Der Käfersammler (The Beetle Hunter)

Wie sagte doch der Doktor, »ein seltsames Erlebnis«? Ja, meine Freunde, in der Tat hatte ich ein sehr seltsames Erlebnis. Ich erwarte nicht, noch jemals ein zweites zu haben, denn es widerspricht allen Lehrsätzen der Wahrscheinlichkeitstheorie, daß einem Menschen während seines Lebens zwei solche Ereignisse widerfahren werden. Sie können mir glauben oder nicht, aber es geschah genau so, wie ich es erzähle.

Ich war gerade frischer Mediziner, hatte aber noch nicht begonnen zu arbeiten und lebte in einem Zimmer in der Gower Street. Die Hausnummern dort haben sich seitdem geändert, aber es war das einzige Haus mit verglastem Portal, auf der linken Seite, wenn man von der Metropolitan Station kommt. Damals bewohnte eine Witwe Murchison das Haus, zusammen mit drei Medizinstudenten und einem Ingenieur als Untermietern. Mein Zimmer im obersten Stockwerk war das billigste, für mich jedoch immer noch nicht billig genug. Meine spärlichen Quellen waren dabei, zu versiegen, und mit jeder Woche wurde es dringlicher für mich, eine Tätigkeit zu finden. Ich war überhaupt noch nicht willens, in eine allgemeine Praxis einzutreten, denn alle meine Interessen gingen in Richtung Wissenschaft, besonders Zoologie, zu der ich immer eine starke Neigung verspürt hatte. Ich hatte schon fast den Kampf aufgegeben und mich damit abgefunden, lebenslang ein kleiner Arzt zu bleiben, als ich auf höchst ungewöhnliche Weise an den Wendepunkt meines Schicksals kam.

Eines Morgens hatte ich mir den »Standard« geschnappt und warf einen Blick auf die Schlagzeilen. Es gab absolut keine Neuigkeiten, und ich wollte die Zeitung gerade wieder weglegen, als mein Blick auf eine Anzeige an der Spitze der Stellenangebote fiel. Sie war wie folgt verfaßt:

»Mediziner für einen oder mehr Tage gesucht. Voraussetzungen: Er sollte starke Nerven haben, kräftig und entschlossen sein. Er muß Fachmann für Insektenkunde sein, Spezialgebiet Käfer bevorzugt. Persönliche Vorstellung im Haus Nr. 77 B, Brook Street, heute bis Zwölf Uhr.«

Nun, ich habe schon gesagt, daß ich der Zoologie verfallen war. Von allen Bereichen der Zoologie war das Studium der Insekten der attraktivste für mich. Und von allen Insekten waren die Käfer diejenige Spezies, mit der ich am vertrautesten war. Viele Leute sammeln Schmetterlinge, Käfer gibt es jedoch in viel mehr Arten, außerdem findet man sie auf diesen Inseln leichter als Schmetterlinge. Diese Tatsache hatte meine Aufmerksamkeit auf sie gelenkt. Meine Käfersammlung umfaßte einige hundert verschiedene Arten. Was die anderen in der Anzeige genannten Voraussetzungen betrifft, so wußte ich, daß ich mich auf meine Nerven verlassen konnte und daß ich den Kugelstoß-Wettkampf bei den Krankenhausmeisterschaften gewonnen hatte. Ganz klar, ich war der richtige Mann für die Stellung. Fünf Minuten, nachdem ich das Inserat gelesen hatte, saß ich in der Droschke und war auf dem Weg zur Brook Street.

Während der Fahrt überlegte ich hin und her und fragte mich, was das für ein seltsamer Job sein könnte, für den so seltsame Qualifikationen vonnöten sind. Eine starke Physis, entschlossenes Wesen, eine medizinische Ausbildung und Kenntnisse über Käfer - welche Verbindung könnte zwischen diesen verschiedenen Erfordernissen bestehen? Dann war da noch der beunruhigende Umstand, daß es sich nicht um eine Dauerstellung handelte, sondern, wie ich aus der Anzeige las, um Tagesjobs. Je länger ich grübelte, um so unverständlicher wurde es mir; am Ende meiner Meditation kam ich jedoch immer zu den Tatsachen zurück, daß ich, mag da kommen, was will, nichts zu verlieren hatte, vollkommen pleite und bereit zu jedem Abenteuer war, ganz gleich wie gewagt, wenn es mir nur ein paar ehrlich verdiente Sovereigns einbrächte. Wer für seine Fehler bezahlen muß, wird sich hüten, welche zu begehen, ich aber hatte eine Strafe vom Schicksal zu fürchten. Ich war der Spieler mit leeren Taschen, der immer noch sein Glück versuchen kann.

Nr. 77 B, Brook Street, war eines jener schmuddeligen, trotzdem imposanten Häuser. Seine schwarzbraune, schnörkellose Fassade machte jenen respektablen, soliden Eindruck, der für die georgianischen Baumeister charakteristisch war. Als ich aus der Kutsche kletterte, kam ein junger Mann aus der Tür und ging schnell die Straße hinunter. Als er an mir vorbeiging, bemerkte ich, daß er einen forschenden und irgendwie mißbilligenden Blick auf mich warf. Ich nahm den Vorfall als gutes Omen, denn er sah aus wie ein abgewiesener Kandidat, und wenn er mir die Bewerbung übelnahm, bedeutete das, daß die Stelle noch frei war. Voller Hoffnung sprang ich einige breite Stufen hinauf und betätigte den schweren Türklopfer.

Ein Diener in Puder und Livree öffnete die Tür. Offensichtlich war ich bei Leuten mit Geld und Geschmack.

»Ja bitte?« sagte der Diener.

»Ich komme wegen der - «

»Ganz recht, Sir«, sagte der Diener. »Lord Linchmere wird Sie sogleich in der Bibliothek empfangen.«

Lord Linchmere! Ich hatte den Namen schon irgendwo gehört, konnte mich aber im Moment an nichts Genaues erinnern. Ich folgte dem Diener in einen großen Raum voller Bücher; dort saß hinter einem Schreibtisch ein kleiner Mann mit einem hübschen, glattrasierten, beweglichen Gesicht und langem, graumeliertem Haar, das ganz nach hinten gekämmt war. Er betrachtete mich von oben bis unten mit einem sehr scharfen, bohrenden Blick, während er die Karte, die der Diener ihm gegeben hatte, in der rechten Hand hielt. Dann lächelte er, wirklich hübsch, und ich fühlte, daß ich jedenfalls äußerlich die Qualifikationen besaß, die er wünschte.

»Sie kommen auf mein Inserat hin, Dr. Hamilton?« fragte er.

»Ja, Sir.«

»Sie erfüllen die Bedingungen, die dort aufgeführt sind?«

»Das nehme ich an.«

»Sie sind ein kräftiger Mann, oder Sie sehen jedenfalls so aus.«

»Ich glaube, ich bin ziemlich stark.«

»Und energisch?«

»Ich glaube wohl.«

»Haben Sie jemals erfahren, was es heißt, einer akuten Gefahr ausgesetzt zu sein?«

»Nein, nicht daß ich wüßte.«

»Aber Sie glauben, Sie könnten in einer solchen Situation schnell und überlegt handeln?«

»Das hoffe ich.«

»Gut, ich glaube, Sie könnten es. Ich habe um so mehr Vertrauen in Sie, weil Sie nicht vorgeben, sicher zu sein, was Sie tun würden in einer Lage, die Ihnen neu wäre. Mein Eindruck ist, daß Sie, soweit es um persönliche Qualitäten geht, genau der Mann sind, nach dem ich gesucht habe. Nachdem das nun geregelt ist, können wir zum nächsten Punkt übergehen.«

»Welcher wäre?«

»Erzählen sie mir etwas über Käfer.«

Ich sah ihn an, um zu sehen, ob er scherzte, doch im Gegenteil, er saß angestrengt über seinen Schreibtisch gebeugt, in seinen Augen eine gewisse Unruhe.

»Ich fürchte, Sie wissen nichts über Käfer«, schrie er.

»Ganz im Gegenteil, Sir, das ist ein Forschungsgebiet, in dem ich in der Tat einiges zu wissen meine.«

»Ich bin überglücklich, das zu hören. Bitte erzählen Sie mir etwas über Käfer.«

Ich erzählte. Ich behaupte nicht, irgend etwas Neues über den Gegenstand gesagt zu haben, aber ich gab einen kurzen Abriß der Charakteristika des Käfers und nannte die bekannteren Arten, nicht ohne einige Anspielungen auf die Exemplare meiner eigenen kleinen Sammlung sowie auf den Artikel über Wühlkäfer einfließen zu lassen, den ich im »Journal of Entomological Science« veröffentlicht hatte.

»Was! Ein Sammler?« rief Lord Linchmere. »Sie meinen, Sie sind selbst ein Sammler?« Bei dem Gedanken tanzten seine Augen vor Vergnügen.

»Sie sind sicher für meinen Zweck der einzige Mann in London. Ich dachte mir, unter fünf Millionen Menschen muß es einen solchen Mann geben, das Problem ist nur, ihn herauszusuchen. Ich hatte außerordentliches Glück, Sie zu finden.« Er läutete eine Glocke, die auf dem Tisch stand, und der Diener betrat den Raum.

»Bitte Lady Rossiter um die Güte, sich hierher zu begeben«, sagte Seine Lordschaft, und wenige Augenblick später wurde die Lady ins Zimmer geführt. Sie war eine kleine Frau mittleren Alters, Lord Linchmere sehr ähnlich, mit den gleichen flinken, gleitenden Bewegungen und grauschwarzem Haar. Der Ausdruck der Unruhe, den ich in seinem Gesicht beobachtet hatte, war jedoch auf ihrem weitaus deutlicher. Irgendein großer Kummer schien seinen Schatten auf ihre Züge zu werfen. Als Lord Linchmere mich vorstellte, wandte sie mir ihr Gesicht voll zu, und zu meinem Schrecken sah ich eine halb verheilte, fünf Zentimeter breite Narbe über ihrer rechten Augenbraue. Zum Teil war sie von einem Pflaster bedeckt, doch nichtsdestotrotz konnte ich sehen, daß es eine schwere Wunde war, nicht allzu alt.

»Dr. Hamilton ist der Mann, den wir gesucht haben, Evelyn«, sagte Lord Linchmere. »Er ist tatsächlich ein Käfersammler, er hat auch Artikel darüber geschrieben.«

»Wirklich!« sagte Lady Rossiter. »Dann müssen Sie von meinem Mann gehört haben. Jeder, der nur etwas mit Käfern zu tun hat, muß von Sir Thomas Rossiter gehört haben.«

Zum ersten Mal kam etwas Licht in diese dunkle Angelegenheit. Hier war endlich die Verbindung zwischen diesen Leuten und den Käfern. Sir Thomas Rossiter - das war die bedeutendste Autorität der Welt auf diesem Gebiet. Er hatte sein Leben lang die Käfer studiert und ein erschöpfendes Werk darüber geschrieben. Ich beeilte mich, der Lady zu versichern, daß ich es natürlich gelesen hätte und sehr schätzte.

»Sind Sie je meinem Gatten begegnet?« fragte sie.

»Nein, nie.«

»Sie werden ihm begegnen«, sagte Lord Linchmere entschieden.

Die Dame stand neben dem Tisch und legte eine Hand auf seine Schulter. Als ich ihre Gesichter nebeneinander sah, war mir sofort klar, daß sie Geschwister waren.

»Bist du wirklich bereit dazu, Charles? Es ist großzügig von dir, doch du machst mir angst.« Ihre Stimme zitterte vor Furcht, und er schien mir das gleiche zu fühlen, obwohl er sich bemühte, seine Aufregung zu verbergen.

»Ja, ja, meine Liebe; alles steht fest, alles ist beschlossen, wirklich, ich sehe keine andere Möglichkeit.«

»Es gibt eine Möglichkeit.«

»Nein, nein, Evelyn, ich werde dich niemals im Stich lassen -niemals. Es wird schon gut werden - vertraue darauf; es wird schon werden, ja, es sieht aus, als ob uns durch den Einfluß der Vorsehung ein so perfektes Werkzeug in die Hände gelegt werden soll.«

Ich war verlegen, denn ich fühlte, daß Sie im Moment meine Anwesenheit vergessen hatten. Doch Lord Linchmere kam plötzlich auf mich und mein Engagement zurück.

»Ihre Aufgabe wird es sein, Dr. Hamilton, sich absolut zu meiner Verfügung zu halten. Ich möchte, daß Sie mich auf eine kurze Reise begleiten und immer an meiner Seite bleiben. Sie sollen mir versprechen, ohne Fragen alles zu tun, worum ich Sie bitten werde, egal wie unvernünftig es Ihnen auch erscheinen mag.«

»Sie verlangen einiges von mir«, sagte ich.

»Unglücklicherweise kann ich keine ausführlicheren Erklärungen abgeben, da ich selbst nicht weiß, welche Wendung die Dinge nehmen können. Jedenfalls können Sie sicher sein, daß ich Sie um nichts bitten werde, was Sie mit Ihrem Gewissen nicht vereinbaren können; und ich verspreche Ihnen, daß Sie, wenn alles vorbei sein wird, stolz sein werden, an einem so guten Werk beteiligt gewesen zu sein.«

»Wenn es gutgeht«, sagte Lady Evelyn.

»Genau, wenn es gutgeht«, wiederholte der Lord.

»Und die Bedingungen?« fragte ich.

»Zwanzig Pfund pro Tag.«

Ich war erstaunt über die Summe, und meine Miene muß die Überraschung wohl verraten haben.

»Wir verlangen eine seltene Kombination von Fähigkeiten, wie Ihnen beim Lesen der Anzeige aufgefallen sein wird«, sagte Lord Linchmere; »solche verschiedenen Begabungen bedingen eine angemessene Gegenleistung, und ich will Ihnen nicht verbergen, daß Ihre Pflichten schwierig, wenn nicht gefährlich sein werden. Außerdem ist es möglich, daß die Sache in ein oder zwei Tagen abgeschlossen sein wird.«

»So Gott will!« seufzte seine Schwester.

»Nun, Dr. Hamilton, kann ich mich auf Ihre Unterstützung verlassen?«

»Jawohl«, sagte ich. »Sie müssen mir nur sagen, was ich zu tun habe.«

»Zuerst sollen Sie wieder nach Hause gehen und ein paar Sachen zusammenpacken, was immer Sie für einen kurzen Besuch auf dem Lande benötigen. Wir fahren zusammen vom Paddington-Bahnhof, heute nachmittag um drei Uhr vierzig.«

»Fahren wir weit weg?«

»Bis Pangbourne. Um drei Uhr dreißig treffen wir uns am Bahnhofskiosk. Die Tickets werde ich dabeihaben. Auf Wiedersehen, Dr. Hamilton! Übrigens, ich wäre sehr froh, wenn Sie zwei Dinge mitbringen könnten, falls Sie sie haben. Das eine ist Ihr Kästchen zum Käfersammeln, das andere ein Knüppel, je dicker und schwerer, desto besser.«

Ihr könnt euch vorstellen, daß ich bis zu der ausgemachten Zeit eine Menge Stoff zum Nachdenken hatte. In meinem Kopf setzte sich das Puzzle, das der ganze phantastische Fall darstellte, zu immer neuen Bildern zusammen, bis ich mir schließlich ein Dutzend Erklärungen zurechtgelegt hatte, eine grotesker und unwahrscheinlicher als die andere. Trotzdem fühlte ich, daß die Wahrheit genauso grotesk und unwahrscheinlich sein mußte. Schließlich gab ich alle Versuche auf, eine Antwort zu finden, und konzentrierte mich darauf, die Instruktionen, die ich erhalten hatte, genau auszuführen. Mit Reisetasche, Käferkasten und einem schweren, gefüllten Rohr wartete ich am Kiosk in Paddington, bis Lord Linchmere eintraf. Er war noch kleiner, als ich gedacht hatte - zart und kränklich benahm er sich noch nervöser als am Morgen. Er trug einen langen, dicken Reisemantel; in der Hand hielt er einen schweren Schwarzdorn-Knüttel.

»Ich habe die Fahrkarten«, sagte er und schlug den Weg zum Bahnsteig ein.

»Dies ist unser Zug. Ich habe einen Wagen reservieren lassen, denn ich muß Ihnen unterwegs unbedingt ein, zwei Dinge erklären.«

Dennoch, alles, was er mir erklären wollte, hätte er in einem Satz sagen können, er wollte mich nämlich lediglich daran erinnern, daß ich zu seinem Schutz da war und daß ich ihn auf keinen Fall auch nur für einen Augenblick alleinlassen durfte. Das wiederholte er immer wieder mit einer Eindringlichkeit, die zeigte, daß seine Nerven ernsthaft angeschlagen waren.

»Ja«, sagte er zum Schluß, indem er eher meinen Blicken als meinen Fragen antwortete. »Ja, ich bin nervös, Dr. Hamilton. Ich war immer ein ängstlicher Mensch, meine Ängstlichkeit hängt mit meinem zerbrechlichen Gesundheitszustand zusammen. Aber meine Seele ist stark, und ich kann mich dazu überwinden, einer Gefahr ins Auge zu sehen, vor der ein weniger ängstlicher Mann vielleicht zurückschreckt. Keiner zwingt mich zu dem, was ich jetzt tue, es ist nur mein Pflichtgefühl, das mich dazu treibt, ein unabsehbares Risiko einzugehen. Wenn die Sache schiefgeht, darf ich mich getrost Märtyrer nennen lassen.«

Dieses ewige Reden in Rätseln war zuviel für mich. Ich mußte dem ein Ende setzen.

»Ich denke, es wäre viel besser, Sir, wenn Sie mir Ihr volles Vertrauen schenken würden«, sagte ich. »Es ist mir unmöglich, effektiv zu handeln, wenn ich nicht weiß, womit wir es zu tun haben werden oder wenigstens, wohin die Reise geht.«

»Oh, aus unserem Ziel brauche ich kein Geheimnis zu machen«, erwiderte er; »wir fahren nach Delamere Court, dem Sitz von Sir Thomas Rossiter, dessen Werk Sie so gut kennen.

Was den genauen Zweck unseres Besuches betrifft, so weiß ich nicht, Dr. Hamilton, ob in diesem Stadium des Unternehmens irgend etwas gewonnen würde, indem ich Sie vollständig einweihte. Ich kann Ihnen sagen, daß alles, was wir tun - ich sage >wir<, weil meine Schwester, Lady Rossiter, denselben Standpunkt einnimmt wie ich - darauf ausgerichtet ist, jede Art eines Familienskandals zu vermeiden. Deshalb können Sie verstehen, daß ich nicht willens bin, Erklärungen abzugeben, die nicht unbedingt notwendig sind. Eine andere Sache wäre es, Dr. Hamilton, wenn ich Sie um Rat fragen würde. Wie die Dinge liegen, benötige ich lediglich Ihre tatkräftige Hilfe, und ich werde Ihnen von Zeit zu Zeit klarmachen, wie Sie mir am besten helfen können.«

Dem war nichts hinzuzufügen, ein armer Mann kann viel schlucken für zwanzig Pfund pro Tag, nichtsdestoweniger fühlte ich mich aber recht gemein behandelt. Er wollte mich als passives Werkzeug, wie der Knüppel in seiner Hand. Ich konnte mir jedoch bei seiner psychischen Disposition immerhin vorstellen, daß ein Skandal für ihn das Schrecklichste war. Es war mir klar, daß er mich nicht ins Vertrauen ziehen würde, bis ihm kein anderer Ausweg blieb. Ich mußte mich auf meine eigenen Augen und Ohren verlassen, um das Geheimnis zu lüften, ich war mir jedoch sicher, daß das nicht umsonst sein würde.

Delamere Court liegt gut fünf Meilen vom Bahnhof in Pangbourne entfernt. Diese Strecke legten wir in einer offenen Kutsche zurück. Auf dem Weg war Lord Linchmere tief in Gedanken, er sprach nicht, bis wir nahe am Ziel waren. Dann gab er mir eine Information, die mich überraschte.

»Vielleicht wissen Sie nicht«, sagte er, »daß ich Mediziner bin wie Sie?«

»Nein, Sir, das wußte ich nicht.«

»Ja, ich absolvierte die Ausbildung in jüngeren Jahren, als ich in der Erbfolge meines Titels noch weit hinten stand. Ich hatte zwar nie Gelegenheit, zu praktizieren, hielt die Ausbildung aber für jedenfalls nützlich. Ich habe die Jahre nie bereut, welche ich dem Studium der Medizin widmete. Dort ist die Einfahrt von Delamere Court.«

Wir waren an zwei hohen, von heraldischen Ungeheuern gekrönten Säulen angekommen, die den Anfang einer gewundenen Fahrstraße flankierten. Über Lorbeerbüsche und Rhododendron hinweg konnte ich ein langgestrecktes Landschloß mit vielen Seitenflügeln sehen, das, von Efeu umwachsen, in der wannen, freundlichen Farbe alten Backsteins glühte. Ich starrte noch voller Bewunderung auf dieses wunderschöne Haus, als mein Begleiter nervös an meinem Ärmel zupfte.

»Dort ist Sir Thomas«, flüsterte er. »Bitte reden Sie nur über Käfer, alles, was Sie wissen.«

Eine lange, dünne Gestalt, seltsam spitz und knochig, war durch eine Lücke in der Lorbeerhecke geschlüpft. Er hatte einen Spaten in der Hand und trug abgewetzte Gärtnerkleidung. Ein breitrandiger, grauer Hut hielt sein Gesicht im Schatten, doch es fielen mir sofort die außerordentliche Strenge, ein schlecht gepflegter Bart und die harten, unregelmäßigen Gesichtszüge darin auf. Die Kutsche fuhr vor, und Lord Linchmere sprang ab.

»Mein lieber Thomas, wie geht es dir?« fragte er herzlich.

Doch die Herzlichkeit wurde keineswegs erwidert. Der Eigentümer der Ländereien funkelte mich über die Schulter seines Schwagers hinweg an, ich hörte Satzfetzen -»wohlbekannte Wünsche, hasse Fremde, nicht zu rechtfertigendes Eindringen. vollkommen unentschuldbar.« Dann gab es ein Gemurmel, und die beiden kamen zusammen an die Kutsche.

»Dr. Hamilton, ich möchte Sie Sir Thomas Rossiter vorstellen«, sagte Lord Linchmere. »Sie werden sehen, wie stark die Gemeinsamkeit Ihrer Interessen sein wird.«

Ich verbeugte mich. Sir Thomas sah mich unter seiner breiten Hutkrempe mit ernsten Augen an.

»Lord Linchmere erzählt mir, daß Sie etwas über Käfer wissen«, sagte er. »Was wissen Sie über Käfer?«

»Ich weiß, was ich aus Ihrem Buch über die Coleoptera gelernt habe, Sir Thomas«, antwortete ich.

»Zählen Sie mir die Namen der bekannteren britischen Skarabäen auf«, forderte er.

Ich hatte nicht mit einer Prüfung gerechnet, doch glücklicherweise war ich durchaus präpariert dafür. Meine Antworten schienen ihn zu befriedigen, denn seine steifen Züge entspannten sich.

»Mir scheint, Sie haben mein Buch nicht umsonst gelesen, Sir«, sagte er. »Ich treffe nur selten jemanden, der sich in vernünftigerweise für diese Dinge interessiert. Die Leute finden Zeit für solche Trivialitäten wie Sport oder Tanzen, dabei werden die Käfer übersehen. Ich kann Ihnen versichern, daß der größte Teil der Idioten in diesem Teil des Landes überhaupt nicht weiß, daß ich jemals ein Buch geschrieben habe - ich, der erste Mensch, der jemals die wahre Funktion der Elytra beschrieb. Ich freue mich, Sie zu sehen, Sir, und bin sicher, Ihnen einige Exemplare zeigen zu können, die Sie interessieren werden.« Er stieg in die Kutsche und fuhr mit uns zum Haus. Unterwegs erläuterte er mir einige neuere Forschungen, die er über die Anatomie des Marienkäfers angestellt hatte.

Ich sagte schon, daß Sir Thomas Rossiter einen großen Hut trug, den er tief in die Stirn gezogen hatte. Als wir nun die Halle betraten, entblößte er seinen Kopf, und ich sah sofort, was der Hut verbergen sollte. Seine Stirn, welche von Natur schon hoch war und durch sein schütteres Haar noch höher erschien, war in ständiger Bewegung. Ein Nervenleiden verursachte ein ununterbrochenes Muskelzucken, manchmal auch eine Art Drehbewegung der Stirnhaut, ganz anders als alles, was ich kannte. Als wir sein Studierzimmer betreten hatten, wandte er sich uns zu; jetzt fiel die Anomalie besonders ins Auge und wirkte im Kontrast zu den harten, ruhigen, grauen Augen, die unter den zuckenden Brauen hervorblickten, um so einzigartiger.

»Es tut mir leid«, sagte er, »daß Lady Rossiter zu Ihrer Begrüßung nicht anwesend ist. Übrigens, Charles, sagte sie irgend etwas über einen Termin für ihre Rückkehr?«

»Sie wollte noch einige Tage in der Stadt bleiben«, antwortete Lord Linchmere. »Du weißt, wie sich die gesellschaftlichen Pflichten einer Lady häufen, wenn sie längere Zeit auf dem Land, verbracht hat. Meine Schwester trifft im Moment viele alte Freunde in London.«

»Gut, sie ist ihre eigene Herrin, und ich sollte nicht versuchen, ihre Pläne zu ändern. Ich werde jedoch froh sein, sie wiederzusehen. Ohne ihre Gesellschaft ist es sehr einsam hier.«

»Das habe ich befürchtet und war einer der Gründe, weswegen ich mich hierher auf den Weg gemacht habe. Mein junger Freund, Dr. Hamilton, ist so interessiert an dem Thema, das du zu dem deinen gemacht hast, daß ich dachte, es würde dich nicht stören, wenn er mich begleitet.«

»Ich führe ein zurückgezogenes Leben, Dr. Hamilton, und meine Abneigung gegen Fremde wächst ständig«, sagte unser Gastgeber. »Manchmal hielt ich meine Nerven für schlechter, als sie sind. Meine Käferexpeditionen in jüngeren Jahren haben mich in viele malariaverseuchte, ungesunde Gegenden geführt. Ein Forschungskollege wie Sie ist mir jedoch immer ein willkommener Gast. Ich würde mich freuen, wenn Sie meine Sammlung durchsehen wollten, die ich, glaube ich, ohne Übertreibung als die beste in Europa bezeichnen kann.«

Das war sie ohne Zweifel. Er besaß einen großen Eichenschrank, der mit flachen Schubfächern ausgestattet war, in denen sich, jeder einzelne akkurat bezeichnet und klassifiziert, Käfer aus allen Ecken der Welt befanden, schwarze, braune, blaue, grüne und gepunktete. Hin und wieder, als er mit der Hand die Reihen und Reihen präparierter Insekten entlangfuhr, nahm er ein seltenes Exemplar heraus und reichte es mir mit solcher Sorgfalt und Ehrerbietung herüber, als handele es sich um eine wertvolle Reliquie; dann hielt er jeweils einen kleinen Vortrag über seine Besonderheiten und die Umstände, unter denen es in seinen Besitz kam. Offensichtlich war es für ihn ein seltener Anlaß, mit einem geneigten Zuhörer zusammenzusitzen, er redete und redete bis in den Abend, als ein Gong verkündete, daß es Zeit war, sich zum Dinner umzuziehen. Die ganze Zeit über sagte Lord Linchmere nichts, er blieb lediglich an der Seite seines Schwagers und blickte ihm von Zeit zu Zeit ein wenig fragend ins Gesicht. Seine eigenen Züge drückten starke Gefühle aus, Furcht, Zuneigung, Erwartung. Ich war sicher, daß Lord Linchmere etwas fürchtete und erwartete, aber ich hatte keine Ahnung, was das wohl sein könnte.

Der Abend verlief ruhig und angenehm, und ich hätte unbeschwert sein können, wäre da nicht diese ständige Anspannung im Benehmen Lord Linchmeres gewesen. Was unseren Gastgeber betraf, so wurde er mir immer sympathischer, je näher ich ihn kennenlernte. Er hörte nicht auf, liebevoll von seiner Frau und seinem kleinen Sohn zu reden, der seit kurzem eine Schule besuchte. Er sagte, das Haus sei nicht mehr dasselbe ohne die beiden. Hätte er nicht seine wissenschaftlichen Studien, so wüßte er nicht, wie er über die Tage kommen sollte. Nach dem Dinner rauchten wir etwas im Billardraum und gingen schließlich früh zu Bett.

Und dann schoß zum ersten Mal der Verdacht durch meinen Kopf, daß Lord Linchmere wahnsinnig war. Als sich unser Gastgeber zurückgezogen hatte, folgte er mir in mein Schlafzimmer.

»Doktor«, sprach er zu mir in leiser, hastiger Stimme, »Sie müssen mit mir kommen. Sie müssen die Nacht in meinem Schlafgemach verbringen.«

»Wie meinen Sie?«

»Ich möchte das nicht erklären. Aber das ist ein Teil Ihrer Pflichten. Mein Zimmer ist in der Nähe, morgen früh, bevor der Diener Sie weckt, können Sie in Ihres zurückkehren.«

»Aber warum?« fragte ich.

»Weil ich Angst habe, allein zu sein«, sagte er. »Das ist der Grund, wenn Sie einen hören wollen.«

Es schien der blanke Wahnsinn zu sein, aber die zwanzig Pfund sind ein besseres Argument als alle Einwände.

Ich folgte ihm in sein Zimmer.

»Nun«, sagte ich, »in diesem Bett ist nur Platz für einen.«

»Es wird auch nur einer darin liegen.«

»Und der andere?«

»Der andere wird Wache halten.«

»Warum?« sagte ich. »Man könnte denken, Sie fürchten, angegriffen zu werden.«

»Vielleicht ist es so.«

»Warum verriegeln Sie dann nicht die Tür?«

»Vielleicht will ich überfallen werden.«

Es sah immer mehr nach Irrsinn aus. Jedenfalls konnte ich nichts anderes tun als gehorchen. Ich zuckte mit den Schultern und setzte mich in den Armsessel neben dem leeren Kamin.

»Ich soll dann also wach bleiben?« sagte ich kummervoll.

»Wir werden die Nacht in zwei Schichten aufteilen. Wenn Sie bis zwei Uhr wachen, werde ich die restliche Zeit übernehmen.«

»Sehr gut.«

»Wecken Sie mich also um zwei.«

»Wie Sie wünschen.«

»Halten Sie die Ohren offen, und wenn Sie irgendein Geräusch hören, wecken Sie mich auf der Stelle - auf der Stelle, hören Sie?«

»Sie können sich darauf verlassen.« Ich versuchte, so ernst auszusehen wie er.

»Und schlafen Sie um Gottes willen nicht ein«, beschwor er mich; dann legte er sich zur Ruhe, nachdem er nur den Mantel ausgezogen und sich mit, der Überdecke zugedeckt hatte.

Es war eine traurige Wache, und das um so mehr, weil ich mir wie ein Narr vorkam. Angenommen, Lord Linchmere hatte irgendeinen Grund, sich im Hause von Sir Thomas Rossiter in Gefahr zu wähnen, warum in aller Welt konnte er sich dann nicht schützen, indem er die Tür abschloß? Seine Antwort, daß er sich vielleicht wünschte, angegriffen zu werden, war absurd. Warum sollte er sich das wünschen? Und wer wollte ihn angreifen? Klarer Fall, Lord Linchmere litt an einer eigenartigen Verwirrung, und ich wurde aus einem schwachsinnigen Grund meiner Nachtruhe beraubt. So verrückt es auch war, ich hatte seine Vorschriften zu befolgen, solange ich von ihm bezahlt wurde. Deshalb saß ich neben einer leeren Feuerstelle und hörte einem lautstarken Uhrwerk irgendwo am Ende des Korridors zu, das alle Viertelstunden knatterte und schlug. Die Wache nahm kein Ende. Abgesehen von der Uhr herrschte im ganzen Haus absolute Stille. Eine kleine Lampe stand auf einem Tisch neben mir und warf einen Lichtkreis rings um meinen Sessel, ließ jedoch die Ecken des Raumes im Schatten. Auf dem Bett hörte ich Lord Linchmere friedlich schnaufen. Ich neidete ihm seinen ruhigen Schlaf, und meine Augen fielen mir immer wieder zu, doch jedesmal kam mir mein Pflichtgefühl zu Hilfe, und ich setzte mich aufrecht, rieb meine Augen und zwickte mich, um meine unsinnige Wache zu Ende zu bringen.

Und ich schaffte es. Vom Korridor schlug es zwei, ich legte meine Hand auf die Schulter des Schlafenden. Er saß sofort aufrecht im Bett, in seinem Gesicht war der Ausdruck höchster Aufmerksamkeit zu sehen.

»Sie haben etwas gehört?«

»Nein, Sir, es ist zwei Uhr.«

»Sehr gut. Ich werde aufstehen. Sie können schlafen gehen.«

Ich legte mich unter die Zierdecke, wie er es getan hatte, und war sofort bewußtlos. Meine letzte Wahrnehmung war der Lichtkreis der Lampe und die kleine, aufrechte Gestalt mit dem angestrengten, ängstlichen Gesicht Lord Linchmeres in seiner Mitte.

Ich weiß nicht, wie lange ich schlief; aber durch einen heftigen Ruck an meinem Ärmel wurde ich plötzlich geweckt. Der Raum war jetzt dunkel, aber ein scharfer Ölgeruch sagte mir, daß die Lampe gerade erst gelöscht worden war.

»Schnell, schnell!« flüsterte Lord Linchmeres Stimme in mein Ohr. Ich sprang aus dem Bett, während er immer noch an meinem Ärmel zerrte.

»Hier 'rüber!« flüsterte er und zog mich in eine Ecke des Zimmers. »Pst! Hören Sie!«

In der Stille der Nacht konnte ich genau hören, daß jemand den Gang herunterkam. Verstohlene Schritte, leise, mit Pausen, wie von einem Mann, der nach jedem Schritt anhielt. Manchmal hörte man eine halbe Minute lang keinen Ton, doch dann kam von ganz nahe ein Schlürfen und Knarren. Mein Partner zitterte vor Aufregung. Seine Hand, die immer noch meinen Ärmel festhielt, wehte wie ein Blatt im Wind.

»Was ist das?« flüsterte ich.

»Das ist er!«

»Sir Thomas?«

»Ja.«

»Was will er?«

»Leise! Tun Sie nichts, bevor ich es Ihnen sage.«

Ich hörte jetzt, daß jemand versuchte, die Tür zu öffnen. Die Klinke machte nur ein ganz leises Geräusch, dann sah ich einen dünnen Streifen gedämpften Lichts. Irgendwo, weit weg im Gang, brannte ein Licht, das gerade ausreichte, es von der Dunkelheit des Zimmers zu unterscheiden. Der lichtgraue Streifen wurde breiter und breiter, sehr langsam, sehr vorsichtig, und dann sah ich die Umrisse eines Mannes gegen ihn abgezeichnet. Er kauerte am Boden wie ein mißgebildeter, buckliger Zwerg. Bald konnte man den ominösen Schatten in der Mitte der weit offenen Tür erkennen. Plötzlich schoß die kauernde Gestalt auf und sprang wie ein Tiger quer durch den Raum. Dann hörte ich vom Bett her drei mächtige Schläge mit einem schweren Gegenstand.

Ich war so gelähmt vor Erstaunen, daß ich bewegungslos dastand und vor mich hinstarrte, bis ein Hilferuf meines Begleiters mich alarmierte. Durch die Türöffnung drang genug Licht, so daß ich Umrisse erkennen konnte. Dort sah ich den kleinen Lord Linchmere, seine Arme um den Hals seines Schwagers geschlungen, wie ein tapferer Jagdhund, der seine Zähne in den Nacken seiner übergroßen Beute geschlagen hat. Der große, magere Mann warf sich herum und wand sich, um seinen Gegner in den Griff zu kriegen; der andere aber hatte ihn immer noch von hinten gefaßt, obwohl seine schrillen, erschrockenen Schreie zeigten, wie unterlegen er sich fühlte. Ich eilte zu Hilfe, und gemeinsam schafften wir es, Sir Thomas zu Boden zu werfen, obwohl er mir in die Schulter biß. Bei all meiner Jugend, meinem ganzen Gewicht und meiner Kraft, es war ein verzweifelter Kampf, bevor wir seine rasende Gegenwehr gemeistert hatten; doch schließlich banden wir seine Arme mit dem Gürtel des Morgenmantels zusammen, den er trug. Ich hielt seine Beine fest, während Lord Linchmere damit beschäftigt war, Licht zu machen. Das Getrappel vieler Füße kam jetzt den Gang herunter, der Butler und zwei Diener, die die Schreie alarmiert hatten, stürzten in den Raum. Mit deren Hilfe hatten wir keine weiteren Schwierigkeiten, unseren Gefangenen, der mit Schaum vor dem Mund und glänzenden Augen auf dem Boden lag, unter Kontrolle zu halten. Ein Blick in sein Gesicht genügte, um zu sehen, daß er ein gefährlicher Amokläufer war, und der kurze, schwere Hammer neben dem Bett zeigte, wie mörderisch seine Absichten gewesen waren.

»Gebrauchen Sie keinerlei Gewalt!« sagte Lord Linchmere, als wir den tobenden Mann auf seine Füße hoben. »Nach seinem Anfall wird er eine Zeitlang betäubt sein. Ich glaube, es fängt schon an.« Als er das sagte, ließen die Konvulsionen nach, und der Kopf des Wahnsinnigen fiel auf seine Brust, als ob er vom Schlaf besiegt wäre. Wir trugen ihn den Gang hinunter und legten ihn ausgestreckt auf sein Bett, wo er schwer atmend in Bewußtlosigkeit fiel.

»Zwei von euch werden ihn bewachen«, sagte Lord Linchmere. »Und nun, Dr. Hamilton, wenn Sie mich auf mein Zimmer begleiten wollen, werde ich Ihnen alles erklären, woran meine Angst vor einem Skandal mich vielleicht zu lange gehindert hat. Komme was wolle, Sie werden niemals Ihren Anteil an der Arbeit dieser Nacht zu bereuen haben.

Man kann den Fall vielleicht in wenigen Worten erklären«, fuhr er fort, als wir allein waren. »Mein armer Schwager ist einer der besten Menschen auf Erden, ein liebender Gatte und treusorgender Vater, aber er kommt aus einem Stall, in dem der Wahnsinn Tradition hat. Mehr als einmal hatte er schon

Anfälle von Mordlust, die um so schmerzlicher sind, da seine Aggression sich immer gegen die Person richtet, welche ihm am nächsten steht. Seinen Sohn schickten wir aus dem Haus, um ihn vor dieser Gefahr zu schützen, doch dann kam ein Angriff auf meine Schwester, seine Gattin, den sie mit den Verletzungen überlebte, die Sie vielleicht bemerkt haben, als wir in London zusammentrafen. Sie verstehen, daß er sich an nichts erinnern kann, wenn er bei Sinnen ist, er würde über die Annahme lachen, daß er unter irgendwelchen Umständen die, welche er so sehr liebt, verletzen könnte. Wie Sie wissen, ist es typisch für solche Krankheit, daß man einen Menschen, der von ihr befallen ist, absolut nicht davon überzeugen kann, daß sie existiert.

Unser Hauptziel war es natürlich, ihn davon abzuhalten, seine Hände mit Blut zu beflecken, doch wir stießen auf lauter Schwierigkeiten. Er lebt sehr zurückgezogen und wollte keinen Arzt empfangen. Außerdem war es für unseren Zweck nötig, daß der Arzt ihn von seiner Krankheit überzeugt; und er ist so gesund wie Sie und ich, abgesehen von solchen sehr seltenen Gelegenheiten. Glücklicherweise zeigen sich aber vor seinen Anfällen immer bestimmte warnende Symptome, Gefahrensignale, die uns anhalten, auf der Hut zu sein. Das Hauptsymptom sind jene nervösen Verzerrungen der Stirn, die Sie beobachtet haben müssen.

Dieses Phänomen erscheint immer drei bis vier Tage vor seinen Anfällen von Raserei. In dem Moment, wo es sich zeigte, kam seine Gattin unter einem Vorwand in die Stadt und nahm Zuflucht in meinem Haus in der Brook Street.

Es mußte mir gelingen, einen Mediziner von Sir Thomas' Krankheit zu überzeugen, sonst war es unmöglich, ihn an einen Ort zu bringen, wo er keinen Schaden anrichten konnte. Das erste Problem war, einen Arzt in dieses Haus zu bringen. Ich besann mich seines Interesses für Käfer und seiner Liebe für jeden, der sein Interesse teilte. Ich inserierte deshalb und hatte das große Glück, in Ihnen genau den Mann zu finden, den ich brauchte.

Ein standhafter Begleiter war notwendig, denn ich wußte, daß der Wahnsinn sich nur durch einen Mordanschlag beweisen konnte, und ich hatte allen Anlaß, zu glauben, daß der Anschlag mir gelten würde, da er in den Augenblicken der Klarheit die wärmste Zuneigung für mich empfand. Ich glaube, den Rest können Sie sich selbst zusammenreimen. Ich wußte nicht, daß der Angriff nachts kommen würde, hielt es aber für sehr wahrscheinlich, da die Krisen in solchen Fällen für gewöhnlich in den frühen Morgenstunden auftreten. Ich selbst bin ein sehr ängstlicher Mann, sah aber keinen anderen Weg, meine Schwester von dieser schrecklichen Gefahr für ihr Leben zu befreien. Ich brauche wohl nicht zu fragen, ob Sie die Einweisungspapiere unterzeichnen wollen.«

»Ohne Zweifel. Doch es sind zwei Unterschriften nötig.«

»Sie vergessen, daß ich selbst einen medizinischen Grad innehabe. Ich habe die Papiere hier liegen, wenn Sie also jetzt so gut sein wollen, zu unterschreiben, können wir den Patienten morgen abtransportieren lassen.«

Das war also mein Besuch bei Sir Thomas Rossiter, dem berühmten Käfersammler. Das war auch gleichzeitig mein erster Schritt auf der Erfolgsleiter, denn Lady Rossiter und Lord Linchmere haben sich als zuverlässige Freunde erwiesen und mir meinen Beistand zu Zeiten ihrer Not nie vergessen. Sir Thomas ist wieder draußen, man sagt, er sei geheilt. Dennoch würde ich wohl meine Tür von innen verriegeln, sollte ich noch eine Nacht in Delamere Court verbringen.

Загрузка...