Leise fragte er: „Hast du wirklich statt meiner König werden wollen?“

„Niemals! Ich verlangte nur die Ehren, die mir als Harruals Sohn gebührten.“

„Mir hat man gesagt, du wolltest mich stürzen.“

„Wer sagte das?“

„Was spielt das für eine Rolle? Sie sind alle längst tot und vermodert. Ach ja, das war Bruikkos. Erinnerst du dich noch an den? Und Konya.“

„Ach ja. Die begannen mich zu hassen, als ich volljährig wurde, weil mein Rang höher war als der ihre. Aber was hatten die eigentlich erwartet? Sie waren einfache Soldaten, ich der Sohn eines Königs.“ „Und Minbain“, sprach Salaman weiter.

Thu-Kimnibol mußte blinzeln. „Meine Mutter?“

„Aber ja. Sie kam zu mir und sagte: Thu-Kimnibol treibt es um. Thu-Kimnibol gelüstet es nach Macht. Sie fürchtete, du könntest was Törichtes anstellen, so daß ich dich hinrichten lassen müßte, und das wäre ihr natürlich ein gewaltiger Kummer gewesen. Sie sagte zu mir: ‚Sprich mit ihm, Salaman, erleichtere seine Seele, verleihe ihm wenigstens den Schein dessen, wonach ihn verlangt, damit er sich nicht selber Schaden zufügt.‘ “

Und wieder lächelte der König.

Thu-Kimnibol fragte sich, wieviel Wahrheit an dem Ganzen war und was einfach nur düstrer verquerer Spaß. Gewiß, es war durchaus plausibel, daß Minbain besorgt war, ihr Sohn könnte sich lebensgefährlich überheben, und darum Schritte unternommen hatte, um schlimmes Unheil abzuwenden. Aber eigentlich entsprach das ganz und gar nicht ihrem Wesen. Sie hätte gewiß zuerst mit ihrem Sohn selbst gesprochen. Nun ja, leider konnte man sie ja nicht mehr fragen.

„Ich hätte nie auch nur daran gedacht, dir den Thron streitig zu machen, Salaman. Bitte, glaub mir das. Ich habe dir einen Eid geschworen — wieso sollte ich ihn brechen? Außerdem wußte ich doch recht gut, daß ich viel zu jung und hitzköpfig war, um König spielen zu können. Und außerdem, du warst doch viel zu sicher etabliert.“

„Ja, das glaub ich dir.“

„Wenn du mir die mir gebührenden Ehrentitel und Privilegien gegeben hättest, die ich haben wollte, es hätte zwischen uns nie irgendwelche Probleme gegeben. Ich sag dir das ganz ehrlich und weil es wahr ist, Salaman.“

„Ja“, sagte der König. Plötzlich klang seine Stimme ganz anders, und alle Ranküne und Schärfe war aus ihr verschwunden. „Ja, es war ein Fehler, daß ich dich so behandelte, wie ich es tat.“

Thu-Kimnibol war sofort auf der Hut. „Du redest im Ernst?“

„Ich rede immer im Ernst, Thu-Kimnibol.“

„Ja, das mag stimmen. Aber gestehen Könige jemals ihre Fehler ein?“

„Der hier tut es. Manchmal. Nicht besonders oft, aber manchmal doch. Und hier und jetzt ist so ein Anlaß.“ Salaman erhob sich, reckte sich und lachte. „Ich hatte nur vor, dich auszureizen, dich an dein Limit zu treiben — dich aus Yissou zu vertreiben, ich fand einfach, du warst zu groß für diese Stadt, ein zu potenter Rivale, der im Laufe der Jahre nur noch stärker werden würde. Das war meine Fehleinschätzung. Ich hätte dich favorisieren müssen, dich mit Ehren überhäufen, um dich so zu entwaffnen. Und deine Stärke hätte ich dann hier nutzbringend einsetzen müssen. Das habe ich später begriffen. Natürlich zu spät. Nun, lieber Cousin, du bist hier erneut herzlich willkommen!“ Und dann tauchte im Blick des Königs ein seltsamer Ausdruck auf, eine Mischung aus Belustigung und Argwohn, und er fragte: „Du bist doch nicht etwa zurückgekommen, weil du mir schließlich doch noch meinen Thron rauben willst, oder?“

Thu-Kimnibol beantwortete das mit einem eisigen Blick. Doch es gelang ihm dann doch, so etwas wie ein Kichern und ein bläßliches Grinsen zu produzieren.

Salaman stieß ihm die Hand entgegen. „Geliebter alter Freund! Nie hätte ich dich von meiner Brust vertreiben dürfen! Es erfreut mich höchlich, dich wieder bei mir zu haben. sei es auch nur kurz.“ Er gähnte. „Wollen wir uns nun vielleicht doch zur Ruhe begeben?“

„Der Gedanke ist verführerisch.“

Der König ließ den Blick über die verstreuten erschöpften Tänzer schweifen, die sich bisher nicht bewegt hatten.

„Möchtest du gern sowas in deinem Bett haben, um dich zu wärmen?“

Auch dies kam überraschend. Die Erinnerung an Naarinta, die kaum ein paar Wochen tot war, tauchte in ihm auf. Andererseits wäre es grob unhöflich, Salamans gastliches Angebot zurückzuweisen. Und was bedeutete es denn auch schon, ein Kopulationsvorgang mehr oder weniger, und noch dazu so weit von zu Hause weg? Er war müde. Er war nach dem merkwürdigen Gespräch irritiert. Die Umarmung eines jungen frischen Körpers im Dunkel der Nacht, ein bißchen heimliche Entspannung, ehe die wirkliche Arbeit begann. Warum denn nicht? Ja, wieso eigentlich nicht? Immerhin hatte er ja nicht die Absicht, für den Rest seines Lebens keusch und abstinent zu bleiben. Also sagte er: „Doch, ja. Ich glaube, das wäre mir angenehm.“

„Wie war es mit der da?“ Salaman wies mit der Spitze seines Pantoffels auf ein Mädchen mit kastanienrotem Fell. „Auf, Kindchen! Hopp-hopp! Wach schon auf! Heut nacht gehörst du dem Prinzen Thu-Kimnibol!“

Und damit verzog sich der König. Er schlich langsam und kaum merklich gebückt.

Wortlos winkte das Mädchen Thu-Kimnibol zu dem für ihn bereiteten, mit Wandteppichen und Kissen wohlausgestatteten Bettgemach im rückwärtigen Teil des Palastes. In dem schwachen honiggoldenen Licht an dem Bettlager betrachtete er sich das Mädchen nicht ohne Interesse. Sie war klein und wirkte kräftig und für ein Mädchen ziemlich breit in den Schultern. Auch das Kinn war recht ausgeprägt. Die grauen Augen standen weit auseinander. Das Gesicht kam ihm bekannt vor. Plötzlich stieg ein wilder Verdacht in ihm empor.

„Wie heißt du, Mädchen?“

„Weiawala.“

„Den Namen hast du nach der Gefährtin des Königs?“

„Herr, der König ist mein Vater. Er nannte mich nach seiner ersten Liebe, doch in Wirklichkeit bin ich eine Tochter seiner dritten Gemahlin. Die Edle Sinithista ist meine Mutter.“

Ja, ja. Also die Tochter Salamans. Damit hatte er immerhin rechnen müssen. Aber es war verblüffend. Salaman, der ihm einst die Hand einer Tochter als feste Partnerin verweigerte, legte ihm jetzt eine Tochter als Spielzeug für eine Nacht ins Bett. Und das Kind war außerdem noch merkwürdig gelassen bei dem Ganzen. Oder hatte Salaman dabei tiefere Hintergedanken? Höchstwahrscheinlich war mit dem letzten Karawanenzug der Kaufleute aus Dawinno die Nachricht zu ihm gedrungen, daß Naarinta im Sterben liege. Aber falls er nun tatsächlich darauf abzielen sollte, die Beziehungen zwischen Yissou und Dawinno vermittels einer dynastischen ehelichen Verbindung zu verfestigen, dann war das doch eine recht merkwürdige Verfahrensweise. Aber schließlich — Salaman war seltsam geworden. Und er besaß zweifellos zahlreiche Töchter. Vielleicht waren es ihm mittlerweile zu viele geworden.

Ach was. Es war spät in der Nacht. Und das Mädchen war da und bereit.

„Komm näher zu mir, Weiawala“, flüsterte er. „Ja, ganz nah zu mir. So ist es schön. Ja.“


„Er predigt den Kindern“, sagte Curabayn Bangkea. „Meine Leute beschatten ihn überall, wohin er geht. Sie verfolgen alles, was er tut. Er zieht die Jugend an sich, er gibt ihnen Antwort auf alle ihre Fragen, er erzählt ihnen vom Leben im Nest. Er sagt, es ist falsch, daß wir die Hjjks als Feinde betrachten. Er setzt der Jugend Wahngespinste vor über die Königin und die unendliche Liebe, die sie für alle Lebewesen angeblich hat, nicht nur für die Geschöpfe ihrer eigenen Art.“

„Und die Kinder schlucken, was er ihnen da verzapft?“ fragte Husathirn Mueri. „Sie glauben ihm?“

„Er ist ziemlich überzeugend.“

Sie befanden sich im Empfangszimmer in Husathirn Mueris prachtvollem Haus im Koshmari-Bezirk und genossen den Ausblick über die Meeresbucht. „Das kann man sich eigentlich kaum vorstellen“, sagte Husathirn Mueri. „Ich meine, daß er es tatsächlich schafft und unsre Kinder von ihren Vorurteilen gegen die Hjjks wegkriegt. Ich meine, Kinder haben doch scheußliche Angst vor denen. Immer schon haben sie die gehabt. Große gräßliche Käfermonster mit haarigen Beinen, die heimlich durch die Gegend kriechen und versuchen, kleine Jungen und Mädchen wegzuschnappen — wer würde sowas nicht für abscheulich halten? Ich fand sie in meiner Kindheit jedenfalls widerlich. Du wahrscheinlich bestimmt ebenfalls. Ich hatte Angstträume, als ich klein war, wegen dieser Hjjks, mit kaltem Schweiß, und wachte schreiend auf. Manchmal hab ich sie heute noch.“

„Ich auch“, gestand Curabayn Bangkea.

„Was also ist dann das Geheimnis von dem Kerl?“

„Er ist sehr sanft und sehr freundlich. Sie spüren, daß er harmlos und unschuldig ist. Sie sind gern in seiner Nähe. Er lehrt sie — zu meditieren — nachzudenken! Und dann fangen mehr und mehr von ihnen an und singen mit, wenn er singt. Ich glaube, er fängt mit dieser Singerei irgendwie ihr Bewußtsein ein. Und das macht er dermaßen unmerklich und geschickt, daß sie gar nicht merken, wie er ihnen einen Haufen gräßlicher Monstrositäten verkauft. Wenn er von den Hjjks spricht, dann sehen diese Kinder gar keine echten Hjjks, glaub ich. Sie sehen nur Märchenfiguren, die sanft sind und lieb. Aber, deine Gnaden, man kann jedes Ungeheuer zu ’ner ziemlich süßen Puppe machen, wenn man die Geschichte nur auf die richtige Weise erzählt. Und wenn er die Kinder erst einmal soweit hat, daß sie keine Angst mehr vor den Hjjks haben und sie nicht mehr verabscheuen, dann sind die armen Kleinen alle verloren. Ach, er ist ungeheuer schlau, dieser Junge. Er greift direkt in ihre Seelen hinein und entwendet sie uns!“

„Aber der Kerl spricht doch kaum ein Wort unsrer Sprache!“

Curabayn Bangkea schüttelte den Kopf. „Stimmt nicht. Der ist nicht mehr der ungehobelte Wilde wie damals, als er hier aufgetaucht ist, nein, wirklich nicht. Unsere Nialli Apuilana hat sich enorm angestrengt, ihm was beizubringen. Und jetzt kann er’s alles wieder prima. Er muß früher mal, wie er noch ganz klein war, weißt du, ehe die ihn weggeholt haben, unsre Sprache ganz gut gekonnt haben, und jetzt hat er die ganzen Wörter auf einmal wiedergefunden und alles, einfach so. Also, wer damit geboren ist, der verlernt das ja nie wirklich. Also, der sitzt jetzt da — es gibt da ’nen Park, in den er gern geht, und die Kinder kommen dort zu ihm. Und da sitzt er und redet von der Königin-Liebe, der Nest-Bindung und Denker-Gedanken, Königin-Frieden — na, eben der ganze dreckige verrückte Hjjk-Quatsch. Und die Kerlchen schlucken das runter, ehrlich, deine Gnaden! Im Anfang waren sie ganz angewidert von der Vorstellung, daß anständige Leute im Nest Eben könnten — und daß es ihnen sogar noch Spaß machen kann, daß man einen Hjjk berühren kann, und der dich, und daß das irgendwie was mit Liebe zu tun hat. Aber inzwischen, inzwischen glauben die Kinder das. Du solltest sie da mal sitzen sehen. Und wie ihre Augen leuchten, wenn der seinen Sabber über sie ausgießt.“

„Dem muß Einhalt geboten werden.“

„Ja. Das meine ich auch.“

„Ich werde mit Hresh reden. Nein, besser mit Taniane. Wie ich Hresh kenne, findet der es ungeheuer interessant, daß Kundalimon so Sachen wie Königin-Liebe und Nest-Bindung an minderjährige Jungs und Mädchen verhökert. Der zollt dem Gedanken vielleicht gar noch Beifall. Wahrscheinlich möchte er selber gern mehr über derlei Zeug erfahren. Aber Taniane wird wissen, was zu tun ist. Sie wird sicherstellen wollen, was für eine Kreatur wir uns da mitten in unsre Mitte hereingelassen haben, und wieso ihre Tochter mit sowas so viel Zeit verschwendet, das ganz nebenbei.“

„Da gibt’s aber noch was, deine Gnaden“, sagte Curabayn Bangkea. „Vielleicht wäre es gut, wenn du das weißt, ehe du mit Taniane sprichst.“

„Ja? Und?“

Der Wachhauptmann zauderte ein wenig. Er sah auf einmal verklemmt aus. Schließlich sagte er hastig und mit unsauberer Stimme, die schwankte wie eine mißgestimmte Laute: „Nialli Apuilana und der angebliche Hjjk-Gesandte sind ein Liebespaar.“

Es traf Husathirn wie ein Blitzschlag. Benommen ließ er sich in den Sessel zurückfallen. Auf einmal spürte er einen Schmerz in der Magengrube, sein Mund wurde ganz trocken, und zwischen den Augen begann ein stechender Schmerz zu bohren.

Was? Sie kopulieren miteinander?“

„Ja. Wie geile brünstige Affen.“

„Und das ist dir als hundertprozentige Tatsache bekannt?“

„Also, weißt du, bis vor kurzem war mein Bruder Eluthayn zum Wachdienst am Mueri-Haus eingeteilt. Und da kam er eines Tages an Kundalimons Zimmer vorbei, während sie drin bei dem war. Und die Geräusche, die er dabei von drinnen hörte — das Bumsen und Keuchen und leidenschaftliche Stöhnen.“

„Wenn sie ihm aber Fußringen beigebracht hat?“

„Das glaube ich nicht, deine Gnaden.“

„Wie kannst du dessen sicher sein?“

„Deine Gnaden, weil ich selbst dort war, nachdem Eluthayn mir das berichtet hat, und an der Tür lauschte. Ich sage dir, ich kann den Lärm durchaus unterscheiden, der beim Kopulieren und beim Fußringen entsteht. Ich habe selbst einige Erfahrung im Kopulieren, deine Gnaden. Im Beinringkampf übrigens auch.“

„Aber sie will doch sonst mit keinem kopulieren! Das weiß doch die ganze Stadt!“

„Aber sie war im Nest“, sagte Curabayn Bangkea. „Vielleicht hat sie ja bloß auf einen gewartet, dessen Fell ebenfalls von oben bis unten nach Hjjks riecht.“

Ungezügelte Bilder sprangen ungerufen in Husathirn Mueris Vorstellung auf: Kundalimons Hand zwischen den weichen Schenkeln Niallis, seine Lippen auf ihrer Brust, ihre Augen flackernd vor erregter Bereitschaft, die Körper, die sich zusammenfügen, die umherpeitschenden Sensororgane, Nialli, die sich umdreht und ihm ihre geschwollene Geschlechtsregion darbietet.

Nein. Nein. Nein. Nein.

„Du hast dich geirrt“, sagte er nach einer Weile. „Die tun etwas anderes da in dem Zimmer. Was du da an Geräuschen hörtest.“

„Es war nicht bloß der Lärm, deine Gnaden.“

„Ich verstehe nicht.“

„Wie du gerade gesagt hast, die Geräusche genügten mir nicht als Beweis. Darum habe ich in die Wand des Zimmers neben seinem ein kleines Loch zur Observation gebohrt.“

„Du hast sie ausspioniert?“

„Ihn, nicht sie, deine Gnaden. Ihn. Er stand zu der Zeit in meinem Gewahrsam, wenn ich dich daran erinnern darf. Es war also korrekt, daß ich mir Gewißheit über die Art seiner Aktivitäten verschaffte. Ich hab ihn observiert. Und sie war auch dort. Und sie haben nicht Beinringen geübt, Edler. Jedenfalls bestimmt nicht, als er mit seinen Händen ihre.“

„Genug!“

„Ich kann dir versichern.“

Husathirn Mueri hob gebieterisch die Hand. „Bei Nakhaba, ich sagte genug, Mann! Ich will die schmutzigen Einzelheiten nicht hören.“ Er mühte sich um Fassung. „Ich verlasse mich auf deine Versicherung“, sagte er kalt, „daß dein Bericht akkurat ist. Verstopfe dein Spähloch und bohre keine weiteren. Aber komm und berichte mir täglich über die Aktivitäten des Gesandten und seinen Predigten vor der Jugend.“

„Und wenn ich ihn in Gesellschaft der Nialli Apuilana sehe, deine Gnaden? Auf der Straße, meine ich. Oder in einem öffentlichen Speisehaus. Oder sonstwo, allem Anschein nach in aller Harmlosigkeit? Soll ich dir auch davon berichten?“

„Ja. Berichte mir auch davon.“


„Ich will mit dir ins NEST gehen“, sagte Nialli. „Um wieder die Nestbindung zu fühlen, Nest-Wahrheit zu sprechen.“

„Das wirst du. Wenn die Zeit gekommen ist. Wenn mein Werk hier getan ist.“

„Nein, ich meine, hier, heute, jetzt.“

Es war ein stiller Nachmittag. Der warme feuchte Sommer war vorbei, und es wehte ein kräftiger Herbstwind, heiß, aber trocken und scharf von Süden her. Sie waren nach der Kopulation und lagen dicht nebeneinander zusammengerollt auf Kundalimons Lager, engumschlungen und striegelten sich gegenseitig das zerwühlte Fell.

Er sagte: „Jetzt? Wie soll das geschehen?“

Sie bedachte ihn mit einem forschenden Blick. Hatte sie den Zeitpunkt falsch eingeschätzt? War für ihn tvinnern — oder überhaupt jegliche seelische Intimität noch immer so beängstigend wie zu Beginn? Er hatte sich so stark verändert, seit er allein die Stadt durchwanderte. Er war anders, wirkte stärker, weniger verkrampft, sicherer in seiner Fleischlings-Identität. Doch noch immer zögerte sie, sein Zutrauen aufs Spiel zu setzen, indem sie die unausgesprochene Grenzlinie überschritt, die zwischen ihnen verlief.

Jetzt aber wirkte er ganz ruhig und betrachtete sie offen und mit sanftem Blick.

Vorsichtig begann sie: „Du könntest mich durch deine NestErinnerungen führen. Durch die Berührung unserer Gedanken.“

„Du meinst diese Tvinnern“, sagte er.

Sie zögerte. „Ja, das wäre eine Möglichkeit. Oder indem wir unser Zweitgesicht einsetzten.“

„Du sprichst oft davon. Aber ich weiß nicht, was das ist.“

„Eine Art Sehen — eine Wahrnehmung in die Tiefen unter der Oberfläche der Dinge.“ Nialli schüttelte den Kopf. „Und du hast das noch nie selbst erlebt? Aber jeder kann es. Sogar schon ganz kleine Kinder. Allerdings im Nest vielleicht, ohne das Bewußtsein andrer Fleischlinge in der Nähe, das dir zeigen könnte, wozu dein eigenes in der Lage ist.“

„Zeig es mir jetzt“, bat er.

„Und du wirst dich nicht fürchten, wenn ich dich berühre?“

„Zeig es mir!“

Er hat sich wirklich verändert, dachte sie.

Dennoch fürchtete sie, sie könnte in ihm Angst auslösen und ihn damit sich entfremden. Aber er hatte sie ja gebeten. Zeig es mir... Sie rief ihr Zweites Gesicht herauf und richtete es nach außen und weitete das Feld rings um ihn aus. Er fühlte es. Ganz zweifellos. Sie empfing unmittelbar die Reaktion seines Gehirns — ein bestürztes Zurückweichen. Und er zitterte. Dennoch blieb er dicht in ihrer Nähe und blieb offen und zugänglich. Es gab keinerlei Anzeichen, daß er irgendwelche der üblichen Schutzmechanismen auffuhr, wie man sie einsetzt, um sich gegen die Fremdeinwirkung des Zweitgesichts abzuschirmen. Hatte er einfach keine Ahnung, wie das geht? Nein. Nein, er schien sich ihrer Sondierung bereitwillig auszuliefern.

Sie holte tief Luft und trieb ihr erweitertes Wahrnehmungsfeld so tief in sein Bewußtsein, so tief sie es wagte.

Und sie sah das NEST.

Alles war verschwommen, undeutlich, unbestimmt. Entweder waren seine Mentalkräfte noch unentwickelt, oder er hatte eine Hjjk-Methode der Denkmaskierung erlernt. Denn was sie in ihm erblickte, sah sie wie durch viele Schichten eines dunklen Gewässers.

Ja, es war das Nest, wirklich. Sie sah die dämmerigen unterirdischen Gänge und die gewölbten Decken. Dunkle Gestalten, Hjjk-Gestalten bewegten sich dort steif. Aber alles blieb undeutlich. Sie konnte keine Kastenunterschiede erkennen. Sie konnte nicht einmal Weib von Mann unterscheiden, Soldat von Arbeiter. Was jedoch vor allem fehlte, war der ‚Geist des Nestes‘, die Dimension der seelischen Wirklichkeit, die fundamentale tiefe Nest-Bindung, die alles umfassen, einhüllen, tragen sollte, der alles durchdringende Strom der Königin-Liebe in diesen schwach erhellten unterirdischen Gängen, das alles beherrschende Gebot des Ei-Plans. Es war kein Wohlgeruch da. Und keine Wärme. Es gab keine Nahrung. Nialli schaute in das NEST und blieb dennoch von ihm abgeschnitten, ein Außenseiter, allein und verloren in den eisigen Bereichen der Schwärze zwischen den gefühllosen Sternen.

Enttäuscht versuchte sie etwas tiefer vorzudringen. Es wurde nicht besser. Dann verspürte sie einen sanften Stoß.

Kundalimon mühte sich, ihr zu helfen. Irgendwie war er an die Quelle seiner eigenen Zweitsichtpotentiale vorgedrungen, die er wahrscheinlich noch nie vorher benutzt hatte, oder wenn, dann ohne zu wissen, was es war, und nun strengte er sich an, die Vision für Nialli zu verstärken. Doch auch damit wollte sich der Schleier nicht gänzlich heben. Gewiß, sie sah nun deutlicher, doch die gesteigerte Helle bewirkte nur neue Verzerrungen.

Es war zum Verrücktwerden. So nahe zu sein und nicht an den Punkt zu kommen.

Ein Seufzer entrang sich ihrer Brust. Sie zog ihr Bewußtsein aus dem seinen zurück und rollte von ihm fort, mit dem Gesicht zur Wand.

„Nialli?“

„Es tut mir leid. Ich bin gleich wieder in Ordnung.“ Sie weinte still in sich hinein. Sie fühlte sich stärker alleingelassen als jemals zuvor.

Seine Hände streichelten ihr den Rücken, die Schultern. „Hab ich was getan, was dich ärgert?“

„Nein. Nichts. Nicht du, Kundalimon.“

„Also haben wir es falsch angepackt?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich hab was gesehen. Nur ein bißchen. Den Saum der Umrisse des Nests. Alles war dermaßen überschattet. Undeutlich. Weit weg.“

„Ich hab es falsch gemacht. Du wirst es mir richtig beibringen.“

„Es war nicht deine Schuld. Es — es hat einfach nicht funktioniert.“

Dann herrschte eine Weile lang Stille. Er rückte näher an sie heran und bedeckte ihren Leib mit dem seinen. Dann plötzlich, fast erschreckend, ließ er sein Sensororgan an ihrem entlanggleiten, in einer hastigen raschelnden Berührung, die ihr einen scharfen Gefühlsschauder durch die Seele jagte.

„Wir versuchen das Tvinnr, wollen wir?“ bat er.

„Willst du das wirklich, Kundalimon?“ Sie hielt den Atem an und wartete.

„Aber du willst doch das Nest sehen.“

„Ja. Ja, das will ich. will ich sehr.“

„Dann vielleicht mit dem Tvinnern.“

„Aber es hat dich so erschreckt. Neulich.“

„Das war damals.“ Er lachte weich in sich hinein. „Und wenn ich mich noch recht erinnere, hat es da mal eine Zeit gegeben, in der du Angst vor der Kopulation gehabt hast.“

Sie lächelte. „Die Dinge ändern sich.“

„Ja. Sie ändern sich. Also komm! Zeig mir, wie man tvinnert, und ich zeig dir das Nest. Aber vorher mußt du dich erst mal zu mir umdrehen.“

Nialli nickte und wandte sich ihm zu. Er lächelte sie an, mit diesem wunderbaren rückhaltlosen sonnenwarmen Lächeln, das er hatte, das Lächeln eines Kindes in einem Männergesicht. Strahlend senkten sich seine Augen in ihre, hell, voller Erwartung, erregt. Es lag eine Aufforderung in dem Blick wie nie zuvor.

„Ich hab bisher nur ein einzigesmal getvinnert“, sagte sie, „das war vor fast vier Jahren. Mit Boldirinthe. Wahrscheinlich kann ich es auch nicht viel besser als du.“

„Wir werden es gut machen“, sagte er. „Also, jetzt zeig mir, was das ist, dieses Tvinnern.“

„Zuerst die Sensoren, der Kontakt. Du konzentrierst alles, dein ganzes Sein.“ Auf seinem Gesicht zeigte sich ein Hauch von Beunruhigung. „Nein“, sagte sie. „Versuch nicht, dich zu konzentrieren, versuch nicht einmal zu denken. Tu einfach nur das, was ich mache, und laß zu, was dir dann geschehen wird.“ Sie zog ihren Sensor dcht an seinen. Er entspannte sich. Er schien ihr inzwischen restlos zu vertrauen.

Sie stellten den Kontakt her — und konnten ihn halten.

Nialli hatte ihre Intimitätsstunde mit Boldirinthe nie vergessen können. Der Phasenverlauf war ihr deutlich im Gedächtnis. Der Abstieg über die Leitersprossen der Wahrnehmung in die tiefen Seelenbereiche, wo dann die Kommunion stattfand. Und Kundalimon folgte ihr nun bereitwillig. Er schien intuitiv zu wissen, was er tun müsse, oder er lernte und entdeckte im Verlauf des Prozesses. Augenblicke danach folgte er ihr nicht mehr, sondern tauchte Seite an Seite mit ihr hinab, ja war ihr zuweilen sogar voraus und führte in die dunklen geheimnisumwitterten Tiefen hinab, in der es kein Individual-Selbst mehr gab und wo nichts existierte als die Einheit aller Seelen.

Dann verbanden sie sich zum vollkommenen Tvinnr.

Seine Seele stürzte in die ihre, und Niallis verschmolz mit seiner Seele, und endlich — endlich — ist sie wieder im NEST.

Und es ist das ‚Nest-der-Nester‘, das Großnest, hoch droben im Norden, nicht das Behelfsnest, in dem Nialli während der wenigen Monate ihrer Gefangenschaft gelebt hatte. Außerdem waren sozusagen alle Nester ein Nest, denn die Präsenz der Königin infundierte sie alle gleichermaßen; doch Nialli hatte sogar damals erkannt, daß ihr Nest nur eines der unbedeutenderen in einem Randdistrikt der Hjjk-Domäne war, mit einer Subsidiar-Königin als Herrscherin. Aber der Ort, an dem sie sich nun befinden, ist der Urquell und der Herzschlag der Hjjk-Nation, ihr innerster Kern, der Nabel und die Nabe, der grandiose Angelpunkt und die Achse, um die sich alles bewegt. Und hier wohnt die Königin der Königinnen.

Nialli Apuilana empfindet nichts hier als fremd. Hier hatte Kundalimon den Großteil seines Lebens zugebracht, ein Fleischlingsjunge unter den Hjjks, ohne Bewegungsbeschränkung in ihrer Welt, sich nährend von ihrer Nahrung, ihre Luft atmend, so denkend wie sie, lebend und lebendig wie sie. Dort war Kundalimons Heimat. Und deshalb war es nun auch die ihrige.

Hand in Hand schweben sie hindurch, wie umherstreifende Geister, ungesehen, ungehindert. Sie ist Kundalimon, er Apuilana. Er ist sie, und sie ist er. Sie können nicht entscheiden, wo der eine aufhört, die andere beginnt.

Das große NEST ist endlos, ein Labyrinth dunkel-warmer Galeriengänge, halb unter dem Erdboden verborgen, das sich meilenweit in alle Richtungen erstreckt. Das Nest-Licht, ein weiches rosiges Glühen, ein Licht wie in Träumen, strömt aus den Wänden. In den leisen Luftzügen schwebt der erregend-süße Duft des Nest-Atems, pelzig-weich und üppig beladen mit den vielschichtigen chemischen Botschaften, die von den Nest-Bewohnern ausgetauscht werden. In diesen verwirrenden verzweigten Labyrinthgängen hausen Millionen Hjjks, und hier auch, im tiefstuntersten Bereich, am stillsten Ort des emsigen Gewimmels, im Mittelpunkt das Ganzen lagert die reglose ungeheure Masse der Superkönigin, der Königin der Königinnen, uralt, zeitlos, nicht-sterbend, maßlos, alles steuernd und alles liebend. Nialli fühlt jetzt, wie gewaltig und überwältigend groß IHRE Präsenz ist: Sie wälzt sich durch alle Hallen und Gänge wie das Dröhnen eines gigantischen Gongs. Es gibt kein Entrinnen. SIE umfängt das ganze Nest und sämtliche Subsidiarnester ebenfalls mit IHRER unendlich fließenden überwältigenden LIEBE. Und über all dies hinaus quillt die noch höhere, noch stärker alles umfassende Kraft, die auch die Königin der Königinnen als höchste anerkennt, die gewaltige, unbestrittene, unausweichliche wilde Energie des Ei-Plans, der fundamentalen Lebenskraft, der universalen unausweichlichen Weiblichkeit, die jegliche Existenz unaufhörlich vorantreibt.

Nialli überantwortet sich mit höchster Freude und Bereitschaft diesem Hohenlied der Vollkommenheit. Deswegen verlangte es sie, hierher zu kommen: um erneut sicher zu fühlen, daß die Welt einen Sinn hat und eine Struktur, um wieder glaubhaft zu wissen, daß eine Gestalt, ein Plan, ein tiefer Zweck der bestürzenden Mechanik des Kosmos zugrundeliegen.

„Hier ist die wahre Nest-Wahrheit“, sagt Kundalimon zu ihr, und sie sagt zu ihm: „Hier herrscht die Königin-Erleuchtung.“

Und sie schweben, treiben ungehindert weiter. hierhin, dorthin, überallhin.

Lautlos gehen die Myriaden Nestbewohner ihren Aufgaben nach. Ein jeglicher kennt seinen Platz und seine Funktion. Das ist die NestBindung: Harmonie, Einheitlichkeit, festgefügtes Muster. Draußen in der chaotischen Welt der Zufälle gibt es nichts dergleichen. Hier ist nichts chaotisch oder zufällig. In diesen Gangsystemen herrscht eine profunde Stille, und doch sind sie überall von zielstrebiger Aktivität erfüllt.

Hier stapfen Manipeln von Soldaten von ihrem neuesten Beutezug zurück, und Arbeiter eilen auf sie zu, sammeln die Waffen ein und reinigen sie und schleppen den Proviant, die heimgebrachte Beute, fort zu den Säuberungs- und Speicheranlagen. Und hier, wo das Licht dunkelpurpurn ist wie rauchig-schwelendes Feuer, lagern die Eierlegerkompanien in ihren Boxen. Unablässig streifen Cordons von Lebenszündern ruhig an ihnen vorbei und verweilen da oder dort, um den Befruchtungsakt zu vollziehen. Und hier kauern nahrungsbereite Ammen über den schlüpfbereiten Eiern und neigen sich, um den Neugeborenen Nahrung zu bieten.

Und hier, in engen düstren Abteilungen, unterrichten die Nest-Denker die Jugend, die in gespannter Aufmerksamkeit reglos vor ihnen steht. Hier sind auch die Leibdiener der Königin in ihrer warmen Katakombe und bereiten Ihr die Frühmahlzeit. Dort stehen in festgeschlossener Formation, Arm in Arm geschlungen, die Königlichen Leibwachen und riegeln den Weg zu den unteren Galerien mit der Kammer der Königin ab. Da warten Prozessionen der Jugend — nach männlich und weiblich getrennt — auf ihren Aufruf zur Audienz in der Kammer, wo sie das Geschenk der Königlichen Berührung erhalten und zur Reife erweckt werden sollen — oder aber um für eine andersartige Bestimmung ausgesondert zu werden, gezeichnet mit dem Mal eines Kriegers oder Arbeiters, oder um vielleicht einer der wenigen Auserwählten zu werden, ein Nest-Denker.

Die Kammer der Königin ist der einzige Nestbereich, den Nialli und Kundalimon in dieser Vision nicht betreten. Es ist ihnen nicht erlaubt — noch nicht —, denn während ihres früheren Aufenthaltes im Nest war Nialli nicht die Gunst der Erst-Audienz zuteil geworden, und Kundalimon kann sie nicht in die Gegenwart der Königin bringen, nicht jetzt und nicht einmal auf diesem Weg einer Vision, eines Traumes. Damit würden sie bis zum angemessenen Zeitpunkt warten müssen. Dann endlich würde sie die Königin in Ihrer gewaltigen und unergründlichen Masse in Ihrer geheimen Kammer im Herzen des Nests ruhen sehen.

Sonst aber liegt ihnen alles vor Augen. Und Nialli wandert staunend und in hingerissener Nest-Liebe darin umher.

Nest-Denker sagt: „Da sind sie, der Fleischling und des Fleischlings Braut. Kommt, setzt euch zu uns und tretet mit uns ein in die NestWahrheit.“

Also sind sie ja gar nicht unsichtbar für die Nestbewohner. Natürlich nicht. Wieso sollten sie?

Sie streckt die Hand aus, und eine harte borstige Kralle ergreift sie und hält sie fest. Dicht vor ihr glühen schimmernde blauschwarze multifacettierte Augen. Wellenförmige Kraftströme pulsen durch ihre Seele: die starke Emanation des Nest-Denkers.

Nest-Denker tritt jetzt in ihren Geist ein und zeigt ihr die hohe NestWahrheit, das eine, höchste, umfassende Konzept des Universums, die Macht, die alle Dinge bindet: der Friede der Königin. Und er weist ihr das Große Muster: die gewaltige Königin-Liebe, die sich im Ei-Plan verkörpert, um Nest-Überfluß in alle Dinge zu bringen. Er füllt Niallis Bewußtsein, genau wie einst vor Jahren ein anderer Nest-Denker in einem anderen Nest es getan hat.

Und wie damals dringt die schlichte Kraft in Niallis Seele ein, ergreift Besitz von ihr, und sie verneigt sich vor dem Wirklichen, gegen das es keine Widerrede gibt. Da kniet sie, schluchzt vor Entzücken, als die gewaltige Musik der Wahrheit durch die Hauptkanäle und Verästelungen in ihrem Geist donnert. Und sie überantwortet sich dem in völliger Hingabe.

Sie befindet sich wieder in ihrer wahren Heimat.

Und von nun an wird sie nie mehr fortgehen.


„Nialli?“ Der Klang einer Stimme, eine unerwartete, eine betäubende Störung. Sie brach über sie herein wie eine einen endlosen Hang herabdonnernde Steinlawine. „Nialli? Bist du in Ordnung?“

„Nein. ja. ja.“

„Ich bin’s, Kundalimon. Mach die Augen auf, Nialli. Mach sie auf!“

„Sie. sind. geöffnet.“

„Bitte! Komm zurück aus dem Nest. Es ist vorbei, Nialli. Schau, so schau doch, da ist mein Fenster, dort die Tür, da drunten liegt der Hof.“

Sie wehrte sich. Warum sollte sie fortgehen von dem Ort, der ihre Heimat war?

„Nest-Denker. Königin-Präsenz.“

„Ja. Ich weiß.“

Er hielt sie, streichelte sie, zog sie eng an sich heran. Seine Wärme gab ihr Sicherheit. Sie blinzelte ein paarmal, ihre Sicht begann sich zu klären. Sie erkannte die Wände des Zimmers, den kleinen Fensterschlitz, das helle flirrende Herbstlicht. Sie hörte den dürren Wind sausen. Widerwillig gab sie der unbestreitbaren Wirklichkeit nach. Das Nest war verschwunden. Hier gab es kein Nest-Licht, keinen Nest-Duft. Und sie fühlte nicht länger die Präsenz der Königin. Und doch — die Worte des Nest-Denkers hallten noch immer in ihrem Geist nach, und die gewaltige Tröstung, die ihr daraus zuteil geworden war, besänftigte noch immer ihre Seele und lullte sie ein.

Plötzlich blickte sie Kundalimon verblüfft an.

Kundalimon, dachte sie. Ich hab mit ihm getvinnert!

„Warst du dort mit mir?“ fragte sie. „Hast du es ebenfalls gefühlt?“

„Ja. Alles.“

„Und wir werden es wieder sehen können, ja? So oft wir wollen.“

„In unseren Visionen, ja. Und eines Tages werden wir es in Wahrheit und Wirklichkeit sehen. Wenn die Zeit da ist, werden wir zusammen zum Nest gehen. Bis dahin müssen wir uns mit den Visionen begnügen.“

„Ja“, sagte Nialli. Sie zitterte ein wenig. „Und ich hab es gewußt, daß wir tvinnern müssen, wenn wir es gemeinsam sehen wollten. Und das haben wir. Und wir haben es recht gut angestellt.“

„Ja, jetzt sind wir Tvinnr-Partner“, sagte er.

„Woher kennst du denn den Ausdruck?“

„Ich hab ihn von dir gelernt. Gerade eben, als wir tvinnerverbunden waren und ich in deiner und du in meiner Seele.“ Er lächelte. „Tvinnerpartner, Tvinnerpartner, du und ich.“

Sie blickte ihn zärtlich an. „Ja. Ja, das sind wir.“

„Es ist wie eine Liebeskopulation, nur viel tiefer, viel näher.“

Nialli nickte. „Kopulieren kann jeder. Aber das echte Tvinnr ist nur mit wenigen möglich. Wir haben sehr großes Glück, wir zwei.“

„Wenn wir wieder zusammen im Nest sind, wird es da viel Tvinnern für uns geben?“

„Ja. Aber gewiß doch!“

„Ich werde sehr bald zur Heimkehr ins Nest bereit sein“, sagte er.

„Ja.“

„Und du wirst mit mir gehen, wenn ich von hier fortziehe? Wir werden zusammen gehen, du und ich?“

Sie nickte begierig. „Ja. Das verspreche ich dir.“

Sie blickte zum Fensterschlitz. Dort draußen ging die ganze große Stadt den verschiedensten Beschäftigungen nach. ihre Mutter, ihr Vater, das feiste Faß Boldirinthe, der hinterhältig-glatte Husathirn Mueri, der Schmuddelschleimer Curabayn Bangkea und sein Schmutzfink von Bruder. Tausende biederer Bürger im hektischen Getriebe ihres kleinen individuellen Lebensablaufs. Und allesamt so blind gegenüber der Wahrheit! Ach, wenn die doch nur wüßten, dachte sie. Alle die da draußen! Aber die hatten keine Ahnung, was sich hier drinnen ereignet hatte. Welche Partnerbeziehung hier an diesem Tag geschmiedet wurde. Was für Gelöbnisse wir einander geleistet haben. Und wir werden sie halten!


Die ersten Tage des Staatsbesuches von Thu-Kimnibol waren dem protokollarischen Festprogramm vorbehalten gewesen, den zehn Festmahlen und Tänzen und dem Liebeslager und den Schaukämpfen der Bein-Ringer und Feuerfänger, und am Ende und Höhepunkt — dem Austausch der Geschenke. Nun aber war die Zeit für die ernsten Geschäfte gekommen. Also, weswegen er überhaupt nach Yissou zurückgekehrt war.

Salaman bezog Platz auf seinem erhabenen Thron in der ‚Halle des Staates‘. Der Sitz war aus einem einzigen tropfenförmigen schimmernden Obsidianblock, mit leuchtenden Flammenwirbeln durchwachsen, geschnitzt, den Salaman vor langer Zeit bei Grabungen im Herzen der Ur-Stadt gefunden hatte. Alle Welt nannte das nun den ‚Thron Harruels‘, und dies war einer der wenigen Tribute, welche die Stadt ihrem ersten König zollte. Salaman hatte nichts dagegen. Ein Häppchen Ehrerbietung gegenüber dem Angedenken an den geliebten Ur-Gründervater, warum denn nicht? Es spielte keine Rolle, daß Harruel seinen angeblichen Thron nie zu Gesicht bekommen, geschweige denn jemals auf ihm gesessen hatte.

Harruel war für das Volk — wenn es denn überhaupt an ihn dachte — ein gewaltiger Kriegsheld und ein weiser und weitblickender Staatsmann. Nun, ein großer Krieger, das war er gewiß gewesen, aber ein Staatsmann? Eine Führerfigur? Weise? Also da hatte Salaman denn doch seine Zweifel. Allerdings war ja auch kaum noch jemand am Leben, der sich an den wahren Harruel noch erinnern konnten, diesen griesgrämigen Brüter und Trunkenbold, dieser brutale Schläger und Frauenschänder, der sich unablässig auf dem Folterbett seiner selbstproduzierten Seelenängste wohlig quälte.

Und da kam nun jetzt Harruels Sohn in Harruels Stadt und trat vor Harruels Thron als Gesandter der Stadt Dawinno zu Harruels Nachfolger. Das Große Rad rollte, und in seinem Rollen fügte es alles zu allem. Warum war der Mann gekommen? Bisher hatte er sich nicht den kleinsten Hinweis entschlüpfen lassen. Bislang war alles glatt und gut verlaufen, immerhin. Anfangs hatte er, Salaman, ja dieses unangemeldete Eintreffen Thu-Kimnibols als einen Unstern und eine Last empfunden, als rätselhaft, ja gar bedrohlich. Zugleich aber war es eine nicht uninteressante Herausforderung: Kannst du, Salaman, ihn noch immer manipulieren? Ihn auf deinem Brettspiel in Schach halten?

Der König sprach voll Liebenswürdigkeit: „So setz dich doch, Thu-Kimnibol, ja?“

„Wenn es deiner Majestät genehm wäre, ich befinde mich recht wohl, so wie ich jetzt bin.“

„Wie immer es dir beliebt. Etwas Wein?“

„Etwas später vielleicht, nachdem wir geredet haben. Für mich ist es etwas früh am Tag, um schon zu trinken.“

Nicht zum erstenmal überlegte Salaman, ob Thu-Kimnibol besonders raffiniert sei — oder bloß ein schlichter argloser Naivling. Es war unmöglich, diesen Mann zu durchschauen. Indem er es vorgezogen hatte, im Stehen zu sprechen, hatte er sozusagen sich die Option zugeschanzt, allein durch seine Körpergröße und seine Stärke den Raum zu beherrschen. Aber — war dies eine gezielte Planung oder (wie er vorgab) wirklich weiter nichts als eine reine Bequemlichkeitsentscheidung? Und durch die Zurückweisung des Weines hatte er der Begegnung einen steif-formalen Charakter aufgezwungen, der sich bei eventuellen späteren scharfen Verhandlungen zu seinen Gunsten auswirken könnte. Oder war es einfach so, daß er bei der Arbeit nicht gern trank? Die Söhne von Säufern neigen schließlich oft dazu, einen gegenteiligen, trockeneren Pfad zu gehen.

Der König fühlte sich dringlich veranlaßt, den Vorteil, den Thu-Kimnibol (unabsichtlich oder gezielt) über ihn gewonnen hatte (und dermaßen blitzschnell und im Handumdrehen) wieder wettzumachen. Es war ja schon schlimm genug, daß der Kerl dermaßen riesenhaft war! In der Nähe großer Männer fühlte Salaman sich stets ziemlich unwohl; nicht etwa weil er unter einem deutlicheren Minderwertigkeitskomplex gelitten hätte, weil er selbst stummelbeinig war, sondern weil körpermassige träge Mannsbrocken (wie dieser Thu-Kimnibol) ihm das Gefühl gaben, er selbst sei vielleicht in seinen Bewegungen überhastig und fieberisch wie ein kleines wieselndes huschendes Tier. Doch davon ganz abgesehen, er durfte einfach nicht zulassen, daß Thu-Kimnibol bestimmte, in welchem Rahmen das Gespräch stattfand.

„Du kennst meine Söhne?“ fragte Salaman, als die Prinzen in den Saal kamen und ihre Sitze einnahmen.

„Ich kenne Chham und Athimin, gewiß. Und bei meinem Eintreffen begegente ich Ganthiav.“

„Nun, dies ist Poukor. Hier Biterulve. Und diese sind Bruikkos und Char Mateh. Mein Sohn Praheurt ist noch zu jung, an dieser Versammlung teilhaben zu können.“ Der König breitete die Arme weit, als wolle er sie alle an seine Brust ziehen. Ja, und sollten sie doch sich um Thu-Kimnibol scharen. Ihn in ihrer Mitte erdrücken. Groß mag er ja sein, aber gemeinsam sind wir ihm allemal überlegen.

Sie bauten sich im Raum auf, die sieben Prinzen, die sämtlich ein getreuliches Abbild ihres Vaters waren — bis hin zu den kalten grauen Augen, dem vierschrötigen Leib. alle, bis auf den einen, der Biterulve hieß und weit weniger klobig-klein aussah als der Rest, aber eher bläßlich, auch wenn er immerhin wenigstens den Königsblick besaß. Salaman genoß es, als er einen Hauch von Unbehagen über Thu-Kimnibols Gesicht huschen sah, während sich die Salamanischen Doppelgänger einfanden. Eine beachtliche Phalanx, fürwahr. Sie legten Zeugnis ab für die Stärke seiner Lebenslendenkraft.

Wenn er ein Weib bestieg, dann bestimmte sein Samen die Erbmerkmale, seine Gestalt, seine Gesichtszüge waren da wiedergeboren. Ein jeglicher konnte es an seinen, versammelten Söhnen sehen. Er war mächtig stolz darauf.

„Na, da hast du aber eine recht löbliche Kompanie“, sagte Thu-Kimnibol.

„Ja, so ist es. Sie sind mein ganzer Stolz. Besitzt auch du viele Söhne, Thu-Kimnibol?“

„Nein, Mueri hat mich nie damit segnen wollen. Und nun wird es wohl auch kaum noch geschehen. Die edle Dame Naarintha.“ Seine Stimme schwankte und verstummte. Sein Gesicht erstarrte zur Maske.

Salaman verspürte einen scharfen Schock. „Sie ist — tot? Nein, sag mir, Gevatter, daß es nicht wahr ist!“

„Du wußtest, daß sie krank war?“

„Ich vernahm Gerüchte, als die Karawane zuletzt hier war. Aber die Kaufleute sagten da, es bestehe Hoffnung, daß sie genesen werde.“

Thu-Kimnibol schüttelte den Kopf. „Sie siechte den ganzen Winter über dahin, und im Frühjahr wurde sie schwächer. Sie starb — nicht lange, bevor ich mich nach Yissou aufmachte.“

Die Worte fielen düster und dumpf wie Steine in den Saal. Sie trafen Salaman jedenfalls ganz unvorbereitet. Bisher hatten sie es an diesem Abend zuwege gebracht, einander ganz sachlich und formell zu begegnen, sich fest an ihre jeweilige offizielle Rolle zu halten, und eben König und Gesandter zu sein, wie erstarrt auf einem steinernen Fries, um zu verhindern, daß die ärgerliche gemeinsame Vergangenheit, die zwischen ihnen lauerte, hervorbrechen und womöglich den glatten Verlauf der höflichen Diplomatiebestrebungen stören könnte. Jetzt aber hatte sich unerwartet das Moment des ganz realen Sterbens in die Diskussion gemischt. „Ich beklage das“, sagte Salaman nach kurzem Schweigen und seufzte. „Ich beklage das sehr. Weißt du, ich habe für ihre Genesung gebetet, als die Kauffahrer mir berichteten. Und ich traure mit dir und teile deinen Gram, Cousin.“ Und er blickte Thu-Kimnibol mit echtem Mitgefühl an. Auf einmal war der ganze Tenor des Staatsbesuches verändert. Dieser Mann da, dieser turmhohe Gigant und Erzrivale aus der Jugendzeit, dieser gefährliche Sohn des gefährlichen Harruel: Das war ein Mann, verletzlich und verletzt, und er hatte gelitten. Auf einmal war es möglich, in ihm etwas anderes zu sehen, als nur einen verwirrenden und ärgerlichen Eindringling. Ganz plötzlich. Salaman stellte sich vor, wie Thu-Kimnibol am Sterbelager seiner Gemahlin stand und die Fäuste ballte und weinte. Er stellte sich vor, daß er in rasender hilfloser Wut heulte und brüllte, so wie er selbst es getan hatte, als seine erste geliebte Gefährtin, Weiawala, starb. Thu-Kimnibol bekam dadurch für Salaman auf einmal eine deutlichere, gesteigerte Wirklichkeit. Und dann erinnerte sich der König, wie Thu-Kimnibol und er Seite an Seite in der Schlacht gegen die Hjjks gekämpft hatten, wie Thu-Kimnibol, damals noch ein Kind — ja, er hatte sogar noch seinen Kindsnamen getragen —, an dem Tag gekämpft hatte wie ein Held. Und in Salamans Herzen breitete sich ein starkes Gefühl der Zuneigung, ja sogar der Liebe zu diesem Mann aus, den er gehaßt hatte, den er aus seinem Königreich vertrieben hatte. Er beugte sich nach vorn und sprach mit leiser rauher Stimme: „Kein Fürst von deiner Bedeutung sollte ohne Söhne sein. Du solltest dir eine neue Gefährtin wählen, Cousin, sobald du deine Trauer überwunden hast.“ Und dann — mit einem komplizenhaften Augenzwinkern: „Oder nimm dir zwei oder drei. So hab jedenfalls ich es hier gemacht.“

„In Dawinno erlauben wir uns noch immer nur jeweils einen festen Gefährten, lieber Vetter“, antwortete Thu-Kimnibol ruhig. „In dieser Hinsicht sind wir unglaublich konservativ.“ Salaman empfand dies irgendwie als einen Verweis, und das frisch erlebte Wohlwollen gegenüber Thu-Kimnibol verflüchtigte sich großenteils und ebenso rasch, wie es in ihm heraufgequollen war. Thu-Kimnibol tat es achselzuckend ab und sagte: „Zum jetzigen Zeitpunkt erscheint mir die Wahl einer neuen Gefährtin noch als recht befremdlicher Gedanke. Aber die Zeit wird das wohl ändern, vermute ich.“

„Die Zeit verwandelt alles“, sagte Salaman gewichtig, als verkünde er den Weisspruch eines Orakels.

Er merkte, daß Thu-Kimnibol allmählich die Geduld zu verlieren drohte. Womöglich bedrückte ihn ja das Gerede über Söhne und Gemahlinnen. Vielleicht aber war auch diese sichtbare Ungeduld nur ein weiterer Trick. Er hatte in dem weiten Raum umherzustapfen begonnen wie ein gewaltiges Tier, war an einer Prinzenreihe vorbeigestampft, herumgewirbelt und an der anderen wieder nach vorn gekommen. Die prinzlichen Augen folgten jeder seiner Bewegungen.

Dann ließ sich Thu-Kimnibol plötzlich auf einen Diwan in der Nähe des Königs sinken und sprach: „Genug davon, Gevatter. Laß mich nun zu meinen Aufträgen kommen. Vor einigen Monaten tauchte in unsrer Stadt ein seltsamer Fremder auf. Ein junger Mann, fast noch ein Knabe. Er kam auf einem Zinnobären aus dem Norden geritten. War unserer Sprache kaum kundig und brachte nur Hjjk-Laute hervor und vielleicht ein, zwei Brocken aus der Volkssprache. Wir konnten nicht herausbringen, woher er kam, was er wollte oder wer er war, bis Hresh, unter Anwendung von Tricks, wie sie nur Hresh kennt, mit der Hilfe des Wundersteins in sein Bewußtsein eindrang. Dabei entdeckte er, daß der Fremdling ursprünglich aus unserer Stadt stammte und als Kind, vor etwa dreizehn Jahren, gestohlen worden war.“

„Gestohlen von den Hjjks, willst du sagen?“

„Richtig. Dort wurde er von ihnen im Nest-der-Nester aufgezogen. Und nun haben sie ihn zu uns zurückgeschickt — als Gesandten mit einer Botschaft, dem Angebot der Liebe und des Friedens der Königin. Sagt Hresh.“

„Ach?“ sagte Salaman. „Zu uns ist auch so jemand vor einer Weile gekommen. Ein Mädchen. Sie hat uns den ganzen Tag lang auf hjjkisch angefaucht und angespuckt. Wir konnten nicht schlau draus werden.“

„Sie kannte ein paar Wörter aus unsrer Sprache, Vater“, sagte Chham.

„Ja ja, stimmt. Sie brabbelte uns was von der Größe und Macht der Hjjkkönigin vor und von ihrer hochgöttlichen Wahrheit. Oder ähnlichen Quatsch. Wir schenkten dem weiter keine Aufmerksamkeit. Wann war denn das, Chham?“

„Ich glaube, es war im Erstmond.“

„Im Erstmond, richtig. Und was geschah dann weiter? Ach ja, ich erinnere mich. Sie hat zu fliehen versucht, war es nicht so, und wollte wieder zurück zu den Hjjks?“

„Ja“, antwortete Chham. „Aber Poukor holte sie vor der Mauer ein und tötete sie.“

Tötete sie?“ Thu-Kimnibol klang erstaunt, er riß weit die Augen auf.

Diese Demonstration scheinbaren Zartgefühls fand der König belustigend, ja geradezu rührend sentimental. Oder war auch damit wieder eine Zurechtweisung beabsichtigt? Salaman fuhr mit weitausholenden Armbewegungen majestätisch durch die Luft. „Was hätten wir denn sonst machen können? Sie war ganz offenkundig eine Spionin. Wir konnten nicht zulassen, daß sie mit allem, was sie bei uns herausgefunden hat, ins Nest zurückkehrt.“

„Warum habt ihr sie nicht einfach in eure Stadt zurückgebracht? Sie gut gefüttert, ihr die Sprache beigebracht? Sie hätte bestimmt früher oder später ihre Hjjkischkeit abgestreift.“

„Würde sie das getan haben?“ fragte der König zurück. „Ich bezweifle das sehr stark. Dem äußeren Anschein nach war sie wie eine aus dem VOLK, aber in ihrer Seele war sie eine Hjjk. Und daran hätte sich nie was geändert. Sobald die dir erst einmal das Gehirn vergiftet haben, bist du nie wieder wie vorher. Besonders wenn dir das in jungen Jahren passiert. Nein, Cousin, es hätte nicht lang gedauert, und sie wäre wieder zu denen zurückgeflohen. Also war es besser, sie zu töten, als das zu riskieren. Es ist ein schrecklich schandbares Übel, daß ein Mädchen aus unserem VOLK im NEST hausen sollte. Mitten unter diesen widerwärtigen Kreaturen. Schon der bloße Gedanke erregt selbst den Göttern Übelkeit.“

„Dem würde ich zustimmen. Dennoch, sie einfach so abzuschlachten — ein Mädchen, eine Jungfrau.“ Thu-Kimnibol zuckte die Achseln. „Je nun, das ist nicht meine Angelegenheit. Dennoch glaube ich, daß sie vielleicht doch keine Spionin war. Vielleicht war sie zu euch gesandt als Botschafter, genau wie dieser Kundalimon — so heißt er — zu uns entsandt wurde. Hresh sagt, derartige Gesandtschaften sind in alle Sieben Städte ergangen.“

„Dem mag sein, wie ihm will. Wir sind an Botschaften von den Hjjks nicht interessiert“, erwiderte Salaman gleichgültig. „Aber Hresh muß da ja zwangsläufig andrer Ansicht sein. Weiß er zufällig auch den Grund, warum die Königin solch ein Diplomatenkarussell veranstaltet?“

„Die Königin bietet uns ein Abkommen an“, sagte Thu-Kimnibol.

Salaman saß plötzlich kerzengerade. „Ein Abkommen? Was für ein Abkommen?“

„Einen Friedensvertrag, mein Cousin. Quer über den ganzen Kontinent soll von Vengiboneeza bis zur östlichen Küste eine imaginäre Linie gezogen werden. Die Hjjks verpflichten sich, außer auf Einladung nie über diese Grenze in unser Gebiet zu kommen, vorausgesetzt natürlich, daß wir nicht in eines ihrer Territorien vorstoßen. Als unser Machtbereich sollen die Länder von Yissou südwärts über Dawinno hinaus zur Südlichen See gelten — oder wo immer in dieser Richtung das feste Land enden mag. Der ganze Rest der Welt soll Hjjk-Bereich sein und der Zugang dorthin uns auf ewig verschlossen. Ach ja, noch eins: Wir müssen uns verpflichten, Fachinstruktoren der Hjjks bei uns aufzunehmen, damit sie uns in den Wahrheiten ihrer Religion und der Weisheit ihrer Lebensart unterrichten.“

Es klang unwirklich. Das mußte ein Traum sein!

Meinten die das im Ernst, diese Hjjks? Einen dermaßen absurden Vorschlag zu unterbreiten?

Das alles war dermaßen blödsinnig, daß Salaman den Verdacht in sich aufkeimen fühlte, es könne sich bei dem Ganzen womöglich um einen raffinierten Trick von Taniane oder Thu-Kimnibol handeln. Aber nein, nicht doch, das wäre ja genauso verrückt gewesen.

„Was für ein bezauberndes Angebot“, sagte er mit leisem Lachen. „Ich vermute, ihr habt dem Gesandten die Haut abziehen lassen und auf ihr der Königin schriftlich eure Antwort mitgeteilt. Das hätte jedenfalls ich getan.“

Thu-Kimnibols Augen wurden schmal; wieder dieser tadelnde Blick.

Er hält uns für Barbaren, dachte Salaman.

„Der junge Mann befindet sich noch in Dawinno. Er steht unter Bewachung, wird jedoch gut behandelt. Die Häuptlingstochter persönlich bringt ihm täglich das Essen und unterrichtet ihn in unserer Sprache, die er natürlich in den vielen Jahren der Gefangenschaft vergessen hat.“

„Aber dieser Vertrag? Ihr habt ihn natürlich abgelehnt.“

„Weder abgelehnt noch akzeptiert, mein Cousin. Jedenfalls bislang noch nicht. Wir haben darüber in den Hohen Ratsversammlungen debattiert, aber keine Entscheidung getroffen. Manche plädieren heftig für die Unterzeichnung, weil er eine Friedensgarantie bietet. Diese Fraktion ist überzeugt, daß auch du unterschreiben wirst, wo doch die Hjjks von Vengiboneeza deiner Grenze im Norden so nahe sind — und du dir so große Sorgen machst wegen einer potentiellen Invasion.“

Verblüfft und empört schnaubte Salaman: „Das denken die von mir? Daß ich einen solchen feigen Schandvertrag unterschreibe?“

„Einige wohl, mein Cousin. Ich selbst konnte mir so etwas nie vorstellen.“

„Du selber bist also gegen den Vertrag?“

„Selbstverständlich. Und Hresh auch: Er kann sich nicht damit befreunden, die unerforschten Teile der Welt so einfach den Hjjks zu überlassen.“

„Und Taniane?“

„Sie hat sich noch nicht geäußert. Doch sie verabscheut die Wanzlinge. Sie haben ihr vor ein paar Jahren ihre Tochter geraubt, wie du ja sicher weißt, und sie monatelang als Gefangene gehalten. Damals dachte ich schon, Taniane würde den Verstand verlieren. Nein, es ist recht unwahrscheinlich, daß sie sich auf Geschäfte mit der Königin einläßt. Besonders da Hresh sich ja bereits dagegen ausgesprochen hat.“

Salaman schwieg. Diese Neuigkeiten waren verwirrend. Er rollte sich in die glattpolierten Tiefen seines Thronsessels und ließ die Augen über die Reihen seiner Söhne schweifen. Ernst erwiderten sie seinen Blick, in ihren Mienen spiegelten sich seine eigene ernste nüchterne Sorge. Wahrscheinlich begreifen sie nicht einmal zur Hälfte, was auf dem Spiel steht, dachte er, aber was soll’s? Sie werden es früh genug verstehen.

Es fiel ihm sehr schwer zu glauben, daß Dawinno der Königin ihren unverschämten Vorschlag nicht sofort und ohne weitere Finessen ins Gesicht zurückgeschmettert hatte (sofern man das bei Ihr ein Gesicht nennen konnte). Dieser sogenannte Vertrag war doch nichts weiter als das besiegelte Dokument einer Unterwerfung auf ewige Zeiten! Und dennoch gab es da drunten bei denen Leute, die es tatsächlich fertigbrachten, für den Vertragsabschluß zu sein! Wahrscheinlich die Beng-Lobby, vermutete Salaman, die feisten Kaufleute und die trag und gemütlich stimmviehisch an ihren Mandaten klebenden Politiker. Ach ja, laßt uns doch Appeasement-Politik mit den Hjjks betreiben und weiter schön gemütlich in unserer angenehmen, von balsamischen Winden durchwehten Stadt leben, die zudem ja auch noch so angenehm weit vom Mittelpunkt der hjjkischen Territorialmacht entfernt liegt. Aber sicher würden diese Leute das so haben wollen. Ungeachtet der langfristigen Gefahren. Ungeachtet des Preises, den es letzten Endes zu zahlen galt.

Nach einer Weile sprach Salaman: „Wie groß sind die Chancen, daß die Kneifärsche siegen und ihr diesen Vertrag unterzeichnen werdet?“

„Das wird nicht geschehen.“

„Nein. Damit rechne ich allerdings auch nicht. Aber ich werde dir sagen, wie meine Position für diesen Fall sein würde. Wenn Dawinno seine fundamentalen Grundrechte an die Hjjks preisgeben will, sage ich, schön, dann tut es. Aber nichts, was Dawinno vertraglich festlegt, wird für uns bindend sein. Diese Stadt hier wird niemals in irgendeinem Punkt eine hjjkische Autorität anerkennen, solang ich lebe. Und dies gilt auch für meine Söhne.“

„Es besteht kein Anlaß zur Sorge“, sagte Thu-Kimnibol. „Der Hjjk-Vertrag ist eine Leiche von gestern. Und es geht auch bei meiner Mission hier gar nicht um ihn.“

„Um was also dann?“

„Ich bin gekommen, um dir ein Bündnis vorzuschlagen, lieber Cousin. Dawinno und Yissou — Seite an Seite vereint, zu einem einzigen Ziel.“

Salaman ruckte vorwärts und umklammerte die Armstützen seines Thrones. „Und worin würde dieses Ziel bestehen, Gevatter?“

In Thu-Kimnibols eisigen dunklen Augen flammte ein fremdartiges, ganz neues Feuer auf. „In der Führung des Krieges gegen die Hjjks“, sagte er, „und der Vernichtung dieses Ungeziefers!“


Der Zoologische Garten, kurz vor Sonnenuntergang. Es ist der Vorabend vor dem Dawinno-Fest, und die ganze Stadt bereitet sich auf die Spiele vor. Alle — außer Hresh natürlich, der immer gegen den Strom schwimmt. Allein wandert er zwischen seinen Tieren umher und denkt, daß jetzt eigentlich der Zeitpunkt gekommen sein müsse, um herauszufinden, wie das Denkvermögen seiner Caviandis nun tatsächlich beschaffen sei.

Als er jünger war, zog er oft durch den Tag und versuchte insgeheim, sich so zu bewegen, wie er sich einen Saphiräugigen vorstellte, in der Hoffnung, dadurch auch so denken zu können wie ein Saphiräugiger. Jetzt, an diesem Nachmittag, erinnert er sich dessen. Nimm die entsprechende Körperhaltung ein, bewege dich entsprechend, vielleicht kannst du dann dein Gehirn dazu bringen, so zu funktionieren wie ihre. Und hin und wieder der Versuch, wie ein Traum-Träumer zu gehen, wie ein Menschlicher, wenn er unbeobachtet war: Dann tat er, als sei er lang und von schmaler Gestalt, mit unbehaarten Beinen, ohne Sensor. Aber je heftiger er sich diesbezüglich bemühte, desto affenhafter kam er sich vor. Ein Prähominide, nein, eigentlich eher ein auffrisiertes Äffchen. Dann sagte er sich immer, er gehe zu hart mit sich selber ins Gericht, und mit dem VOLK. Schließlich sind wir doch viel mehr als bloße Nachäffer und sehr, sehr viel mehr wert, als daß man uns zu Affen macht. Er mußte sich das immer wieder einmal selbst sagen. Nein, eigentlich redet er sich das schon fast sein ganzes Leben lang immer wieder ein. Und glaubt es. Meistens. Da, schau dir doch diese Stadt an, nur als Beispiel. Ist Dawinno wirklich so unoriginell? Was haben wir hier nicht alles zustandegebracht. Das ist doch eine große, eine gigantische Leistung. Aber manchmal im Schlaf träumt Hresh, daß er wieder in den Kokon zurückgekehrt ist, wieder ein spilleriger schmaler Junge ist, der mit den andren Beinringkämpfe auskämpft oder sich in spelunkologische Segelabenteuer versteigt und wider alle Chance hofft, einen hurtigen Blick in die Geheimkiste mit den Chroniken des Alten Thaggoran zu erhaschen. Dieses müßiggängerische, leere, stagnierende Leben. Wir leben wie die Tiere, obwohl wir uns Namen gegeben haben, uns Rituale und Zeremonien erfunden haben, ja sogar unsere Geschichte aufzeichneten. Warum sind wir eigentlich nicht längst an unsrer Langeweile krepiert, fragte Hresh sich oft. Da haben wir siebenhunderttausend Jahre eingepfercht in diesen winzigen Höhlenlöchern zugebracht und eigentlich nichts Nennenswertes getan. Kein Wunder, daß wir da ausbrachen, gewaltige Stadtgebilde aufbauten, die wir mit unseren Nachkömmlingen vollstopften. Ach, all diese dunklen, erstickend engen Jahre, die ganze verlorene Zeit, die es wiedergutzumachen galt. Aufbauen, Wachsen, Entdecken, Kämpfen. O ja. Und da stehen wir jetzt! Wohin haben sie uns gebracht, diese unsere ehrgeizigen Bestrebungen? Was haben sie Gutes bewirkt? Alle unsere schlauen Pläne und grandiosen Projekte?

Wozu? Was nutzt es? fragte uns einst der Wassergänger, als wir den Weg nach Vengiboneeza erfragten. Ja, wahrlich, wozu? Was nutzte es? Was? Ja — was denn? was sind wir denn weiter als fellbekleidete Affen, die sich einbilden, sie könnten Menschen spielen.

Nein! Nein und Nein!

Wir sind das VOLK, dem die Götter die Welt als Erbe und Besitz gegeben haben.


Und jetzt ist der rechte Moment, wie ein Caviandi zu gehen. der rechte Augenblick, um herauszufinden, wie sie wirklich sind.

Sie haben sich dem Leben in Hreshs kleinem Tierpark gut angepaßt. Seine Arbeiter haben einen Teil des Bachs im Park abgezweigt, und der linke Arm fließt jetzt durch das unebene Hanggelände, das man den Caviandis als Habitat eingerichtet hat. Hinter spinnwebdünnem Gitter, das aber fest genug ist, einen Zinnobären zu bremsen, fischen die zwei sanften Geschöpfe, sonnen sich, arbeiten geduldig an einem Netz flacher unterirdischer Gänge an beiden Ufern des Wasserlaufs. Sie scheinen den Schrecken ihrer Gefangennahme überwunden zu haben. Manchmal sieht Hresh sie nebeneinander auf dem großen glatten rosa Felsen über ihrem Nest sitzen; dort starren sie dann hingerissen auf die Dächer und weißen Mauern des Wohnbezirks, der an den Park grenzt, als blickten sie zu den Palästen eines ihnen unerreichbaren Paradieses.

Hresh hegt mittlerweile keine Zweifel mehr an ihrer Intelligenz. Doch er will die Beschaffenheit dieser Intelligenz bestimmen. Zuerst allerdings mußte er ihnen etwas Zeit lassen, sich an ihre Gefangenschaft zu gewöhnen. Sie müssen sich beruhigen, zutraulich und zugänglich werden, ehe er den Versuch irgendeines Tiefenkontakts unternimmt.

Nun beginnt er die Annäherung. Er tritt in das Gehege und setzt sich auf einen Stein am Bach, wo er wartet, daß sie sich ihm nähern. Die beiden glatten geschmeidigen großäugigen purpurfarbenen Tiere sind gegenüber, nahe am Zaun, und stehen aufrecht, wie sie dies oft tun. Seine Anwesenheit scheint ihre Neugier zu erregen. Doch noch zögern sie.

Stufenweise aktiviert er sein Zweitgesicht, auf geringer Energiestufe zunächst, und baut das dabei entstehende Wahrnehmungsfeld sphärisch um sich aus.

Er fühlt die prickelnde Wärme eines Kontakts. Er spürt die Auren ihrer Seelen, vielleicht auch den Mechanismus ihres Bewußtseins. Doch er fängt nur eine dumpfe Tiefenströmung auf, ein unklares, unstetes Pulsen einer entfernten Bewußtheit.

Behutsam stellt er die Sonde schärfer.

Dieses Erkennen fremden Bewußtseins und Denkens ist für ihn nichts Neues. Zahlreiche Arten des Neuen Frühlings sind denkfähig, möglicherweise sogar alle. Und könnten mit ihm in Kontakt treten, vermutet er, wenn er nur lernen könnte, ihre Ausstrahlungen aufzuspüren.

Im Lauf der Jahre hat er gelegentlich gewissermaßen mit Goldzähnen und mit Xlendis, mit Taggaboggas und Zinnobären ‚gesprochen‘. Er erinnert sich an die klirrende Mentalstimme des Wasserschrittlings, wie er sich zu seiner gewaltigen Größe aufrichtete und das Stammesvolk Koshmars verhöhnte, das auf der Suche nach dem verlorenen Vengiboneeza umherirrte. Und wie er als Junge hinter einem Felsen kauerte und mit Zweitgesicht dem blutlüsternen Gesang eines Rudels von Rattenwölfen lauschte, die ein scheußliches Geheul als Sprache hatten, deren Wörter aber für ihn dennoch unmißverständlich waren: Kill — kill — Fleisch — Fleisch!

Einmal, als der Stamm erst einige Tage aus dem Kokon aufgebrochen war, hatte er sogar mit fröstelnder Fasziniertheit das wortlose trockene Schnurren der Hirnsprache eines Hjjks gehört, der anläßlich einer zufälligen Begegnung auf einem kalten kahlen Feld den Stamm höhnisch begrüßt hatte.

Überall in der Welt spricht Bewußtsein zu anderem Bewußtsein, ruft in der stimmlosen Sprache des Geistes ein Geschöpf dem anderen zu. Es ist nichts Ungewöhnliches. Vor langer Zeit schon hatte die Welt in ihrem Wachstum eine Entfaltungsstufe erreicht, auf der solche Fähigkeiten weitverbreitet waren. Fast alles hat eine Sprache, auch wenn einige Arten nur sehr wenig zu sagen haben, und dieses Wenige ist dann oft einfach und wenig luzide.

Doch diese Caviandis hier — aufrecht auf den Hinterbeinen, die zarten Händchen vorgestreckt, die schnurrhaarigen Schnauzen zucken nachdenklich, die dunklen leuchtenden Augen sind warm und voll Leben. Hresh vermutet, daß sie etwas Außergewöhnliches sind und viel mehr als bloßes Getier des Feldes.

Er hebt seinen Sensor, wodurch die von Hresh ausgehende Strahlung verstärkt wird. Sie harren aus und ziehen sich nicht zurück.

„Ich bin Hresh“, sagt er. „Ihr habt von mir nichts zu befürchten.“

Stille, kein Kontakt vorhanden. Dann taucht in der Stille ein wirbelnder Störungsknoten auf, wie eine winzige rote Sonne bei der Geburt im schwarzen Schild des Himmels, und nach einiger Zeit sagt das Caviandi-Weibchen lautlos mit Gedankenstimme: „Ich bin Sie-Kanzi.“ Und das Männchen sagt: „Ich bin Er-Lokim.“

Namen! Sie geben sich Namen! Sie besitzen ein individuelles Identitätsbewußtsein!

Hresh zittert vor verblüfftem Erstaunen.

Nirgends — außer beim VOLK — ist er bisher auf dieses Konzept der Namensgebung gestoßen. Alle bisher erforschten Tiere schienen namenlos gewesen zu sein, wie Bäume oder Steine. Nicht einmal die Hjjks benutzen Namen, so geht jedenfalls das Gerücht. Sie erkennen sich nicht als Einzelwesen in der Masse des Nests.

Aber da haben wir auf einmal Sie-Kanzi und Er-Lokim, und sie erklären sich als eigenständiges Ich. Und ihre Namen, wird Hresh beinahe sofort klar, sind mehr als bloße Bezeichnungen. Er erkennt, daß die Angaben eine ganze Vielfalt von komplexen Dingen bezeichnen, die er kaum erfassen kann, die aber in einem Zusammenhang stehen müssen zu der Beziehung der beiden Caviandis zueinander, zu den anderen Individuen ihrer Gattung, zur Welt ganz allgemein und sogar vielleicht zu den Caviandi-Gottheiten, wenn er die Emanation richtig gedeutet hat. Er glaubt, das ist der Fall. Er vermutet, daß er bisher nur zu einer groben ersten Näherung gelangt ist. Doch selbst das ist schon erstaunlich.

Die Caviandis stehen nahezu reglos da und beobachten ihn. Sie wirken gespannt. Die eleganten Fingerchen an ihren feingeformten Händen krümmen und strecken sich wieder und wieder. Die schnurrbärtigen Schnauzen zucken. Aber die riesenhaften schimmernden Augen schauen ohne Blinzeln zu Hresh herüber wie tiefe dunkle Wasser, still, gelassen und unergründlich.

Nun umfaßt Hresh sie mit seinem Zweitgesicht, und sie zeigen ihm ihre Innenbereiche umfassender. Vieles ist noch unklar. Doch er empfängt die Vision von einem friedfertigen, anspruchslosen Leben, das eng an die Webstruktur der Natur angepaßt gelebt wird.

Menschlich sind sie nicht, jedenfalls nicht nach Hreshs Definition: Sie haben kein Verlangen nach irgendwie geartetem Zuwachs oder Fortschritt, keine Sehnsüchte, kein Expansionsstreben, keinen Wunsch, irgend etwas zu beherrschen, außer ihrem kleinen Bach da. Aber auf eigene Art haben sie ein starkes Bewußtsein. Allein die Erkenntnis der eigenen Existenz! Das allein hebt sie schon weit über die meisten Tiere der Wildnis hinaus. Sie haben ein Wissen über Vergangenheit und Zukunft. Sie besitzen Traditionen, haben eine Geschichte.

Und das Ausmaß dieses geschichtlichen Bewußtseins ist überraschend. Die Caviandis wissen vom hohen Alter der Welt, kennen den gewaltigen gekrümmten Zeitbogen, der hinter sämtlichen Kreaturen des Neuen Frühlings liegt. Sie fühlen den Druck der verschwundenen Epochen, der verlorenen Abfolge von Zeiträumen. Sie wissen, daß Könige und Kaiser kamen und gingen, daß bedeutende Rassen erwuchsen, aufblühten, wieder verfielen und ohne Hoffnung dem Vergessen anheimfielen. Und sie begreifen, daß dies die Endzeiten einer Welt sind, die gelitten hat, verwandelt wurde und alt, und die nun wieder jung ist.

Besonders scharf ist ihr Bewußtsein des Langen Winters. Die Erinnerung daran ist in ihrem Herzen lebendig. Aus ihrem Gehirn kommen Bilder eines sich verfinsternden Himmels, als die herabstürzenden Todessterne Wolken von Rauch und Staub aufwirbeln. Bilder von Schnee und Hagel, von der wachsenden Eislast, die über das Land kriecht. Sie zeigen Hresh flüchtige Bilder von zerlumpten Überlebenden der frühen Kataklysmen, die über die vereiste Erde irren und nach Orten suchen, an denen sie Schutz finden: Caviandis, Hjjks, sogar Bilder vom VOLK selbst, wie sie in die Kokons flüchten, um dort auf das Ende der langen Kälteperioden zu warten.

Hresh hat sich schon lange gefragt, wie viele der Wildtierarten, die er für seinen Garten gesammelt hat, die Zeit des Langen Winters überdauert hatten. Wie hatten sie das ungeschützt überleben können? Es waren doch sicher die meisten frühen Spezies mit der Großen Welt zugrunde gegangen. Und als die Erde sich langsam wieder erwärmte, mußte es eine erneute Schöpfung gegeben haben. Vielleicht, dachte er da manchmal, zeugten die Strahlen der wiederkehrenden Sonne aus dem tauenden Erdboden neue Geschöpfe — oder, wahrscheinlicher, die Götter verwandelten die älteren kälteresistenten Geschöpfe in die neuen Tiere des Neuen Frühlings. Es war das Werk Dawinnos.

Aber die Caviandis sind uralt, genau wie das VOLK selbst.

Die ganze Geschichte ist da, eingelagert im Bewußtsein seiner zwei Caviandis, als wären die Erinnerungen angeboren, als würden sie mit dem Blut von der Mutter auf das Kind übertragen. Die Eiswinde, die durch die Städte der Großen Welt fegen — das edle Volk der saphiräugigen Reptilien harrt standhaft seinem Untergang entgegen. Die zarten Vegetalischen verdorren schon in den frühen Froststürmen. Die bleichen haarlosen rätselhaften Menschlichen, die man hin und wieder zu Gesicht bekommt, bewegen sich gelassen durch das sich verdichtende Chaos.

Und die Caviandis passen sich an, graben sich flache Tunnels, kommen nun wieder hier und dort hervor und brechen durch das Eis, das ihre Fischgründe bedeckte.

Mit Bewunderung begreift Hresh, daß diese Geschöpfe fähig waren, den Langen Winter ungeschützt im Freien zu überdauern. Während wir uns versteckt haben. In Felslöchern dicht zusammenhockten. Und jetzt, nachdem sie bis in den Neuen Frühling herüber überlebt haben, geschieht es ihnen, daß sie gejagt und totgeschlagen werden und wegen ihres Fleisches denen als Braten dienen müssen, die ganz zuletzt aus ihren sicheren Schlupflöchern hervorgekrochen kamen. Oder man fängt sie ein und steckt sie in einen Pferch, um sie zu studieren.

Und dennoch empfinden sie keinen Groll gegen ihn, Hresh, oder gegen seinesgleichen. Und diese Erkenntnis ist womöglich der erstaunlichste Fund.

Er öffnet sich ihnen so völlig, wie er kann. Er will, daß die Caviandis ihm direkt in die Seele schauen und darin lesen — und vielleicht begreifen, daß dort nicht Böses lauert. Er versucht, ihnen bewußt zu machen, daß er sie nicht hierhergebracht hat, um ihnen Schaden zuzufügen, sondern nur weil er danach verlangt, ihren Geist zu erreichen und zu berühren, was in ihrer angestammten Wildnis ihm nicht möglich sein würde. Ihr könnt jederzeit eure Freiheit, wiederhaben, wenn ihr wollt, sagt er zu ihnen — sogar heute noch —, nachdem ich erfahren habe, worauf ich gehofft hatte.

Diesem Anerbieten begegnen sie mit Gleichgültigkeit. Sie haben ihren kühlen rauschenden Bach; ihre gemütlichen bequemen Tunnels und Höhlen; es gibt Fische im Übermaß. Sie sind zufrieden. Wie wenig sie doch vom Leben erwarten. Und doch, sie haben Namen. Sie kennen die Geschichte dieser Welt. Wie seltsam sie sind, wie einfach und doch so komplex.

Jetzt scheint ihr Interesse an Hresh zu schwinden. Oder aber sie sind ermüdet. Er selbst spürt, daß seine Energiereserven zur Neige gehen, und weiß, er kann den Kontakt nicht länger aufrecht erhalten. Sein Bewußtsein durchzieht ein Grauschleier. Dann versinkt er im Nebel.

Es gibt natürlich viel, viel mehr, was er von ihnen erfahren möchte. Aber das wird warten müssen. Dies heute war bloß ein vielversprechender Beginn. Er läßt den Kontakt ausschwingen.


Morgengrauen. Schon. Der Tag der Dawinnischen Spiele, das alljährliche Jubiläum der Stadtgründung und Ehrentag des Schutzgottes und Namensgebers.

Vor dem Häuptling lag ein arbeitsreicher Tag. Aber im Grunde waren alle Tage so, arbeitsreich und voller Geschäfte; nur heute würde es noch schlimmer werden als üblich, denn heute sah sie sich auch noch einem Konflikt zweier Rituale gegenüber. Zufällig fielen die Eröffnung des Festivals und des Ritus der ‚ Stunde Nakhabas‘ auf diesen selben Tag, und Tanianes Anwesenheit war bei beiden Anlässen unumgänglich; leider mehr oder weniger zur gleichen Zeit.

Bei Sonnenaufgang mußte sie im Beng-Tempel die Kerze entzünden, um den Beginn der Nakhaba-Stunde zu zelebrieren. Dann mußte sie — auf ihren eigenen Füßen, nicht einmal eine Sänfte war erlaubt, um Demut vor den Gottheiten zu demonstrieren! — die ganze weite Strecke bis zum Koshmar-Park zurücklegen und die Spiele offiziell für eröffnet erklären. Und dann wieder zu den Bengs zurück, um sicherzustellen, daß Nakhaba der Wiedereintritt in die Welt nach seiner Höhenfahrt in Höchste Regionen, um den Erschaffer zu besuchen und mit IHM die Weltprobleme zu besprechen, auch gut gelungen sei. Und dann wieder rüber zu den Dawinno-Spielen, um das Präsidium bei den Athletikwettkämpfen des Nachmittags zu übernehmen.

All diese Götter! Und diese ganzen Zeremonien!

In früheren, schlichteren Zeiten wäre ein Teil der Pflichten Boldirinthe zugefallen. Aber Boldirinthe war nun alt und sehr fett, überdies wurde sie mit der Zeit ein wenig töricht, und außerdem, wie hätte Boldirinthe ein Beng-Ritual zelebrieren können? Den Beng bedeutete sie nichts. Die Opferfrau hatte eigentlich nur noch eine gewisse, allerdings schwache Autorität bei den Leuten, die sich für unverfälschte, reinrassige Abkömmlinge des Koshmari-Stammes hielten und hartnäckig am alten Glauben an die Himmlische Fünffaltigkeit festhielten.

Nein. Taniane würde die Nakhaba-Stunde selbst zelebrieren müssen. Nicht etwa, daß sie auch nur einen Tropfen Beng-Blutes in sich gehabt hätte, oder auch nur einen Augenblick lang an die Existenz Nakhabas geglaubt hätte (und schon gar nicht daran, daß er einem noch erhabeneren, noch ferneren Gott periodische Konsultationsbesuche abstattete), sondern ausschließlich deshalb, weil sie Chef der Regierung war und diese war nun einmal die gemeinsame Vertretung der Koshmaris und Beng gleichermaßen. Gemäß dem Vereinigungsvertrag war sie sogar nominelle Nachfolgerin der ganzen langen Sequenz von Beng-Häuptlingen. Also würde Taniane eben bei Sonnenaufgang zur Stelle sein und die Kerze entzünden, die dem Gott der Bengs auf dem Weg in die Wohnstatt des Schöpfergottes heimleuchtete.

Vorher aber blieb leider noch die ärgerliche Sache mit diesem Husathirn Mueri zu erledigen. Der hatte ihr, spätnachts, per Boten das Ersuchen um eine Privataudienz überbringen lassen und das dermaßen dringlich gemacht, daß ‚die Angelegenheit auch nicht einen Tag Aufschub‘ erlaubte. „Eine höchsternste Angelegenheit“, hatte er gesagt. „Betreffs einer Gefährdung des Stadtstaates“, ja auch ihrer eignen Person, „die sich durch gewisse Aktivitäten deiner Tochter ergeben. In meiner Position kann ich nur nachdrücklich darauf verweisen, daß derlei Affären nicht zu unterschätzen sind.“

Zweifellos, das konnte der Mann nicht. Für Husathirn Mueri war alles eine ‚höchsternste Angelegenheit‘, besonders dann, wenn sich dabei für ihn selbst ein Vorteil absehen ließ. So war der Mann nun einmal. Dennoch legte Taniane keinen Wert darauf, ihn zu vergrätzen. Er war zu nützlich — und außerdem verfügte er von der Vaterseite her über einflußreiche Verbindungen in der Beng-Bevölkerung. Und wenn Nialli in eine Geschichte verwickelt war, und wenn es wirklich ernst war, nicht bloß der Versuch, das Staatsoberhaupt auf sich aufmerksam zu machen.

Also ließ Taniane ihm mitteilen, sie werde ihn in ihrem Amtssitz empfangen, eine Stunde vor Tagesanbruch.

Als sie hinunterkam, stapfte Husathirn Mueri bereits ruhelos in dem weiten Empfangsraum umher. Es war kühl, der Himmel bedeckt, es fiel ein leichter Regen. Der Mann sah dennoch glatt und geschniegelt aus und völlig unverregnet. Sein dichtes schwarzes Fell war makellos gestriegelt, und die weißen Streifen darin, die so deutlich an seine Mutter, Torlyri, erinnerten, hoben sich besonders deutlich ab.

Als sie eintrat, verneigte er sich höchst zeremoniell und schlug das Dawinno-Zeichen gegen sie, und der götterparteilichen Ausgewogenheit zuliebe wünschte er ihr auch noch, daß Nakhabas Freude mit ihr sein möge. Dieser ganze frömmlerische Seich war ihr zuwider, besonders von ihm. Schließlich war es ja für sie kein Geheimnis, wie wenig er von den Göttern überhaupt hielt, egal ob bengischen oder koshmarischen.

Sie verzichtete also auf die Erwiderung der heiligen Zeichen und fragte ungeduldig: „Also, was ist los, Husathirn Mueri?“

„Wollen wir etwa hier darüber sprechen? Im Vorzimmer?“

„Wieso nicht? Der Ort ist so gut wie jeder andere.“

„Ich — hatte erwartet — vielleicht unter etwas weniger öffentliche Aufmerksamkeit erregenden Umständen.“

Taniane stieß einen lautlosen Fluch aus. „Also, dann komm schon! Hresh hat da unten am Ende des Gangs ein kleines Privatbüro.“

Ein nervöser zuckender Blick. „Und Hresh wird auch dabei sein?“

„Er steht mitten in der Nacht auf und geht ins Haus des Wissens und spielt dort mit seinen Sachen herum. Aber wieso? Handelt es sich um etwas, das er nicht wissen soll?“

„Das zu entscheiden möchte ich dir überlassen, Hohe Frau“, sagte Husathirn Mueri. „Mir liegt nichts andres am Herzen, als dir diese Dinge mitzuteilen, doch wenn du meinst, der Chronist sollte ebenfalls informiert.“

„Also schön. Komm!“ sagte Taniane. Sie wurde zunehmend ärgerlicher. Dieser ganze Quark von Verbeugungen und Kratzfüßen und Ehrenbezeugungen vor Göttern, an die er nicht glaubte, und diese ölglatten Umschweifigkeiten.

Sie ging ihm zu dem kleinen Privatstudio voraus, und dann machte sie fest die Tür hinter ihnen zu. Der Raum war vollgestopft mit Stapeln von Hreshs Schriften, Pamphlete und handschriftliche Aufzeichnungen in Bergen. Durch das schmale Fenster sah Taniane, daß das Nieseln sich inzwischen zu einem heftigen Regen verwandelt hatte. Damit war das Festival schon mal eine Pleite. Sie sah sich schon triefendnaß im Stadion auf der Häuptlingstribüne stehen und die qualmende, spuckende Fackel schleudern, durch die der Wettkampf offiziell eröffnet wurde.

„Schön, also da sind wir“, sagte sie. „Unter vier Ohren.“

„Ich muß dir zweierlei berichten“, sagte Husathirn Mueri. „Das eine sind Informationen, die mir von den Justiz-Wachbeamten vorgelegt wurden, die auf meine Anordnung hin den Hjjk-Botschafter ständig überwachten.“

„Du sagtest aber, es handle sich um Nialli Apuilana.“

„Das ist auch der Fall. Aber ich sagte ebenfalls, daß es sich um eine Gefahr für die Stadt handelt. Ich würde das gern vorab vortragen, wenn du erlaubst.“

„Gut, dann los!“

„Dieser Gesandte, mußt du wissen, streift Tag um Tag ungehindert durch die Stadt. Vorher hatten wir ihn ja unter Hausarrest gestellt, doch der wurde auf Verlangen von Nialli Apuilana aufgehoben. Und geht der Mann herum und verdirbt unsere Jugend, Hohe Frau.“

Sie blickte ihn kalt an. „Verdirbt?“

„Er verbreitet hjjkisches Gedankengut unter den Kindern. Er predigt ihnen eine fremde Ideologie, so Begriffe wie Nest-Wahrheit, KöniginLiebe, Nest-Bindung und Ei-Planung. Du bist mit diesen Begriffen vertraut?“

„Ich habe sie gehört, ja. Jeder hat davon gehört. Aber ich weiß wirklich nicht so recht, was sie bedeuten.“

„Wenn du das wirklich wissen möchtest, brauchst du nur irgendein Kind auf den Straßen der Stadt zu fragen, besonders die ganz jungen Dieser Kundalimon predigt täglich vor ihnen, und täglich stopft er ihnen das Hirn voll mit diesem sündhaften Unsinn.“

Taniane mußte tief Luft holen. „Du bist dir da ganz sicher?“

„Er steht unter strenger ständiger Überwachung, Edle.“

„Und die Kinder — hören sie auf ihn?“

„Edle, die hören ihm zu, und sie glauben, was er sagt. Ihre ganze Einstellung gegenüber den Hjjks hat sich verändert. Sie denken über sie nicht mehr so wie wir, und sie finden sie auch nicht abscheulich und widerwärtig. Sie sehen in ihnen nicht mehr Das Böse. Sprich mit einem der Kinder, Edle, fast jedem beliebigen Kind, und du wirst herausfinden, daß dieser Kundalimon sie dazu verführt hat zu glauben, daß die Hjjks tiefgründig und voller Weisheit sind. Fast göttergleich. Oder immerhin Geschöpfe von einer erhabeneren, besonderen Art. Der Mann predigt ihnen, wie altehrwürdig die Rasse der Hjjks ist, wie groß ihre Bedeutung in den Tagen der Großen Welt war. Du weißt doch, wie fasziniert alle Kinder auf Märchen und Geschichten aus der Großen Welt reagieren. Und da stellt sich der Kerl hin und gibt unseren Kindern zu verstehen, daß es in diesen unseren Tagen noch immer Abkömmlinge einer der sechs großen Rassen der Großen Welt gibt, die weit weg in einem phantastischen unterirdischen Schloß wohnen und keinen sehnlicheren Wunsch hegen, als uns mit ihrer Liebesbotschaft zu überschwemmen und zu beglücken.“

„Doch, ja“, sagte Taniane scharf. „Ich erkenne die Gefahren. Aber was hat er vor? Will er uns alle unsre Kleinen aus der Stadt fortstehlen — ein flötender Rattenfänger, der sie mit seiner Melodei und seinem Getanze verführt und fortlockt. durch die Täler, über die Hügel weit — bis ins NEST?“

„Soweit ich weiß, könnte genau das seine Absicht sein.“

„Und du behauptest, Nialli Apuilana ist in diese Sache verwickelt? Wie?“

Husathirn Mueri beugte sich nach vorn, bis seine Nase fast an die Tantianes stieß. „Herrin, sie ist die Geliebte dieses Kundalimon.“

„Die Geliebte?“

„Aber du weißt doch, sie geht jeden Tag zu ihm in seine Kammer, Edle. Um ihm. ah, sein Essen zu bringen und ihn in unsrer Sprache zu unterrichten.“

„Ja. Natürlich weiß ich das.“

„Herrin, manchmal bleibt sie die ganze Nacht hindurch bei ihm. Meine Wachen haben Geräusche aus diesem Zimmer kommen hören, die — vergib mir, Edle, vergib mir! — unzweifelhaft und eindeutig Kopulationsgeräusche sind.“

„Na, und wenn schon?“ Taniane fuchtelte irritiert mit der Hand. „Kopulieren ist eine sehr gesunde Sache. Sie hat sich bisher nie besonders dafür interessiert. Höchste Zeit, daß sie endlich auf den Geschmack kommt und so.“

Husathirn Mueris Gesichtsausdruck versteinerte, als hätte Taniane damit begonnen, ihm einen Finger nach dem anderen abzuhacken.

„Edle.“, begann er.

„Nialli ist eine erwachsene Frau. Sie kann kopulieren, mit wem sie will. Auch mit einem Gesandten der Hjjks!“

„Herrin, aber die tvinnern ja auch.“

„Was?“ Taniane war so überrascht, daß sie laut wurde. Tvinnern, das war ja nun wirklich etwas ganz anderes! Die Vorstellung, daß sich die beiden Seelen verschmolzen, daß Kundalimon giftfiebriges Gedankengut der Hjjks in das Hirn ihrer Tochter ergoß, die sowieso bereits durch die Erlebnisse in der Gefangenschaft destabilisiert war, das war wie ein betäubender Schlag für sie. Momentan hatte sie das Gefühl, als trügen sie die Beine nicht mehr und als müsse sie auf den rosafarbenen Marmorboden sinken. Sie zwang sich und gewann die Beherrschung wieder. „Wie kannst du sowas behaupten?“

„Ich habe dafür keinen Beweis, Edle“, sagte Husathirn Mueri mit heiserem Kehlton. „Du weißt ja, daß man mir Beschränkungen auferlegt hat, was ihre Überwachung angeht. Aber die viele Zeit, die sie mitsammen verbringen — das Ausmaß ihrer Intimität — und natürlich die Tatsache, daß beide die Efahrung der Gefangenschaft bei den Hjjks gemacht haben. sowie daß sie bereits jetzt unbestreitbar ein Liebespaar sind, und außerdem beide bereits im Tvinnr-Alter.“

„Es sind also bei dir bisher bloße Vermutungen.“

„Ja. Aber ich vermute, korrekte.“

„Ja. Gut. Ich verstehe, was du meinst.“

Taniane warf einen Blick zum Fenster. Nach dem plötzlichen heftigen Guß ließ der Regen nun ein wenig nach, und der Himmel hellte sich auf.

„Hast du irgendwelche Anweisungen für mich, Herrin?“

„Ja. Ja, sicher.“ Ihre Kehle war strohtrocken, und in ihrem Kopf pochte es. Sie mußte endlich aufbrechen, im Tempel der Beng erscheinen und das Ritual ableiern, durch das Nakhaba in die privaten himmlischen Gefilde des Erschaffers katapultiert wurde. Aber die bildliche Vorstellung, daß ihre Nialli und dieser Kundalimon tvinnerten, brannte ätzend in ihren Gedanken. Sie versuchte das Bild zu verdrängen, aber es wich nicht. Also sagte sie steif und von oben herab: „Behalte sie weiterhin im Auge wie bisher. Wenn du wirklich etwas Genaues darüber herausfindest, was zwischen ihr und Kundalimon vorgeht, wünsche ich davon in Kenntnis gesetzt zu werden. Doch sorge dafür, daß sie nicht merkt, daß sie überwacht wird.“

„Selbstverständlich. Und wie verfahren wir im anderen Punkt, der hjjkischen Indoktrination unserer Kinder?“

Der Häuptling wandte ihm das volle Gesicht zu. „Dem muß sofort ein Ende gesetzt werden. Wir können nicht zulassen, daß er die Jugend verdirbt. Du verstehst, was ich sage? Ein Ende!“

„Jawohl, Edle. Ich habe verstanden. Vollkommen.“


Im nieselnden Morgen des Dawinno-Festivals hockte Hresh im Haus des Wissens und machte sich Notizen über seinen Besuch bei den Caviandis. Im späteren Tagesverlauf würde er sich auf der Tribüne des Festivals zeigen und seinen Ehrenplatz an der Seite Tanianes einnehmen und den jungen Athleten der Stadt bei ihren Hampeleien zuschauen müssen. Er konnte sich leider da nicht drücken, es hätte einen Skandal gegeben und wäre überdies auch als gottesfrevlerisch angesehen worden. Immerhin hatte er ja höchstselbst vor Jahren dieses Fest sich ausgedacht, um den klugen, erfinderischen und unberechenbaren Gott zu ehren, der sein persönlicher Schutzgott war — und der der Stadt. Aber es blieben ihm ja immerhin noch einige Stunden, um ein bißchen vernünftige Arbeit zu leisten.

Er hörte Geräusche vor der halboffenen Tür. Dann ein sachtes Klopfen und ein verstohlenes Räuspern.

„Vater?“

„Nialli? Es ist doch nicht etwa schon Zeit für die Spiele?“

„Nein. Es ist noch ganz früh. Ich wollte nur mit dir reden, ehe das Ganze losgeht.“ Eine Pause. „Ich habe jemanden mit mir.“

Hresh kniff die Augen gegen die Dunkelheit zusammen. „Wer ist es denn?“

„Kundalimon. Wir wollten zusammen mit dir etwas besprechen.“

„Ah.“ Er preßte die Handflächen zusammen. „Also, schön. Dann kommt eben rein. Beide.“

Sie kamen aus dem Regen, aber die Tropfen schienen, anstatt in ihr Fell einzudringen, wie schimmernde Perltröpfchen an den Haarspitzen zu hängen. Und von den beiden selbst ging gleichfalls ein strahlender Schimmer aus. Es umgab sie eine Aura von einzigartiger Freude. Sie traten vor Hresh und hielten sich an den Händen, unschuldsvoll wie Kinder, aber bis zum Rand voll von Glückseligkeit, ja überfließend.

Bei ihrem Anblick empfand Hresh beunruhigt so etwas wie Freude, aber auch eine beklemmende Vorahnung. Er begriff nur zu gut, von welchem inneren Feuer dieses Glühen stammte, das von den beiden ausstrahlte.

Sie glucksten und ließen den Blick nicht voneinander, aber keiner sprach.

„Also?“ half Hresh, „Was habt ihr zwei ausgeheckt?“

Nialli wandte den Kopf ab und kicherte erstickt in ihre Schulter hinein. Aber Kundalimon blickte ihn fest und starr an und lächelte in der für ihn charakteristischen schiefen seltsamen Art.

Der Junge wirkte jetzt gar nicht mehr wie ein Wildling. Er hatte ein bißchen Gewicht zugelegt und sah gar nicht mehr so weltfremd aus und fast nicht mehr wie ein gespenstischer Gast von einem fernen unbekannten Planeten, sondern eigentlich eher mehr wie all die anderen jungen Männer in der Stadt. Und er schien voll einer bisher ungewohnten neuen Kraft und Sicherheit zu sein.

Schließlich sagte Nialli: „Also, die Geschichte ist nicht so ganz leicht, Papa. Und ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll.“

„Schön, dann laß mich mal raten. In dem Fall werde ich wohl kaum den Barak Dayir brauchen, was? Also — du und Kundalimon, ihr liebt euch, wie?“

„Ja.“ Es war ein gehauchtes Flüstern.

Hresh war nicht im geringsten überrascht. Von Beginn an war es ihm als beinahe unvermeidlich erschienen, daß diese beiden Kinder sich finden würden.

„Und wir sind Tvinnr-Partner, Vater.“

Das auch noch? Damit hatte er nicht gerechnet. Mit dieser noch tieferen Verbindung. Aber auch dies nahm er relativ gelassen zur Kenntnis. Kein Wunder, daß die zwei dermaßen glühten!

„Tvinnr-Partner, aha. Sehr schön. Sehr gut. Tvinnern reicht so weit über die Kopulation hinaus, wißt ihr. Na klar, inzwischen wißt ihr das. Es ist die wirkliche echte Vereinigung.“

„Ja. Wir haben es entdeckt“, sagte Nialli. Sie fuhr mit der Zungenspitze über die Lippen. „Vater.“

„Na nun komm schon, erzähl mir auch den Rest.“

„Weißt du das denn nicht auch schon?“

„Du willst eine Partnerschaft mit ihm eingehen?“

„Mehr als das“, sagte sie.

Er verzog die Stirn. „Mehr? Was kann es denn mehr geben?“

Sie gab darauf keine Antwort, sondern wandte sich Kundalimon zu, der sprach: „Ich werde sehr bald wieder zum Nest zurückkehren. Die Königin ruft mich zurück. Mein Werk hier ist getan. Und so bitte ich Nialli Apuilana, mit mir zu gehen, zum Nest und zur Königin.“

Die leisen Worte schnitten Hresh durchs Herz wie Sicheln.

„Was?“ stammelte er. „Ins Nest?“

Drängend und in überstürzten Worten sagte Nialli: „Du kannst einfach nicht wissen, wie das dort ist, Vater. Keiner kann das, der nicht selber dort war. Was für ein Ort das ist; was für Leute das sind. Wie reich und erfüllt ihr Leben ist, wie tief. Sie leben in einer Luft voller Träume und Magie und Wunder. Und du atmest diese Nest-Luft, und sie füllt deine Seele, und du kannst nie wieder sein wie früher, nicht nachdem du die Nest-Bindung gespürt und die Königin-Liebe begriffen hast. Ach, es ist so ganz anders, als wie wir hier leben. Unser Leben ist so beängstigend einsam, Vater. Trotz der Kopulation. Sogar noch trotz des Tvinnerns. Wir sind ganz allein, jeder ganz allein für sich, verkapselt in unserem Kopf, und trotten im Göpeljoch unserer kleinen Existenz im Kreis herum. Aber dort haben sie eine Vision von der Welt als einem Ganzen, einer Einheit, einem gemeinsamen Ziel und einem durchgehenden Muster, und alles und jeder ist mit allem und jedem verknüpft. Ach, Vater, bei uns denken alle, die dort sind übles unheimliches Ungeziefer, umherhuschende summende, scheußlich mechanisches Zeug, aber das ist nicht wahr, Vater, es ist ganz und gar nicht so, sie sind überhaupt nicht so, wie wir sie uns vorstellen! Jedenfalls will ich zu ihnen gehen. Ich muß! Mit Kundalimon. Er und ich, wir gehören zusammen, und wir beide gehören — dorthin!“

Hresh starrte seine Tochter betäubt und sprachlos an.

Auch dies war wohl unvermeidlich, seitdem sie aus dem Nest zurückgekommen war. Er hitte es vorhersehen müssen. Doch er hatte sich nicht erlaubt, das zu sehen oder gar darüber nachzudenken.

„Wann?“ fragte er. Und: „Wie bald?“

„In einigen Tagen, einer Woche vielleicht. Kundalimon ist hier noch nicht ganz fertig. Er lehrt die Kinder die Nest-Wahrheit und die Königin-Liebe. Damit sie verstehen lernen, wie es den älteren Leuten wohl kaum möglich wäre. Und er will ihnen noch einiges mehr sagen und zeigen. Danach werden wir fortgehen. Aber ich wollte mich nicht einfach so davonstehlen, ohne es dr vorher zu sagen. Taniane kann ich’s nicht sagen — die würde das niemals erlauben. Die würde mich glatt einsperren lassen, ins Kittchen, um mich am Weggehen zu hindern — aber du, du bist eben anders, du siehst alles so viel tiefer und eindringlicher.“

Trotz des Schocks, der in ihm noch nachbebte, gelang Hresh ein Lächeln.

„Was ich sehe, meine liebe Nialli, ist nur, daß du mich in deiner Angelegenheit zum Mitverschwörer gemacht hast. Und wenn ich darüber mit deiner Mutter spreche, dann wirst du mir das niemals verzeihen, stimmt’s?“

„Aber du wirst ja nicht mit ihr darüber reden, mit überhaupt niemand. Das weiß ich.“

Hresh betrachtete seine Fingerkuppen. In seiner Brust breitete sich etwas kalt und bedrückend aus. Erst jetzt traf ihn das so ganz, was Nialli gesagt hatte: Seine Tochter, sein einziges Kind, war von diesem Augenblick an für immer für ihn verloren, und er konnte nichts dagegen tun, gar nichts!

„Also gut“, sagte er schließlich und hoffte, daß sie ihm die Trauer nicht an der Stimme anmerken werde. „Ich werde stumm sein.“

„Ich wußte, du würdest das tun.“

„Eins allerdings mußt du für mich tun, ehe du fortgehst. Sonst gilt unsere Abmachung nicht, und Taniane erfährt binnen einer Stunde genau, was ihr beiden vorhabt.“

Nialli strahlte wieder. „Was du willst, Vater. Sag es nur.“

„Ich möchte, daß ihr mir vom Nest berichtet. Beschreibt mir, wie die Königin ist, sagt mir, was Nest-Bindung bedeutet und Königin-Liebe und alle diese anderen Begriffe. Du hast alles für dich behalten, Nialli, seit du wieder in der Stadt gelebt hast. Begreifst du nicht, wie sehr mich das interessiert hat, Nialli? Aber ich konnte dich natürlich nicht zwingen, mir etwas zu sagen. Und du hast ja nicht das kleinste bißchen erzählen wollen, nie. Aber jetzt mußt du! Sag mir alles. Ich muß es wissen. Denn du bist die einzige Person, die mich diesbezüglich instruieren kann. Und sobald heute die Spiele beendet sind, wirst du das bitte auch tun! Das ist das einzige, worum ich dich bitte, ehe du mit Kundalimon ins Nest zurückkehrst. ehe du mich für immer verläßt!“


Curabayn Bangkea war eifrig damit befaßt, in der kleinen Zelle im Annexbau der Basilika, in der er sein Büro hatte, seinen Helm zu polieren, als Husathirn Mueri auftauchte. Die Stimmung des Wachhauptmanns war düster, und das schon seit etlichen Tagen. Das Bild der Nialli Apuilana verfolgte ihn im Wachen und im Schlaf. Sie tanzte vor ihm, nackt, in seinen Träumen, lockend, spöttisch lächelnd, stets seinem Zugriff sich entwindend. Es verlangte ihn nach ihr mit einer Lust, die er selbst als absurd und ungeheuerlich begriff. Denn sie war eine Frau, die in mehr als nur einer Hinsicht völlig außerhalb seiner Reichweite war: eine Angehörige der höchsten Nobelklasse der Stadt, und er selber — nichts weiter als ein Wachbeamter der Justizbehörde. Er hatte keinerlei Chancen, und das Ganze war einfach lachhaft. Aber dennoch zerfraß es ihm das Herz. Beständig hatte er diesen bitteren Metallgeschmack im Mund, und dieses unablässige Pochen in der Brust unter den Rippen, und alles nur, weil er an sie denken mußte. Diese törichten, erbärmlichen, idiotischen Phantasievorstellungen und Selbstzerfleischungen! Und so hoffnungslos, absolut hoffnungslos! Hin und wieder er haschte er einen Blick auf sie in den Straßen der Stadt, stets weit entfernt, in achtvoller Distanz, aber sie blickte dennoch verächtlich und voller Abscheu in seine Richtung, als wäre er irgendwas, das aus dem Abflußrohr herausgekrochen war.

„Ah, da bist du ja“, sagte Husathirn Mueri beim Eintreten.

Curabayn Bangkea entglitt sein Helm und fiel scheppernd auf die Tischplatte. „Deine Gnaden?“ Er bellte fast, keuchte und zwinkerte bestürzt mit den Lidern.

„Wieso diese üble Laune heute morgen, Curabayn Bangkea? Nervt dich der Regen, oder hast du schlecht geschlafen?“

„Ausgesprochen schlecht, deine Gnaden. Meine Träume sind ausgesprochen sündenstachliger Natur und stoßen mich hinein in die rauhe Wirklichkeit, und da lieg ich dann und wünschte, daß ich wieder schliefe. Und wenn ich dann schlafe, kehrt der Traum zurück und ist nicht weniger steif und stachlig als zuvor.“

„Du solltest wirklich mal wieder einen Tabernakel aufsuchen“, sagte Husathirn Mueri mit einem freundlichen Grinsen, „und dir dort ein paar schöne volle Becher gönnen — und mit ein, zwei oder drei guten Partnern kopulieren, und dann noch eine Runde Wein auffahren lassen. Und so mal eine ganze Nacht durchmachen und überhaupt nicht zu schlafen versuchen. Ich habe immer gefunden, daß man dabei seine ärgerlichen Träume loswird. Und in der nächsten Morgendämmerung bist du dann wieder ein ganz gesunder, normaler Mann, und es dürfte ziemlich lang dauern, ehe dir deine Träume wieder Seelenblähungen verursachen werden.“

„Ich bedanke mich bei deinen Gnaden“, sagte Curabayn Bangkea, eher kühl. „Ich werde bestimmt darüber nachdenken.“

Er hob den Helm wieder auf und begann weiter daran herumzuwischen und zu wienern. Er fragte sich, ob Husathirn Mueri auch nur ahnte, was ihm wirklich zu schaffen machte. Es war immerhin stadtbekannt, wie geil Husathirn Mueri selber auf die Nialli Apuilana war (da mußte man bloß mal genau hinschaun, wenn sie in seine Nähe kam, und man wußte Bescheid), aber war dem Kerl eigentlich bewußt, daß praktisch jeder Mann in der Stadt ganz die gleichen Probleme hatte? Würde er wütend werden, wenn man ihm klarmachte, daß ein bloßer kleiner Hauptmann der Wachen von ihr ebenso heillos besessen war? Möglich war das. Also bleib vernünftig, Junge, und sag ihm nichts davon, befahl sich Curabayn Bangkea.

„Du warst heute morgen nicht im Tempel zur Nakhaba-Stunde“, sagte Husathirn Mueri.

„Nein, Edler. Ich bin im Dienst hier.“

„Bis wann?“

„Bis zur Tagesmitte, deine Gnaden.“

„Und danach?“

„Wollte ich zum Festival gehen. Mir die Spiele anschauen.“

Husathirn Mueri beugte sich nahe zu ihm und lächelte. Es war ein merkwürdig vertrauliches, intimes, anschmeißerisches Lächeln, ein beunruhigendes Lächeln, denn es signalisierte etwas — Abnormes. Die leise Stimme sagte: „Ich hätte da einen kleinen Job für dich, heut nachmittag.“

„Aber, Herr, da sind doch die Spiele!“

„Keine Angst, du kommst schon noch rechtzeitig. Hinterher. Aber vorher brauche ich dich noch. Du mußt ’ne Kleinigkeit für mich erledigen, geht das klar? Und es ist von höchster Wichtigkeit für die Sicherheit unserer Stadt. Und du bist nun einmal der einzige, zu dem ich genug Vertrauen habe, daß er das auch richtig ausführt.“

„Ja? Deine Gnaden?“ Curabayn Bangkea schwamm völlig im unklaren.

„Es geht um den Hjjk-Gesandten.“ Husathirn Mueri lagerte sich so ganz beiläufig mit einem Schenkel auf die Kante des Schreibtischs in der Wachzentrale. „Taniane weiß inzwischen darüber Bescheid, was der treibt — ich meine seine subversiven Aktivitäten. Seine Predigerei. Wie er unsere Jugend verdirbt. Sie wünscht, daß dem so schnell wie möglich ein Ende gemacht werde.“

„Ein Ende — wie, Edler? Sollen wir ihn wieder unter Hausarrest stellen?“

„Nein. Etwas mit mehr Durchschlagskraft.“

„Mehr.?“

„Aber du begreifst doch, was ich dir sage.“

Curabayn Bangkeas Blick wurde starr. „Ich bin mir nicht sicher, daß ich begriffen habe. Also — ohne große Umschweife, Herr. Willst du mir damit sagen, ich soll ihn töten lassen?“

Husathirn Mueri hatte einen seltsam heiteren Ausdruck im Gesicht, als er sagte: „Der Häuptling fühlt sich von den Vorgängen zutiefst beunruhigt. Sie hat mir aufgetragen, dieser subversiven Beeinflussung unserer Kinder ein Ende zu bereiten. Sofort, radikal und für immer. Das ist doch wohl klar genug.“

„Aber. die Beseitigung eines Gesandten.“

„Es besteht doch wahrlich kein vernünftiger Grund, ihn als so etwas zu bezeichnen, oder?“

„Aber du willst ihn — weg haben, und er ist ein Botschafter, oder?“

Husathirn Mueri sprach unbeirrt weiter. „Die Lage ist kritisch. Diese Person führt zu enormen Störungen im Leben unserer Stadtgemeinschaft. Und hier liegt unsere Verantwortung, mein lieber Curabayn Bangkea, und bei allen Göttern, wir werden uns dieser Verantwortung gewachsen zeigen.“

Und Curabayn Bangkea nickte. Inzwischen kam er sich vor wie ein verlorenes Blatt, das von einem raschfließenden Wasserlauf davongetragen wird.

Husathirn Mueri sprach weiter: „Also wirst du zur Eröffnungsfeier zu den Spielen gehen und dafür sorgen, daß man dich sieht. Dann verschwindest du, und zwar so, daß man dich nicht sieht. Dann besorgst du das Nötige und kommst auf die Tribüne zurück, wo ich zufällig dir in den Weg laufe und dich in meine Loge einlade, wo dich alle Welt sehen kann, und dort sitzen wir ein Weilchen und plaudern — über die Favoriten in den Ausscheidungskämpfen des Tages. Und niemand wird auch nur einen Verdacht hegen, du könntest an etwas Ungewöhnlichem beteiligt gewesen sein, während die Spiele im Gange waren.“

Er blickte stier. „Ich soll das Nötige besorgen, sagst du? Meinst du damit, ich persönlich?“

„Ja, du und keiner sonst. Ausdrücklicher Befehl von Taniane. Mehr noch, und es ist von entscheidender Wichtigkeit, wir müssen verhindern, daß die Sache irgendwie mit ihr in Verbindung gebracht werden kann, mit mir im übrigen auch nicht. Dabei könnte die Regierung der Stadt sehr schwer kompromittiert werden. Deshalb mußt du es tun, und zwar allein. Ist das klar? Und du mußt es sofort hinterher vergessen.“ Er machte eine Pause. „Natürlich wirst du angemessen belohnt werden.“

Die einzige angemessene Belohnung, dachte Curabayn Bangkea, wäre, daß ich mir eine Nacht lang die Nialli vornehmen darf, wie ich möchte. Aber das werden sie mir bestimmt nicht gewähren.

Er verspürte einen plötzlichen Zorn. Was glaubten die eigentlich, was er sei, ein Tier, ein Barbar? Er war der Hauptmann der Wachen, der Schützer und Bewahrer von Recht und Ordnung. Warum wählten sie gerade ihn für dieses schmutzige Geschäft aus? Konnten sie dafür nicht irgendeinen Strolch in einer Kaschemme auftreiben, den man danach bequem verschwinden lassen konnte?

Ich brauche dich... Du bist der einzige, dem ich vertraue...

Nun ja, vielleicht. Daß er gebraucht wurde, ganz besonders auserwählt war, besänftigte ihn ein wenig. Ein Geheimauftrag, und auf ganz speziellen Wunsch des Häuptlings. Irgendwie schmeichelhaft. Der einzige, dem ich vertrauen kann. Ein Säufer und Strolch würde die Sache vielleicht verhauen. Oder das Maul nicht halten können, ehe er an die Arbeit ging. Schließlich handelte es sich um eine staatswichtige Sache. Tanianes Befehl: dem Kinderverführer ein Ende zu machen! Eine Krisensituation war das, jawohl, eine Bedrohung von Recht und Ordnung, diese ganze Propaganda der Hjjk-Liebe und dieses ganzen Zeugs.

Seine Verärgerung legte sich etwas.

Außerdem erkannte er, daß ihm gar keine andere Wahl gelassen war, als mitzumachen, ob es ihm gefiel oder nicht. Er steckte bereits viel zu tief mit drin. Er wußte zuviel. Nun mußte er das Spiel bis zum Ende durchstehen. Diene deinen Herrn und Meistern getreulich, dann kommst du nach oben. Zeig ihnen die kalte Schulter, wenn sie dich brauchen, und du kannst dich eingraben lassen.

„Du wirst uns doch nicht im Stich lassen?“ fragte Husathirn Mueri, als hätte er ihn mit dem Zweitgesicht durchforscht.

„Aber keineswegs, deine Gnaden.“

„Also, was beunruhigt dich dann noch?“

„Ich würde gern Genaueres über die versprochene Belohnung wissen, wenn es dich nicht stört.“

Husathirn Mueri wich glatt aus: „Diese ganze Geschichte hat sich dermaßen schnell entwickelt, daß ich bisher noch keine Zeit hatte, alle Einzelheiten zu berücksichtigen. Ich werde dir dazu mehr sagen können, heute nachmittag bei den Spielen. Doch eines kann ich dir immerhin versichern: Die Belohnung wird angemessen sein, mehr als angemessen.“ Und erneut dieses einschmeichelnde Lächeln, beruhigend, verschwörerisch: Wir stecken doch da gemeinsam drin, und eine Hand wäscht die andre. „Man wird sich deiner annehmen. Du weißt doch, du kannst dich in der Sache auf mich verlassen. Also, kann ich mit dir rechnen?“

Ich hätte eher Vertrauen zu einem Rattenwolf als zu dir, dachte Curabayn Bangkea. Aber es gab kein Zurück mehr. „Selbstverständlich kannst du das“, sagte er.


Hinterher, nachdem sein Besucher gegangen war, saß Curabayn Bangkea eine ganze Weile still da und ließ den Atem durch seinen Leib ein- und ausgehen. Den ersten Schock hatte er überwunden. Sein Zorn war verflogen, nun begann er die Vorteile zu sehen.

Nicht nur die Vorteile, die ihm daraus erwachsen mußten, daß er eine kitzlige Geheimmission erledigen würde, für die man ihn ganz speziell auserkoren hatte, auch nicht die Macht, die ihm durch seine Mitwirkung an der Beseitigung Kundalimons über Husathirn Mueri, ja sogar über Taniane zuwachsen würde. Nein, da war auch die Tötung selbst — und was durch sie bewirkt werden würde. Die Ausmerzung von etwas, das ihn zur Raserei trieb, das Ausreißen eines unerträglichen Stachels. Wenn ich sie schon nicht kriegen kann, dachte er, dann hat er sie wenigstens auch nicht. Der Gedanke an den Mord selbst erregte ihn angenehm. Sich hinter den Kerl zu schleichen, der sich erfrecht hat, Niallis Geliebter zu werden. ihn zu packen. ihn in einen dunklen Gang zu zerren. den Lebensfunken langsam aus ihm herauszudrücken.

Vielleicht war dies genau das Purgativ, das er brauchte und das ihn von diesen unmöglichen wilden quälenden Gedanken befreien würde. Von der zwanghaften Besessenheit, die ihn schon so lange in den Klauen hielt. Seit Tagen schon kein anderer Gedanke in seinem Hirn als der an Nialli Apuilana. Kaum ein wenig Schlaf und niemals Ruhe: Nialli und Kundalimon, Kundalimon und Nialli. fieberische Wahnvorstellungen. wie sie in diesem kleinen Zimmer mit dem Hjjk-Gesandten zusammen war, und wie der sie mit perversen Zärtlichkeiten überschüttete, die er im Nest gelernt hatte, sie mit irgendwelchen exotischen abscheulichen und abstoßenden hjjkischen Liebestechniken begattete, die sie in seiner Umarmung zu ekstatischen keuchenden Lustschreien brachte.

Höchstwahrscheinlich waren auch Husathirn Mueris Gründe, warum er die Tat wünschte, irgendwie mit Nialli verknüpft und hatten überhaupt nichts mit der ‚Verderbnis der Jugend‘ zu tun. Denn warum sollte sich Husathirn Mueri einen Hjjkfurz um sowas kümmern? Nein, die Tatsache, daß die Kleine und Kundalimon ein Liebespaar waren, das war wichtig! Zweifellos konnte Husathirn Mueri das nicht schlucken! Und deshalb war er zu ihm gekommen, weil er wußte, daß er die Sache besser erledigen konnte als irgendwer sonst. Wer würde schließlich schon den Wachhauptmann eines derartigen Verbrechens verdächtigen? Wer überhaupt auf solch einen Gedanken kommen?

Er überlegte, was er als Belohnung fordern sollte. Seine Verhandlungsposition würde ziemlich stark sein. Ein Wort aus seinem Mund, und die Stadt würde von einem Riesenskandal erschüttert werden. Und das war denen bestimmt bewußt. Also, er würde bestimmt auf Tauscheinheiten bestehen, und zwar einem ganzen Packen. Und auf einer Beförderung in einen höheren Rang. Und auf Weibern — nein, nicht Nialli, natürlich, denn sie würden sie ihm niemals preisgeben, keiner würde so etwas können, aber schließlich gab es ja noch viele andere ‚höhere‘ Damen, die in ihrer Gunst weniger exklusiv waren, und eine davon, doch, die konnten sie ihm schon erlauben, wenigstens für eine Weile.

Doch. Ja.

Alles rückte in Sekundenschnelle in Curabayn Bangkeas Kopf an den rechten Ort.

Er erhob sich, stülpte sich den Helm über und erledigte den Rest seiner morgendlichen Aufgaben. Danach brachte ihn ein Wagen der Stadtwache zum Stadion, und er nahm in dem leichten Regen, der fiel, an der Eröffnungszeremonie und den ersten Wettkämpfen teil.

Taniane präsidierte, und neben ihr saß Nialli Apuilana. Das machte ihm seine Aufgabe viel einfacher, daß sie hier war und nicht bei Kundalimon. Wie schön sie ist, dachte er. Ihr Pelz war regendurchnäßt, man sah jede Schwingung ihres Körpers darunter. In der Häuptlingsloge hockte auch der Chronist Hresh bei ihnen, gelangweilt in sich zusammengesunken, als liege ihm ganz und gar nichts daran, vor aller Welt zu verheimlichen, wie sehr ihn dies alles anödete. Doch Nialli Apuilana saß kerzengerade da, ihre Augen blitzten hellwach, und sie schnatterte fröhlich vor sich hin.

Er starrte sie so lange an, bis er es nicht mehr aushalten konnte, dann wandte er sich ab. Er ertrug es einfach nicht, sie längere Zeit zu sehen. Diese ganze unerreichbare Schönheit — es war zu frustrierend, zu beunruhigend für ihn, der Anblick Niallis bewirkte, daß seine Eingeweide sich verkrampften.

Später ließ der Regen dann wieder nach. Er verließ das Stadion durch einen der unterirdischen Zugänge und begab sich zurück ins Stadtzentrum. Um diese Stunde machte Kundalimon gewöhnlich seinen Spaziergang den Mueri-Weg hinunter und in den Park. Curabayn Bangkea war bereit. Er postierte sich am Ausgang eines schmalen Gäßchens im Schatten einer Straße direkt unterhalb des Mueri-Hauses. Zehn Minuten, fünfzehn, eine halbe Stunde lang. Die Straße war verlassen. Fast alle waren im Stadion bei den Spielen.

Und da kam er auch schon, der Junge. Und er war ganz allein.

„Kundalimon?“ rief Curabayn Bangkea leise.

„Wer ist da? Was.?“

„Hier bin ich. Mich schickt Nialli Apuilana zu dir. Mit einem Zeichen ihrer Liebe.“

„Ich kenne dich. Du bist Cura.“

„Genau der. Da, laß es mich dir übergeben.“

„Sie ist heute bei den Spielen. Ich hab mir gedacht, ich gehe später dann zu ihr.“

„Geh statt dessen lieber zu deiner Königin!“ sagte Curabayn Bangkea und schlang Kundalimon den seidenen Würgeschal um den Hals. Der Gesandte setzte sich zur Wehr, er stieß mit den Füßen und den Ellbogen, doch nutzte dies nichts gegen Curabayn Bangkeas gewaltige Stärke. Er zog das Tuch fest. Er stellte sich die Hände dieses Mannes auf den Brüsten Niallis vor, seine Lippen auf ihrem Mund, und er zerrte fester zu. Ein paar Augenblicke lang gab Kundalimon heisere krächzende Hjjk-Laute von sich, aber vielleicht war es ja auch nur das Todesröcheln. Seine Augen quollen hervor. Seine Lippen wurden schwarz. Dann sackten ihm die Beine unter dem Körper weg. Curabayn Bangkea ließ ihn sacht zu Boden gleiten und schleifte ihn tiefer in das Gäßchen hinein. Dort lehnte er ihn gegen eine Mauer wie einen Betrunkenen und verließ ihn. Es war kein Atem mehr in ihm. Curabayn Bangkea wickelte sich den Strangulationsschal um das Handgelenk, als wäre es ein Zierband, und begab sich zu seinem Wagen zurück, den er drei Straßen entfernt abgestellt hatte. Eine halbe Stunde darauf war er wieder im Stadion. Er war überrascht, wie gelassen und ruhig er war. Aber es war ja auch alles dermaßen glatt gegangen; ein echter Profi-Job, ganz ohne Frage. Rasch und sauber. Hopp-und-ex. Und jetzt war die Stadt wieder sauberer.

Husathirn Mueri hatte seine Loge auf der Regierungstribüne dicht neben dem Hauptaufgang. Curabayn Bangkea blickte zu ihm hinüber und nickte. Er glaubte, ein antwortendes Nicken zu erkennen, war sich dessen aber nicht sicher.

Dann nahm er seinen Platz in der Sektion für das gewöhnliche Volk wieder ein und wartete ab.

Es dauerte lang, bis die abgesprochene Einladung in Husathirn Mueris Loge erfolgte. Der Langstreckenlauf war schon vorbei, es liefen die Stabsprung-Wettbewerbe, und man bereitete sich schon zum Staffellauf vor. Doch endlich tauchte ein Kerl auf, in dem Curabayn Bangkea einen Bediensteten des Hauses Husathirn Mueri erkannte. „Wachhauptmann?“

„Ja? Was gibt es?“

„Seine Exzellenz, Prinz Husathirn Mueri, schickt mich mit einem freundlichen Gruß zu dir. Er hofft, du hast die Spiele bisher interessant gefunden.“

„Aber gewiß. Sehr.“

„Der Prinz möchte dich einladen, mit ihm einen Becher Wein zu trinken.“

„Es wird mir eine Ehre sein“, antwortete Curabayn Bangkea.

Es dauerte ein wenig, bis er begriff, daß der Mann ihn ja gar nicht zum Logenbereich im Mittelfeld der Tribünen führte, wo die Aristos saßen. Vielmehr geleitete er ihn auf einem weiten Umweg über die gegenüberliegende Seite in den Bogengang, der das Stadion umschloß.

Also, vielleicht hat ja Husathirn Mueri sich anders entschieden, schloß Curabayn Bangkea, und will mich nicht grad an einem so auffälligen Ort treffen, wie in seiner Loge. Vielleicht fürchtete er, der Job könnte schiefgegangen sein, es könnte Zeugen gegeben haben, so daß es doch nicht ganz so klug wäre, sich öffentlich mit Curabayn Bangkea sehen zu lassen, ehe er genau wußte, was wirklich geschehen war. Curabayn Bangkea fühlte, wie der Zorn erneut in ihm aufstieg. Hielten die ihn wirklich für einen solchen Pfuscher?

Und da war nun Husathirn Mueri und kam durch den Gang auf ihn zu. Es wurde immer rätselhafter. Wo sollte denn nun dieser gemeinsame Siegestrunk, der Becher Weins, getrunken werden? Doch nicht etwa in einer der öffentlichen Kellerkaschemmen da drunten?

Er schämt sich, mit mir gesehen zu werden, dachte Curabayn Bangkea wütend. Ja, das ist es. Ein Nobelprinz wie der, der lädt doch nicht einfach einen ordinären Gardehauptmann wie mich in seine Loge ein! Aber — warum hat er dann gesagt, daß er das tun will? Nein, das hätte er wirklich nicht tun dürfen.

Aber Husathirn Mueris Gesicht sah aus, als freue er sich wirklich, ihn zu sehen. Er strahlte so voll genußfreudiger Erwartung, als ginge er zu einem Rendezvous mit Nialli Apuilana.

„Curabayn Bangkea, mein Guter!“ rief er aus zwanzig Schritt Entfernung. „Ich bin ja so froh, daß wir dich in diesem Tollhaus endlich finden konnten.“

„Nakhaba sei dir hold, Edler. Gefallen dir die Spiele?“

„Die bisher schönsten, findest du nicht?“ Husathirn Mueri hatte ihn nun erreicht. Der Diener, der Curabayn Bangkea geführt hatte, war verschwunden wie ein Sandkörnchen in einen Wirbelsturm. Husathirn Mueri ergriff ihn mit der für ihn typischen überschwenglich vertraulichen Art am Ellbogen und fragte sehr leise: „Also?“

„Erledigt. Keine Zeugen.“

„Prächtig, prächtig!“

„Es hätte gar nicht besser laufen können“, sagte Curabayn Bangkea. „Aber jetzt, wenn es dir nichts ausmacht, deine Gnaden, würde ich gern vielleicht doch über meine Belohnung reden.“

„Hier hast du sie“, sagte Husathirn Mueri. Und Curabayn Bangkea spürte urplötzlich etwas Heißes in seiner Flanke und schaute erstaunt zu dem kleinen Mann neben ihm hinab. Die Klinge war so blitzschnell eingedrungen, daß er nicht einmal die Chance gehabt hatte, zu begreifen, was da geschah. Auf einmal war sein Mund voll Blut, und in seinem Bauch brannte ein schneidendes Feuer. Schmerz schwoll durch seinen ganzen Körper. Und Husathirn Mueri lächelte ihm zu und beugte sich zu ihm, und er spürte eine zweite heiße Explosion, betäubend zunächst, dann mehr Schmerz, viel mehr als beim erstenmal, und dann war Curabayn Bangkea allein. Er klammerte sich an das Geländer und sank langsam zu Boden.

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