Der Tag war hell und klar, ein angenehm kühler Wind wehte von Westen, eine Seebrise, immer ein gutes Omen. Taniane erhob sich früh am Morgen und begab sich zum Tempel der Fünffaltigkeit, um Dank zu sagen für die sichere Heimkehr der Streitkräfte und um die Götter um ihren Segen für die künftigen Zeiten zu bitten; danach — denn schließlich war sie Häuptling des Gesamt-VOLKES — fuhr sie auch zum Nakhaba-Tempel, um dem Gotte der Beng ihre Ehrerbietung zu erweisen. Danach ließ sie ihre Staatskarosse, gezogen von vier prachtvollen weißen Xlendis, bringen und schickte sich an, zum Emakkis-Tor am Nordende der Stadt zu fahren, wo man eine große Paradetribüne aufgeschlagen hatte, damit der Häuptling und das Präsidium die heimkehrenden Helden beim Einzug auch gebührend begrüßen könnten. Taniane hatte die Koshmar-Maske mit, die schimmernd-schwarze, die sie zuweilen bei hohen Staatsfeierlichkeiten trug. Und der Tag, schien ihr, war dieser Maske würdig.
Seit vier Tagen waren die Läufer eingetroffen, die von der Heimkehr berichteten; atemlos taumelten sie in die Stadt herein und brachten die neuesten Meldungen über die Südwärtsbewegungen des Heerwurms. „Jetzt stehen sie bei Tikhaleret“, erschallte der Ruf, und fast sogleich danach: „Sie haben Samarak erreicht!“ Und dann: „Nein! Sie nähern sich Ghomino!“ Thu-Kimnibol, sagten die Boten, reite stolz an der Spitze, und Nialli Apuilana sei an seiner Seite, und dahinter folge das ganze Heer, so weit das Auge reichte.
Thu-Kimnibol hatte gleichfalls eigene Kuriere vorausgesandt, die von dem Waffenstillstandsabkommen kündeten, das dem Krieg ein Ende gemacht hatte. Sie überbrachten auch die erste offizielle Nachricht von Hreshs Tod. Doch dies bestätigte Taniane nur, was sie bereits wußte, denn sie hatte Hreshs Anwesenheit in der Welt nicht mehr gefühlt — seit jenem Tag der merkwürdigen dumpfen Betäubtheit, als Puit Kjai ihr mit seinem Gerede von Aufruhr gekommen war; trotzdem war es eine bittere Nachricht. Und König Salaman war ebenfalls tot, sagte man, gestorben an Gram und Erschöpfung, nachdem ihm die Hjjk einen schweren Verlust zugefügt hatten.
Taniane fragte sich, was Hresh da droben auf Hjjk-Gebiet und in der Kampfzone zu suchen gehabt hatte. Dort hätte sie ihn zu allerletzt vermutet. Doch offensichtlich war Hresh sich bis zum letzten Tag treu geblieben und seinen eigenen Gesetzen gefolgt. Vielleicht würde Nialli ihr später das Rätsel dieser seiner letzten Fahrt aufklären.
Opa Staip stand zitterig und unsicher zu ihrer Linken, als sie ihren Platz auf der Schautribüne einnahm. Simthala Honginda und Catiriil waren neben ihm. Puit Kjai hatte sie zur Rechten, daneben Chomrik Hamadel, beide prachtvollst behelmt. Vor und etwas unterhalb von ihnen, in vorderster Reihe der unteren Podiumsetage, war ein Trupp Stadtgardisten unter dem Kommando von Chevkija Aim plaziert.
Nach und nach erkletterten auch die übrigen Präsidiumsmitglieder die Tribüne. Taniane begrüßte sie entsprechend. Auf dem Boden fand sich nach und nach eine Menschenmenge ein.
Puit Kjai neigte den Kopf zu Taniane und sagte leise: „Sei heute auf der Hut, Edle. Ich fürchte, deine Feinde könnten leicht den heutigen Tag dazu benutzen, uns Ärger zu bereiten.“
„Irgendwelche stichhaltigen Beweise dafür?“
„Nur Tratsch und Gerede.“
Taniane zuckte die Achseln. „Gerede!“
„Aber oft versteckt sich dahinter etwas Wahres, Herrin.“
Sie deutete in die Ferne, wo sie weit entfernt über der Straße eine graue Staubwolke zu sehen glaubte. „In Kürze ist Thu-Kimnibol hier“, sagte sie. „Und meine Tochter. Mit einem Heer ihnen ergebener Gefolgsleute. Niemand wird es riskieren, angesichts einer derartigen Streitmacht im Anmarsch Ärger zu machen.“
„Sei dennoch auf der Hut!“
„Das bin ich immer.“ Dann aber fuhren ihre Finger unruhig über die glatte schimmernde Koshmar-Maske. Sie blickte umher. „Husathirn Mueri ist nicht da. Er fehlt als einziger. Wieso?“
„Nun, ich nehme an, es bereitet ihm nicht gerade eine übermäßige Freude, Thu-Kimnibols triumphale Rückkehr mitzufeiern.“
„Aber er ist und bleibt ein Prinz des Präsidiums. Sein Platz ist hier bei uns.“ Sie wandte sich um und winkte Catiriil zu. „Dein Bruder!“ rief sie scharf und laut. „Wo ist er?“
„Er sagte, er wollte zuerst in sein Bethaus. Aber er kommt bestimmt rechtzeitig. Da bin ich sicher.“
„Das hoffe ich für ihn!“ sagte Taniane.
Auch Husathirn Mueri war an diesem Tag früh aufgestanden. Die Nacht war ihm lang geworden, er hatte bestenfalls ein bißchen unruhig dagelegen, und war im Grunde recht erleichtert, bereits im Morgengrauen aufzustehen. Seine Träume — sofern er für kurze Augenblicke einschlummerte — waren bedrückend gewesen: Singende Hjjkkämpfer tanzten in der Finsternis Ringelreihen um ihn herum und herum und herum, und die überwältigende Körpermasse der Königin, monströs geschwollen und bleich, hing über ihm als titanisches Gewicht am Himmel und fiel gemächlich auf ihn herab. Die Frühmette im Bethaus hatte bereits begonnen, als er dort eintraf. Tikharein Tourb führte die Gemeinde an, und Chhia Kreun stand bei ihm am Altar. Husathirn Mueri glitt auf den Platz ganz hinten, den er üblicherweise einnahm. Chevkija Aim, tief ins Gebet versunken, nickte ihm beiläufig zu. Sonst kümmerte sich keiner in der Nähe um ihn. Inzwischen war es kein Anlaß zum Gaffen mehr, wenn ein Prinz der Stadt sich in einem Bethaus einfand.
„Der Tag der Offenbarung ist gekommen“, sang der Priesterknabe. „Es ist aber der Tag, an dem die Siegel aufgebrochen werden und das Buch geöffnet, und die Geheimnisse werden an den Tag gebracht, und es gibt die Tiefe preis all ihre Geheimnisse. Dies ist der Tag der Königin, die da ist unsere Tröstung und unsre Lust.“
…unsere Tröstung und unsre Lust, respondierte die Gemeinde automatisch, und Husathirn Mueri mit ihnen.
„Sie ist das Licht und der Pfad“, kreischte Tikharein Tourb und gab dabei hjjkische Krächzlaute von sich. Und die Gemeinde klickte und krächzte ihr Echo.
„Sie ist die Essenz und die Substanz.“
Essenz... Substanz...
„Sie ist der Anfang und das Ende.“
…Anfang... Ende...
Chhia Kreun trug grüne Zweige nach vorn, und Tikharein Tourb hob sie hoch in die Luft.
„Der Tag ist da, geliebte Freunde, an dem der Wunsch und Wille der Königin verkündet wird. Dies ist der Tag, an dem sich IHRE Liebe uns allen deutlich und spürbar zeigen will. Es ist der Tag, an welchem der Drachen die Dunkelsterne verschlingt und das Licht neugeboren wird. Und SIE wird mitten unter uns sein, denn SIE ist unsere Tröstung und unsre Lust!“
Sie ist unsere Tröstung und unsre Lust.
„Sie ist das Licht und der Pfad.“
Husathirn Mueri respondierte wie alle anderen, wiederholte pflichtgemäß aufs Stichwort die Phrasen; doch heute waren die Worte für ihn nichts weiter als leere Hülsen. Vielleicht waren sie ja nie etwas anderes gewesen. Seine sogenannte Bekehrung zur Religion — eigentlich hatte er sie selber nie so richtig verstanden. Irgendwie hatte er sich selber ausgetrickst, sich vorgemacht, ihm sei da ein Schimmer von etwas Erhabenerem als er selber zugänglich geworden, von etwas Größerem, in dem er sich selbst verlieren könnte. Ja, das war es wohl gewesen. Sein Verstand und seine Seele waren jedenfalls in diesem Augenblick anderswo. Er vermochte an nichts anderes als an Thu-Kimnibol zu denken, wie er ruhmreich und umjubelt durch das Bauernland im Norden der Stadt näherkam, der heimkehrende Kriegsheld, der sich stolz mit irgendeinem Sieg schmückte!
Ein Sieg? Was hatte der Mann denn erreicht? Hatte er die Hjjks besiegt? Hatte er die Königin erschlagen? Nichts dergleichen schien auch nur entfernt möglich. Dennoch war ihm die Kunde vorangeflogen: Der Krieg ist aus! Es wurde Frieden geschlossen! Dank der heroischen Bemühungen von Thu-Kimnibol und Nialli Apuilana. und so weiter und so fort.
Was ihn aber über alle Maßen gallig giftete: Durch irgendeinen seltsam gemeinen Taschenspielertrick des Schicksals war die unerreichbare Nialli Apuilana vom eigenen Oheim, dem Halbbruder ihres Vaters, zur Paarungsgefährtin genommen worden, von dem Mann, den Husathirn Mueri verabscheute wie keinen sonst in Dawinno. Bei der Vorstellung dieser Begattung glaubte er, er müsse ersticken. Ihr glatter seidenweicher Leib an dem riesenhaften borstigen Mannskerl. Seine Hände an ihren Schenkeln, ihrer Brust. und ihre Sensor-Organe auf höchst-intime Art umschlungen.
Nein! Schluß damit! Er befahl sich, nicht mehr an die beiden zu denken. Das führte nur zu Selbstquälerei und Verzweiflung. Er rang um sein inneres Gleichgewicht. Doch sosehr er sich mühte, es wollte keine Ruhe in ihn einkehren. Seine Gedanken wirbelten. Es war ja schon übel genug gewesen daß sie sich diesem Hjjk-Abgesandten hingegeben hatte. aber dann von Kundalimon zu Thu-Kimnibol weiterzuwechseln! Es war unvorstellbar! Unerträglich! Monströs! Dieser gewaltige Klotzbrocken und Muskelprotz! Und noch dazu ihr leiblicher Gevatter!
Husathirn Mueri schloß die Augen. Er mühte sich, durch Gedanken an die Königin, die All-Liebende, die Wohltäterin, die quälenden bildhaften Vorstellungen von Nialli mit Thu-Kimnibol zu verdrängen, doch er konnte sich einfach nicht auf das konzentrieren, was der knabenhafte Priester da vorn sagte. Ihm kamen die Worte nur mehr wie sinnleere Geräusche vor. Hohles Gebrabble, absonderlicher magischer Quatsch.
Vielleicht hab ich ja überhaupt nie etwas von all dem wirklich geglaubt, dachte er. Die Königin lieben? Was für eine verrückte Idee war das im Grunde?
Und wenn ich nun nur von einer Art Schuldgefühl hierher getrieben wurde? Um irgendwie zu sühnen, was ich mit Kundalimon gemacht habe?
Der Gedanke bestürzte ihn. War sowas denn möglich? Er begann zu zittern.
Dann lehnte sich Chevkija Aim zu ihm herüber und murmelte: „Tikharein Tourb wünscht, daß du nach der Versammlung noch bleibst.“
Husathirn Mueri hob blinzelnd den Blick. „Wozu eigentlich?“
Der Hauptmann der Wache antwortete nur mit einem Achselzucken. „Das hat er nicht gesagt. Aber wir sollen nachher nicht an dem Tvinnr teilnehmen. Wir sollen bloß hier warten.“
„Sie ist die Essenz und die Substanz!“ rief Tikharein Tourb laut. „…die Essenz und die Substanz!“ plapperte die Gemeinde nach. Und Husathirn Mueri zwang sich und brüllte die Antwort mit.
Er war jetzt ein wenig ruhiger. Diese plötzliche Eröffnung von Chevkija Aim hatte es ihm möglich gemacht, sich aus seinem fieberhaften Brüten zu lösen. Doch als die Litanei immer weiter ging und kein Ende zu finden schien, wurde er unruhig. Er mußte in Kürze bei der Begrüßungszeremonie erscheinen; das Präsidium mußte vollzählig versammelt sein, um die heimkehrenden Helden zu bejubeln. So zuwider ihm dies war, er wagte dennoch nicht, dem Staatsakt fernzubleiben; es hätte ja so aussehen können, als. erlaubte er sich eine abgrundtiefe Ranküne, und das würde ihm nur Ärger eintragen. Aber wenn Tikharein Tourb jetzt nicht bald etwas Tempo zulegte.
Aber dann, endlich, war die Glaubenskongregation vorbei und endete mit den üblichen Tvinnereien. Und als das Feuer ihrer Kommunionen von ihnen gewichen war, stahlen sich die Gläubigen einzeln und stumm aus dem Versammlungsraum.
Husathirn Mueri und Chevkija Aim erhoben sich und traten zum Altar, wo Tikharein Tourb sie erwartete.
Die Augen des Jungen wirkten an diesem Morgen noch flammender als sonst. Sein Fell knisterte vor Spannung.
„Es ist so, wie ich es vorhin verkündet habe“, beschied er Husathirn Mueri. „Heute ist der Tag, an dem die Siegel aufgebrochen werden. Es ist der Tag der Königin. Und ihr beide sollt die Werkzeuge ihres Wirkens sein.“
Husathirn Mueri runzelte die Stirn. „Ich verstehe nicht.“
„Prinz Thu-Kimnibol hat Schmach über die Königin gebracht. Sein Leben ist bereits verwirkt für den feigen Mord an IHREM heiligen Mann Kundalimon. Jetzt aber ist er auch in das Allerheiligste des Nests-der-Nester eingedrungen und hat versucht, IHR seinen Willen aufzuzwingen. Dafür und für zahlreiche weitere Missetaten hat die Königin das Todesurteil über ihn verhängt, und du, Husathirn Mueri, wirst es am heutigen Tage vollstrecken.“
Die Luft blieb ihm weg, als hätte ihm jemand einen Hieb in die Magengrube versetzt.
„Du wirst ihn ins Herz treffen, wenn er vortritt, um sich bejubeln zu lassen. Und du, Chevkija Aim, du wirst im selben Augenblick Taniane niederstrecken.“
Es war nicht zu glauben, daß dieser dämonische Zwerg nur ein kleiner zehn-, zwölfjähriger Knabe sein sollte.
Verdutzt fragte Husathirn Mueri: „Auf der Honoratioren-Tribüne?“
„Vor dem Angesicht des ganzen Volkes, ja. Das wird das Zeichen sein. Dann wird das VOLK sich erheben und wird die übrigen Hochgeborenen totschlagen, ehe sie auch nur begreifen, was ihnen geschieht. Die gesamte herrschende Kaste muß verschwinden, alle unsere Unterdrücker, alle die Feinde der Königin: Staip, Chomrik Hamadel, Puit Kjai, Nialli Apuilana — alle! In einem Nu und einem raschen Augenblick! Nur du, Husathirn Mueri, wirst aus dem ganzen Präsidium übrigbleiben.“ Tikharein Tourb grinste zähnebleckend wie ein wildes Tier. „In der Neuen Ordnung wirst du hier Nest-König sein. Chevkija Aim wird der Nest-Wardein sein.“
„Nest-König?“ wiederholte Husathirn Mueri dumpf. „Ich soll NestKönig sein?“
„Diesen Titel werden wir dem weltlichen Herrscher geben. Und sein Erster Minister heißt Nest-Wardein. Und ich“, sprach Tikharein Tourb weiter, „werde euer Nest-Denker sein, die Stimme der Königin in der Dawinno genannten Stadt.“ Er lachte „Sobald wir die Neue Ordnung haben. Die herbeiführen zu helfen ihr zwei am heutigen Tage die Auszeichnung habt.“
Als sie aus dem Bethaus traten, sagte Husathirn Mueri: „Geh du schon mal voraus. Ich muß mir erst noch die Festrobe anziehen.“
Chevkija Aim nickte. „Also, wir sehen uns dann auf der Empfangstribüne.“
„Ja.“ Er packte Chevkija Aim am Handgelenk und hielt ihn kurz fest. „Noch etwas. Trotz allem, was Tikharein Tourb gerade sagte, will ich, daß du eins ganz klar begreifst: Nialli Apuilana muß verschont bleiben!“
„Aber. Tikharein Tourb wünscht ausdrücklich.“
„Es kümmert mich keinen Gorynthenfurz, was er ausdrücklich wünscht. Ihr könnt die ganze Bagage abschlachten, es ist mir egal. Ich bin sogar gern bereit, selber den Dolch zu führen. Aber sie bleibt am leben! Ist das klar, Chevkija Aim? Sollte sich erweisen, daß sie später Schwierigkeiten macht, können wir sie immer noch beseitigen. Aber hier und heute rührt niemand sie an, wenn das Schlachtfest beginnt. Befiehl deinen Wachen, sie zu schützen. Oder — ich schwöre es bei der Fünffaltigkeit — ich werde dafür sorgen, daß fünfzigfältig gerächt wird, wenn ihr irgendein Harm geschieht. Ist dies klar und hast du’s kapiert, Chevkija Aim?“
Thu-Kimnibol schien es, als wäre die gesamte Stadtbevölkerung auf den Beinen, um seine heimkehrenden Kriegshelden zu begrüßen. Direkt am Emakkis-Tor hatten sie eine mächtige hölzerne Tribüne errichtet, groß genug für sämtliche Mitglieder des Präsidiums und noch eine Menge von Leuten dazu. Und darum herum scharten sich Hunderte, Tausende von Bürgern, eine gigantische Masse, praktisch jede Seele in Dawinno, die nicht mit in den Krieg gezogen war.
Seine Hand schloß sich fester um Niallis Arm. „Da, siehst du, da droben ist Taniane? Und Staip. Und Chomrik Hamadel. Und der dort, der mit dem enormen Helm, ist vermutlich Puit Kjai.“
„Simthala Honginda und Catiriil sind auch da, dort drüben rechts neben Staip. Und ist der dort nicht Husathirn Mueri? Ich kann ihn kaum sehen, weil dieser lange Lackel von Stadtgardist mir die Sicht versperrt. Aber diese grellen weißen Streifen, der schwarze Pelz. er muß es sein.“
„Genau. Das ist er. Ich glaube, heut hat er auch ein noch längeres Gesicht aufgesetzt als sonst.“
„Aber wo ist denn Boldirinthe? Ich kann sie nirgends sehen.“
„Wir würden sie nicht übersehen können, falls sie da wäre. Aber es dürfte ziemlich mühsam sein, sie auf das Podium da raufzuhieven.“
„Vielleicht lebt sie gar nicht mehr.“
„Du meinst.“
„Sie war alt. Sie war krank.“
„Ich bete, daß es nicht der Fall ist“, sagte Thu-Kimnibol. Aber insgeheim vermutete er, daß Nialli wohl recht hatte. Es war eine Zeit gewesen, in der die großen alten Leute sich verabschiedet hatten.
Eine behelmte Gestalt auf einem edel aussehenden grauen Xlendi kam ihnen jetzt mit dem Stadtbanner in der Hand entgegengeritten. Nach kurzem erkannte Thu-Kimnibol den Reiter als den jungen Edeling und Krieger Peliththrouk, den Favoriten von Simthala Honginda, und er hatte zur Entourage während der Gesandtschaft an den Hof König Salamans gehört. Das kam ihm nun vor wie vor Millionen Jahren. Seine Gedanken wanderten zurück zu jenem Tag, an dem Dumanka die Caviandis gejagt und gebraten hatte; damals hatte Peliththrouk ein so idealistisches Plädoyer geliefert — über die Gemeinsamkeit, die Einheit zwischen allen vernunftbegabten Geschöpfen. Daß man ihm jetzt diesen jungen Mann, einen der leidenschaftlichsten Advokaten des Friedens, als offiziellen Begrüßungsherold entgegensandte, war ein gutes Omen für die Aussöhnung, die nun zuwege gebracht werden mußte.
Peliththruk sprang aus dem Sattel und blickte zu ihnen herauf.
„Unser Häuptling entbietet Grüße. Sie hat mich beauftragt, euch zu den Ehrenplätzen zu geleiten.“
Thu-Kimnibol nickte Nialli Apuilana zu. Gemeinsam stiegen sie aus ihrem Wagen. Peliththruk lächelte. Er breitete weit die Arme aus und begrüßte sie mit feierlicher Akkolade, zuerst Thu-Kimnibol, dann Nialli Apuilana.
„Was für ein prachtvolles Wetter“, murmelte Thu-Kimnibol, während sie dem jungen Mann zur Honoratioren-Tribüne folgten. Stadtgardisten hielten die Menschenmenge zu beiden Seiten zurück. Überall wehten knatternde Banner. Die Sonne stand hell und warm bereits hoch am Himmel. Als sie am Fuß der Treppe zur Tribüne angelangt waren, tastete Nialli nach Thu-Kimnibols Hand. Sie schlangen ihre Finger ineinander.
Dort war eine Reihe von Gardisten aufgebaut. Dahinter warteten Taniane und die ganze höchst festlich gekleidete Nobilität der Stadt in Ehrenformation. Die Zeit hatte ihnen mitgespielt. Der Häuptling wirkte nur noch wie der verglühte graue Kohlenrest ihres früheren Selbst, und Staip sah über alle Maßen verrunzelt und uralt aus; auch die übrigen schienen bestürzend gealtert zu sein. Puit Kjai, Chomrik Hamadel, Lespar Thone. Thu-Kimnibol fragte sich, wie er wohl auf sie wirken mochte. nach den monatelangen Märschen durch kahle Wüsteneien, nach den Kämpfen, mit den Verwundungen, die er davongetragen hatte.
Trotzdem war seine Stimmung höchst aufgekratzt. Krieg und Schlachten waren fürs erste einmal vorbei; er kehrte als Sieger heim. Doch das war noch nicht alles. In vergangenen Zeiten hatte er sich oft niedergedrückt gefühlt von dem gewaltigen, unabwägbaren Gewicht der Vergangenheit der Welt. Jetzt hingegen fühlte er die erfrischende Weite der Zukunft: ihre unendlichen Möglichkeiten, dieses Mehr an Künftigem im Vergleich zu dem Vergangenen, eine Welt ohne Ende, viele Schwierigkeiten, viele Triumphe, viele Wunder, von denen niemand noch je geträumt, die niemand — selbst nicht in den größten Hochzeiten der Vergangenheit — sich hätte vorstellen können. Die Welt mochte zwar uralt sein, aber sie war zugleich auch immer neu und jung. Und das Beste sollte erst noch kommen.
Er war auf dem Podium angelangt und blieb stehen, um die Begrüßung der Stadtgrößen entgegenzunehmen.
Es war ein Augenblick, in dem alle vollkommen bewegungslos, wie zu einem feierlichen Zeremonialtableau erstarrt herumstanden. Thu-Kimnibol hielt noch immer Niallis Hand, als er sich gegen alle verneigte. Sollte er zuerst sprechen, erwarteten sie dies von ihm? Nein, das erste Wort war sicherlich Sache des Häuptlings. Er blieb stumm. Taniane hielt in beiden Händen die dunkelglänzende Koshmar-Maske. Es sah so aus, als wolle sie sie nun aufsetzen. Keiner sonst bewegte sich.
Schließlich hob Taniane an zu sprechen. Ihre Stimme schwankte ein wenig. „Die Götter haben dich, Thu-Kimnibol, sicher in die Heimat geführt. Wir freuen uns und jubeln über deine siegreiche.“
Und auf einmal ein plötzliches heftiges Getümmel, bestürzend und überraschend. Husathirn Mueris Gestalt war hinter Taniane aufgetaucht und stürzte sich auf Thu-Kimnibol. In der hochgereckten linken Hand blitzte ein Dolch.
Im gleichen Augenblick stürmte Chevkija Aim die drei Stufen herauf, die von den unteren Rängen zur Tribüne der Notablen führten, und lief von der Seite her zu Husathirn Mueri. Auch er schwang einen Dolch.
„Edle! Vorsicht!“ schrie der Gardehauptmann. „Er ist ein Verräter!“
Und eine Sekunde später waren Husathirn Mueri und Chevkija Aim mitten auf dem Podium in einen verzweifelten Kampf verwickelt. Thu-Kimnibol, zu verblüfft, als daß er sich hätte bewegen können, sah die Waffen in der Sonne blitzen. Ein grunzender Laut der Pein. Ein erschreckend starker Blutstrahl schoß aus Chevkija Aims Brust und rann über seinen goldenen Beng-Pelz. Er taumelte nach vorn, seine Arme zuckten konvulsivisch, sein Dolch wirbelte über die Plattform und fiel fast direkt vor Tanianes Füßen nieder. Mit wildverzerrtem Gesicht fuhr Husathirn Mueri herum und ging erneut Thu-Kimnibol an. Doch Nialli trat blitzschnell zwischen sie, gerade als Husathirn Mueri zum Stoß ansetzte.
Er gaffte sie wie vom Blitz getroffen an und bremste den Stoß, bevor er sie treffen konnte. Sein Blick wurde glasig, als hätte ihn der lähmende Fluch der Götter getroffen. Mit einem lauten Verzweiflungsstöhnen wich er vor ihr zurück, senkte den Arm und ließ die Waffe aus den plötzlich kraftlosen Fingern gleiten. Inzwischen war es Thu-Kimnibol in dem Durcheinander gelungen, an Nialli vorbeizukommen, und er wollte ihn gerade angreifen. Doch Husathirn Mueri hatte bereits kehrtgemacht und taumelte wie in geistiger Verwirrung nach hinten auf Taniane zu, die Chevkija Aims Waffe aufgehoben hatte und sie nun verwundert betrachtete.
„Edle. “, stammelte er mit verquollener Stimme. „Edle. Herrin. vergib mir.“
Thu-Kimnibol streckte die Hände nach ihm aus. Taniane wies ihn mit einer Geste zurück. Sie starrte Husathirn Mueri an, als wäre er eine Gespenstererscheinung.
Mit dumpfer schmerzlicher Stimme sagte er: „Die Ermordung Kundalimons habe ich arrangiert. Und ich bin auch schuldig am Tod Curabayn Bangkeas — und an all dem Elend und Gram, die darauf folgten.“
Mit einem Schluchzen der Verzweiflung stürzte er sich auf sie, als wolle er sie umarmen. Ohne Zögern hob sich Tanianes Arm und führte einen einzigen scharfen kraftvollen Stoß gegen seinen Brustkorb. Husathirn Mueri richtete sich steif auf und holte keuchend Luft. Mit den Händen an seiner Leibesmitte taumelte er einige Schritte von ihr fort. Einen Moment lang stand er vollkommen bewegungslos da, hochgereckt auf den Spitzen seiner Zehen. Aus dem Mund sickerte ihm Blut über die Lippen. Er machte einen taumelnden Schritt auf Nialli Apuilana zu. Dann stürzte er neben dem Leichnam Chevkija Aims nieder. Er zuckte einmal, dann bewegte er sich nicht mehr.
„Wachen! Wachen!“ brüllte Thu-Kimnibol.
Er packte Nialli mit einer Hand, Taniane mit der anderer und stieß sie hinter sich zurück, dann fuhr er herum, um zu sehen, was sich auf der unteren Tribünenplattform tat. Dort ging es anscheinend ebenfalls drunter und drüber. Doch Gardisten waren bereits in Aktion und erstickten den Tumult. Etwas weiter entfernt hatten Thu-Kimnibols Truppen, denen das merkwürdige Gerangel auf der Tribüne aufgefallen war, inzwischen ihre Wagen verlassen und kamen herangestürmt. Aber mitten im Zentrum des Wirbels erblickte Thu-Kimnibol die Gestalt eines Knaben in heller Kleidung, eines Kindes, kaum zehn, zwölf Jahre alt, und der hielt inmitten der Menge die Hände hoch über den Kopf und brüllte und schrie irgendwelche Flüche mit einer wilden schrecklichen wutkeifenden Stimme, die so schneidend war wie Dolche.
„Schau“, sagte Nialli. „Er hat Kundalimons Nest-Schutz! Und sein Nest-Armband auch!“ Ihre Augen funkelte jetzt so wild wie die des Knaben. „Bei den Göttern! Den nehme ich mir vor! Überlaß ihn mir!“
Plötzlich war der Barak Dayir in ihrer Hand. Geschickt umfing sie ihn mit ihrem Sensor. Thu-Kimnibol starrte sie verblüfft an, als der Wunderstein sogleich eine merkwürdige Verwandlung an ihr hervorrief: Sie schien zu wachsen, sich zu etwas Riesigem, etwas Fremdartigem zu verformen.
„Ich sehe die Königin in dir“, rief Nialli mit dunkler furchtbarer Stimme und blickte mit loderndem Blick auf den Jungen in dem helleuchtenden Gewand hinab. „Aber ich beschwöre sie herauf und verbanne sie! Ich vertreibe sie von dir! Jetzt! Jetzt! Jetzt! Hinaus!“
Einen Augenblick lang herrschte völlige Stille. Die Zeit selbst hing einen Herzschlag lang wie unbeweglich, wie erstarrt in der Schwebe.
Dann taumelte der Junge, als hätte ihn ein Stoß getroffen. Er stolperte und wand sich und stieß einen schrillen Laut aus, beinahe wie ein Hjjk ihn von sich geben könnte, und dann wurde sein Gesicht grau und dann schwarz, und dann fiel er kopfüber nieder und war in der herandrängenden Menschenmenge verschwunden.
Ruhig steckte Nialli den Barak Dayir wieder in sein Behältnis.
„Nun ist alles in Ordnung“, sagte sie und nahm Thu-Kimnibol wieder bei der Hand.
Stunden später. Die Öffentliche Ruhe und Ordnung waren wiederhergestellt. Sie alle waren im Großen Saal des Präsidiums.
Taniane sagte: „Also haben wir jetzt gewissermaßen so eine Art Frieden. Aus dem Irrsinn des Krieges erwuchs uns eine Art halber Sieg. Oder doch immerhin ein Waffenstillstandsabkommen. Aber was haben wir dabei wirklich gewonnen? Es kann doch jederzeit — wenn die Königin grad dazu gelaunt ist — wieder von neuem beginnen.“
Thu-Kimnibol schüttelte den Kopf. „Das glaube ich nicht, Schwiegerschwester. Die Königin hat inzwischen doch etwas genauer begriffen, wie wir sind und wozu wir fähig sind. Nein, von jetzt ab ist die Welt geteilt. Die Hjjks werden uns zufrieden und in Ruhe lassen, das verspreche ich dir. Sie behalten ihre jetzigen Einflußgebiete, wir die unseren. Und es wird keine Rede mehr davon sein, daß ihre NestDenker daherkommen und in unseren Städten ihre Missionierungsläden aufmachen.“
„Aber wie wird sich das in Gebieten auswirken, die weder in ihre noch in unsere Einflußsphäre _ gehören? Das hat Hresh so tief beunruhigt. Daß die Hjjks uns von dem Übrigen ausschließen wollen.“
„Die übrige Welt soll frei und offen zugänglich bleiben, Mutter“, sagte Nialli. „Wir können es erforschen je nach unserem Belieben und wann immer wir dazu fähig sind. Und wer weiß schon, was wir alles entdecken werden? Vielleicht gibt es auf den anderen Kontinenten große Städte, die vom VOLK erbaut wurden. Oder die Menschlichen selbst sind vielleicht aus ihrem Exil zurückgekehrt, wo immer das gewesen sein mag, als die Große Welt zugrunde ging, und leben jtzt wieder hier. Was wissen wir da schon? Aber wir werden es herausfinden. Wir werden überallhin gehen, wohin wir wollen, und wir werden alles erforschen und entdecken, was es zu entdecken und zu erforschen gibt. Ganz so, wie mein Vater es sich für uns erhoffte! Die Königin hat inzwischen eingesehen, daß wir uns nicht auf unserem schmalen Stückchen Küstenland einpferchen lassen. Und wenn schon jemand sich abgekapselt und eingepfercht hat, dann doch wohl die Hjjks in diesen gottverlassenen Gegenden, die sie von jeher bewohnt haben.“
„Also war es doch ein Sieg“, sagte Taniane. „Gewissermaßen.“ Sie klang nicht besonders jubelfreudig.
„Ja, ein Sieg, Schwiegerschwester“, sagte Thu-Kimnibol fest und ernst. „Laß dich da nicht irreführen. Wir werden einen Zustand d:s Friedens haben. Und was verlangst du mehr von einem — Sieg?“
„Ja. Ja, vielleicht stimmt das ja.“ Nach einer Weile fragte Taniane: „Und Hresh? Nialli, du warst bei ihm, als er starb, sagt mir Thu-Kimnibol. Wie war es für ihn — das Ende?“
„Friedlich“, sagte Nialli schlicht.
„Ich wünsche, daß du mir später mehr darüber sagst. Jetzt aber müssen wir uns um andres kümmern.“ Sie drehte sich um und hob die dunkle schimmernde Maske Koshmars vom Präsidialtisch, wo sie sie abgelegt hatte, nachdem sie in den Saal gekommen waren. Sie hielt sie ausgestreckt vor sich hin. Es war ein kühn-geschnittenes, ein starkes, ein unbezwingbares Gesicht mit kräftigen vollen Lippen, einem willensstarken Kinn und weitgeschwungenen Wangenbeinen. Zu Nialli Apuilana sprach Taniane sodann: „Dies war Koshmar, die bedeutendste Frau unseres Stammes. Ohne ihre visionäre Kraft und Stärke wäre heute keiner von uns hier. Ohne sie wären wir — ein Nichts geblieben. Ich übergebe dir ihre Maske, Nialli.“
„Aber was soll ich denn damit tun, Mutter?“
„Lege sie an!“
„Ich soll sie.?“
„Es ist die Maske der Häuptlingswürde.“
„Ich verstehe nicht, was du damit.“
„Dies war der letzte Tag meiner vierzigjährigen Herrschaft. Man sagt mir schon eine ganze Weile, daß es an der Zeit sei, daß ich Platz machte. Und die Leute haben recht. Ich trete heute von meinem Amt zurück. Nimm also diese Maske, Nialli.“
Bestürzung und Unsicherheit blitzten kurz in Niallis Augen auf. „Mutter, das kann nicht sein. Mein Vater hat mich bereits zum nächsten Chronisten ernannt. Und das will ich von nun an sein. Nicht der Häuptling.“
Und nun war es an Taniane, erstaunt zu sein.
„Er hat dich zum. Chronisten.?“
„Ja. In seinen letzten Augenblicken hat er es mir aufgetragen. Es war sein besonderer Herzenswunsch. Ich habe seinen Wunderstein. Und ich weiß, wie ich ihn anwenden muß.“
Taniane schwieg lange, als wäre sie in eine ferne Welt davongegangen.
Dann sprach sie mit ganz gelassener Stimme: „Wenn du denn Chronist sein sollst und nicht der Häuptling, dann hat die Alte Ordnung ihr Ende gefunden. Ich habe das Gefühl gehabt, daß du inzwischen reif bist, daß du endlich meine Nachfolge antreten kannst. Doch du willst das nicht annehmen; aber es gibt keine sonst, der ich diese Maske überantworten will. Also gut. Es wird im VOLK von jetzt an keine Häuptlinge mehr geben.“
Sie wandte das Gesicht ab.
Thu-Kimnibol sagte: „Nialli, ginge es denn wirklich nicht, daß du beides machst? Die Chronisterei und das Häuptlingsamt?“
„Beides?“
„Ja. Wieso könnte man die Titel und Amtsbefugnisse nicht miteinander verbinden? Du hättest dann die Maske und außerdem den Barak Dayir. Die Maske macht dich zum Häuptling, der Wunderstein zum Chronisten. Du hast beide in deinem Besitz, und du könntest durch beide herrschen und Macht ausüben.“
„Aber die Texte, die Chroniken — die Arbeit im Haus des Wissens — nein, das wäre viel zuviel, Thu-Kimnibol.“
„Chupitain Stuld kann die Leitung des Hauses des Wissens übernehmen. Sie kann die Arbeit machen, aber unter deiner Direktion.“
„Nein!“ sagte Nialli. „Nein, ich sehe eine andere Möglichkeit. Ich werde den Wunderstein behalten, gewiß, denn mein Vater hat es so gewünscht. Aber ich bin nicht geeignet, den Vorsitz im Präsidium zu führen. Mutter — gib ihm die Maske. Er hat sich das Recht verdient, sie zu tragen.“
Thu-Kimnibol lachte. „Ich? Ich soll Koshmars Maske tragen? Damit vor dem Präsidium auftreten und mich Häuptling nennen? Das ist ein wundervolles, ein starkes Gesicht, Nialli. aber es ist das Gesicht eines Weibes!“
„Dann verzichte auf die Maske“, sagte Taniane abrupt. „Und auf den Titel ebenso. Es ist jetzt alles neu. Wenn du nicht Häuptling sein magst, Thu-Kimnibol, dann nenne dich doch einfach — König!“
„König?“
„Dein Vater war ein König in Yissou. Und nun wirst eben auch du König sein.“
Er starrte Taniane verblüfft an. „Meinst du das wirklich im Ernst?“
„Du hast den Sieg errungen. Du hast das Recht. Und du bist vom gleichen Blut wie Hresh; und Nialli Apuilana hat dich zur Herrschaft erkoren. Wie kannst du dich da weigern?“
„Es hat aber nie ein König über den Stamm der Koshmari geherrscht.“
„Wir haben hier keinen Stammesverband der Koshmari“, entgegnete Taniane. „Wir leben in Dawinno-Stadt. Und bereits ab morgen hat die Stadt keinen Herrscher mehr. Willst du also hier unser König sein, Thu-Kimnibol, oder möchtest du uns führungslos lassen?“
Er stapfte vor dem Präsidialtisch auf und ab. Dann blieb er stehen, wirbelte auf den Sohlen herum und deutete auf Nialli Apuilana.
„Wenn ich König sein soll, dann wirst du aber — Königin!“
Bestürzt schaute sie zu ihm auf. „Königin? Was redest du denn da? Glaubst du, ich bin eine Hjjk? Nur die haben Königinnen.“
Lachend sagte er: „Sicher, die haben Königinnen. Aber was sollte das uns schon ausmachen? Hier in dieser Stadt bist du dann des Königs Gemahl. Und was könnte des Königs Lebenspartner anderes sein als eine Königin? Also werden die Hjjks ihre Königin haben — und wir werden auch eine haben, nämlich die unsere. Königin von Dawinno, das sollst du sein. Und wenn wir in die unerforschten Länder ziehen, dann wirst du auch dort ihre Königin sein. Na, wie ist das? Die Königin alles dessen, was wächst und blüht und gedeiht auf dem Angesicht dieser neugeborenen Welt. Die Königin des Neuen Frühlings.“ Er nahm sie bei der Hand. „Nun, was meinst du dazu, Nialli? Du — als Frühlingskönigin!“ Seine Stimme dröhnte hallend durch den weiten Raum in überschwenglicher Freude. „Und wenn dann jene andere, bei weitem weniger schöne Königin uns wieder einmal einen Gesandten schickt, der uns neue und ärgerliche Vorschläge unterbreitet, was sie ganz bestimmt tun wird, ehe wir alt und grau sind, dann kannst du ihr als Gleichrangige antworten, von Königin zu Königin! Was hältst du davon, Nialli? Königin Nialli? Soll es so sein? Und König Thu-Kimnibol?“
Nialli Apuilana sitzt ruhig da und blickt starr auf das leere Blatt vor ihr. Ihre Finger schweben, gleiten zögernd darüber. Chronist? Sie? Und außerdem auch noch Königin? Wie seltsam das ist! Jedoch, in diesem Augenblick ist sie ausschließlich der Chronist. Sie sitzt in Hreshs Arbeitszimmer, im obersten Geschoß des Hauses des Wissens. Und rings um sie herum atmen alle Dinge Hresh. Die Schätze, die er sammelte. überall in diesem Raum schwebt Vergangenheit.
Sie muß das alles niederschreiben, alle diese wundersamen, bestürzenden Geschehnisse. Doch was soll sie sagen? Sie versteht sie ja kaum selbst, bringt sie kaum in eine Ordnung zusammen. War dies das Ziel, auf das sie von Beginn an zustrebte? Während der ganzen mühsamen Irrfahrt, die sie hinter sich hat? Was soll sie sagen? Was nur soll sie sagen?
Vorsichtig streift sie über das Amulett auf ihrer Brust. Ein schwaches Wärmegefühl gleitet flackernd durch ihre Hand. Und sie hat den Eindruck, als wäre im selben Augenblick eine huschende Geistergestalt hastig durch das Zimmer geweht, einer, der schlank und drahtig und geschmeidig ist, der große dunkle Augen hat, aus denen eine luzide Intelligenz wie ein Blitz hervorbrennt, und im Augenblick seines Vorbeiziehens, schien ihr, wandte er sich ihr zu und lächelte und nickte und formte das Wort „Königin“ mit seinen Lippen. Die Frühlingskönigin. O ja. Ja. Der die Aufgabe zugefallen ist, die ihr Vater begonnen hatte: Herauszufinden, wer wir wirklich sind, was wir tun müssen, um den Absichten der Götter gerecht zu werden, wie wir uns in dieser Welt betragen sollen, n die wir gerieten, als der Lange Winter endete.
Nialli lächelt. Sie legt die Finger — endlich — auf die Seite, und die Lettern beginnen sich abzubilden. Endlich hat sie den Anfang ihrer Chronik gefunden, und sie schreibt auf dem nächstoberen leeren Blatt, daß am Tage So-und-so im Jahre So-und-soviel nach dem Auszug sich gewaltige Veränderungen ereigneten. Denn an selbigem Tage trat die hochverehrte Frau Häuptling Taniane von ihrem Amt zurück, und mit ihr fand die Häuptlingsherrschaft aus uralter Zeit endlich und für immer ein Ende, und es wurden erwählt der erste König und die erste Königin der Stadt, die herrschen und regieren und entscheiden sollten über alles, was getan werden mußte nach dem gewaltigen und schrecklichen Krieg wider die Hjjks. In welchselbigem Krieg sich das VOLK ehrenhaft geschlagen und einen gewaltigen Sieg errungen hatte.
Sie hält inne. Sie späht im Raum umher, sucht im schwachen Schein der Lampe nach ihrem Vater, nach Hresh. Aber sie ist jetzt allein. Er ist fort. Sie überblickt noch einmal, was sie soeben geschrieben hat.
Der Häuptling. Der König. Die Königin. Der Sieg. Ja, nun müßte sie auch etwas über den Wechsel im Amt des Chronisten schreiben. Auch dies eine bedeutende Veränderung.
So viele große Veränderungen. Ach ja. Und ohne Zweifel werden noch viel gewichtigere kommen. Denn wir sind ja mitten im Neuen Frühling, und der Frühling ist die Zeit, da alles sich entfaltet und wächst. Im Frühling wird die Welt aufs neue geboren.